Chapter 1: Kapitel 1 Der Schuss
Chapter Text
THE GRAND TOUR ¬ JANE EYRE VARIATIONS
Kapitel 1 Der Schuss
Ich würde auch an Mr. Rochesters Zimmer ohne Aufenthalt vorübergegangen sein; da jedoch mein Herz für einen Augenblick zu schlagen aufhörte, als ich an seiner Schwelle vorbeieilen wollte, war ich gezwungen, meine Schritte für eine Minute innezuhalten.- Da war kein Schlaf eingekehrt! Der Bewohner durchschritt ruhelos das Gemach von einem Ende zum anderen; wiederholt stieß er einen tiefen Seufzer aus, während ich dort stand und horchte. In jenem Zimmer war mein Himmel – mein irdischer Himmel, wenn ich wollte! Ich brauchte nur hineinzugehen und zu sagen „Mr. Rochester, ich will Sie lieben und bei Ihnen bleiben bis an das Ende unseres Lebens," und ein Born der Wonne und des Entzückens würde sich in meine Seele ergießen. Daran dachte ich. Jener gütige Mann, mein Herr und Gebieter, der jetzt keinen Schlaf finden konnte, wartete mit Ungeduld auf den kommenden Tag. Am Morgen würde er nach mir schicken und dann war ich fort! Er würde mich suchen lassen - umsonst! Er würde sich verlassen fühlen, seine Liebe für verschmäht halten. Er würde leiden, vielleicht der Verzweiflung anheimfallen. Auch daran dachte ich.
Meine Hand machte eine Bewegung nach der Türklinke. Doch ich zog sie zurück und schlich weiter. Traurig suchte ich meinen Weg nach unten. Ich wusste, was ich zu tun hatte und tat es mechanisch. (….) Ich öffnete die Tür, ging hinaus und schloss sie leise. Trübe Dämmerung lag über den Hof gebreitet. Die großen Tore waren verschlossen; aber ein Seitenpförtchen in einem derselben war nur eingeklinkt. Durch dieses ging ich hinaus. Dann schloss ich es auch. Und jetzt lag Thornfield hinter mir. Eine Meile von dort hinter den Feldern zog sich eine Straße hin, welche in die entgegengesetzte Richtung von Millcote führte; eine Straße, auf der ich noch niemals gefahren war, die ich aber bemerkt hatte. Dorthin lenkte ich meine Schritte.
(Charlotte Brontë, Kapitel 27)
Da hörte ich einen grellen Schrei. Dann weitere, die zuerst winselnd, flehend, dann immer verzweifelter und lauter zu mir herüberschallten: „Jane! Jane! Jane! Jane!"
Sein Zimmer war erleuchtet, und aus den 300 m Entfernung erkannte ich die Silhouette eines Menschen, der aus dem Fenster gelehnt, wild mit den Armen winkte und wedelte. In mir machte sich Panik breit, ich hielt mir mit meinen Händen die Ohren zu und wendete mich ab. Nach wenigen Schritten durchbrach ein lauter Knall die Stille der Morgendämmerung. Ich blieb zunächst wie angewurzelt stehen und riss mich wie von Sinnen um. Die Silhouette war vom Fenster verschwunden. Er war verschwunden. Ich nahm wahr, wie in dem düsteren Schloss ein Licht nach dem anderen entzündet wurde, und Schatten zu der Stelle rannten, wo er zuvor noch gestanden hatte. Ich rannte nun auch, hetzte zurück zum Schloss. Am Hoftor kam mir ein Pferd mit dem spärlich bekleideten Stallknecht im Galopp entgegengeschossen. Stimmengewirr und Kerzenflackern erfüllten das Haus.
Von mir nahm keiner Notiz, als ich das Haus betrat. Erst im Vestibül flog mir weinend Adele um den Hals.
„Mademoiselle! Venez vite! Venez vite! Mr. Rochester!"
Ich eilte zu seinem Gemach, wo die Türflügel sperrangelweit auf standen. Die Mägde eilten mit Wasserschüsseln und Tüchern in den Raum. Sophie führte mit Gewalt Pilot aus dem Raum, der ungewohnt wild bellte und um sich schnappte. Grace Poole kam mir mit einer Schüssel blutigen Wassers entgegen. Sie fixierte mich scharf mit ihren schwarzumränderten Augen und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, als sie an mir vorbeiging. Mein Herz setzte aus. Verstört und zaudernd betrat ich den Raum, in dem ich mich erst vor sechs Stunden kalt vor Tugend gegen unsere gegenseitige Leidenschaft aufgebäumt und ihn so kopflos verlassen hatte. Es bot sich mir ein grauenhafter Anblick. Auf dem Parkett vor dem Fenster hatte sich eine riesige Blutlache gebildet. Darum scharten sich George, John, Leah und Sophie, hektisch über einen Körper geduckt und blutige Tücher tränkend und auf die Wunden drückend, verdeckt durch den Flügel. Ich hörte, wie George wiederholt den leblosen Körper rüttelte: „Sir! Sir! Hören Sie mich!"
Ich ließ einen lauten Schluchzer von mir, so dass Mrs. Fairfax sich umblickte und mich ansprach.
„Ah, Miss Eyre! Kommen Sie! Schnell! Bringen Sie uns den Brandy oder etwas anderes Hochprozentiges aus dem Schrank in der Bibliothek. Und Riechsalz! Bringen Sie alle Tücher, die Sie finden können!"
Wie in Zeitlupe und starr gehorchte ich ihr, suchte die Utensilien zusammen und brachte sie hinter das Klavier. Da sah ich ihn liegen. Sein Kopf und seine linke Hand waren blutüberströmt, er lag da wie tot. Ich erstarrte zur Eissäule.
„Kommen Sie schnell!" Mrs. Fairfax nahm mir das Riechsalz ab, und George riss mir den Brandy aus der Hand. Er tränkte damit ein Tuch und betupfte ihm vorsichtig damit die Schläfen. Als mich ein Schreikrampf ergriff, stürzte Mrs. Fairfax auf mich zu, schüttelte mich und schallte mir eine kräftige Ohrfeige auf die Wange.
„Himmel, Beruhigen Sie sich! Mrs. Eyre! So helfen Sie ihm nicht!"
„Er lebt?"
„Ja, noch. Aber er ist bewusstlos. Dr. Carter muss jeden Augenblick da sein. Helfen Sie uns, ihn zu verbinden und das Blut zu stillen!"
Entrückt folgte ich ihren Anweisungen. Die Mägde brachten Eis, um die Blutgerinnung anzuregen. Vorsichtig wickelten wir ihm mehrere Lagen Verbände über seine rechte Schläfe und um die eiskalte verletzte Hand. Er schien zu atmen, war aber bewusstlos. Ich holte seine Decke und mehrere Kissen aus seinem Zimmer, und wir hüllten ihn warm darin ein. Und endlich nach bangen sechzig Minuten stand Dr. Carter in der Tür. Er riss keuchend vom rasanten Ritt seinen Mantel von seinen Schultern, ließ ihn achtlos fallen und warf seinen Hut hinterher. Er beugte sich über den Patienten und schickte uns zur Seite. Die Minuten verstrichen. Schließlich atmete er entspannter auf, klärte uns über seine Diagnose auf und wies uns an:
„Das Geschoss hat seinen Schädel verfehlt. Zum Glück nur ein Streifschuss. Das rechte Auge scheint schwerer verletzt, aber das kann ich hier so nicht untersuchen, es ist komplett verschwollen. Der Schuss hat seinen Ringfinger links abgetrennt und die Hand ist durchbohrt. Ich muss ihm jetzt sofort den Finger wieder annähen, aber er wird dann vermutlich steif bleiben. Den Rest muss ich verschließen. Aber eigentlich gehört er damit unbedingt zu einem Spezialisten nach London, sobald er wieder bei Bewusstsein und stabil ist. Bis dahin müssen wir Infektionen verhindern. Mrs. Fairfax ..."
"Ja, Sir?!"
"Sammeln Sie sogleich Wundklee, Salbei, Oregano, Kampfer, Kamille, Thymian, Pelargonien, Sonnenhut, Eisenkraut, Schafgarbe, Schwarze Johannisbeere. Eben alles, was Sie an entzündungshemmenden Kräutern finden können. Aus einem Teil bereiten Sie einen kräftigen Auszug. Aber bloß nicht kochen! Den anderen vermengen Sie mit dem stärksten Alkohol, den Sie im Haus haben und vermengen es mit Bienenharz zu einer Salbe. Bitte bringen Sie mir jetzt heißes Wasser und saubere abgekochte Tücher und Fäden, ich werde jetzt seinen Finger annähen. Mrs. Fairfax Sie haben doch Erfahrung in Krankenpflege, bitte assistieren Sie mir."
Er ließ Mr. Rochester vorsichtig auf sein Bett tragen und wir wurden aus dem Raum geschickt. Mein Puls pochte im ganzen Leib und meine Beine schlotterten. Die Bediensteten ignorierten mich. Ich schleppte mich auf mein Zimmer, in dem noch alles so war, wie ich es vor meiner Flucht verlassen hatte, und warf mich auf mein Bett, das heute mein Brautbett hätte sein können. Ich hatte bisher nicht geweint, nun flossen meine Tränen ungehemmt. Ich machte mir bittere Vorwürfe über meinen Eigensinn und meine ach so puritanischen Ideale. Ich driftete in einen alptraumartigen Dämmerzustand ab und hörte, wie die Stimme von Tante Reed meinen Namen kreischte:
„Jane! Was hast Du wieder angestellt? Du Satansbraten! Du bist böse geboren und wirst böse sterben! Siehst du das? Du hast sein Leben zerstört. Geh auf Dein Zimmer". Dazwischen mischte sich der harsche Tadel von Dr. Brocklehurst.
„Jane! Du hast Dich versündigt! Ungehorsames Gör! Warum bist Du nicht gegangen, als er Dir den unsittlichen Antrag stellte? Du hast dich verführen lassen! Wie eine Hure! Du warst dazu ausersehen, allein Gott zu gehorchen! Deine Seele ist bereits verloren."
Dr. Brocklehurst prügelte mit seinem Gehstock auf mich ein und stellte mich dann vor der gesamten Dienerschaft auf einen Stuhl, wo ich eine Stunde den abfälligen Blicken ausgesetzt, ausharren musste.
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür schreckte mich aus dem Alptraum. Inzwischen war es hell geworden. Ich sprang zur Tür und sah beim Öffnen in das verweinte Gesicht von Adele und ich fragte hastig: „Mr. Rochester? Ist etwas geschehen?"
Sie schlang sich um meine Taille „J' ai peur! S'il vous plaît, ne le laisse pas mourir!"
Ich fragte das verstörte Mädchen nach Neuigkeiten, doch sie schüttelte den Kopf. Wir gingen gemeinsam Richtung seines Gemachs, als Dr. Carter heraustrat, während er sich die Hände trocknete. Er hatte erfolgreich die Hand operiert, ihm eine Infusion eingeflößt. Er würde selbst die erste Wache übernehmen. Mr. Rochester war immer noch bewusstlos. Dr. Carter gab uns eine blutstillende Salbe und Tinkturen, die wir stündlich auf die Hand auftragen sollten. Doch zunächst musste der Druckverband seine Arbeit verrichten.
„Wenn er wieder zu sich kommt, geben Sie ihm viel Wasser zu trinken. Kochen Sie ihm eine Rote Bete Suppe gegen den Blutverlust. Mrs. Fairfax? Können Sie mir ein Zimmer herrichten? Ich bleibe die Nacht über hier. Wir müssen abwechselnd Krankenwache halten, falls sich sein Zustand verschlimmert oder verbessert. Und organisieren Sie eine Kutsche nach London, in der er liegen kann, mit Platz für zwei Begleitpersonen, mit Sechsergespann! Ich schreibe Ihnen einen Brief an Professor Thomson, einen der besten Augenärzte, im Hospital in London. Bitte schicken Sie einen Kurier, damit er diesen bis morgen erhält. Wenn er bis Mittag nicht ansprechbar ist, müssen wir ihn zu mir nach Millcote bringen."
Chapter 2 Krankenwache follows
Chapter 2: Kapitel 2 Krankenwache
Summary:
Edward survived his accident and Dr. Carter tries to save him best.
Jane shall not escape now and realized some uncomfortable insights of her own mentality.
Notes:
Pitte takes note of my remarks before Chapter 1
Chapter Text
Kapitel 2 Krankenwache
Es war inzwischen 8 Uhr früh. Sobald Mrs. Fairfax, Adele, Sophie und ich hastig das Frühstück heruntergeschlungen hatten, das uns Leah diesmal in der Küche gerichtet hatte, um Zeit zu sparen, besprachen wir, wer die nächste Wache übernehmen sollte, und die Aufgabenverteilung. Wir verabredeten, dass Mrs. Fairfax die aufgetragenen Erledigungen für die Verlegung des Kranken besorgte und mit dem Notar die wichtigsten Papiere und Vollmachten des Herrn klärte, um im schlimmsten Fall abgesichert zu sein. George kümmerte sich mit John um die Umrüstung der alten Kutsche, die geräumiger für eine Liege und zwei Mitreisende war. Mit Matratzen wollte er die Federung verbessern, damit das betroffene Auge keinen Erschütterungen ausgesetzt wurde.
"Wir dürfen keine Netzhautablösung riskieren. Das wäre ein irreversibler Sehverlust!" hatte Dr. Carter ihm eindringlich eingebläut.
Ich schwärmte mit Adele und Sophie aus, das Pflanzenbestimmungsbuch von Mr. Rochester unter den Arm geklemmt, und durchstöberten zuerst den Kräutergarten, dann die umliegenden Wiesen nach entzündungshemmenden und schmerzlindernden Heilpflanzen; alles, was wir so finden konnten. Mit unserer Ausbeute eilten wir in die Küche, wo die Köchin sich schon vorbereitet hatte, die Essenzen und Salben steril zuzubereiten. Während dieser Zeit hatten Dr. Carter gemeinsam mit zwei der Stubenmädchen die nächste Wache abgesichert und die Wunden nochmals kontrolliert, verpflegt und die Schmerzmittel erneuert.
Nun war ich an der Reihe. Dr. Carter wies mich an, ihn ruhen zu lassen und ihm immer wieder den Schweiß abzutupfen und gegen das Fieber kühle Tücher auf seine Stirn zu legen. Seine Lippen sollte ich leicht mit Wasser benetzen. Zu Mittag würde er wieder vorbeisehen und mit mir die Verbände wechseln.
"Wir beginnen dann erst mit der Kräuterbehandlung. Sollte er erwachen, reden Sie ihm beruhigend zu. Er soll sich nicht bewegen! Tätscheln Sie ihm nur die gesunde Hand und lassen Sie mich holen!"
Nun brauchte Dr. Carter seinen Schlaf. In dem mit Vorhängen abgedunkelten Raum wählte ich aus Mr. Rochesters Bücherregal irgendein Buch, Goethes „Reise nach Italien", in der Hoffnung, dass es mich ablenken und etwas besänftigen würde. Dort wären wir bald gewesen, in unseren Flitterwochen, dachte ich. Doch meine Nerven waren zu flatterig zum Lesen, sodass ich das aufgeschlagene Buch nicht weiterblättern vermochte. Meine Augen waren auf Mr. Rochester gerichtet, dessen Stirn schweißgebadet und leichenblass war. In mir tobten widersetzliche Gefühle. Die Verwirrung und die Eskalation vom Vorabend! Ich hatte so um mein Leben und meine Ehre gefürchtet, dachte ich, als er mich in seiner lodernden Leidenschaftlichkeit bedrängte. Diese Ängste waren verflogen. Es fiel mir sehr schwer zuzugeben, dass es mein eigenes Begehren war, dass ich nicht zulassen durfte der wollte. Ich traute meiner eigenen Selbstbeherrschung nicht mehr. Diese Erkenntnis traf mich hart und wurde verdrängt von der Angst um sein Leben. Dass er vielleicht Zeit seines Lebens ein Krüppel bleiben könnte, das schreckte mich weniger. Aber dass er zwischen Tod und Leben schwebte, wegen mir, schon. Im Gegenteil, mich übermannten fürchterliche Gewissensbisse wegen meines panisch unüberlegten Handelns. Ich hatte nur an meine eigene Unversehrtheit gedacht! Ich wusste, dass er außer sich war, unberechenbar. Eine solche Überreaktion war eigentlich vorhersehbar gewesen, sobald Edward meine Flucht bemerkt hatte. Ich habe das einfach in Kauf genommen, nur dass ich es dann nicht mehr erfahren hätte, und ohne Reue ein neues Leben begonnen hätte. Ja, die Reue!
Meine Augen wachten über ihn, und ließen nicht von ihm ab, brennend vor Zärtlichkeit und Zerknirschung. Küssen durfte ich ihn ja nicht, stattdessen kühlte ich seinen Kopf sanft mit den bereitstehenden Tüchern und tupfte seine Schweißperlen ab. Sein Kopf war seitlich nach links geneigt, so dass das verbundene Auge nach oben lag. Die operierte, dick verbundene linke Hand ruhte angewinkelt über seinem Bauch auf der Bettdecke. Außer seinem fast nicht spürbaren Atem und einem gelegentlichen leisen Ächzen gab er keinen Laut von sich. Seine Miene wirkte entspannt von der Narkose. Auf dem kleinen Beistellschrank entdeckte ich die Medikamente, die Dr. Carter bereitgestellt hatte. Opium und Laudanum und andere bunte Essenzen, deren lateinische Namen mir nichts sagten. Die Mägde hatten ein Feuer im Kamin angezündet, obwohl die Sommerluft schon ziemlich warm war. Ich schwitzte, doch er durfte auf keinen Fall frieren.
Das lustige Knistern ließ mich wieder in meine Gedanken abschweifen. Ich durchlebte meine Flucht noch einmal und erschrak über meine eigene unbesonnene Panik. Ich hatte fast nichts mitgenommen. Keine Wechselkleider, keinen Mantel oder Schal, die mich vor den kühlen Nächten draußen geschützt hätten. Ich hatte nur leichte Sandalen angezogen, mit denen ich auf jeder unebenen Fläche umgeknickt oder ausgerutscht wäre. Stattdessen schleppte ich meine Bücher und die Zeichenmappe mit Malutensilien mit mir herum. Ich hatte kaum Verpflegung dabei! Entsetzt stellte ich auch fest, dass mein restliches Vermögen nicht mehr als 20 Schilling betrug. Andere Wertgegenstände hatte ich nicht eingepackt. Weit wäre ich damit wohl gekommen! Die Postkutscher hätten mich irgendwo in der Pampa, auf einer Landstraße ausgesetzt, und ich wäre in meiner verwirrten Verfassung durch Wälder, über Felsen und reißende Flüsse oder verschlingende Moore geirrt. In meinen Sandalen! Mein Proviant hätte nur bis zum Abend ausgereicht. Dann wäre ich vermutlich in meinem Kummer kraftlos und hoffnungslos auf irgendeinem Felsen zusammengebrochen und dem Wetter und den Wölfen ausgesetzt gewesen. Dort wo mich niemand findet.
Und selbst wenn ich mich zu einem Dorf durchgekämpft hätte: Wie hätten die Bauern reagiert, wenn sie eine derart verschmutzte, unterkühlte und mittellose Fremde um ein Stückchen Brot und Wasser anbettelte? Sie hätten mich weggejagt, ignoriert oder mir einen Napf mit dem Futter vorgesetzt, das nicht einmal ihre Schweine fressen wollten. So, wie ich in meiner Kindheit den rüden Umgang mit Habenichtsen erlebt hatte, so wäre es jetzt mir ergangen. Nur weil ich meinen Kopf durchsetzen wollte, ich Idiotin! Hier endete wohl dann Gottes Liebe und Gnade. Es sei denn, ein gnädiger Landpfarrer erinnerte sich an seine wohltätige Aufgabe und nähme mich in sein Haus auf und gäbe mir Arbeit. Nur welche? Kinder zum Betreuen oder Lehren würde er nicht haben und mir so, in diesem desolaten Zustand, niemals anvertrauen! Putzen? Mein Geld hätte vielleicht für die Fahrt in eine größere Stadt gereicht, mit Fabriken zum Arbeiten. Oder mit einer Schule. Doch auch diese Perspektive zerrann zur Illusion. So wie ich dann wäre? Ohne jegliche Referenz? Ohne Geld, dreckbesudelt, verwirrt, schwitzend und stinkend?
Damit mir jemand hilft, hätte ich ihn als Dienstherrn angeben müssen. Mein einziges Arbeitszeugnis und meine einzige wirkliche Erfahrung! Ich war ja nicht einmal volljährig. Jeder Amtmann hätte über mich verfügen und mich ins Armenhaus zu den Ratten schicken dürfen. Oder ich wäre als Diebin im Zuchthaus gelandet. Wieder dachte ich an die strenge Miene von Dr. Brocklehurst und ein Schauer rann über meinen Rücken. Wäre ich zu dem zurück? Bestimmt nicht! In Lowood hätte Mr. Rochester mich zuerst gesucht. Ebenso in Gateshead.
Nun malte ich mir aus, wie ich mit letzter Kraft von Haus zu Haus von Geschäft zu Geschäft schlurfte, um Essen und Arbeit zu erbetteln. Junge gelangweilte Männer, die auf dem Platz herumlungerten, hätten mich angesprochen, dort angefasst, wo ich meinen Liebsten mich nicht anfassen lassen wollte. Ich war zwar unscheinbar, aber jung. Dann schüttelte es mich bei der nächsten Konsequenz, die mir in den Sinn kam: Sie hätten mich erpresst, mich in ihre Betten gezwungen, damit ich ein Anrecht auf Nahrung habe. Sie hätten mich zur Hure gemacht, in irgendeinem Freudenhaus. Freudenhaus, wie das schon klingt! Und ich war davor davongelaufen, weil mir die Rolle als Geliebte des Mannes, nach dem sich jede Faser meiner Seele und meines Leibes sehnte, und der mir den Himmel solcher Freuden auf die Erde geholt hätte, mein religiöses Gewissen und meine Selbstachtung verletzte. Mein religiöses Gewissen, das mir acht Jahre eingeimpft, sogar eingeprügelt wurde. Was für ein Tausch wäre das geworden, nach dem er mich dann nicht mal mehr angesehen hätte! Meine Frömmigkeit, meine Liebe zu Gott, wäre so von Gottes Liebe beantwortet worden. Aber hatte Gott diesen Verzicht wirklich von mir erwartet? Mich schauderte. Hätte Gott mir dann nicht diese Begegnungen erspart? Und jetzt meine Flucht vereitelt?
Ich sah mich aus der Stadt flüchten, in die Sümpfe fliehen, die mich verschluckten. Ich hörte Mr. Rochesters Stimme entsetzt ausrufen, „Du wirst die Pyramiden von Ägypten erklimmen müssen!", wie er es tat, als ich ihm wegen seiner vorgegaukelten Hochzeit mit Blanche Ingram anbot, für eine neue Stelle zu inserieren. Genau das hatte er also vorhergesehen, mit seiner Weitsicht und Erfahrung! Er hatte mir damals für meine Reise zu Mrs. Reed so viel Geld angeboten, damit er nicht fürchten musste, dass ich über einen längeren Zeitraum unter die Räder käme oder hungern müsste, abgemagert wie ich durch den Stress damals war! Als er meine Abwesenheit heute Nacht feststellte, hatte er Panik, dass ich sterben würde, so halbnackt wie ich loslief! Er hatte sich nicht töten wollen. Er hatte keine Sünde begangen. Er hat sich verletzt, ungeschickt verletzt, um mich aufzuhalten! Die neue Erkenntnis verstärkte meinen Weinkrampf, der zu lautem Schluchzen aufheulte. Immer wieder presste meine Kehle ein flehendes „Edward! Edward! Was habe ich getan? Verzeih mir bitte!", jammerte ich.
Mein Wimmern weckte scheinbar jedoch Mr. Rochester, dessen Glieder unkontrolliert zuckten. Er ächzte und stöhnte leise und fing an den Kopf hin- und herzuwerfen. Ich nahm seinen Kopf vorsichtig zwischen meine kleinen Hände, um ihn zu halten. Ich liebkoste ihm die unverletzte Wange vorsichtig. Er öffnete die Augen nicht. Er bemerkte es nicht einmal. Er war benommen und schwach vom Opium, aber der dunkle Schleier des Komas schien sich zu lüften. Seine Nerven reagierten. Seine Lippen bewegten sich, immer wieder, ohne dass sie einen hörbaren Laut formen konnten. Es sah aus wie „Jane! Jane! Jane! Jane!" Ich wisperte ihn weiterstreichelnd, „Es ist alles gut. Ich bin hier. Ruh dich aus". Dann lief ich zum Flur, trug der Magd auf, den Doktor zu holen. Als ich zurückkehrte, zogen mich meine schwindeligen Beine in den Sessel. Durch die dichten Vorhänge blendete inzwischen die Mittagssonne.
Chapter 3: Kapitel 3 Über dem Berg
Summary:
Edward is cared by all his subordinates and recovers. Dr. Carter pretends to continue the treatments by specialists in London. Jane will accompagny him.
Chapter Text
Kapitel 3 Über dem Berg
Dr. Carter zog sich seinen weißen Kittel über, während er hastig und gähnend den Raum betrat und mir angespannt zulächelte. Er tastete routiniert den Puls und die Stirn des Patienten ab, nachdem ich eines der Vorhänge geöffnet hatte, und hielt ein Brennglas vor die beiden Augen. Vorsichtig hob er beide Lider an und ließ einen Sonnenstrahl auf die Pupillen fallen, die zuerst stark erweitert waren, sich unter dem Lichteinfluss aber rasch zusammenzogen und die grüne Iris aufleuchten ließ.
Erleichtert bekundete Dr. Carter „Na das sieht wesentlich vielversprechender aus. Das Bewusstsein kehrt zurück".
Er bat uns, Mr. Rochester festzuhalten, während er ihm noch einmal eine Infusion legte, um ihn mit zwei Liter Kochsalzlösung vor der Austrocknung zu bewahren und das Blut wieder aufzubauen. Dieser Prozess sollte nun alle vier Stunden wiederholt werden. So vergingen ein Tag und eine Nacht, in denen wir uns alle fünf Stunden ablösten. Mr. Rochester, vollgepumpt mit Schmerzmitteln, war jedoch am zweiten Tag immer noch nicht ansprechbar. Die Blutungen waren nun vollständig gestoppt. Der Puls normalisierte sich, auch wenn die Temperatur noch zu hoch war. Gegen Abend reagierte er bereits auf Fragen und Anweisungen, hob nur die Hand oder das freie Auge. Hungrig schluckte er als Mrs. Fairfax, die eine geübte Pflegerin zu sein schien, ihm vorsichtig Hühnerbrühe einträufelte oder pürierte Kartoffeln in den Mund strich. Doch immer noch sprach er nicht und schaute mit glasigem Auge umher. Aber er erkannte niemanden. Er schien aber wahrzunehmen, dass sein rechtes Auge nun schwarzsah und hob instinktiv die verletzte Hand, aber bevor er die Augenklappe richtig berührte jaulte er vor Schmerz auf und zog sie zurück. In der Nacht wich das Fieber, sein Schlaf wurde ruhiger, und die Wachphasen wurden häufiger. Dr. Carter nutzte eine dieser Stunden, um mit ihm zu sprechen. Mr. Rochester erfuhr, was er getan hatte, wie sehr sein rechtes Auge betroffen war, und welche Risiken bestanden. Er empfahl ihm dringend, seinen Rat wahrzunehmen und am folgenden Tag nach London in die Obhut von Professor Thomson zu reisen, einen der versiertesten Augenspezialisten, wie er ihm wiederholt versicherte. Bei ihm sei er in den besten Händen, die England zu bieten habe. Er verheimlichte, welche Folgen die Augenverletzungen haben könne.
„Das kann nur der Facharzt wirklich untersuchen, behandeln und voraussehen, ob es heilt.", war seine einzige Antwort, die Mr. Rochester sichtlich in Rage brachte.
Aber das Beruhigungsmittel, das er erhielt, schützte ihn vor weiteren Selbstverletzungen. Auch die Hand müsse vermutlich noch einmal untersucht und therapiert werden, dass aber die Aussichten, dass die Nervenenden wieder zusammenwüchsen äußerst gering seien.
Diese Aussichten kratzten spürbar tiefe Furchen in den aristokratischen Hochmut meines Herrn, nun wo seine Selbstständigkeit und makellose Unfehlbarkeit zu bröckeln begann. Eine Antwort, warum er es getan hatte, enthielt er uns eisern vor, drehte sich weg und hielt sich sein gesundes Auge mit der gesunden Hand zu. Dr. Carter versuchte, die Entrüstung und den verletzten Stolz zu mäßigen, indem er ihm von den Vorkehrungen berichtete, die alle seine Untergebenen unternommen haben, damit er möglichst bequem und sicher nach London käme.
Dies brachte Mr. Rochester zur Einsicht, seine Verbitterung nicht an uns auszulassen: „Ich bin bereit, alles zu tun, wieder ganz der Alte zu werden. Ich danke Euch allen so sehr!"
Das waren seine einzigen Worte an uns. Er würde zur Fahrt erneut leicht sediert werden, damit er sich vor allem nicht reflexartig bewegte. Ein unscheinbares Lächeln huschte über sein niedergeschlagenes Gesicht, als Mrs. Fairfax ihm mitteilte, dass neben dem Doktor auch „Miss Eyre" als Assistentin mitkäme, und dass ich die Zeit seines Klinikaufenthalts über in seiner Nähe bliebe. Sie habe das wegen der Hochzeit bereits gebuchte Western Hotel verständigt, dass ich dort logieren würde. Die für unsere Hochzeitsreise gepackten Koffer waren bereits mit der zweiten Kutsche unterwegs.
Die vorsichtige Fahrt über teilweise unwegsame Straßen auf den rund 75 Meilen nach London dauerte acht Stunden. Mr. Rochester dämmerte auf seiner Liege vor sich hin. Ich saß zu seiner linken Seite und stützte den Kopf, Dr. Carter kontrollierte die Wunden, versorgte ihn mit Flüssigkeit und Brei und achtete darauf, dass er sich nicht übermäßig bewegte. Wir beide unterhielten uns im Flüsterton. Uns schmerzten beim Aussteigen alle steifen Glieder. Es war bereits nach vier Uhr Nachmittag als wir in London ankamen. Professor Thomson wartete mit drei weiteren Ärzten bereits beim Eingang und ließ den Patienten direkt zu sich ins Untersuchungszimmer führen. Dr. Carter begleitete sie, unentwegt über den Zustand und seine Diagnose berichtend. Ich nahm auf den Holzbänken in den kargen Gängen mit den mintgrün gebeizten Wänden Platz, starrte auf die hohen kahlen Deckenbögen und die groben Zinkkandelaber oder zählte die Flecken auf dem Putz, bis mich meine Müdigkeit übermannte.
Irgendwann tippte mich Dr. Carter wach und resümierte trocken „Die Netzhaut und die Hornhaut sind Gottseidank unverletzt, aber der Glaskörper ist noch voller Blut, deshalb sah er nur rosige Nebel. Blutunterlaufen, aber die Ursache sei noch unklar. Das kann sich wieder legen. Es darf jetzt nur keine Entzündung entstehen."
Das Auge müsse ab sofort dringend vor Licht, jedem Fokussieren und vor Augenbewegungen geschützt werden. Körperliche Anstrengungen und Beugen seien strikt untersagt. Es bliebe unklar, ob er je wieder sehen kann, denn der Stoß des Projektils hat die Linse beschädigt, die sich nun eintrübt.
„Das ist das, was sich bei alten Menschen „Grauer Star" nennt. Das kann aber bei jedem durch ein Trauma wie einen Schlag entstehen. Die Linse kann seit hundert Jahren durch das Stechen mit einem Löffel und einem Plexiglas sowie mit einem metallischen Hohlspatel entfernt werden. Danach sieht man wieder, braucht aber zum Scharfstellen eine Brille.", dozierte er beflissen.
Um mich etwas aufzuheitern, zog er eine Grimmasse und sagte verschmitzt, „Oder ein Monokel".
Der „Davielscher Löffel" sei eine Erfindung des französischen Augenarztes Jacques Daviel, dessen beste Schüler und Schülers-schüler heute in ganz Europa gefragt seien.
„Die Franzosen sind da viel weiter als wir, und routinierter. Auch wenn diese Operation inzwischen eine Standardsache ist. Es kann vieles schiefgehen. Der Beste und Berühmteste ist Professor Antoine de Marne am Zarenhof im fernen St. Petersburg."
Die Nennung dieser Stadt ließ mich aufhorchen, hatte Edward den Namen bei seinem langen Eingeständnis über seine europäischen Maitressen doch mehrfach erwähnt.
„Die Gefahr bei Mr. Rochester liegt in seinem jungen Alter. Da ist die Linse noch nicht starr und kristallisiert genug, sondern geleeartig. Bei dieser Operation sind viele junge Menschen dann erst recht erblindet. Auch birgt jeder dieser Eingriffe die Gefahr einer Netzhautablösung, die mit nichts zu reparieren ist und im schlimmsten Fall durch die Schrumpfung zum Verlust des gesamten Auges führen kann. Daher rate ich dringend, damit noch ein paar Jahre abzuwarten und erst einmal zu schauen, wie sich die Sicht entwickelt." Ich schluckte und sah betroffen zu Boden.
Dr. Carter war mit seinem Bulletin noch nicht fertig, nun sah er meine Bleiche, und verstummte. Außerdem musste er für sich selbst noch eine Unterkunft suchen und er wusste, dass ich mich in London überhaupt nicht auskannte.
„Kommen Sie Miss Eyre! Sie sind müde. Ich bin müde. Ich brauche selbst noch eine Bleibe. Ich bringe Sie ins Hotel. Sir Rochester hat mir angeboten, in der gebuchten Suite mit Ihnen zu wohnen."
Ich schreckte zusammen. Mit einem Mann in einem Hotelzimmer? Doch er klopfte mir besänftigend auf die Schulter.
„Warten Sie ab. Sie waren scheinbar noch nie in einer Suite".
Wir verließen die Klinik und begaben uns in unserer Kutsche zum Hotel. Während ich aus dem Fenster sah und in der Abendsonne die hohen Hausfassaden bestaunte, die wie Paläste mit Stuck und Farbe verziert waren, die breiten Boulevards, die emporragenden gebieterischen, gotischen Kirchenschiffe, knüpfte Dr. Carter behutsam an sein voriges Gespräch an.
„Das mit dem Auge ist aber noch nicht alles. Professor Thomson hat zum Konzil weitere Kollegen von der chirurgisch-orthopädischen-neurologischen Abteilung kommen lassen. Sie werden sich morgen die Hand genauer anschauen und vielleicht müssen sie den Finger noch einmal korrigieren. Sie hoffen ihn so zu integrieren, dass die Nerven wieder zusammenwachsen. Damit er zumindest nicht steif bleibt. Es besteht aber durchaus das Risiko, wenn die Entzündung bis dahin nicht aufgehalten werden kann, dass er amputiert werden müsste. Aber davon ist erst einmal nicht auszugehen. Er hat auch durch den Aufprall des Projektils und den Aufschlag auf das Parkett eine mittelgradige Gehirnerschütterung und braucht dadurch Ruhe. Er kann sich außerdem nicht an den Vorfall erinnern und auch nicht, was in den Stunden zuvor geschehen war."
Während er mir väterlich meine Hand tätschelte, lächelte er milde „Das ist aber etwas, was sich ganz bestimmt wieder zurückbildet. Da können Sie sicher sein, Miss Eyre". Und ließ meine Hand los.
Unser Wagen fuhr an einem gigantischen Park mit knorrigen uralten Bäumen vorbei, und hielt vor einem schneeweißen Palast, der mit riesigen Bogenfenstern und verzierten Balkongeländern aus gemeißeltem, glänzendem Granit übersät war. Drei mächtige Eingangsvorsprünge, deren Dach Terrassen ausbildeten, wurden von herrlichen Säulen im dorischen Stil gestützt, die mit verzierten Bändern umwunden waren. Diese Eingänge dreiteilten die Fassade symmetrisch. Ich war verblüfft über die freskenartige Wirkung dieser unterschiedlich aussehenden Bauelemente und Stuckverzierungen, die von Stock zu Stock derart variierten, aber im Zusammenklang eine Harmonie ergaben und an einen griechischen Altar erinnerten. Hier wollte Mr. Rochester also mit mir unsere Flitterwochen verbringen. Meine Augen leuchteten und suchten jedes Zimmer ab.
„Miss Eyre, Sie staunen wie ein kleines Kind. Kommen Sie!", rüttelte mich Dr. Carter belustigt aus meiner Verzückung.
Und ehe ich es versah, standen wir in einem eleganten, weiten Empfangsraum, der abwechselnd mit dunkler Holzvertäfelung und samtgrünen Wänden ausgestattet war. Hinter dem Tresen, der aus einer mit Muscheln verzierten Granitplatte bestand, thronte ein älterer Mann in dunkelblauer Livree aus feinem Zwirn und goldenen Knöpfen. Seine langen grauen Haare waren sorgfältig nach hinten gebunden und auf seiner Nase tanzte ein Monokel, unter der zwei blaue Augen heiter aufblitzten. Dr. Carter drehte sich reflexartig zu mir um, mit einem breiten Grinsen. Er zwinkerte mir mit dem Auge zu und zuckte mit der Schulter. Ich musste schmunzeln.
„Sir, ich bin Dr. James Carter, der Leibarzt von Sir Edward Rochester, der vor vier Tagen seine Hochzeit feierte und zu diesem Zweck bei Ihnen eine Suite gebucht hatte. Sein Gepäck ist, meines Wissens, bereits eingetroffen. Wie Sie wissen, ist Sir Rochester ein schwerer Unfall widerfahren. Wir haben ihn soeben hier in die Klinik von Professor Thomson eingeliefert. Das ist seine junge Gemahlin Jane, die ihn nach dem Unfall gefunden und fürsorglich gepflegt hat. Sir Rochester bat uns, die gebuchte Suite gemeinsam zu nutzen und auch die Kutscher unterzubringen."
Mir verschlug es die Sprache und ich fühlte, wie sich meine Braue nach oben krümmte und ich erbleichte.
„Aber selbstverständlich, Mrs. Rochester, ich bin Mr. Jenkins, der Hotelbesitzer. Sie können sich jederzeit an mich wenden. Ich lasse Sie in die Suite bringen. Ihr Gepäck ist bereits im Zimmer."
Ein Page und ein weiterer Bediensteter verbeugten sich, nahmen unser weniges Handgepäck, und geleiteten uns in den obersten Stock. Sie öffneten im mittleren Bereich eine breite Flügeltür. Mich erwartete jedoch nicht, wie befürchtet, ein edles Schlafzimmer. Nein es reihten sich gleich drei Schlafräume aneinander. Dazwischen schlängelten sich zwei geschmackvoll eingerichtete Salons mit antik bemalten Wandbezügen, einem Hammerflügel, Stuckkaminen, Säulen und Statuen, eine Bibliothek, eine Küche, zwei vor lauter Porzellan und Gold glänzende Bädern. Kurz, es war eine Villa in der Villa. In einem der Bäder befand sich eine ausufernde Wanne von einigen Metern, eher ein Schwimmbecken. Sowas hatte ich tatsächlich noch nie gesehen.
Nun musste auch ich feixen und tadelte Dr. Carter schelmisch: „Herr Doktor, da haben Sie mich aber gewaltig hinters Licht geführt! Wie können Sie wagen, mich einfach so mit Sir Rochester vermählen?"
Er erwiderte jedoch ernst, „Liebe Jane, Sie wissen, dass ich diese Tragödie am besten kenne und ausbade. Ich betreue Bertha Mason nun fast seit 20 Jahren als meine Patientin. Ich habe miterlebt, wie Mr. Rochester unter dieser Bürde von einem lebensmunteren Jungspund zu einem sarkastischen und niedergeschlagenen Misanthropen mutierte und sein Leben wegwarf. Ich verachte Gesetze, die solch eine Ehe, die keine ist, zulassen und eine Scheidung wegen Unzurechnungsfähigkeit oder wenigstens Unzumutbarkeit ablehnen. In Frankreich wäre das alles ganz anders, wissen Sie?"
Ich zuckte zusammen, wusste aber nicht, worauf er anspielte.
„Wir alle haben gemerkt, dass Mr. Rochester in Ihrer Gegenwart regelrecht aufblühte. Er stieg …, äh, er war doch seit Monaten immer auf der Suche nach Ihrer Nähe. Sonst verlässt er nach wenigen Tagen Thornfield so schnell er kann. Haben Sie das nicht bemerkt?"
Ich spürte wie mir die Röte auf den Wangen heraufkroch, wusste aber nichts zu erwidern.
„Er liebt Sie und Sie lieben ihn. Sie wären beide jetzt verheiratet, wenn nicht Mason, dieser Trottel …."
"Herr Doktor! In so einem Zustand benimmt sich jeder trottelig!, versuchte ich ihn zu mäßigen.
„Doch er ist ein Trottel! Ein feiger verweichlichter Stutzer noch dazu. Meine Güte, so jemanden habe ich noch nicht erlebt! Ich habe ihn tagelang aufgepäppelt und gehätschelt. Ich konnte ihm nicht begreiflich machen, dass seine Schwester nie wieder gesund werden wird. Dass sie immer unberechenbarer wird, dass sich die Schübe beschleunigen werden. Allein, was alles in diesen wenigen Wochen passierte! Der Brandanschlag auf Sir Rochester, Messerattacken auf Mrs. Poole, der Angriff auf Sie, dann der Biss bei Mason. Er hat nur geheult und gewinselt: »Sie will doch nur Zuwendung! Sie muss wieder gesund werden. Ihr soll es gut gehen.« »Ihr wird es nicht mehr gut gehen.« Ich habe ihm nicht gesagt, dass ihr vielleicht noch zwei, maximal drei Jahre bleiben."
Bei dieser unerwarteten Prognose zuckte ich zusammen und ich fühlte, wie mein Puls absackte und wieder nach oben schoss, so dass ich mich an einem der Sessel festhalten musste. Dieses wichtige Detail, das meine Entscheidungen anders beeinflusst hätte, hatte mir Mr. Rochester unterschlagen. Zwei, drei Jahre und Edward wäre befreit, frei für mich.
„Kurzum, Jane, Sie sind die eigentliche Mrs. Rochester und Sie werden das eines Tages auch offiziell und rechtlich sein. Alle wissen das in Millcote, und achten Sie. Eine liebreizendere und patentere Frau hätte er für sich und die kleine Adèle gar nicht finden können."
Mir war zum Heulen zumute.
„Aber noch eins: Ich stehe unter der Schweigepflicht eines Arztes. Vergessen Sie das nicht. Lassen Sie uns diesen kleinen Scherz auskosten. Sir Rochester wird sich darüber köstlich amüsieren, glauben Sie mir. Sie sind keine Hochstaplerin. Genießen Sie, wie sich Ihnen hier in London mit diesem neuen Status die Türen öffnen. Erobern Sie sich London."
Dabei zwinkerte er wieder mit den Augen und imitierte den Hotelchef mit seinem Monokel. Jetzt brachen wir beide in herzhaftes Lachen aus.
Der Schreck und die Ängste um den gemeinsamen Patienten waren ausgestanden. Er war über den Berg und nun mussten wir ihm mit guter Laune helfen, schnell zu genesen.
„Und nun, Mrs. Rochester, gestatten Sie mir, dass ich Sie zum Dinner in den Speisesaal geleite? Der Koch ist berühmt für seine feine Küche. Natürlich französische Küche."
Wieder prusteten wir beide los. Nach dem ich mich schnell umgezogen hatte, eine von Edward ausgesuchten extravaganten Roben auswählend, in der ich wie eine Puppe wirkte, hakte ich mich in seinem Arm unter und wir schritten andächtig die Treppen herab. Es wurde ein entspannter Abend. So entspannt wie die gemeinsame Nacht in den vielen Räumen der Suite, in der wir uns gar nicht begegneten.
Chapter 4: Kapitel 4 London
Summary:
During the doctors at London hospital are trying to save Edwards sight and hand, Jane makes her first steps by discovering the sightseeings of London. Slowy Jane and Edward get back their faith in eachother.
Chapter Text
Kapitel 4 London
Wir schliefen lange aus. Dr. Carter bat mich, Mr. Rochester erst am späten Nachmittag zu besuchen, sobald die Narkose ausgeschlichen und er wieder ansprechbar wäre. Er selbst musste nun dringend nach Millcote zurückkehren. Schließlich hatte er noch andere Patienten.
Wir verabschiedeten uns herzlich und er ermahnte mich „Nehmen Sie es nicht zu schwer. Es gibt für alles eine Lösung. Wenn nicht hier, dann woanders. Und nun, Jane, ab mit Ihnen in das Londoner Treiben."
Dabei reichte er mir einen mehrfach gefalteten Stadtplan, auf denen ein Straßengewirr mit Namen eingetragen war.
„Vielleicht beginnen Sie gleich vor dem Haus? Mit dem Hyde Park. Etwas Natur wird Ihnen zum Eingewöhnen guttun. Und dann zur Themse und zum Buckingham Palace. Und passen Sie gut auf sich auf! Ziehen Sie eher Ihre unauffällige Gouvernanten-Tracht an. Sonst werden Sie nicht als Mrs. Rochester, sondern als Lady Dalrymple angesprochen".
Er lachte, ich lachte, als ich ihn vorwurfsvoll mit dem Stofftäschchen schlug, das mir Mr. Rochester zu der Abendgarderobe gekauft hatte.
„So ist es schon besser! Das soll ich Ihnen noch von ihm geben. Leben Sie wohl! Wir sehen uns in ein oder zwei Wochen in Thornfield. Länger wird es nicht dauern. Aber denken Sie dran: Er braucht unbedingt Ruhe."
Er zog den Hut und ging. Ich sah in meine Hand und erkannte, dass der Zettel, den er mir in die Hand gesteckt hatte, ein 50 Pfundschein war. Ich schüttelte ungläubig über Mr. Rochesters Beharrlichkeit den Kopf, begriff aber, dass ich mit meinen 20 Schilling in London nicht die nächste Straßenecke erreichen konnte, und nahm es erst einmal dankend an. Schließlich schuldete er mir noch meinen Lohn. Ich griff nach meinen Zeichenutensilien und dem umständlichen Stadtplan. Diesen drehte ich so lange, bis ich etwas entziffern konnte, suchte nach „Hyde Park" und wusste, wo ich war.
Mit besserer Laune, als ich angekommen war, machte ich mich auf den Weg und durchwanderte mit großen Augen auf den weitverzweigten Wegen die raffinierte Parkanlage, bestaunte die Lebensechtheit antiker Götter, deren Marmor sich so weich anfühlte. Diese Geborgenheit und Frische, die von den altehrwürdigen Bäumen ausströmte, waren ein Genuss für meine erschöpfte Seele. Dann folgte ich einer weiteren Parkavenue und stieß direkt auf den barock anmutenden Buckingham Palace, der seit einem Monat der Regierungssitz der frischgekrönten jugendlichen Königin Victoria war. Ich schritt feierlich und langsam vorbei und studierte jeden Winkel durch das Gitter. Dann setzte ich mich verstohlen auf eine Bank und begann das imposante Gebäude zu zeichnen. Diese Muße verschaffte nach der langen Wanderung durch den Park die nötige Rast für meine Füße, die das harte Kopfsteinpflaster nicht mehr gewohnt waren. Ich schaute die fertige Skizze zufrieden an, verstaute sie in meiner Tasche. Nach der Stunde bekam ich Hunger, andererseits wollte ich unbedingt die nahen lockenden Kirchtürme erkunden. Bald war ich an der Westminster Abbey angelangt, deren machtvollen Ausmaße mich erschlugen. Daher füllte ich mir zuvor in einem Café nach Herzenslust mit Fisch und leckerem Gemüse, dazu eine Zitronenlimonade, den knurrenden Magen. Erstmals war ich in meinem Leben allein unterwegs, dazu in einer solch großen Metropole. Mit meinen bald 19 Jahren kam ich mir endlich erwachsen vor. Ich genoss die Sonne und die Unabhängigkeit, zu tun und lassen, was ich wollte.
So gestärkt wagte ich mich in das imposante Kirchenschiff. Den Fialen waren die Schäden des verheerenden Erdbebens von vor 100 Jahren an den abgebrochenen Zinnen und beschädigten Skulpturen immer noch anzusehen. Andächtig mich um meine eigene Achse drehend, bewunderte ich die Pracht der gewaltigen Fensterverglasungen, die berühmte Rosette, und beobachtete, wie unterschiedlich sich in ihr je nach Farbton das Licht brach und den Raum erleuchtete oder verdunkelte. Ich besuchte die Krypta mit den Särgen der Könige. In einer der Seitenschiffe entdeckte ich eine kleine Kapelle mit einem schlichten Holzaltar, vor dem ich mich auf die Knie niederließ, eine Kerze entfachte und mir alle Ängste und Hoffnungen von der Seele betete. Für die Genesung von Mr. Rochester betete. Für Klarheit in meinen Verirrungen betete. Und Gott anflehte, mir diesmal den rechten Weg zu weisen.
Auf den Wandelgängen der Kathedrale fiel mir ein ewig langer uralter Teppich ins Auge, der die Erbauung der Kathedrale vor 800 Jahren zeigte. Der Erbauer war König Edward der Bekenner, der Heilige. Ich musste Schmunzeln. Wie Edward Rochester hatte dieser Angelsachse viele Jahre in Frankreich verbracht, aus dem er Verwaltungsstrukturen mit in das England der Normannen brachte. Anders als das Protzbauwerk vermuten ließe, lebte der Heilige Edward in asketischen Verhältnissen und in tiefer Religiosität. Als ich an Mr. Rochesters Eitelkeit mit seinen hunderten edlen Westen, Gewändern und Juwelen dachte, mit denen er mich einen Tag nach seinem ergreifenden Antrag wie eine Haremssklavin auszustaffieren gedachte, hallte und echote mein Gekicher durch das riesige Schiff und tröpfelte von den Gewölben herab. Ich hielt mir sofort den Mund zu, schaute mich um und schlich mich aus dem Gotteshaus, wo unsere Könige gekrönt wurden. Ich würde die kommenden Tage zurückkommen und hier ausreichend Motive zum Zeichnen finden, beschloss ich und trennte mich von dem heiligen Ort. Der tiefere Sonnenstand kündete mir an, dass ich viel Zeit hier verbracht haben musste, und ich mich bald zur Klinik aufmachen sollte. Ich schlenderte den Weg weiter bis zur Themse, deren Breite mich erschrak. Ich setzte mich noch eine Stunde auf eine Brücke in der Nähe des Towers, den ich mir für die kommenden Tage aufsparen wollte, und genoss die vielen Aussichten und Entdeckungen, die Nähe des rauschenden Stroms. Von der Westminster Abbey schlug die Glocke nun 15 Uhr, ich besorgte an einem Stand frische Äpfel und Aprikosen und rief mir eine Chaise, die in der Nähe stand.
In der Klinik angekommen, suchte ich Professor Thomson auf, der mir berichtete, dass sein Kollege den betroffenen Ringfinger nicht hatte retten können. Er musste amputiert werden. Dafür sei der komplette Infektionsherd jetzt entfernt. Er würde und musste mit dieser leichten Behinderung nun zurechtkommen. Als ich in das Zimmer kam, merkte ich sofort, dass Mr. Rochester das ganz anders sah. Noch benebelt von der Narkose und den Schmerzmitteln las ich seine mürrische Laune sofort an der Nasenspitze ab. Er hatte sich zur Seite gedreht und sein Gesicht wieder mit der gesunden Hand bedeckt. Als er mich hereinkommen hörte, wandte er mir nur kurz seinen Kopf zu und kehrte sofort wieder in seine niedergeschlagene Haltung zurück.
Ich hörte nur ein Knurren „Da ist ja die Hexe".
Ich setzte mich an sein Bett und wir schwiegen eine gefühlte Ewigkeit. Ich brach die Stille, indem ich ihm erst von der skurrilen Ankunft mit Dr. Carter im Hotel erzählte, ohne dessen schwerwiegenden Streich zu erwähnen, brach dann aber ab, als er nicht reagierte. Ich fragte ihn, ob er Schmerzen habe. Er zuckte nur mit den Schultern und schüttelte dann abwehrend den Kopf. Wieder entstand eine längere Pause. Da wusste ich, dass er sich an den Vorfall nun wieder erinnerte, an meine Flucht. Beschämt schnitt ich mit einem Messer einen der Äpfel in Viertel, entkernte sie und reichte sie ihm auf einem Teller. Widerwillig, aber von der langen Betäubung hungrig, nahm er sie dann doch schweigend an.
Nach einer Weile platzte es in seiner gewohnten Schroffheit heraus „Jetzt siehst du böswilliger Wechselbalg, was du aus mir gemacht hast, einen blinden Krüppel! Bitte geh!"
Ich säuselte schuldbewusst ein „Sir, verzeihen Sie, ja vielleicht habe ich einen großen Fehler begangen, aber ich weiß noch nicht welchen."
Als er darauf gewohnt impulsiv sich in seine Wut hineinsteigerte, dass man mir nicht mehr vertrauen könne, platzte auch mir der Kragen und ich fauchte ihn an „Sie sind ungerecht, Sir! Denn bedrängt haben Sie mich! Und mich so mit Ihrer Frau belogen! Wie sollte ich Ihnen dann vertrauen? Sie wollten mich halten, in dem Sie sich das selbst antun. Ich werde für Sie da sein, aber erpressen lasse ich mich nicht! Ruhen Sie sich aus."
Und verließ gereizt und enttäuscht über seine Abweisung den Raum und kehrte ins Hotel zurück.
Die folgenden Tage verliefen in diesem Rhythmus. Ich lernte die Hauptstadt immer besser kennen, durchstöberte bei Regen die Museen und zeichnete die Wahrzeichen der Stadt bei Sonnenschein. Gegen Abend besuchte ich mit meiner Sturheit den hartnäckig schmollenden Liebsten. Am dritten Tag, an dem er von der Narkose nichts mehr merkte, die Schmerzen an der Hand nachließen und er merkte, dass ein verlorener Finger eigentlich praktischer war als ein abstehender steifer Finger, war seine Laune bereits ein wenig besänftigter und ihm entfleuchte ein Lächeln, als ich eintrat.
„Da sind Sie ja, Miss Eyre, kommen hereingeflattert wie eine Elfe."
Das brachte auch mich zum Grinsen, als sein wohlvertrauter Sarkasmus die Wut über die körperliche Versehrtheit mit all ihren Zukunftsängsten langsam verdrängte. Ich hatte ihm Voltaires „Candide" und die neueste Ausgabe der „Times" mitgebracht, um seine Langeweile etwas zu vertreiben. Er schlug es auf, lächelte und bedankte sich artig. Das Eis war gebrochen. Er wollte jetzt die abgebrochene Geschichte an der Hotelrezeption mit Dr. Carter genauer hören und unsere gemeinsame Nacht in der Suite. Er merkte, dass da irgendetwas Peinliches vorgefallen sein musste, funkelte aber barmherzig mit den Augen, als ich auswich und ihm nun mit wesentlich fröhlicherem Tonfall von meinen ersten Abenteuern in der Riesenstadt erzählte. Als ich ihm von der Schönheit des Hotels vorschwärmte, wurde er sentimental, und ich wusste warum. Wir verabschiedeten uns trotzdem förmlich. Ich kehrte aber zurück und streichelte kurz zärtlich seine Schulter und strich ihm über das Haar wie eine Mutter, die sich um ihr krankes Kind sorgt.
„Jane? Kommst du wieder?"
„Ja, Sir".
Chapter 5: Kapitel 5 Der Opernbesuch
Summary:
Before his failed wedding with Jane Edward ordered ticket for opera for their honeymoon. Now Jane visits first time a theatre and the coincidences of the opera stuff changed slowly her mind about her relationship to Edward and the social impediments hindered it.
Notes:
OMG some opera and culture history now!
Chapter Text
Kapitel 5 Opernbesuch
Als ich am fünften Tag mittags von meinem Ausflug an der Rezeption des Western Hotel meinen Schlüssel abholte, reichte mir Mr. Jenkins einen Umschlag.
„Madame, ich weiß, dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist, aber Ihr Gemahl hatte uns aufgetragen für den heutigen Abend Karten für die Oper zu besorgen. Es war sehr schwierig, diese zu bekommen, da die Aufführung seit der Premiere am 5. April ständig ausverkauft ist. Fanny Tacchinardi-Persiani und der himmlische Tenor Giovanni Battista Rubini und sogar Antonio Tamburini singen wieder einmal gemeinsam „Lucia di Lammermoor". Die Persiani hat doch schon die Uraufführung in Neapel gesungen! Das ist absolut Donizettis Meisterwerk, sagt meine Tochter. Ganz London ist verrückt nach dieser Musik. Und diese rührende Geschichte! Auf so was kommt nur unser Sir Walter Scott! Haben Sie „The Bride of Lammermoor" gelesen, über den Dalrymple-Tratsch? Sie brauchen etwas Abwechslung, Madame. Sie können meine Tochter Margarete als Begleitung mitnehmen. Sie liebt Donizetti und trällert seine Melodien den ganzen Tag. Wir holen Sie danach sicher mit der Kalesche ab!"
Ich war sprachlos. Mr. Rochester hatte als Hochzeitsgeschenk über das Hotel Karten für die Oper besorgen lassen. Er liebte die Musik und den Gesang. Oft hatte er Donizettis schwärmerische und auch die freche Melodien mit seiner samtigen Stimme gesungen. Er wollte mir eine Freude machen! Er wollte, dass ich erstmals in die Oper gehe. Ich war gerührt. Nach all der Aufregung der letzten Tage und der erlösenden Nachricht, dass Mr. Rochester genesen wird, war mir solche Abwechslung willkommen. Damit konnte ich ihn aufheitern, ihm meine Dankbarkeit und meine Entschuldigung bezeigen, in dem ich sein Geschenk annahm und ihm dann davon erzählte, was er selbst nicht hören konnte. Dafür musste ich heute aber auf den versprochenen Besuch verzichten. Ihn ein bisschen Strampeln lassen konnte nicht schaden, dachte ich mir.
Die imposanten Sängernamen sagten mir nichts. Auch „Lucia di Lammermoor" sagte mir nichts. Scotts Roman, der erst 1837 komplett überarbeitet neu erschienen und nun in aller Munde war, hatte ich noch nicht gelesen, da ich diesen romantischen Dichter nicht so mochte. Da waren die Italiener schneller, und hatten den Erfolgsroman gleich zu einer Oper verarbeitet. Scotts „Ivanhoe" war mir zu weltfremd, zu verwegen, zu unreal, zu sinnlich. Seine Novelle „Old Morality" über uns strenggläubigen Puritaner und unsere Regeln entrüsteten mich immer noch, obwohl diese mich jetzt in eine solche missliche Lage gebracht hatten. Daher wusste ich nur, dass es bei der "Bride" um eine verbotene Liebe wie „Romeo und Julia" und den Parteienstreit zwischen Torys und Whigs ging. Eigentlich konnte ich „Romeo und Julia" in meinem eigenen Liebeskummer jetzt überhaupt nichts abgewinnen. Zu eindeutig war Edwards „Hörst du die Nachtigall im Wald singen?" kurz vor seinem Antrag, was ich jedoch damals als blanken Hohn empfand. Ich entschloss mich, nicht auf die Handlung einzulassen, und mich allein auf die Musik und diese angeblich „erlesensten Stimmen der Welt" zu konzentrieren.
Ich war aber unbeholfen mit meiner Abendgarderobe. Was sollte ich anziehen? Doch Margarete, ein Mädchen nur unwesentlich jünger als ich, war so begeistert für die Gelegenheit, ihre Lieblingssänger hören zu dürfen, und so half sie mir beflissentlich, aus meinen für unsere Hochzeit gepackten Kleidern eine grüne Abendrobe auszuwählen, und mich zurechtzumachen. Dabei schwärmte sie mir von den perlenden Trillern und rasenden Skalen der Primadonna, oder wie sie selbst in höchsten Lagen nach Belieben komplizierte Verzierungen noch farblich und dynamisch verändern konnte.
„Ihr Sopran strahlt vor lauter Innerlichkeit! Und ihre Improvisationskunst! Sie IST die Rolle! Sie rührt das Publikum weltweit zu Tränen und hysterischem Beifall, besonders als Lucia!"
Margaretes Liebling aber war Rubini, der berühmteste Tenor, den sogar ich kannte. Mr. Rochester hatte mir einiges über ihn erzählt: „Er beherrschte die höchsten Lagen mit einer solchen Tragfähigkeit in Perfektion und Schönheit und atemberaubender Virtuosität."
Margarete ergänzte seine Einschätzung, „Wie die Persiani, aber er übertraf sie an Ausdrucksstärke. Und wie schön er ist!"
Sie erzählte mir von Donizetti, seinen betörenden Melodien, von seinem Charme, seinem Humor. Vom Inhalt der „Lucia di Lammermoor" erfuhr ich über sie wieder nichts. Sie dachte wohl, ich kannte das allbekannte Buch als Lehrerin ebenso. Ohne es zu merken, hatte sie mir aus einer Schatulle, die wir unter Mr. Rochesters Gepäck fanden, eine Goldkette mit feinen Smaragd-Steinchen um den Hals gelegt und an die Ohren gesteckt. Sie frisierte und wellte meine Haare, steckte mir Federn ins Haar, die ich konsequent wieder herauszog. Ich war ja kein Vogel. Sie schminkte mich dezent, so wie noch vor einer Woche Sophie mich als Braut zurecht gemacht hatte. So war ich zufrieden und bereit auf diese unbekannte Welt.
Wir trafen eine Stunde vor der Aufführung gegen halb sieben am Royal Theater Covent Garden ein. Es war hell erleuchtet. Aus allen Himmelsrichtungen strömten Karossen vor das imposante Portal mit seinen attischen Säulen. Herren im Frack halfen Damen in prächtigen Gewändern und funkelnden Juwelen aus den Wägen. Plötzlich war ich eingeschüchtert. Ich fühlte mich fehl am Platz und beobachtet, als der Diener des Hotels uns aus dem Wagen half. Margarete sprang mir voraus und zog mich hinein in das Vergnügen. Ich versuchte, meine unerfahrene Beklemmung zu überspielen, in dem ich sie nachahmte. Übermütig knickste sie vor besonders eleganten Paaren. Ich tat es ihr nach. Sie reichte am Eingang Butlern in Livree unsere Billetts, die sich verbeugten und uns den Weg zu einer prächtigen weißen Marmor-Freitreppe, die gesäumt war von antiken Skulpturen, wiesen. Ich staunte, ohne über die vielen nackten Leiber der Helden der griechischen Tragödie brüskiert zu sein. Neugierig wurden wir die Treppe von fröhlichem Stimmengewirr im Foyer heraufgesogen. Uns wurde in Kelchen Champagner oder Wasser angeboten, was wir genüsslich in unsere Kehlen laufen ließen, bevor wir die hellen und feierlichen Räume durchschweiften. Etwa zwanzig Minuten vor Beginn schwang eines der Einlassbediensteten mit selbstgefälliger Miene eine Glocke. In rotschwarze Uniformen gekleidete junge Frauen schritten wie in einer Choreografie synchron zu den vielen Holztüren, öffneten so die Logen und verneigten sich vor den eintretenden Gästen. Vorsichtig, bezaubert, beschämt betrat ich das große Auditorium und blickte mich um, war geblendet von der Pracht der steinernen Kassettendecke und den Reliefs, in den sich ganze Dramen abspielten, die goldverzierten Logen in den fünf von gewaltigen Spitzbögen begrenzten Rängen, den roten Samtsesseln und den funkelnden Kronleuchtern. Margarete zupfte an meinem Kleid und zog mich über eine rotleuchtende Treppe herauf in den nächsten Rang. Dort öffnete man uns eine Loge, in der sechs Plätze frei waren. Mr. Rochester hatte uns die seitlichen vorderen Plätze reserviert, wo man den völligen Überblick über das Auditorium, den Orchestergraben und Bühne hatte. Das Haus barst vor Menschen, Parfüm und Gelächter, das erst verstummte, als alle saßen und die Kerzen gelöscht wurden.
Ein rauschendes Klatschen brach aus, als das Orchester sich erhob und ein zierlicher Mann im Frack vor es trat. Da fiel ein Lichtschein herein, die Tür der großen, mittleren Königsloge wurde geöffnet, alle erhoben sich, das Orchester spielte begeistert die Königshymne „God save the Queen" auf und eine junge zierliche Frau in stolzer aufrechter Haltung mit mädchenhaft süßen Zügen und ernstem fokussiertem Blick schritt feierlich zu ihrem Platz. Um ihren kunstvoll geflochtenen Haarkranz waren verspielt Bänder mit Blüten gewunden. Ihr weißes Seidenkleid war überbordend von Spitzenrüschen, Blumen übersät. Ihr weites Dekolleté begrenzte eine königsblaue Schärpe, darüber blitzten Geschmeide. Da war sie, Queen Victoria, die frischgebackene Königin von England, gerade einmal einen Monat im Amt. Gerade einmal zwei Jahre jünger als ich. Gefolgt von der respekteinflößenden Königinmutter Mary Louise. Das Publikum verneigte sich, sie winkten huldvoll, bevor sie sich setzten. Mir schlug das Herz vor Freude bis zum Hals. Ich, die kleine, einfache, arme Waise aus Lowood, mit der erhabensten Frau von England und des Commonwealth, nein was sage ich, der mächtigsten Frau der Welt, im selben Raum! Und ich atmete dieselbe Luft.
Es wurde dunkel. Das Orchester stimmte eine düstere, geheimnisvolle Ouvertüre an, zerrissen durch schrille Aufschreie der Holzbläser, die schlimmes erahnen ließen. Ich wollte mich davon nicht beeindrucken lassen. Langsam hob sich der schwere rote Samtvorhang und öffnete einen Blick auf einen dunklen Wald, in dessen Mitte eine alte Zisterne war. Jäger streifen aufgeregt umher. Der Bariton ist als adliger Herrscher Henry Ashton fürstlich gekleidet und sucht seinen Widersacher Edgar von Ravenswood, dem letzten seines Stammes. Dessen Vater hatte alles verspielt, so dass Henry die Familie aus dem Schloss Lammermoor vertrieb, und den Vater in den Suizid trieb. Edgar, von Rachsucht getrieben, haust nun in der nahen verfallenen Ruine der Burg Wolferag. Henry ist aufgebracht, weil seine Schwester Lucia sich beharrlich weigert, seinen mächtigeren Parteigenossen Lord Arthur Bucklaw zu heiraten, von dem sich Henry bei wechselnden Machtverhältnissen in Schottland die Sicherung seiner politischen Macht erhofft. Der Priester tritt dazwischen und nimmt Lucia in Schutz. Sie trauert noch um ihre verstorbene Mutter und man müsse auf ihre zerbrechliche Natur und Psyche achten. Als Henrys Untergebener ihm mitteilt, dass sich seine Schwester allabendlich mit seinem Widersacher Edgar am Brunnen trifft, seitdem dieser sie im Wald vor einem wilden Stier gerettet habe, tobt Henry mit ausladender samtig-dunkler Stimme seine Wut in einer Arie aus, deren Schönheit mir den Atem raubte. Energiegeladen folgte ein Triumphgesang, in dem er Edgar die Vernichtung droht, was das Publikum zu Jubelstürmen hinriss. Auch mich. Diese tiefstrahlende leidenschaftliche Stimme erinnerte mich in ihrem Ungestüm an Mr. Rochesters Gesang und Wesen. Zu unserer Freude wiederholte Antonio Tamburini die Arie.
Als er mit seinen Gefolgsleuten weiterzieht, fällt ein Zwielicht auf den Brunnen zu zauberischen Harfenklängen, die wie eine Quelle plätscherten. Da war sie! Feuriger Applaus brandete auf. Margarete zupfte mich am Ärmel und sah mich verstohlen und stolz an. Fanny Tacchinardi-Persiani schwebt elfenhaft als Lucia im modernen Kostüm herein, sucht theatralisch jemanden und lässt sich dann leidend am Brunnen nieder. Ihre Amme ermahnt sie zur Vorsicht, als Lucia sich übermäßig aufregt. Der Brunnen scheint Lucia zu verstören. Ich musste schmunzeln, die stilisiert übertriebene Pantomime widersprach so ganz meinem Naturell. Doch dann fing sie zu singen an: Ihre hohe, glasklare und durchdringende Stimme vermischte sich mit der Harfe zu einem Glitzern und ihre sich immer mehr in die Lüfte schwebenden schwärmerischen Kantilenen zogen mich immer tiefer in ihre Erzählung hinein, bis ich nicht mehr wusste, ob ich Jane oder Lucia war. Sie berichtet, wie ihr der Geist einer Frau erschienen war, die an dem Brunnen aus Eifersucht von Edgars Ahn erstochen und in den Brunnen geworfen worden war. Die Amme fleht Lucia an, solcher unglückseligen Liebe zu entsagen. Doch Lucia will auf die Ekstase, die sie in Edgars Armen erlebte, als einzige Freude in ihrem Leben nicht verzichten. In virtuosesten Verzierungen hörte ich die Verzückung wieder, die ich selbst in Mr. Rochesters Küssen erlebt hatte. Die Zuckungen meines Leibs, der bohrende Schmerz, die Glückseligkeit, die Seufzer. Die Primadonna schien Liebesschreie auszusingen, die durch die Schönheit der Musik und ihrer Stimme transzendiert wurden. Mir stiegen die Tränen in die Augen, und der eigene Liebesschmerz hatte mich wieder, die Sehnsucht nach ihm. Ich war fassungslos, dass in Sir Walter Scotts Handlung, dieses junge Mädchen von sechszehn Jahren, ohne Ehe, all die Freuden mit ihrem Geliebten ausleben durfte, die mir mein Glauben, meine Erziehung und meine Konvention verboten. Ich mir verboten hatte! Und nun meinen Geliebten so in Gefahr gebracht hatten, dass ich ihn beinahe verloren hätte. Im Roman, auf der Bühne erlaubte diese Tradition diese Sünde also, vom Publikum bejubelt! Ich war erschüttert.
Doch es sollte noch schlimmer kommen! Edgar erschien. Der Weltstar Rubini. Wieder tobte die Menge. Und mir gab es einen weiteren Stich. Margarete klatschte vor Begeisterung mit dem Kopf wackelnd und sah nicht, wie blass ich wurde. Da stand Edward! Ein großer athletischer Mann mit leidenschaftlichen aber nicht eben dem jetzigen Schönheitsideal entsprechenden Gesichtszügen, mit einer wirren schwarzen Lockenmähne, dunkelgebräuntem stolzen Gesicht und düster funkelnden Augen, als sei er aus einem Byron-Gedichtband gehüpft. Edgar muss als Gesandter nach Frankreich, will sich aber zuvor mit Henry aussöhnen und Lucia heiraten, um sie dorthin mitzunehmen. Nach Frankreich. Vor meinem inneren Auge brandete die weiße Villa am französischen Mittelmeer auf, wo noch vor genau 8 Tagen Mr. Rochester mit mir ein neues Leben beginnen wollte. Mir blieb der Atem weg, als Lucia ihm den Plan ausreden und mit der Ehe lieber auf seine Rückkehr warten will. Sie tauschen eine gebrochene Münze als Verlobungszeichen aus und schwören sich ewige Treue. Die Vollkommenheit von Rubinis Gesang, seine Wutausbrüche versetzten mich in eine Stimmung, der ich mich nun nicht mehr entziehen konnte. Edgar und Edward verschwommen zur selben Person.
Nach dem Akt hörte ich in der Pause kaum Margaretes Schwärmerei über die Sänger, denen ich doch hauptsächlich lauschen wollte, um mich der Geschichte zu entziehen, die nun zu meiner Geschichte geworden war. Verdammter Scott! Ich lächelte gequält, auch wenn ich innerlich zugeben musste, dass es die Art und Weise, wie die Sänger ihre Sätze deklamierten, sie ihre Stimme veränderten, die schiere Schönheit der Melodien diese Identifikation erst erzeugt hatten. Sie durchdrangen mich, brachten mein Seele zum Schwingen, so wie mich Edwards Stimme mich in seinen Liedern durchdrang, deren Zauber ich mich aber damals entziehen wollte und konnte. Hier war kein Entkommen mehr.
Der Vorhang hob sich erneut und wir befinden uns in Henrys dunklen holzgetäfelten Arbeitszimmer. Dieser hatte mit seinem Gefolge sämtliche Briefe Edgars abgefangen und spielt ihr einen gefälschten Brief zu, in dem Edgar beichtet, in Frankreich geheiratet zu haben. Sie solle ihn vergessen. Lucia bricht das Herz, meines auch. Edgar verheiratet, Edward verheiratet.
„Du wirst mich in 14 Tagen vergessen haben", schallt seine Stimme in meinem Hirn.
Lucia wird dasselbe vorhergesagt, doch sie will Edgar treu bleiben. Henry erpresst sie mit ihrem Gewissen, ihm sein Leben und seine Stellung zu ruinieren. Lucia sehnt sich nach dem Tod, wie ich damals, als er mich nach Irland zu schicken drohte. Nun manipuliert sie auch der Priester. Edgar habe auch die von ihm sicher nach Frankreich geschmuggelten Briefe aus mangelndem Interesse nicht beantwortet. Daher solle sie sich lieber für ihre Familie aufopfern, in einer Ehe mit Arthur. Gebrochen willigt Lucia ein. Der Priester verzerrte sich in meiner Fantasie zu einem Bild Dr. Brocklehursts. Empörung machte sich in mir breit über die heilige Kirche, die die Liebe der jungen Menschen derart mit Intrigen unterminierte, im Namen Gottes.
Das Bild wechselt in einen prächtigen Festsaal, in dem Lucia feierlich ihrem unliebsamen Bräutigam vorgestellt wird. Geistesabwesend unterzeichnet sie am Altar den Ehevertrag, als sei es ihr Todesurteil. Kein Mason, der mit einem Hinderungsgrund dazwischen tritt. Sie ist verheiratet, hinterhältig zur Heirat gezwungen, wie Mr. Rochester durch seinen Vater. Da stürmt plötzlich Edgar herein, zu spät für einen Einspruch. Der Priester kann gerade noch verhindern, dass Henrys Gefolgsleute ihn töten. Er stellt Lucia zur Rede, sie schweigt. Die Ratlosigkeit und Verzweiflung brechen sich in einem herrlichen Sextett Bahn. Wütend wirft Edgar ihr die Verlobungsmünze vor die Füße und verflucht sie. Sie bricht zusammen. Das Publikum ist entrüstet, dass er sie nicht mit sich nimmt, die verheiratete Frau. Ich war irritiert über diese unmoralische Reaktion. War es dann doch nicht so verwerflich, einen Gatten, wenn er gegen seinen Willen verheiratet ist, zu ehelichen? Darüber sinnierte ich und verpasste die Verabredung zum Duell zwischen den Erzfeinden. Ich wurde aus meinem Wachtraum durch einen gellenden Schrei unterbrochen.
Die Szene war wieder auf das Hochzeitsfest zurückgekehrt. Lucia hat ihren Bräutigam im Brautbett lebensgefährlich mit einem Messer verletzt. Ob er überleben wird, ist bis zum Schluss nicht klar. Lucia schwebt wie in Trance mit blutigem Nachthemd und Messer in der Hand herein. Ihr starrer Blick und ihre aufgelösten Haare umrahmen ihren wilden Blick und ihre zuckenden Bewegungen. Totenbleich fällt sie die Gäste an. Sie umarmt Männer, die sie im Delirium für Edgar hält und vor einen imaginären Altar zerrt. Die wahnsinnige Frau, so wahnsinnig wie Bertha Mason. Wieder stockte mein Atem, als sie, die verheiratete Frau, vor den Augen der Königin von England und der Gesellschaft, die diese Konventionen festlegten, Edgar heiratet und in entrückten und virtuosesten Koloraturkaskaden Liebesfreuden mit ihm auslebt. Da war sie wieder, die Ekstase. In Lucias Wahn kann der Geist der toten Frau aus dem Brunnen die Trauung nicht verhindern. Dagegen erscheint Henry und macht ihr wütende Vorhaltungen. Auch ihn hält sie für Edgar und gesteht ihm, dass ihr grausamer Bruder sie zu der Ehe gezwungen hat, und verspricht, auf ihn im Himmel zu warten. Sie bricht zusammen. Ich schluchze und heule und Margarete kann mich kaum noch trösten. Nur noch im Nebel bekomme ich mit, wie Edgar bereit ist, beim Duell zu sterben und dann den Trauerzug sieht. Besessen versucht er in den Palast zu dringen, um bei ihr zu sterben. Doch die Todesglocke verkündet Lucias Tod. Edgar ersticht sich. Sie sind vereint. Während der Applaus aufbrandete und Fanny wieder zum Leben erwacht gefeiert wurde, klatschte ich zuerst mechanisch mit. Wieder eine Todsünde, über die sich das Establishment so erfreute?
Draußen wartete schon die Kalesche des Western Hotels auf uns. Auf dem Heimweg erfasst mich die schiere Freude. Hingerissen von der Musik, von der Geschichte, von meiner Geschichte, werde ich mir gewahr, dass ich mir selbst im Weg gestanden hatte. Es war nicht die Gesellschaft, die diesen Verzicht von mir forderte. Ich war es selbst. Ich durfte ihn lieben. Und es war keine Sünde, denn die erzwungene Ehe war keine von Gott gesegnete. Und wenn man selbst im Wahnsinn einen Verheirateten ehelichen durfte, war es dann überhaupt Bigamie? War dann eine Ehe mit einer Wahnsinnigen überhaupt rechtmäßig? Endlich verstand ich, was Edward mir vor einer Woche hatte erklären wollen. Ich verließ das Theater mental gereinigt und selig als eine neue Jane. Ich hatte auf die junge Königin Victoria nicht mehr geachtet. Ich hatte meinen Entschluss gefasst. „Zur Hölle mit Dr. Brocklehurst und der Kirche", hörte ich meine Stimme sprechen und lächelte schelmisch, denn das waren Mr. Rochesters Worte. Ich gehörte zu ihm. Ich würde ihn begleiten, wohin er mich auch führte. Ich würde ihm gehören und dieselben Wonnen erleben, die in Persianis herrlichem Gesang meine Sinne erregt hatten. Er war wegen mir vielleicht bald blind und verkrüppelt. Ich durfte ihn nicht verlassen. Sonst würde ich ein verkrüppeltes, blindes Leben führen. Ich ging selig zu Bett, das jetzt unser Brautbett gewesen wäre, wenn ich nicht so störrisch gewesen wäre. Und schon schlummerte ich der nächsten Begegnung entgegen.
Chapter 6: Kapitel 6 Genesung
Summary:
Well, the power of music ...
But Edward isn't amused, that she had left him so alone.
At least he is recovering, and his injuries won't be so dangerous anymore.
Does music has the same effect upon him?
Chapter Text
Kapitel 6 Genesung
Als ich am kommenden Nachmittag in die Klinik kam, knurrte mich Mr. Rochester verstimmt an: „In London hat der Tag schon 48 Stunden, Hmm?" Ich kicherte und verzog die Augenbrauen. „So eine garstige Drahtpuppe! Vergisst mich hier einfach.", murmelte er und musterte mich in Gutsherrenart von oben bis unten. Sein schmollendes Gesicht hellte sich erst auf, als ich mich überschwänglich bei ihm für die Opernkarten bedankte. Langsam dämmerte es ihm, dass er mein Ausbleiben selbst provoziert hatte, fand es aber hinterhältig, dass ich ohne ihn gegangen war. Ich sollte ihm den Abend genau schildern. Und so sprudelte meine Begeisterung heraus über Margaretes angenehme Gesellschaft, die überwältigenden Melodien, und der unglaublichen Virtuosität und Darstellungskunst von Fanny Tacchinardi Persiani in der langen, langen Wahnsinnsszene, nannte sie sogar vertraut „Fanny". Er lachte. „Vero, Fanny è magnifica!" rief er enthusiastisch und beichtete, dass er sie schon mehrfach gehört hat, in Neapel, in Paris, Mailand und sogar in St. Petersburg.
Ich spielte die Eifersüchtige und rief „Wie, du reist ihr nach?"
Er gluckste erheitert. „Jane, sie ist glücklich verheiratet! Mit Herrn Persiani. Man trifft sich in den Salons, und sie ist einfach so berühmt, dass man ihr nirgendwo ausweichen kann! Hast du gehört, wie ihr Pianissimo trägt, bis in die hintersten Winkel? Ist das nicht „fantastico"?"
Ich revanchierte mich, indem ich von Tamburinis Inbrunst und sinnlichen Stimme schwärmte, die mir Gänsehaut über den Rücken gejagt hätten. Und wie schön Rubini singt und aussieht! „Er sieht fast so aus wie du, nur schöner!" Er warf sein Kopfkissen nach mir „Die unverschämte Elfe!" Wir neckten uns weiter. Nur, was an dem Abend die Handlung in mir selbst ausgelöst hatte, das erzählte ich ihm nicht.
In der gelösten Heiterkeit verkündete er dann stolz, dass die Ärzte sehr, sehr zufrieden mit seiner Heilung seien. Sie hatten ihm auch Mut wegen seines Augenlichts zugesprochen.
„»Wenn Sie sich die nächsten Wochen wirklich schonen, kann sich das Auge erholen. Und dann sehen wir in 2-3 Jahren, ob eine Operation gegen den grauen Star nötig wird oder nicht. Je später solche Operation stattfindet, umso besser.« Die Ärzte wollen, dass ich in vier Tagen die Klinik verlassen kann, aber ich soll weiter in London im Hotel bleiben, mich noch eine Woche schonen, und die Augenklappe weiterhin aufsetzen, keine Erschütterung und Anstrengungen wie Reiten und Li_."
Hier brach er ab, schluckte verlegen, indem er meinem Blick auswich und sich auf den Schenkel klopfte. "Lieber vorsichtig versuchen, wieder auf die Beine zu kommen."
Ich ahmte seine tiefe Stimme nach „Das ist ja fantastico!", ahnend, dass ich vorerst dadurch keine Annäherungsversuche zu fürchten hatte. Wieder prusteten wir los.
„Bleiben Sie bei mir, Miss Eyre, solange ich hier ausharren muss? Ich alter Krüppel brauche jetzt eine Zugehefrau. Oder muss ich ebenfalls allein in die Oper?"
Mir wurde mulmig und zögerte erst, dann nahm ich aber den unbeschwerten Tonfall wieder auf: „In der riesigen Suite treffen wir uns sowieso nie!"
Mr. Rochester schüttelte sich vor Lachen.
Es folgten vier weitere, frohere Erkundungstouren durch London, mit vielen neuen Zeichnungen. Ich brauchte inzwischen den Stadtplan nicht mehr. Auch wenn es noch viele Ecken gab, die ich noch nicht erobert hatte. Diese sparte ich mir für die Woche mit Mr. Rochester auf. Ich war begierig, sein London zu erleben. Dank seiner gewohnten Launenhaftigkeit, die immer wieder von Trübsinn und Unmut zernagt wurde, wusste ich, dass auch die kommenden Tage gewohnt wechselhaft weitergehen würden. Ich schwor mir aber, das Beste daraus zu machen, und weiter die Distanz zu wahren, unsere platonische Freundschaft wiederzubeleben, bis wir beide wussten, was wir für unsere Zukunft wollten. Ich hatte immer noch ein ungutes Gefühl, da ich immer noch nicht wusste, was das Richtige war. Nachdem die Ärzte ihm einen ganzen Katalog an Handlungsweisen, Therapien und Medikamenten verschrieben hatten, die er erst einmal weiterführen sollte, konnte er es kaum mehr erwarten, das karge einsame Zimmer zu verlassen, wieder unter Menschen zu kommen, zu mir zu kommen. Er packte seine Sachen hektisch zusammen. Noch wacklig auf den Beinen, hakte er sich bei mir auf dem Weg von der Klinik in den Wagen unter. Auf dem Markt ließ ich die Kutsche anhalten und besorgte ihm einen Gehstock. Er schüttelte ungläubig den Kopf, wie ein Herr, der von einem inkompetenten Butler betreut wird. Er ahnte noch nicht von meinem Umschwung, war aber sichtlich erleichtert, dass ich nicht wieder vor ihm davonrannte. Die Narkose und Zukunftsängste hatten seine leidenschaftliche Welle gebrochen. Wir konnten wieder miteinander normal umgehen. Dachten wir.
Mr. Rochester wurde an der Rezeption übertrieben fürsorglich von Mr. Jenkins begrüßt. Er erkundigte sich nach seinem Befinden und bot die Hilfe seines ganzen Hauses zur schnellen Genesung und zu den nun doch noch glücklichen Flitterwochen auf. Ich wurde rot und verzog mich eilig in Richtung Treppenhaus, als er nachsetzte:
„Mrs. Rochester ist eine so herzliche liebreizende Dame. Meine Tochter ist ganz vernarrt in sie. Ich wünsche Ihrer Gattin und Ihnen noch einen wundervollen Aufenthalt in unserem Haus".
Mr. Rochester stand wie angewurzelt da und starrte ihn mit offenem Mund an, dann schielte er ungläubig zu mir und sagte kein Wort. Ich trippelte mit hastigen Schritten die Treppe herauf, vergaß, dass er nicht so schnell folgen durfte und konnte, und versuchte die Situation zu überspielen, indem ich ihm wieder entgegen ging, als wäre nichts geschehen. Er kam langsam auf mich zu, grinste mich verschmitzt mit gespieltem Vorwurf an, schüttelte den Kopf und hakte sich erneut bei mir ein.
Kaum war die Tür hinter uns zugeschlagen, rief er lachend „Jane Eyre! Was war das? Sie haben sich als meine Gattin ausgegeben? Hatten Sie keine Papiere dabei?"
Ich konnte mich vor Lachen nicht halten, als ich ihm berichtete, dass Dr. Carter mich so im Hotel einführte und ich ihn schlecht als Lügner bloßstellen konnte.
Er stöhnte, „So ein Wechselbalg von Hochstaplerin! Das wird ja immer besser!"
Es brauchte eine ganze Weile bis wir uns von unseren immer wieder aufkeimenden Lachkrampf gesammelt hatten.
„Ehefrau, Ihnen ist schon klar, dass wir diese Rolle jetzt eine Woche lang glaubhaft durchhalten müssen?"
Darüber hatte ich mir bisher keine Gedanken gemacht und mir war bewusst, dass wir dem Personal nun Scharade „Bridewell" oder auch „Well bride" vorgaukeln mussten. Er wurde ernst und beteuerte inständig, dass er dies nicht ausnutzen würde.
Ich war eine strenge Krankenschwester und achtete darauf, dass er genügend Schonung aber auch genügend Bewegung und Abwechslung bekam. Alle zwei Tage musste er sich in der Klinik vorstellen. Seine neuen Behinderungen machten ihm noch sehr zu schaffen und betrübten ihn. Er führte mich zu seinen Lieblingsplätzen, die abseits der Sehenswürdigkeiten lagen. Wir durchstreiften Museen und Galerien und wir redeten viel über Malerei. Wir faulenzten in den Parks, aßen Eis und gingen in seinen Lieblingsrestaurants essen, die vor allem die Küche Frankreichs auf dem Speiseplan hatten. Und er liebte Fisch. Des Abends im Hotel führten wir unsere frühere Gewohnheit weiter: Wir saßen lange am Kamin zusammen und unterhielten uns. Ich versuchte das Thema seiner Gesundheit auszublenden, damit sein Grübeln nicht überhandnähme. Es stellte sich heraus, dass er die Bücher nicht gelesen hatte, er sollte ja nicht, um die Augen nicht zu überlasten. Also las ich ihm den Voltaire vor. Er genoss es sichtlich, während er mich mit seinem gesunden Auge verschlang. Wir waren glücklich, wieder zusammen zu sein. Doch in den Weiten unserer Hochzeitssuite war genug Platz, um wie Bruder und Schwester zusammen zu wohnen.
Am sechsten Tag schlenderten wir an Covent Garden vorbei. Ihn zog es in die Oper. Ich hoffte auf ein anderes Werk. Etwas erbaulicheres, lustigeres. Aber immer noch stand Donizettis „Lucia di Lammermoor" auf dem Abendspielplan, nur diesmal mit Gilbert Duprez, dem Sänger der Uraufführung in Neapel höchstpersönlich, für den diese Rolle komponiert wurde. Mr. Rochester klärte mich auf, dass das der erste Tenor auf der Welt sei, der das hohe C und noch höher mit der vollen Stimme aussang, und nicht wie Rubini im Falsett. Er imitierte den Klang nach. Da war mir klar, dass er das unbedingt hören und sehen wollte, weil er das Erlebte mit mir teilen wollte. Er versprach mir, danach, „Fanny" vorzustellen. Ich gab nach, schließlich überzeugte er mich, dass man eine Musik umso mehr lieben würde, um so vertrauter die Details würden. Das „erste Mal" vergäße man doch schnell. Und ich schwor mir, nun wohlwissend der Wirkung der Handlung auf mein Gemüt, mich nun intensiver und gefasster der Musik zu widmen. Umso mehr erschütterte ihn nun die Handlungsverflechtungen. Auch er hatte Scott noch nicht gelesen, auch wenn ihn der republikanische Dichter und Satiriker begeisterte. Er kannte aber den Inhalt. Kein Verehrer von Liebensromanen, erinnerten sie ihn an sein eigenes fünfzehnjähriges Märtyrium. Besonders die Verlobungs- und die Heiratsszene schienen auch bei ihm ihre seelischen Spuren zu hinterlassen. Hatte er die Oper bewusst deswegen ausgewählt? Ich merkte, wie er meine Hand ergriff. Mir gelang es, die Musikliebhaberin zu spielen, dem Jubelorkan für Duprez' Stimmenglanz schwelgend, bis zur Wahnsinnsszene. Ich war etwas beklommen, was diese so vertraute Situation wohl in Mr. Rochester auslösen würde. Ich blickte ihn die ganzen zwanzig Minuten ununterbrochen besorgt an. Ich wollte sofort eingreifen, bevor sein Ungestüm erwachte. Er bemerkte meine Fürsorge und mein Lächeln, als ich an meine eigene Erkenntnis beim vorigen Mal erinnert wurde. Und während Lucia zusammenbrach lächelte er mir zurück. Er hatte begriffen, was ich bei meinem ersten Besuch an unserer eigenen Geschichte verstanden haben musste, und unsere Blicke und unsere Lippen fanden sich. Schon wieder verpasste ich Edgars Tod. Als der Vorhang fiel, hatten wir „Fanny" vergessen.
Chapter 7: Kapitel 7 Das Meer
Summary:
Jane is convinced now to accompagny Edward to France and Europe. He wants to try there a legal divorce from Bertha.
Jane sees the ocean first time in her life.
Chapter Text
Kapitel 7 Das Meer
Beseligt fuhren wir händehaltend ins Hotel zurück. Ich hatte meinen Kopf an seine Schulter gelehnt, und er presste seine Lippen auf meine Stirn, meine Wangen, meinen Mund. Sein gesundes Auge leuchtete und brannte. Diese Nacht verbrachten wir erstmals gemeinsam in einem Bett in Liebkosungen zärtlichster Art. Wir sprachen kein Wort. Wir spürten erstmals die Haut des anderen auf der eigenen brennen. Unsere Körper hatten die Kommunikation miteinander begonnen, aber die eine Grenze überschritten wir nicht. So, dass ich genauso unschuldig aufstand, wie ich mich zu ihm legte. Aber nun wusste ich, vor was ich so panisch weggelaufen war.
Am nächsten Morgen redeten wir lange. Nicht über uns. Die Rückreise nach Thornfield stand kurz bevor. Wir mussten planen und organisieren.
„Jane, ich weiß, alle warten in Thornfield auf mich. Auch Dr. Carter. Wirst du mich dahin begleiten oder nun deine eigenen Wege gehen?"
„Sir, Edward, nein ich habe begriffen, dass meine Panik und meine Flucht irrsinnig waren und mich in den sicheren Untergang geführt hätten. Sie hätte mich direkt ins Gefängnis oder ins Bordell gebracht. Oder in die Sümpfe. Ich habe verstanden, dass diese Gewissheit Dich zu dem Unfall verleitete. Du hast mich davor bewahrt und ich kann Dir das gar nicht entgelten, ohne meine Prinzipien zu verletzen."
Er schnaubte. „Prinzipien! Wessen Prinzipien?"
Ich entgegnete, „Ja ich weiß, die Prinzipien der Kirche und der Gesellschaft, die sich selbst nicht an diese Regeln hält und weint, wenn in der Oper diese Regeln Leben zerstören. Sie waren auch mein Halt und haben mich geprägt. Ich habe noch keine richtige Antwort gefunden, wie ich mich neu damit verhalten soll. Ich weiß, dass ich bei Dir sein möchte. Aber nicht, wie. Die letzte Woche war die schönste meines Lebens. Ich wollte gestern noch zurück nach Thornfield und dachte, dass es so wird, wie vorher. Ich die Gouvernante, du der Herr."
„Du meinst so wie zuvor, mit einer verrückten Kreolin, die uns beiden nach dem Leben trachtet? Die uns jederzeit mitsamt dem Schloss den Flammen ausliefern kann oder uns wie Dracula zu Tode aussaugt? Ist es das, was du dir als Beständigkeit wünscht? Immer auf der Hut zu sein? Und selbst wenn Grace Pool sie ab sofort im Griff hätte: Wir wissen nicht, wie lange sich diese Krankheit hinzieht. Ein Monat, ein Jahr, drei Jahre, 10 Jahre. Dr. Carter und kein Arzt kann das vorhersagen. Kannst Du mit dieser Belastung leben?"
„Damit könnte ich leben. Mich sorgt eher, was aus uns wird? Kannst du es ertragen, mich täglich zu sehen, mich so zu begehren, wie Du mich heute Nacht begehrtest, mich aber nicht berühren zu dürfen? Wovor ich Angst habe: Dass ich es nicht könnte und wir zwar uns gewinnen, aber uns selbst dabei verlieren. Und dabei meine ich jetzt nicht meine Tugend. Würden wir uns noch genauso lieben, wenn wir von der bigotten Belegschaft und der Gesellschaft ausgestoßen und angespuckt würden? Wenn unsere Kinder als Wechselbälger schikaniert würden, ohne eine Chance auf Zukunft? Die Nacht war so wunderbar, dass ich noch ganz durcheinander bin, und genau jetzt das nicht entscheiden kann und will. Verstehst du das?"
„Kinder! Du denkst sogar schon daran. Aber du hast recht. Wenn alles so verlaufen wäre, wie ich hoffte, wären wir jetzt verheiratet. Und wir hätten bald eine Kinderschar. Aber genau das wäre dann nicht möglich. Ich möchte dich nicht als meine Mätresse auf Thornfield. Irgendwann wirst du Mrs. Rochester, sobald Bertha nicht mehr ist. Aufeinander warten, könnten wir das? Oder finden wir einen anderen Weg? Ich hatte gehofft, diesen Weg in Frankreich zu finden."
„Wieso in Frankreich?"
„Lesen Sie keine Zeitungen, oder Voltaire, Miss Eyre? Es gab dort eine Revolution und die modernste Gesetzgebung der Welt. Ich bin dort kein Aristokrat, sondern ein Bürger wie Du. Wir wären gleich. Ich habe keine Privilegien dort, außer meinem Vermögen, meinem Talent und meinem Wohnsitz. Die Kirche hat keinen Einfluss mehr auf diese Gesetze. Sie ist vom Staat getrennt. Komplett laizistisch. Selbst die Kirchengebäude gehören jetzt dem Volk. Gültige Ehen werden nur vom Staat geschlossen. Frauen sind den Männern gleichgestellt. Du bist mir dort also „gleich". Du darfst selbst entscheiden, wo und wie du lebst, oder ob und was du arbeitest. Auch uneheliche Kinder sind den ehelichen gleichgestellt. Die Franzosen waren außerdem noch nie prüde. Es gibt nur einen Haken. Ich weiß nur nicht, ob es noch das Scheidungsrecht des Code civile gibt. Ich weiß auch nicht, ob das uns als Engländer betrifft oder die jamaikanische Ehe. Daher wollte ich mir dort juristischen Rat holen. Deshalb wollte ich mit dir dorthin, nachdem unsere Ehe verhindert wurde. Verstehst du? Ich suchte nach einem rechtmäßigen Ausweg."
Mir fielen die Andeutungen von Dr. Carter über Frankreich wieder ein. Wenn das wirklich wahr war, und wir nur in England unser Leben nicht leben können?
„Ich würde gerne mit dir die Welt erkunden. Die letzten Tage waren herrlich! Wir hätten so viel Ablenkung, als wenn wir uns in Thornfield nur anstarren und uns langweilen. Du wolltest mir die Städte zeigen, in denen du deine letzten 15 Jahre verbracht hast. Lass uns reisen! Du brauchst jetzt eine Pflegerin, eine Assistentin. Ich könnte deine Schwester sein! Bis wir in Frankreich Klarheit haben, ob deine Ehe annulliert werden kann. Wenn das alles sinnlos ist, können wir immer noch nach Thornfield zurück."
Edward hauchte: „Oder auf den Mond mit meiner kleinen Fee", auf den Bären anspielend, den er Adèle bei unserer Einkaufsfahrt aufgebunden hatte.
„Oder wir ziehen in meine kleine weiße Villa an der Côte d'Azur. Dort ist es wie auf dem Mond. Keine Menschenseele weit und breit. Wir sind unsere eigenen Herren. Es gibt kein Personal, sondern nur Lieferanten."
Ich sah mich dort schon kochen und putzen und schmunzelte. Es entstand eine lange Pause, in denen wir beide nachdachten. Wir waren ausgestattet für eine lange Hochzeitsreise durch Europa, die wir jetzt durchgeführt hätten. Die Assistentin eines Aristokraten auf Reisen bei solchen gesundheitlichen Einschränkungen und unserem Altersunterschied, könnte glaubhaft sein. Wollte er jedoch wirklich die Orte wiedersehen, die ihn so in den seelischen und moralischen Abgrund gerissen hatten? Andererseits würden wir dort nie so lange bleiben, dass wir mit den moralischen Erwartungen der Gesellschaft an uns konfrontiert würden.
„Was würdest du machen, wenn ich weggegangen wäre? Wärst du in Thornfield geblieben?", hakte ich nach.
„Ich würde genau das tun. An diese Orte reisen, oder an andere. Und du? Wenn du unabhängig wärst, was würdest du machen?"
„Genau dasselbe. Reisen. Mir die Welt ansehen."
Damit waren die Würfel gefallen. Wir machen die „Grand Tour"!
„Pass auf, wir machen das so. Wir fahren mit der stabilen neuen Kutsche nach Dover, schiffen uns nach Le Havre ein, oder nach Calais, je nach Wetterlage. Und von dort fahren wir weiter nach Paris. Wir suchen einen Anwalt, schauen uns den Louvre an, besuchen Louis Philippe I. in Versailles, gehen im Parc de Boulogne spazieren und fahren dann erst zu der weißen Villa in Vallauris. Wir müssen umpacken, um über die Alpen zu kommen. Wir lassen dort die Kutsche und fahren von Nizza oder Antibes direkt nach Neapel mit dem Schiff. Wir schauen uns Pompeij an, klettern auf den Vesuv. Danach besuchen wir Rom, Florenz, Pisa, Bologna, Mailand, Verona, Venedig. Vielleicht treffen wir „Fanny" wieder! Dort verbringen wir den Winter und fahren dann über den Brenner nach Wien, wenn du willst nach Prag und Dresden und dann über Genf zurück nach Vallauris. So wie es uns gefällt. Und dann sehen wir weiter."
Gesagt. Getan. Mr. Rochester informierte die Daheimgebliebenen von der langen Reise nach Frankreich und gab letzte Anweisungen zur Verwaltung von Thornfield und der Betreuung von Bertha. Er hinterließ Vallauris als Kontaktadresse. Er würde erst im Frühling wieder in England erscheinen. Meine Wenigkeit erwähnte er nicht. Vergnüglicher als wir angekommen waren, verließen wir London. Die Fahrt verflog schnell. Wir beide waren aufgeregt von unserem Abenteuer. Hatten wir an alles gedacht? In Dover erwartete mich eine unbekannte Welt. Geschäftige Händler und Kunden strömten zum Hafen, stauten in den Straßen, schrien, rannten und drängten. Ein buntes, lebhaftes, turbulentes Treiben. Dort am Hafen schaukelten Schiffe und Fischerboote in den Wogen. Ein Meer von Mästen, Salingen, Spinnakern, Segeln und Seilen. Möwen kreischten. Es roch nach Salz und Fisch. Die frische Brise zerzauste unsere Haare. Kisten wurden aus den Rümpfen der großen Drei- und Viermaster hinein- und herausgestemmt, Fässer gerollt, Vieh hineingetrieben. Ein Stimmengewirr aus vielen Sprachen vermischte sich zu einer eigenartigen Melodie. Die Sonne brannte uns im Gesicht, so dass ich meinen Schleier herunterzog. Wir klapperten einen Segler nach dem anderen ab, ob einer uns nicht an die französische Küste tragen könnte. Die meisten waren schon ausgebucht, und Mr. Rochester weigerte sich hartnäckig, einen der Seelenverkäufer zu besteigen, die uns noch hätte aufnehmen können.
„Der Ärmelkanal ist rau und tosend. Und ich habe nur noch ein Auge."
Letztendlich heuerten wir auf einem französischen Klipper mit dem Namen „Saint Madeleine" an, der auf seiner Rückreise aus Schweden nach Le Havre war. Ich fuhr unter meinem richtigen Namen als Begleitperson mit. Aber gefragt hat keiner. Es interessierte also schlicht niemanden, wie wir zueinanderstanden. Mr. Rochester nannte mich tapfer und standhaft „Miss Eyre". Uns wurden zwei enge Kabinen zugewiesen, die nebeneinander lagen, und deren Komfort doch gemütlich war. Wir verständigten uns über Klopfzeichen. Doch zunächst brachte mich nichts von Deck. Es war meine erste Schiffsreise. Das erste Mal, dass ich das Meer sah. Ich hatte Stunden zu schauen und zu staunen und zu atmen. Die vielen Blau- Grün- und Weißtöne versetzten mich in Trance. Das Schaukeln und die spritzende Gischt machten mir nichts aus. Die springenden Wellen täuschten hin- und wieder Delfine vor, die mich aufjauchzen ließen. Mr. Rochester beobachtete mich fasziniert über meine kindliche Freude. Für ihn war dies eine von vielen lästigen Überfahrten. Und dass sie lästig werden kann, bekamen wir nach Mitternacht zu spüren, als ein Gewitter die Nordsee aufschäumen und aufbäumen ließ. Der doch recht große Klipper tanzte, schwankte, schaukelte, schleuderte und sprang, war den hohen Wellen ausgeliefert wie ein Spielzeug. Die Seeleute unterhielten sich während des Brausens, Pfeifens und Donnerns nur noch schreiend, aber routiniert. Die aufgepeitschten Wogen überfluteten das Deck und schäumten am Bullauge. Es leckte immer wieder unter der Kajüte hindurch, so dass ich keinen Appetit auf das Tablett mit Fisch und Chips hatte, das vor meiner Tür stand. Stattdessen verzogen wir uns in eine der Kojen in meiner Kabine, kuschelten uns aneinander, und ich las ihm Voltaire vor. Ich hatte bis jetzt meine Gewohnheit weitergeführt, jeden Abend ein Kapitel, manchmal auch zwei, und las aus dem „Candide", den wir während der stürmischen Überfahrt nun zu Ende bringen wollten. In Frankreich wartete andere Literatur.
Wir wurden wortwörtlich nach Frankreich gespült und kamen am frühen Morgen des 10. August 1838 in Le Havre an. Ich hatte nach dem langen Fasten erst einmal Hunger, nachdem sich das maue Gefühl in meinem Magen gelegt hatte. Nachdem wir ohne viel Aufhebens die Zollstation durchlaufen hatten und nun einen Stempel mit „France" in unseren Passpapieren trugen, fanden Mr. Rochester und ich eine Kneipe am Hafen, die gerade öffnete und uns ein üppiges Frühstück zubereitete, während wir auf die Ausladung unseres Gespanns warteten. Wir fuhren nur wenige Meilen vor die geschäftige Hafenstadt in Richtung Paris, und legten eine längere Pause ein, um den unruhigen Tieren auf einer Weide etwas Ruhe zu gönnen. Wir lagen im hohen Sommergras, schlummerten beim Gezwitscher der Vögel ein und holten den in der Sturmnacht versäumten Schlaf nach. Unsere beiden Kutscher taten es uns nach, so dass sie nicht merkten, wie umschlungen wir uns hielten. Ausgeruht setzten wir unsere Reise fort. Mr. Rochester erzählte mir, dass wir in vier oder fünf Jahren diese Strecke viel schneller und bequemer reisen könnten. Ein Ingenieur namens Legrand war dabei, in Frankreich ein Schienennetz zu legen, auf dem unsere englische Dampfeisenbahn von Stephenson dann Reisende befördern sollte, wie es bereits seit acht Jahren zwischen Liverpool und Manchester möglich sei. Und als erstes sollte die Strecke Le Havre-Paris-Rouen fertiggestellt werden. Ich hörte neugierig, aber auch skeptisch zu. Schließlich waren einige von Stephensons Dampflokomotiven bereits explodiert. Wenn jeder reisen könnte, wie wäre das herrlich! Die meiste Zeit der Fahrt aber nutzten wir, um uns die Landschaften anzusehen, die an uns vorüberflogen. Für die Übernachtung kehrten wir in einem Landgasthaus ein.
Chapter 8: Kapitel 8 Paris
Summary:
Beide erreichen Paris, die Stadt der Liebe. Und Jane kann erstmals ihre Französischkenntnisse unter Beweis stellen.
Chapter Text
Kapitel 8 Paris
Wir tauchten am Abend in eine wunderbare grüne Hügellandschaft ein. Dann wandelte sie sich in gestaltete Parks und Gärten, die sich immer mehr häuften, desto näher die französische Metropole rückte. Wir durchquerten Boulevards und Straßen bis wir die Innenstadt erreichten, wo Mr. Rochester die Kutsche in die Rue de Rivoli, unweit der Tuilerien, zum Hotel „Le Meurice" lenken ließ. Es schien gerade erst eröffnet worden zu sein, denn es entsprach dem modernsten Geschmack und Luxus. Ich kam mir wieder einmal fehl am Platz vor. Die Größe und die Noblesse übertrafen noch das des Western Hotels in London. Mr. Rochester steuerte zielgerichtet auf den Empfangstresen und wurde dort ehrerbietig und freudig begrüßt. Mir wurde sofort klar, dass er hier Stammgast war. Seine regelmäßige Suite war frei, die, wie sich herausstellte, aus zwei kleinen abgetrennten Appartements sowie einem eigenen Bereich für die beiden Kutscher bestand. Ich dachte sofort an Celine Varens. Er meldete mich als seine Sekretärin unter richtigem Namen an. Er verzichtete also auf Betrug und das war mir recht. Seine Hochzeitsabsichten hatte er hier nicht angegeben oder er schien auf der Hochzeitsreise mit mir etwas anderes geplant zu haben. Wir waren beide müde und hungrig, nach unseren heiteren Plaudereien in der Kutsche weniger gesprächig, so dass wir uns in unsere Appartements zurückzogen, umzogen und uns erst wieder zum reichlichen Abendessen im edlen Restaurant des „Le Meurice" trafen.
Um ihn zu necken hatte ich mir für meinen Einstand in der mondänen Weltmetropole die mit vielen, bunten Blümchen, Vögelchen und Schmetterlingen bestickte feine Seidenrobe mit ihrem indischen Sari und dem turbanähnlichen Hütchen ausgewählt, die er mir im Kolonialladen in Millcote aufgenötigt hatte, wegen derer ich mir damals wie die Haremsdame des Sultans vorgekommen war. Ich legte den blinkenden Schmuck um, lockte mein Haar und legte etwas Rouge auf. Alles was ich bisher so standhaft abgewehrt hatte. Als ich mein Zimmer verließ, ahmte ich den affektierten katzengleichen Gang der Pariserinnen nach, der mir bereits beim Betreten des Hotels ins Auge gefallen war, und den auch Blanche Ingram so meisterhaft beherrscht hatte. Er verzog keine Miene, aber ich merkte an seinem unterdrückten Kichern, dass ihm mein Streich gefiel.
„Madame, darf ich bitten?" und reichte mir galant seinen Arm.
Auch er übertraf seine bisherige Mode und sah so gar nicht wie ein Sultan aus. Während des gesamten Soupers wagte er mich kaum anzusehen, um nicht laut loszuplatzen. Ich genoss es, diese Charade zu spielen und mich über seinen Stand lustig zu machen. Einen Stand, den es in Frankreich nur noch einen Kopf kürzer gab. Es war Cabaret ohne es zu wissen.
Ich aß. Zuviel. Auch wenn er mich immer wieder warnte, dass ich nur kosten sollte. Geprägt durch meine Zeit in Lowood, wo ich nie genügend zu essen bekam, war ich gewohnt, die Teller zu leeren „und Gottes Gaben nicht zu vergeuden". Ach, was man nicht alles essen konnte! Ich wusste nicht, ob ich erfreut oder überrascht sein sollte! Die extravagantesten Speisen wurden angerichtet, aus denen wir uns bedienen konnten. Wachteln, Rind, Reh, Frösche, Schildkröten, Fasan, aber auch Schnecken, Hummer, Muscheln, schwarze Fischeier und Käse mit madenähnlichen Geschöpfen, von denen ich tunlichst die Finger ließ. Und ich dachte an meine Flucht, und dass ich bei dem drohenden Hunger genau solche Wesen hätte essen müssen. „Von allem nur ganz wenig", mahnte Mr. Rochester mich. Nicht alles probierte ich, nicht alles aß ich. Aber ich kam mir vor wie im Schlaraffenland. Selbst als im fünften Gang die herrlichsten Süßspeisen und Schokoladekreationen angereicht wurden, die ich mir noch nie leisten konnte. Danach war mir einfach nur übel, aber mir gelang mit viel Pfefferminztee alles in mir zu behalten. Mr. Rochester war entzückt über meine kulinarischen Entdeckungen und hatte wenig Mitleid. Auch er hatte als junger Mann solche Lernprozesse in anderen Kulturen überlebt. Es wurde eine unruhige Nacht mit vollem Magen, so dass ich mich am nächsten Morgen mit einem frisch gemahlenen, duftenden Kaffee und einem kleinen Gebäck begnügte. Die Teezeiten waren für mich beendet. Mr. Rochester allerdings bestand weiter auf seinem Earl Grey mit Milch.
Ausgeruht begannen wir unsere Streifzüge durch Paris. Bereits an monumentale Pracht, unendliche Eindrücke an Kultur, Natur und Geschichte sowie quirligem Leben aus London gewöhnt, wurden diese Gewohnheiten in Paris übertroffen. Wir beschränkten uns die ersten Tage nur auf die Innenstadt und ich wusste bald nicht mehr, was mich mehr begeisterte, Nôtre Dame oder der Invalidendom? Musée du Luxembourg oder Louvre? Vendôme oder Madeleine? Tuilerien oder Parc de Boulogne? Nachdem im Januar das Theâtre Italien durch einen Brand bis auf die Grundmauern zerstört worden war, fanden wir abends unsere Musikvergnügungen in der Grand Opéra im Salle Le Peletier. Oft saßen wir auch im Park und zeichneten uns gegenseitig. Die Stadt der Liebe verfehlte ihre Wirkung auf uns nicht. Fern von der sittenstrengen Heimat, in der wir uns nicht mal hätten ansehen dürfen, verloren wir Tag für Tag mehr Scheu voreinander. Das Dienstverhältnis verkroch sich immer mehr in den Tiefen meiner Seele, und ich wurde ihm gegenüber Tag für Tag unbefangener. Die Seelenverwandtschaft, die uns von Anfang an anzog und uns aneinanderfesselte, fühlte sich immer natürlicher und selbstverständlicher an, obwohl wir unsere Intimitäten bewusst bis zu einer Grenze beschränkten, doch ich spürte, wie auch meine Sinne mehr verlangten. Dennoch bewohnten wir mal die eine, mal die andere Wohnung der Suite, da wir uns nun nicht mehr trennen konnten, immer bewusst, dass er es dank seiner Krankheit gar nicht auskosten durfte. Seine Grimmigkeit und sein Frust wegen seiner Behinderungen forderten zwar immer wieder ihren Tribut, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen lief, aber sie verloren an vulkanartiger Energie und grüblerischer Verbitterung. Ich spürte, wie frei und vertraut er sich selbst an diesem Ort fühlte, und ließ mich davon anstecken. Ich merkte aber auch, wie sehr seine Anwesenheit mich selbst schützte. Er stand wie ein Schild zwischen mir und begehrlichen Blicken herumstreunender Männer, und wehrte mit wenigen Handstreichen oder dem Zücken seines Revolvers, den er zu meinem Erstaunen immer noch und immer bei sich trug, einen Überfall durch mehrere Diebe auf mich ab, als ich einige Schritte mit meinen Absätzen hinter ihm über das unebene Pflaster einer finsteren Gasse Richtung Bastille stakste. Die Banditen ergriffen die Flucht, sah Mr. Rochester mit seiner Augenklappe doch selbst wie ein Pirat aus. Wir vertrauten uns nun wieder.
So verstrich eine Woche, in der Mr. Rochester aber auch einen geeigneten Anwalt auskundschaftete, der sich mit Eherecht und internationalem Recht auskannte, und ihm eine Audienz bewilligte. Mit François Laurent fand er eine Koryphäe in dem Gebiet. Er hinterließ seine Unterlagen zu seiner Ehe mit Bertha, Bescheinigungen ihrer Krankheit, die Dr. Carter schon vor geraumer Zeit ausgestellt hatte, und schilderte in einem Anschreiben sein detailliertes Anliegen und seine Fragen, damit der Jurist sich vorbereiten konnte. Der Termin war für den 20. August nachmittags angesetzt.
Chapter 9: Kapitel 9 Der Anwalt
Summary:
Edward found a laywer, who explains his chances and options for a divorce with Bertha.
Chapter Text
Kapitel 9 Der Anwalt
François Laurent war ein seriöser Mann in seinen Sechzigern, mit Glatze und einer starken Brille. Er war aber auch ein beredter und geschwätziger Mann, der uns einen Vortrag über das in Europa einzigartige Scheidungsrecht vor der Restauration hielt. Warum, sollten wir noch erfahren.
„Wie sie vermutlich wissen, galt die Ehe seit dem Trienter Konzil 1563 als heiliges Sakrament der katholischen Kirche. Heirat war somit eine rein kirchliche Angelegenheit und Scheidung verboten. Im Zuge der Aufklärung jedoch setzte sich 1789 in Frankreich im Artikel 10 der »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« die Gewissensfreiheit durch, die dann mit der Französischen Revolution zur Verfassung erhoben wurde. Darin heißt e wörtlich: »Dies impliziert im Privatrecht die zivile Form der Ehe ohne Unterschied der Religionskonfession anzuerkennen und sich daher scheiden zu lassen, wenn diese Möglichkeit im Einklang mit persönlichen religiösen Überzeugungen stand.« Das bedeutet die vollkommene Säkularisierung der Ehe. Sie können sich zwar in der Kirche rituell trauen lassen, aber seit 1789 gelten nur noch zivilrechtlich vor einem Standesamt geschlossene Ehen. Kirchliche Ehen, die vorher stattfanden mussten nachträglich durch eine amtliche Registrierung legitimiert werden. Festgelegt wurde das in mehreren Gesetzesmodifizierungen seit der Verfassung vom 3. September 1791. Mit dem „Gesetz zur Scheidung" vom 20. und 25. September 1792, das ebenfalls noch bis zum „Code Civil" 1804 immer wieder angepasst wurde, waren drei Arten von Scheidungen erlaubt.
Der erste Paragraf lautet: »Die Scheidung kann durch Wahnsinn, die Verurteilung zu bedrückenden oder berüchtigten Strafen, Verbrechen, Missbrauch oder schwere Beleidigungen, die offensichtliche Störung der Moral oder die Aufgabe des Hauses durch einen der Ehegatten verursacht werden, gefolgt von einer Abwesenheit von mindestens fünf Jahren ohne Lebenszeichen oder Auswanderung.«"
Bei diesen Worten zuckten wir und sahen wir beide uns unvermittelt an. Dann setzte Mr. Laurent fort:
„Der 2. Paragraf sah vor: »Die Scheidung erfolgt im gegenseitigen Einvernehmen, nachdem unüberwindliche Hindernisse und Streitigkeiten festgestellt wurden.« Und Paragraf 3 erkannte auch »die Unvereinbarkeit von Stimmung und Groll mindestens einer der Parteien als triftigen Scheidungsgrund an«. Mit dem Dekret von 1794 wurde allerdings der Zeitraum zwischen Feststellung des Scheidungsgrundes und der faktischen Trennung und einer Wiederverheiratung von acht Tagen auf sechs Monate verlängert. Denn wir hatten allein 6000 Scheidungen im ersten Jahr des Gesetzes, weit mehr als Eheschließungen. Die meisten Scheidungen wurden durch Frauen eingereicht, sodass die Männer ihre patriarchische Stellung in der Familie gefährdet sahen. So wurde auch im Artikel 229 des „Code civil" dann der Ehebruch des Mannes als Scheidungsgrund nur akzeptiert, »wenn der Ehemann seine Konkubine im gemeinsamen Haus festgehalten hatte«.
Ich blickte Mr. Rochester scharf an und atmete erleichtert auf, dass ich bisher nicht nachgeben hatte.
„Nach Artikel 298 konnte die ehebrecherische Ehefrau allerdings 3 Monate bis zu 2 Jahren in einer Umerziehungsanstalt sanktioniert werden. Ehebrechern wurde außerdem untersagt, mit dem Artikel 295, »sich wiederzuverheiraten oder sich mit ihrem Komplizen zu verfälschen«. Die Scheidung nach »Unvereinbarkeit der Stimmung« konnte nur bis zum 20. Jahr nach der Eheschließung geltend gemacht werden. 1804 wurde dann beschlossen, dass eine Wiederverheiratung erst nach 3 Jahren möglich war."
Er ließ uns aber einige Minuten Zeit, um das Gesagte zu reflektieren, bevor er fortsetzte:
„Sie sehen, dass Ihr Fall selbst unter dieser Gesetzesvorgabe nicht einfach zu beantworten wäre, aber auch heute nicht unmöglich. Aber dass Sie damals Mr. Rochester gleich mehrere triftige Scheidungsgründe gehabt hätten. Sehen Sie, wir haben seit der Rückkehr zur Monarchie und der Restauration 1816 eine ganz andere rechtliche Situation. Die Monarchie ließ zwar die Säkularisierung bestehen, das heißt die Eheschließung blieb weiter zivilrechtliches Hoheitsgebiet, während eine rein kirchliche Trauung weiterhin auch in Sachen Erbrecht nicht legitimiert ist. Sie zogen aber nur die Dekrete zur Scheidung zurück. Mit einer Ausnahme, die weiterhin als Gewohnheitsrecht in einer Ausnahmesituation akzeptiert werden, nämlich den Paragrafen 1 in seinem Bestandteil, dass beide Ehepartner zurechnungsfähig und geschäftsfähig sein müssen und ihren Verstand gebrauchen können. Das bedeutet: nichtvollzogene Ehepflichten, Abwesenheit von über 5 Jahren und vor allem der Wahnsinn eines Partners sind bis heute noch als Scheidungsgrund, oder man nennt es jetzt „Annullierung der Ehe", anerkannt. Selbst das ist aber einmalig , in ganz Europa.
Um diesen Wahnsinn Ihrer Ehefrau nachzuprüfen, benötigt das Gericht sämtliche medizinische Gutachten, einen zeitlichen Verlauf der Krankheit. Eidesstattliche Zeugenaussagen von Familienangehörigen oder Hausangestellten wären hilfreich. Um das zu beanspruchen benötigen Sie in Frankreich einen Wohnsitz. Wie ich sehe, besitzen Sie ein Gut in Südfrankreich. Das müsste ausreichend sein, um Sie als Bürger einzutragen. Es gibt aber eine weitere Möglichkeit, die aber über internationalrechtliche Kontakte genauer geprüft werden müsste: Ob die am 20. Oktober 1825 geschlossene kirchliche Ehe in Jamaika an sich, aber auch die Umstände, wie diese Ehe erschlichen wurde, überhaupt nach französischem Recht oder auch nach englischem Recht gültig ist. Das heißt, ob Sie überhaupt verheiratet sind, im rechtlichen Sinne! Dieser Vorgang wird aber mindestens drei Monate beanspruchen."
Mr. Rochester schluckte. „Das bedeutet also, es gibt also zwei Chancen. Und beeinflussen die beiden Vorgänge sich gegenseitig, oder können sie parallel laufen?"
Mr. Laurent grinste schalkhaft. „Natürlich kann ich beides veranlassen. Besorgen Sie mir die nötigen Papiere, oder noch besser geben Sie mir den Kontakt zu Ihrem englischen Anwalt, der diese Papiere und Gutachten und Zeugenaufnahmen gerichtsfest veranlasst und zusammenträgt."
Mr. Rochester nannte seinen eigenen Anwalt, verwies aber auch an den Londoner Anwalt Briggs, der bei unserer gescheiterten Heirat zwar meinen Onkel in Madeira und Richard Mason vertrat, aber Zeuge des Wahnsinns von Bertha war. Wir waren uns nur nicht sicher, wie Briggs selbst zu der Sachlage stehen würde, schließlich beglückwünschte er mich ja zu meiner Ehrenrettung und erwartete von Mr. Rochester, sich seinem Schicksal zu beugen. Und Mr. Rochester würde Dr. Carter kontaktieren, ihn von seiner Schweigepflicht befreien und ihn anweisen, Mr. Laurent sämtliche Diagnosen der Ärzte in Jamaika zu senden, sowie weitere Fachärzte zu einer aktuellen offiziellen Untersuchung und Gutachten zu beauftragen.
Zum Abschied flüsterte er Mr. Rochester mit einem Blick und einem Zwinkern zu mir allerdings auch eine Warnung aus, „Denken Sie daran, selbst wenn heute zu Tage Grafen Kurtisanen ehelichen, und wilde Ehen legitimiert werden können was ich zum Thema Wiederverheiratung bei Ehebruch gesagt habe. Achten Sie darauf, dass sie erst einmal nur Ihre tugendhafte Bedienstete bleibt, so schwer es auch fallen mag. Es erhöht die Chancen bei allzu konservativen Richtern."
Chapter 10: Kapitel 10 Celine Varens
Summary:
Our couple is released about their good chances for marrying and celebrate it. But they meet an old acquaintance with opportunity for Edward to pay old bills.
Chapter Text
Kapitel 10 Celine Varens
In Hochstimmung verließ Edward die Kanzlei und pfiff fröhlich die Marseillaise vor sich her. Ich blickte ihn schmunzelnd und verwirrt grinsend an. In meinem Kopf wirbelten die vielen Informationen durcheinander. Vieles hatte ich nicht verstanden. Nur so viel: Die unüberwindbare Mauer, die vor drei Wochen noch ein Leben mit Edward unmöglich gemacht hatte, meine moralischen Bedenken, meine Angst vor meinem eigenen Verlangen, mein Selbstwertgefühl waren plötzlich weg, wie Nebel aufgelöst!
Edward jubelte munter „Wer hätte das gedacht, dass die Französische Revolution, die so viele adlige Köpfe hat rollen lassen, und Napoleon mich altadligem Engländer, selbst lange nach Waterloo, einen solchen großen Dienst an meinem Glück besorgen würde, mit seiner liberalen Gesetzgebung!"
Er hakte sich in meinem Arm unter, tänzelte über das Pariser Kopfsteinpflaster, und übersäte meine Wangen verliebt jeden fünften Schritt mit Küssen, hob mich hoch und drehte und schleuderte mich übermütig im Walzertakt über den Bordstein, so dass sich die feinen Pariserinnen nach uns seltsamem Paar nun doch umblickten. Er rief aus: „Das muss gefeiert werden".
Ich konnte es immer noch nicht fassen! Ich ließ mich erschöpft auf einer Bank nieder. Mr. Laurent hatte mir vor dem Abschied ein Büchlein gegeben mit der französischen Verfassung, in der ich emsig blätterte. In der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" heißt es seit 1792:
Art. I: Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Mann an Rechten gleich.
Art. II: Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Bewahrung der natürlichen und unverjährbaren Rechte von Frau und Mann: diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und vor allem Widerstand gegen Unterdrückung.
Art. III: Die Grundlage jeder Staatsgewalt ruht ihrem Wesen nach in der Nation, die nichts anderes ist als die Wiedervereinigung von Frau und Mann.
Art. IV: Freiheit und Gerechtigkeit bestehen darin, alles zurückzugeben, was einem anderen gehört. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte der Frau keine Grenzen außer denen, die die ständige Tyrannei des Mannes ihr entgegensetzt. Diese Grenzen müssen durch die Gesetze der Natur und der Vernunft reformiert werden. (…)
Hier war ich fast frei wie ein Vogel und den Männern trotz der Rücknahme des Status als „mündiger Bürger" nach der durch die Restauration der Monarchie, die uns Frauen ein Wahlrecht und Eigentum verwehrte, eigentlich den Männern fast gleichgestellt! Ich bedurfte ab meinem 21. Lebensjahr keinen Vormund mehr, der mich gängelte. Da ich als alleinstehende Waise diesen nicht hatte, war bis dahin pro forma mein Arbeitgeber für mich verantwortlich. Also Sir Edward Fairfax Rochester. Aber eigentlich konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Ich durfte arbeiten, nur nicht studieren. Niemand konnte mich zwingen, einen Mann zu heiraten, den ich ablehnte. Aber ich durfte jeden heiraten. Musste aber nicht Jeden Bürger, jeden Adligen, auch Edward, sobald seine Ehe geschieden wäre. Geschieden! Das kam in meinem religiösen Weltbild gar nicht vor, selbst wenn Gott durch diese hinterhältig ergaunerte Ehe übertölpelt worden war. . Die Trennung von Staat und Kirche befreite mich von diesen puritanischen Regeln, die mir in Lowood eingeprügelt worden waren. Doch damit wir unser Ziel unserer eigenen Heirat erreichten, sollte ich diese religiösen Tugenden noch weiter befolgen. Aus reiner Rationalität.
Nun verstand ich auch die wohlwollende Akzeptanz des aufgeschlossenen, meist adligen und intellektuellen Londoner Publikums, die sich viel mehr mit den neuen Werten eines Voltaire und der Aufklärung identifizieren konnten, für die freizügigen Forderungen der italienischen Oper, die Bedürfnisse des menschlichen Individuums zu achten. Der einzige Maßstab war ab sofort mein eigenes Gewissen, meine eigene Selbstachtung. Und ich wusste nun, dass Edward diese achten würde, selbst wenn wir verheiratet waren. Meine Seele hatte seinen Käfig verlassen und flatterte nun frei wie die Möwen über dem Kipper hoch in die Wolken, so wie Edward es mir zu Beginn unserer Bekanntschaft prophezeit hatte. Nur dass er damit wohl etwas anderes meinte, wie mir immer bewusster wurde.
Edward flanierte mit mir zum baumumsäumten Boulevard Montmartre mit seinen edlen Palästen und bog dann in die Rue de Richelieu ein. Am Eck betrat er ein feines Restaurant, auf dem der Name „Café Frascati" prangte, und zog mich hinter sich her. Es war das älteste Etablissement in Paris für lizensiertes Glückspiel, gegründet zur Französischen Revolution, und noch immer das eleganteste Restaurant und die erlesenste Patisserie. Ob er hier wohl früher sein Geld verjubelte?
Wir betraten über eine Treppe einen mit Spiegeln und Blumengirlanden geschmückten Saal im Haupthaus, der von einer herrlichen Venus-Statue aus dem Hause Medici dominiert war. Edward zog mich weiter durch Arkaden zu einer Suite aus prächtig vergoldeten Räumen, die vor geschliffenen Kristallleuchtern und Wasserfällen nur so glitzerte. Filigrane Intarsien und bunte Wandmalereien verzierten die Wände. Dahinter eröffnete sich der Blick in einen sehr kunstvoll angelegten Garten aus Orangenbäumen und Akazien. Neben Rosenvasen schlängelten sich die Wege zu Felsen, auf dem ein Turm und ein antiker Tempel thronte und die mit rustikalen Brücken verbunden waren. Symmetrisch dazu waren Labyrinthe angelegt. Eine riesige Terrasse mit Terrakottavasen und Spiegeln erstreckte sich bis zur Allee des Boulevard Montmartre. An den unzähligen Tischen hatten es sich fast dreitausend der schönsten und vornehmsten Frauen von Paris bequem niedergelassen. Zumindest vermittelten die Spiegel diesen Eindruck. Aus einem der Räume drang liebliche Klaviermusik von Beethoven und Harfenmusik von Boieldieu. Dort auf der bevölkerten Terrasse bot der Kellner in feiner Livree uns ehrerbietig einen Tisch an, und half mir galant zu meinem Stuhl. In der Menge sorgten wir für kein Aufsehen, trotz seines verwegenen Aussehens. Ich wurde als eine der ihren aufgenommen, mit freundlichem Verbeugen.
„Was möchtest du essen, mein Darling?", schäkerte Edward.
Beflissentlich zählte der Kellner uns die Litanei der erlesensten Leckereien à la carte herunter und Edward bestellte von allem etwas. Rinderbouillon mit Trüffeln, frische Austern, Ragout vom Fasan, die gepriesenen Tournedos, Gänseleberpastete. Edward überredete mich, unbedingt das Kalbsfilet mit Parmesanrisotto und Trüffelsauce des kochwütigen Komponisten Gioachino Rossini zu kosten, ohne den es keinen Donizetti und damit keine Lucia gegeben hätte. All das erfuhr ich vom munter vor sich hin schwatzenden Edward nebenbei. Dazu floss Champagner im Überfluss, den Edward mir mit einem galanten „Mrs. Eyre?" eingoss.
Wir schmausten und plauderten vergnügt über unsere Zukunft. Da noch das Dessert ausstand, das man sich in dieser berühmten Konditorei nicht entgehen lassen durfte, hielt ich mich dieses Mal zurück.
Danach flanierten wir etwa eine Stunde bis auf den Felsen umher, blickten versonnen aneinander gelehnt auf das sonnige Paris. Zum Kaffee ließen wir uns in einem der reich geschmückten, goldenen Räumen nieder. Als wir gerade unsere Kaffeetassen fast synchron zu unseren Lippen führten, uns in den Augen des Anderen versenkten, da tippten zwei ringübersäte Frauenfinger verführerisch auf Edwards Schulter. „Bon soir, Edouard!" Ich blickte in Adèles Augen. Eine dahingeschiedene Stadtschönheit, aus dem Himmelreich der heiligen Jungfrau zurückgekehrt, hatte ich mir doch ganz anders vorgestellt. Das abgelebte Gesicht von Céline Varens glänzte vor übertriebener Schminke, die ihre Alterungserscheinungen nur mühsam verdeckte. Ihre überbordend exzentrische Kleidung rauschte und Edward stieß entgeistert ein „Céline!" aus, bevor er den Kaffee über die weiße Tischdecke prustete, die von den Kellnern sofort ohne viel Aufhebens ersetzt wurde. Eine peinliche Pause entstand.
Mit einer recht schrillen, verrauchten Stimme säuselte sie ihm zu „Es ist so schön, Mr. Rochester, dass Sie uns wieder in Paris beehren."
Schroff wies Edward sie in ihre Schranken, „Ich beehre niemanden, ich bin hier in geschäftlichen Angelegenheiten. Miss Eyre, darf ich Ihnen vorstellen? Das ist die Rabenmutter, die mir ihren unehelichen Rangen vor die Tür stellte, die Sie jetzt betreuen dürfen. Céline, das ist die Gouvernante Deiner Tochter Adèle, falls Du Dich an sie erinnerst."
Die einst zierliche Tänzerin verlor sofort ihr kokettes Gehabe. „Es ist auch Deine Tochter! Wie geht es ihr? Ich wollte Dich ansprechen, damit Du mir gestattest, Adèle zu sehen. Ist sie hier?"
Edward verzog genervt seinen Mundwinkel, kniff die Augen zusammen, als er sie eindringlich fixierte, und erwiderte unterkühlt und zynisch, „Sie hat wohl dann so viele Väter, dass die Ähnlichkeit mit mir völlig verwischt ist. Ich glaube nicht, dass das verwöhnte Gör durch deine Talente noch hinzugewinnt. Sie ist gerade auf einem Internat, nachdem Miss Eyre ihr vorzeigbare Manieren beibrachte und ihr Geborgenheit gab, die wohl nicht mehr in den Weidenkorb passten. Hmm?"
Die ehemalige Primaballerina Céline Varens zischte durch ihre zusammengebissenen Zähne "MISS Eyre! Ha!", und verzog sich beleidigt fauchend zu ihrem Tisch zurück, an dem ein greiser Galan in Galauniform auf sie ungeduldig wartete. Ich schaute peinlich berührt weg und rührte in meiner Kaffeetasse herum. Auch Edwards gute Laune schien vergangen.
Nach einem schweigenden Bummel an der Seine entlang, Hand in Hand, zogen wir uns in unser Hotel zurück. Dort vergaßen wir die ungemütliche Begegnung und besprachen die weiteren Vorgehensweisen. Vor unserer langen Reise mussten wir noch viele Formalitäten erledigen, um den Scheidungsprozess in Gang zu setzen. Da Edward sein Auge durch Lesen oder Schreiben nicht belasten durfte, übernahm ich das Verfassen der Briefe, die er mir diktierte. Wir begannen mit den Beauftragungen und Kontaktverknüpfungen an die Anwälte und an die Ärzte. Wir verfassten ihnen Listen, um was sich jeder Einzelne von ihnen zu kümmern hatte. Viele Stunden, weit in die Nacht hinein, verbrachten wir damit, ein detailliertes Protokoll unter Eidesstatt über seinen Aufenthalt in Jamaika, die Rolle seiner Familie beim Zustandekommen seiner Ehe, und einen chronologischen Verlauf der Erkrankung und des Verhaltens seiner Frau, sowie die Auswirkungen auf sein eigenes Leben in den letzten 15 Jahren zu erstellen. Ich bezeugte die geschehenen glimpflich abgelaufenen Überfälle auf Edward und Mr. Mason sowie den zerrissenen Schleier, den ich wohl nicht mehr verheimlichen durfte. Kein noch so delikates Detail wurde übergangen. Am kommenden Tag fertigte ich davon noch drei Abschriften an, die er unterzeichnete. Wir gaben Mrs. Fairfax die Vollmacht, den Herren alle nötigen Papiere aus seinen Unterlagen herauszugeben und die Unterlagen bei seinen Notaren abholen zu dürfen. Wir wollten nichts dem Zufall überlassen. Ich selbst ersuchte heimlich am folgenden Tag, unter dem Vorwand einer bevorstehenden Heirat, bei einem Frauenarzt ein Attest über meine Jungfernschaft, das bezeugen sollte, dass wir bisher nach der gescheiterten Heirat der Versuchung nicht erlegen waren, das ich unter die Papiere schmuggelte. So war wenigstens das Gericht beruhigt. Er selbst legte eine Referenz über meine Aufgaben in unserem Dienstverhältnis nieder. All das ergab 10 dicke Briefe, die wir zur Post brachten. Hoffend, dass sie unsere Situation änderten. Zu allerletzt stellten wir uns selbst Aufgabenbereiche zusammen, die wir zu beachten oder noch zu erfüllen hatten. Müde von dieser anstrengenden Arbeit, ließen wir uns für Paris noch zwei Tag Zeit und begaben uns dann auf unsere lange, beschwerliche Reise an die Côte d' Azur.
Chapter 11: Kapitel 11 Die weiße Villa
Summary:
The legendary white Villa on the mediterranean shores really exists! There she is!
But than a misterous letter for Jane arrives by sollicitor Briggs.
Chapter Text
Kapitel 11 Die weiße Villa am Mittelmeer
Wir benötigten eine Woche für die 500 Meilen an die Ufer des Mittelmeeres und machten Station in Dorfgasthäusern. Hin und wieder gönnten wir uns nur kurze Rast an einem der atemberaubenden Schlösser, in Lyon und Avignon, während wir dem Lauf der Loire und der Rhȏne hinab in den Süden folgten. Ich war hingerissen von den abwechselnden Landschaften, aber wir hatten keine Zeit, sie intensiver zu genießen. Wir sollten später noch genug Zeit für Frankreich haben. Wir verbrachten die meiste Zeit der Fahrt mit Lesen. Ich quälte ihn mit dem Roman „Die Abenteuer des Chevalier Des Grieux und der Manon Lescaut", den ich auf einem Antiquitätenmarkt aufgestöbert hatte. In dieser leidenschaftlichen Liebesgeschichte zwischen einem Adligen und einer koketten Bürgerin rettet der Held ein frühreifes Mädchen vor dem Kloster, lebt zunächst in wilder Ehe mit ihr, während er auf die Heiratserlaubnis seines Vaters wartet. Die lebenshungrige Manon erträgt die Armut nicht und verdingt sich als Mätresse reicher alter Adliger. Nach Jahren trifft sie ihn wieder, verführt in in einer Kirche, und später zum unehrenhaften Glückspiel, um ihren Ansprüchen zu genügen. Das war zu viel Sentimentalität für meinen Angebeteten! So spröde war Frankreich um 1740 also dann doch nicht. Heiraten können die beiden dann erst in Amerika, wohin Manon wegen Betrug deportiert wurde, bevor sie tragisch in der Wüste stirbt.
„Nach Amerika reise ich nicht noch einmal, das verspreche ich Dir hoch und heilig!", stöhnte Edward, über die bittersüße Romanze im sündigen Paris die Augen rollend. Ich war danach froh, die „Stadt der Liebe" verlassen zu haben. Besser gefielen ihm dann doch die Aufklärer, die Weisheiten der Welt, Bücher über Erfindungen oder Naturbeschreibungen.
"Dann eben wieder Männerliteratur", bemerkte ich trocken, mir das Lachen verkneifend.
Die lange Fahrt machte Edward nun bewusst, als wir auch unzähligen Tieren mit ihren Besitzern begegneten, wie sehr er seinen treuen Begleiter Pilot, den er in Thornfield allein zurückgelassen hatte, vermisste. Der Hund war durch den plötzlichen Abtransport seines Herrchens in die Londoner Klinik erstmals von ihm getrennt worden. Aus lauter Euphorie über meine "Bekehrung", wie er es spöttisch nannte, hatte er seinen "süßen Kumpel" schlicht vergessen. Nun versuchte er sich mit der Erklärung zu trösten, dass er seinem nun schon zehn Jahre alten Gefährten keinen Gefallen täte, ihn noch einmal auf eine so beschwerliche Reise durch Europa zu schleppen. In seinem nächsten Brief würde er Mrs. Fairfax bitten, den Hund Adèle ins Internat mitzugeben, in der Hoffnung, ihn im kommenden Jahr noch knuddeln zu können. Auch seinen rassigen Rappen Mesrour würde er dann nicht mehr allein zurücklassen.
Am 28. August mittags erreichten wir erschöpft Vallauris. Das malerisch verästelte Fischerdorf strahlte in der südlichen Sonne mit seinen weißen Häusern so wie Edward Adèle den Mond vorgemalt hatte. Seine weiße Villa lag außerhalb des Dorfes, auf einer Anhöhe direkt über dem Strand, zu dem ein schmaler Pfad herabführte, abgeschirmt durch Akazien, Palmen und Pappeln. Sie war wesentlich kleiner als ich aus seinen Erzählungen befürchtet hatte. Ich durchschritt vierzehn wohlgeformte helle Räume, die dezent, modern und luftig eingerichtet waren. Alle Möbel waren mit Tüchern vor dem Staub des letzten Jahres geschützt. Im Gebäude gab es nur ein Zimmer für eine Haushälterin und Köchin, die es aber vorzog, keine 500 m weiter entfernt, in ihrem eigenen Häuschen zu wohnen, um Edward bei seiner Anwesenheit täglich mit Essen zu versorgen oder das Gebäude zu reinigen. Während seiner Abwesenheit verwaltete sie gemeinsam mit einem Bauern, der sich auch um Garten und Ställe und Tiere kümmerte, das Anwesen. Edward konnte hier also die Eigenständigkeit ausleben, die ihm seine Stellung in England vorenthielt. Der Bauer, Jean, nahm uns in Empfang und versorgte sofort die Pferde.
Die ersten Tage in der Villa verliefen sehr friedlich. Wir waren nun ganz allein und ungestört, aber trauten uns weiterhin nicht, unseren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Stattdessen versüßten wir uns den Tag auf dieselbe zickige Art, wie wir unsere Sehnsucht bereits vor unserem ersten Hochzeitsversuch im Zaum hielten, mit Lesen, ausgedehnten Spaziergängen am Meer entlang, Neckereien und Sticheleien, immer die Mahnung des Anwalts und der Ärzte im Ohr. Wie es Edwards Wesen entsprach, entlud sich sein Frust über die aufgezwungene Unterdrückung unserer Gefühle wieder häufiger in plötzlichen Eruptionen an Wut und Sarkasmus, die aber ebenso schnell verrauchten, wie sie ausbrachen. Ich verbrachte die heißen Tage meistens am Strand und wagte mich sogar ins Wasser, um schwimmen zu lernen, nur mit meiner Unterwäsche bekleidet, was Edward genüsslich mit bildlichen Bemerkungen über "Meerjungfrauen" kommentierte, bevor er mich plantschend durch das Wasser scheuchte. Hier waren wir schließlich unbeobachtet. Jeden Tag vertraute ich mich den Wellen mehr an, wurden meine Züge durch das Wasser sicherer, und anmutiger.
Die Haushälterin kam täglich nur kurz vorbei, um das Essen zuzubereiten. Sie beachtete mich weiter nicht. Auch ihr stellte er mich als seine Sekretärin vor. Edward war vertieft, unsere Reise zu planen. Die nächste Passage nach Neapel auf einem Viermaster war erst am 28. September vom nahen Antibes aus möglich. Wir wählten aus unserem vielen Gepäck nur das aus, was wir die kommenden Jahreszeiten in den verschiedenen Klimazonen wirklich brauchen konnten, immer auf Gewicht und Umfang bedacht. Für die Alpenüberquerung im Frühjahr würden wir sie aber nochmals reduzieren müssen.
Edward verzichtete nun auch auf seine Augenklappe. Man sah noch eine Narbe auf der orangeverfärbten Schläfe, aber das Auge war nicht mehr verquollen. Seine Sicht hatte sich jedoch kaum gebessert: Die rosaroten Nebel hatten sich in graue Schwaden verwandelt, die sein Gesichtsfeld verdeckten, und das wenige, was er sah, war doppelt und dreifach überlagert. Er stieß sich auf der rechten Seite immer wieder an oder stolperte, sobald er Hindernisse übersah. Er wurde zaghafter und ungeschmeidiger in seinen Bewegungen und fluchte über seine Tollpatschigkeit, je mehr ich darüber lachte. Auch der amputierte Finger machte sich in seiner Ungeschicklichkeit bemerkbar, so dass ich ihm oft zur Hand gehen musste. Auch schmerzte die Hand noch bei jeder Berührung oder Phantomschmerzen plagten ihn. Dadurch verlor er allmählich seine Aura als souveräner, gewandter, ehrfurchteinflößender Herr.
Am Morgen des 3. Septembers klopfte ein Bote und überreichte ihm einen Brief von Anwalt Briggs. Darin bestätigte dieser, dass er den Auftrag bezüglich der medizinischen Gutachten teilweise übernehmen würde, dass sich aber ein richtiger Fachanwalt um die Rechtmäßigkeit einer Annullierung kümmern würde, da er sich aus Gewissensgründen damit nicht befassen möchte. Er hatte auch einen Brief an mich beigelegt, was uns erstaunte. Darin erfuhr ich, dass mein Onkel John Eyre auf Madeira im Sterben lag und seine Anverwandten noch einmal sehen wollte. Er würde mir sein Vermögen hinterlassen. Wir waren konsterniert. Zu unserer Reise nach Neapel verblieben uns gerade drei Wochen. Edward, der mir die Freude, meinen einzigen Anverwandten, den Bruder meines Vaters, kennenlernen zu können, nicht verwehren wollte, überredete mich zu der weiten Reise nach Portugal. Er organisierte mir eine Überfahrt von Nizza nach Madeira am nächsten Tag, die drei Tage über Gibraltar dauern sollte. Vier Tage sollte ich bei meinem Onkel verweilen, mich von diesem verabschieden und mit demselben Schiff dann zurückkehren. So hätte ich dann noch genug Zeit, um mich für unser gemeinsames Abenteuer zu erholen. Und er könnte sich währenddessen um die anderen Angelegenheiten kümmern, die eventuell noch anfallen würden. Er schien sogar erleichtert, so der andauernden Versuchung nicht ausgeliefert zu sein, die seiner Selbstbeherrschung einiges abverlangte. Er ahnte nicht, dass es mir ähnlich erging. Daher nahm ich dankend an.
Chapter 12: Kapitel 12 Verwandtschaften
Summary:
Jane is anymore alone on the world. She has the chance to meet her father brother living in Madeira and
to learn something about her parents and her family. And she goes. But not only she got a letter to come to Madeira.
Chapter Text
Kapitel 12 Verwandtschaften
Nach einer tränen- und kussreichen Abschied von Edward am Hafenquai von Nizza erwies sich meine Überfahrt nach Madeira auf dem großen Schiff wesentlich gemütlicher als unsere Überquerung auf dem Ärmelkanal. Ich genoss die milde Mittelmeerbrise , schlenderte auf den Decks auf und ab. Ich beobachtete verzückt die tanzenden Meereswellen. Da, endlich sah ich auch Delfine, die im Windschatten unserm Heck folgten und mich mit ihren munteren Sprünge und Pirouetten verzückten. Nach einem Tag vermisste ich Edward schon. Seit Wochen waren wir uns nicht von der Seite gewichen. Aber meine Einsamkeit dauerte nicht lange, als bei unserem ersten Versorgungshalt in Barcelona ein junger Priester und zwei Frauen zustiegen und in der Nachbarkabine ihren Unterschlupf bezogen. Ich hatte gerade meine Runde abspaziert, als mich ein junger, stämmiger Passagier schamlos ansprach und sofort zudringlich wurde. Ich wich aus, versuchte ihm zu entkommen, doch er zerrte mich an meinen Kleidern in eine uneinsehbare Ecke, schleuderte mich an die Reling und packte mich am Hals. Er riss meine Arme nach hinten, so dass ich halb über der Reling hing. Mein Schrei gellte über das Schiff, ohne dass es jemand zu hören schien. Ich wimmerte vor Schmerzen und zitterte am ganzen Körper. Plötzlich lockerte sich sein Griff und er fiel zu meiner Seite auf die Planken. Ich drehte mich um und sah den jungen Pfarrer, der meinen Angreifer mit einem harten Schlag mit der Bibel auf den Schädel außer Gefecht gesetzt hatte. Er reichte mir die Hand und zog mich mit sich zu seiner Kabine. Er bat seine beiden Begleiterinnen heraus und ich hörte, wie er sie anwies, mich zu verarzten.
„Sie steht unter Schock, ein Mann hat sie versucht zu vergewaltigen und fast über Bord geworfen. Sie ist leicht verletzt."
Er selbst ging, um dem Kapitän den Vorfall zu melden. Die Damen stellten sich als seine Schwestern Diana und Mary vor. Sie arbeiteten als Gouvernante und Lehrerin und verbrachten die Winter in ihrem Elternhaus "Moorhouse" im Norden Englands gemeinsam mit ihrem Bruder, dem Kaplan St. John Rivers. Dieser hatte seine intensiven Vorbereitungen auf seine Tätigkeit als Missionar in Indien jäh unterbrechen müssen, um sich auf den Weg nach Madeira zu machen, wo ein sterbender reicher Verwandter ihnen ein Vermögen hinterlassen sollte. Wir lachten über den Zufall. St. John Rivers kam mit dem Kapitän zurück, der sich nach meinem Namen erkundigte, und warum ich in meinem jungen Alter eine so weite Reise allein unternahm.
St. John fragte nach meinem Mann und Diana lachte laut auf: „Sie ist doch höchstens 17 oder 18 und Jungfrau. Das sieht man doch!"
Ich bestätigte, dass ich bald 19 Jahre alt würde und mein Dienstherr mir die Reise zu dem sterbenden Onkel besorgt habe. Der Kapitän nahm meine dunkelroten Flecken am Oberarm, die Schnittwunden sowie den genauen Tathergang zu Protokoll und kündigte entrüstet an, „Der Passagier wird in Gibraltar das Schiff verlassen. Solches Sicherheitsrisiko ist nicht tragbar".
Die drei Geschwister brachten mich zu meiner Kabine und luden mich ein, mit ihnen zu Mittag zu essen. Wir unterhielten uns köstlich, teilten wir doch sogar denselben Beruf. St. John sah mich schräg und nachdenklich an, und bemerkte nur, dass ich eine zuverlässige, fromme und gebildete Frau war. Mir gefielen sein griechisches Profil, seine feinen Gesichtszüge, die von blondem Haare umflossen wurden, und seine blauen Augen. Aber aus diesen blickte mich die Eiseskälte eines Vernunftmenschen an, der seine Karriere über alle Gefühle stellte. Er tadelte Edward, mich so allein auf eine lange Fahrt zu schicken. Und bot mir an, ihn stattdessen auf seine Mission nach Indien zu begleiten. Zunächst als missverstandener Scherz ausgesprochen, wiederholte er diesen Vorschlag die kommenden Tage umso entschlossener und ergänzte ihn mit einem Antrag, ihm als ideale Missionarsgattin zu folgen. Ich lehnte irritiert und strikt ab. Ich konnte ihm nichts von der geplanten Reise mit Edward oder unseren Heiratsabsichten erzählen. Und so schob ich dessen Behinderungen als Ausrede vor, dass er mich nicht entbehren konnte. Dass ich meinen schwarzen, breitschultrigen brodelnden Vulkan nie für einen solchen Eisblock verlassen würde, musste ich verschweigen. Brüskiert gingen St. John und ich uns am letzten Reisetag auf dem Schiff aus dem Weg. Die Schwestern ahnten nichts davon.
Im Hafen der Insel Madeira trennten sich unsere Wege. Des Portugiesischen nicht mächtig, nahm ich mir sofort nach Ankunft eine Chaise zu der angegebenen Adresse. Diese stellte sich als eine alte Finca heraus, die von einem Olivenhain und Palmen umgeben war. Ich klopfte zaghaft bis ein Butler mir öffnete und mich in einen Salon führte. Dort nahm mich eine nur portugiesisch sprechende kleine schwarzhaarige Haushälterin in Empfang, der ich das Schreiben von Mr. Briggs zeigte. Mit Hilfe eines portugiesischen Konversationswörterbuchs, das mir Edward mitgegeben hatte, sowie mit Händen und Füßen konnte ich ihr erklären, dass ich die Nichte des Hausherrn war, der nach mir geschickt hatte. „Ah, Geovana Eyre! Boas vindas calorosas!" Sie verstand scheinbar, aber nötigte mich zunächst zu einem ausgiebigen Mittagessen aus Meeresfrüchten. Sie führte mich in ein Gästezimmer, in dem ich mich frischmachte und ausruhte. Nach drei Stunden holte sie mich und führte mich in ein abgedunkeltes, stickiges Zimmer.
In einem riesigen Himmelbett lag ein ausgemergelter großer Mann um die 50 Jahre alt mit meiner Nase und meiner Haarfarbe, dem die Wangen bereits eingefallen waren. Die strahlend blauen Augen waren von blauschwarzen Schatten umrandet. Er röchelte mit letzter Kraft und sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig. Seine knöchrige Hand lag in einer weißen Frauenhand und erst jetzt wurde ich gewahr, dass noch weitere Personen im Raum waren. Vor ihm saßen das Schwesternpaar Mary und Diana und streichelten ihm die Hand. Sie schienen ihm etwas zu erzählen. Hinter ihnen stand St. John Rivers und las in den Psalmen und segnete in Abständen den Sterbenden.
Diana sah mich zuerst und rief entzückt aus „Jane? Bist du das? Bist du doch gekommen?"
Mit Mühe drehte John Eyre seinen Kopf zu meiner Seite und murmelte mit gebrochener Stimme „Jane Eyre aus Thornfield! Komm her mein Kind! Das ist die Tochter meines Bruders Antony Eyre, dem Pfarrer. Jane, und das sind die Kinder meiner Schwester Marion Eyre."
Wir vier blickten uns verdutzt an. „Wir sind Cousins?"
Ich konnte mein Glück nicht fassen und fiel den beiden Mädchen um den Hals „Ich habe Familie? Das ist ganz wunderbar! Ich kann gar nicht glücklicher sein!"
Da mischte sich Onkel John ein, der selbst im Sterben seinen offensichtlichen früheren Schalk nicht verloren hatte, „Jane, ich bin hier die Hauptrolle! Willst Du Deinen Onkel nicht begrüßen?"
Lächelnd beugte ich mich zu ihm und küsste seine kalten Wangen ab und schlang meine Arme um seinen Hals. Um den zerbrechlichen Mann nicht noch zusätzlich zu schwächen, bat er darum, jeden von uns einzeln kennenlernen und bei sich haben zu dürfen. Mit den Geschwistern, zu denen seit Jahren ein loser Kontakt bestand, war er schon vertraut. Und daher ließen sie mich mit ihm allein. Ich zog einen Stuhl ganz nah an sein Kopfende, damit ihn das Sprechen nicht zu sehr anstrengte, und legte ihm vorsichtig ein Kissen unter den Rücken, damit er aufrecht sitzen konnte, und reichte ihm ein Schluck Wasser. All das hatte ich während meiner Krankenwache bei Edward schon gelernt.
Unterbrochen von angestrengtem Husten und seinem keuchenden Atem begann er mir von unserer Familie zu erzählen. Ich erfuhr, dass meine Großeltern Paul und Emily Eyres einen florierenden Kolonialladen in Gateshead hatten.
„Sie waren wohlsituierte Kaufleute, die ihre achtköpfige Familie gut ernähren und verheiraten konnten. Paul, der älteste Sohn, übernahm später das Geschäft, verstarb aber in der Schlacht von Waterloo. Seine Witwe übernahm das Geschäft und heiratete später ein weiteres Mal. Dann kam mit Janet eine Tochter, die im Alter von 25 Jahren an der Schwindsucht verstarb. Du bist nach ihr benannt. Ich war der Drittgeborene und es zog mich zur See, seitdem ein Onkel mich mit auf eine Reise nach Schweden nahm. Ich heuerte auf einem Handelsschiff an und arbeitete mich vom Schiffsjungen bis zum Steuermann empor. Das hat mir ein einträgliches Vermögen eingebracht. Aber auch ein unstetes Leben. So gerne ich Familie gehabt hätte, es reichte nur für Mädels in jedem Hafen. Damit finanzierte ich mir meinen Traum von meinem eigenen Weinberg hier auf Madeira und Handel mit eigenem Portwein sowie Waren aus Übersee. Durch die raue Seeluft und das viele Rauchen ist meine Lunge vom Krebs zerfressen. Daher habe ich mich dann hier ganz niedergelassen. Mir bleiben vielleicht noch Tage oder wenige Wochen. Mein Lieblingsbruder aber war der stille Antony, Dein Vater, gerade mal zwei Jahre jünger als ich. Wir sahen uns sehr ähnlich. Wir tollten und spielten zusammen. Aber meistens verbrachte er seine Zeit mit Lesen und Malen. Er fühlte sich schon als Kind zu den Lehren Gottes hingezogen. Schließlich erlaubten die Eltern ihm ein Studium der Theologie, das er mit Bravour abschloss. Bald ließ er sich zum Priester weihen. Doch es reichte nur für eine ärmliche Landpriesterstelle im County von Gateshead. Dort begegnete er der Magistratstochter Dorothy Reeds, in die er sich verliebte. Gegen den Willen ihrer Eltern heirateten die beiden und führten ein bescheidenes, aber glückliches Leben. Sie schrieben mir, wenn auch selten. Marta soll dir später die Briefe und die Medaillons der Beiden übergeben, die Tante Reeds mir mit ihrem Nachlass damals zusendete, als sie dich für tot erklärt hatte. Sie bekamen nur eine Tochter, Dich, die kaum zwei Jahre alt war, als das Paar an der Cholera verstarb. Wenn ich das rechtzeitig erfahren hätte, hätte ich Dich zu mir genommen.
Ich hatte dann noch zwei Schwestern. Anne heiratete später einen anderen Händlersohn, verstarb dann aber im Kindbett. Und Marion, die den Superintendenten von Gateshead heiratete und mit ihm dann nach Cambridge zog, als er dort eine Professur annahm. Sie war die Mutter von St. John, Mary und Diana. Zu ihr hatte ich bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren Kontakt. Meine Eltern konnten den großen Verlust ihrer Kinder nicht verkraften und verstarben kurz nacheinander am gebrochenen Herzen bereits 1824. An den Wänden siehst Du Gemälde von Ihnen, die Dein Vater gezeichnet hat."
Ich wagte kaum zu atmen und wusste nicht, wie mir wurde. Die Bilder meiner Onkel und Tanten, meiner Eltern und Großeltern gruben sich in mir ein. Jetzt hatte ich eine Herkunft. Es entstand eine Pause, in dem ich dem keuchenden Onkel den Speichel vom Mund wischte. Doch er setzte abgehackt fort, in dem er meinen Arm griff.
„Jane, da ist aber noch etwas anderes. Du kennst Richard Mason? Er ist mein langjähriger Handelspartner, über den ich den Zucker für meinen Portwein beziehe und der meinen Wein nach Amerika verkauft. E erzählte mir von deiner Mesalliance mit deinem verheirateten Herren. Ich war es, der Deine Heirat verhindert hat. Ich konnte nicht anders. Ich konnte keine Familie haben. Du bist die Tochter eines Pfarrers! Wie konnte es so weit kommen?"
Da konnte ich nicht anders und erzählte ihm die ganze Geschichte meines Lebens von Anbeginn: von der tyrannischen Tante Reeds, die mir seinen Brief unterschlagen hatte; über die Schikane in Lowood; über meine Anstellung in Thornfield; über das großzügige, weltgewandte Wesen von Sir Edward Fairfax Rochester; über unsere Liebe und unseren Heiratswunsch; über seine Ehe mit der wahnsinnigen Schwester von Richard Mason und ihre unberechenbare Gewalttätigkeit; über ihren grausamen Überfall auf ihn und Mason; über unser Bestreben, mit legalen Mitteln nun eine Scheidung zu erwirken, um heiraten zu können; sowie von unseren Reiseplänen. Onkel John drückte mir erschüttert seine Hand. So hatten ihm weder Mason noch Briggs die Vorfälle geschildert. Er, der weltbereiste, humorvolle Mensch, verstand sofort Edwards Notlage und griff meine Arme und schluchzte.
„Jane! Wenn ich das gewusst hätte! Dein Edward ist ein feiner Mensch, lass ihn nicht im Stich. Du bist ein Mädchen, das sich gar nicht versündigen kann. Auf solche Liebe zu verzichten, die Dir Gott geschenkt hat, wäre Sünde. Nimm ihn Dir".
Dann schlang ich ihm weinend und dankbar die Arme um den Hals. Er streichelte mein Haar, tat zwei tiefe, stockende, rasselnde Atemzüge und verstarb in meinen Armen. Ein sanftes zufriedenes Lächeln säumte seinen bleichen Mund. Ich strich ihm seine blauen Augen zu, die auch die meines Vaters waren. Und weinte, weinte endlich. Gefunden und verloren. Ich blieb viele Minuten an seinem Bett sitzen und streichelte seine Hand, tieftraurig, ihm erst in seiner letzten Stunde kennengelernt zu haben. Solche Verbundenheit hatte ich mit Mrs. Reeds nie erlebt. Erst dann erhob ich mich und informierte meine drei Cousins sowie Marta über sein Verscheiden. Sie hatten miteinander schon eine Stunde reden können. Wir hielten den Tag über die Totenwache. St. John und Marta informierten den Bestatter und den Notar. Am kommenden Tag eröffnete uns der Notar, dass ich die Alleinerbin wäre. 20.000 Pfund und die Finca, die allerdings auf Lebenszeit Marta als Wohnsitz dienen sollte, gehörten mir, die nie etwas besaß. Mit solcher astronomischen Summe konnte ich nichts anfangen. Schon 500 Pfund würden mich zu einer reichen unabhängigen Frau machen, die sich vielleicht nicht im Hochadel bewegen konnte, aber keinen Schilling mehr umdrehen musste. Ich sah die enttäuschten Gesichter von St. John, Diana und Mary, die seit Jahren mit dem Geldsegen für ein sorgenfreies Leben kalkuliert hatten. Onkel John und ihr Vater hatten sich wegen einer riskanten Spekulation, durch die der angesehene Cambridge-Professor einen Großteil seiner Pension verzockte, unversöhnlich verstritten. Die drei Geschwister lebten Jahre lang in der Hoffnung, diese finanziellen Verluste als Alleinerben ausgleichen zu können. Und jetzt kam ich daher, die vom Himmel gefallene Cousine. Aber sie hatten nicht mit meiner Bescheidenheit gerechnet, als ich sie bat, die 20.000 Pfund gerecht unter uns aufzuteilen, weil mir doch auf diesem Weg eine so große Familie geschenkt wurde. Sie lehnten widerstrebend ab, waren aber dann doch erleichtert, als ich sie gegenüber dem Notar dazu nötigte.
Nach der Bestattung am dritten Tag rief mich St. John Rivers zu sich. Mit ernster Miene bat er mich, mich zu setzen.
„Mir ist durch Onkel John zu Ohren gekommen, dass du dich fast versündigt hast. Du wolltest dich einem Bigamisten verehelichen, was Onkel John gerade noch verhindern konnte. Dieser Mann war dein Dienstherr, ein gewisser Edward Rochester. Ist das wahr? Ist das derselbe Herr, mit dem du jetzt allein in Antibes lebst und der dich so unbeschützt auf die gefährliche Reise geschickt hat?"
Ich erwiderte irritiert über seine Übergriffigkeit „Ja, das ist derselbe Herr und es ist nichts Unrechtes dabei. Selbst Onkel John, nachdem er die ganze Geschichte gehört hat, gab mir seinen Segen".
St. John polterte „Seinen Segen! Der alte Narr! Du lebst unverheiratet mit einem verheirateten Mann zusammen und verreist mit ihm, teilst sein Leben. Du bist 19 und somit nicht volljährig. Als Dein einziger lebender männlicher Verwandter bin ich jetzt dein Vormund und ich verbiete Dir diesen Umgang! Du kehrst nicht nach Antibes zurück! Mit solch einem sündigen Leben ziehst du unsere ganze Familie in den Schmutz und _"
Ich unterbrach ihn aufgebracht, „Sündiges Leben? Wie können Sie es wagen? Sie kennen ihn nicht! Sie kennen mich nicht! Er ist ein wesentlich barmherzigerer Christ als Sie und der liebevollste Mensch der Welt! Er hat mich nicht angefasst, während Sie mich sofort zur Frau begehrten und mich unterjochen wollten, ohne mich zu kennen! Er liebt mich. Sie wissen nicht einmal, was das ist! Wir streben einen legalen Weg zu unserer Heirat an, in Frankreich."
Abfällig zischte St. John, „In Frankreich, wo die Ketzer das heilige Sakrament schänden. Die englische Kirche erkennt diese säkularisierte französische Ehe nicht an. Keine Widerrede. Du kommst mit uns nach England zurück und stehst ab sofort unter meinem Schutz. Ich werde dich auf eine Missionsschule geben und dich dann als meine Frau mit nach Indien nehmen. Das liegt in deiner Berufung vor Gott. So wie Du aussiehst, bist Du für Arbeit geschaffen, nicht für Liebe!"
Ich war außer mir. Ich fühlte, wie meine ganze, eben erst gewonnene Selbstbestimmung davonflatterte und wie gefangen ich nun dem Willen mir unbekannter Menschen unterworfen war, schlimmer als in Lowood. Und ich wünschte mir, doch keine Familie zu haben.
Ich schrie ihn besinnungslos an, „Niemals! Ich bin eine unabhängige Frau, die sich ihren Unterhalt bisher selbst verdient hat und nun genügend Vermögen hat, um sich nie mehr verdingen zu müssen. Ich bin in Frankreich eine freie Frau. Eher sterbe ich, als Ihnen zu gehorchen."
Er packte mich und sperrte mich in die danebenliegende Abstellkammer, bezogen mit roten Tapeten wie in Gateshead. Panik machte sich breit. Wie aus einer anderen Welt hörte ich, als ich kaum Luft bekam und mir die Ohren dröhnten, Edwards verzweifelte Stimme schreien „Jane! Jane! Jane! Jane!". Es klang wie ein Echo, das vom Wind über das Meer getragen wurde. Doch es gab in meinem Verlies keine Fenster. Es musste die Stimme der Natur tief in meiner Seele sein. Ich rüttelte mit aller Gewalt an der Tür und brüllte „Edward! Mein Liebster, ich komme! Warte auf mich!"
St. John entfernte das Vorhängeschloss und riss den Verschlag auf, hielt mir pathetisch sein Kreuz vor das Gesicht und rügte mit spitzem Ton „Jane, du bist ja besessen!"
Ich schubste ihn mit meinem ganzen Körpergewicht beiseite und rannte aus dem Haus, auf die Straße und rief „Wo bist du?"
St. John sah mir wie angewurzelt nach. Diana und Mary fauchten ihn an, was er mit mir getan hätte, und zogen mich in ihr Zimmer. Nun beichtete ich ihnen meine ganze Geschichte, die Worte von Onkel John und St. Johns Vorhaben. Sie gingen gemeinsam zu ihrem Bruder und wiesen ihn in seine Schranken. Als sie zurückkehrten nahmen Sie mich in ihren Arm und trösteten mich: „Keiner ist hier Vormund von irgendjemanden. Du bist frei Jane. Du bist reich Jane. Du hast uns und ihn reich gemacht. Geh Deinen Weg!"
Chapter 13: Kapitel 13 Feuersbrunst
Summary:
During Janes return from Madeira as rich woman with a new family, in Thornfield happened a dreadful catastrophe which should change the life of Edward and Jane completly.
Chapter Text
Kapitel 13 Feuerbrunst
Am Tag meiner Abreise verabschiedete sich St. John mit frostiger Distanz von mir. Marta übergab mir den Nachlass meiner Eltern, die Bilder meiner Familie und Erinnerungsstücke wie den Kompass von Onkel John, den ich auf meiner weiten Reise nun brauchen könne. Der Notar zahlte mir die 5000 Pfund aus, die ich an einem sicheren Ort an meinem Busen verbarg. Die Belange um die Verwaltung des Grundstücks wollte er schriftlich mit mir klären. Dann brachten meine beiden neuen Cousinen mich zum Schiff. Die Rückreise verlief mir nicht schnell genug, aber ohne weitere Vorkommnisse. Ich wollte nur noch nach Hause, zu Edward. Er holte mich vom Hafen in Nizza ab. Ich warf mich in seine Arme und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Er erwiderte meine Zärtlichkeiten geistesabwesend wie in Trance. Seine ernste, versteinerte Miene und sein Schweigen verhießen nichts Gutes. Erst dann sah ich, dass er völlig schwarz gekleidet war. Ich plauderte und erzählte ihm von meinen Erlebnissen, die unangenehmen Auseinandersetzungen mit St. John wohlweislich auslassend. Er hörte zu, aber ich merkte, wie seine Gedanken in seine Düsternis abdriftete.
„Was hast Du? Was ist geschehen?" , fragte ich ihn, seine Wange sanft streichelnd. Mir war ganz beklommen und ich befürchtete, dass die Bemühungen um eine legale Scheidung von Bertha bereits jetzt als unrealisierbar gescheitert waren, und unsere Zukunft in Trümmern lag. „Um Himmelswillen, Edward, sag schon!"
Er schluchzte laut auf und verbarg seine Stirn in meinem Nacken. Er wurde von einer unbegreiflichen Trauer geschüttelt, wie ich sie bei ihm noch nie erlebt hatte.
Stockend stammelte er, „Sie ist tot."
Ich schaute ihn unverständig an, „Wer ist tot? Mrs. Fairfax?"
Dann brach es aus ihm heraus, „Bertha!"
„Was?"
„Sie hat Thornfield in Brand gesteckt, ihr Kleid fing Feuer und sie ist von den Zinnen in den Tod gesprungen! Ihr Hirn soll über die Terrasse gespritzt sein. Thornfield ist nur noch Schutt und Asche. Alles weg."
Ich verstummte. Ich drückte ihn fest an mich, liebkoste seinen zuckenden Rücken und wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Vor meinen Augen stiegen die Bilder meines Traumes vor unserer Hochzeit auf, in denen Thornfield bis auf die Grundmauern abbrannte und ein Kind über die Zinnen stürzte. Als wir endlich heimkamen, beruhigte er sich nach einem stummen Abendessen allmählich. Er hatte die Eilmeldung per Kurier erst am Vortag über den Anwalt Briggs erhalten, mit einem Schreiben von Mrs. Fairfax und Dr. Carter. Sie berichteten, dass die Anwälte mit mehreren Psychiatern zu einem Termin zu Berthas Begutachtung nach Thornfield gekommen waren. Sie konnten Bertha unter größerer Gewaltanwendung fixieren und ausgiebig untersuchen und über Stunden beobachten. Die Tortur der Untersuchung hatte sie aber so in Rage gebracht, dass sie nachts Grace Pool angriff und sie mit einem Biss ins Genick getötet hatte, bevor sie ihr Verlies verließ. Niemand konnte sie aufhalten, als sie die Vorhänge des Salons in Brand streckte und sich das Feuer durch das Schloss fraß.
„Nur noch die steinernen Mauern und Treppen sollen die Brunst unversehrt überstanden haben. Mrs. Fairfax und die Bediensteten konnten sich retten. Aber die Pferde sind alle verbrannt, von Mesrour fehlt jede Spur."
Wieder durchschnitt Stille den Raum und der Weinkrampf erschütterte seinen stattlichen Körper. Nach weiteren Stunden des Kummers fragte ich ihn, was er nun zu tun gedenke. Er schüttelte nur fassungslos den Kopf, wedelte hilflos mit seinen Armen und meinte, „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht."
Ich erwiderte sanft, „Lass uns morgen weitersprechen und uns zur Ruhe gehen." Ich schmiegte mich die Nacht über tröstend an ihn, bis er in meinen Armen entschlummerte.
Wir standen spät auf. Edward hatte sich einigermaßen gefangen. Wir hatten jetzt nur noch 9 Tage bis zu unserer geplanten Italienreise. Noch konnten wir sie absagen und nach England zurückkehren.
Ich meinte, „Edward, Deine Anwesenheit in Thornfield ist jetzt wichtiger als unser Vergnügen. Wir sollten nach England zurückreisen und nicht alles Mrs. Fairfax aufbürden. Vielleicht kann das Gebäude gesichert werden. Auch musst Du für eine angemessene Bestattung für Bertha sorgen."
Er erwiderte knapp, „Mit dem Gebäude ist schon alles geklärt. Die Ruine wird erst einmal beräumt und dann müssen Architekten begutachten, was davon zu retten ist oder ob es umgebaut werden kann. Wir können erst dann dahin zurück, wenn es wieder bewohnbar ist. Wir haben dort keine andere Unterkunft, als im Gasthof. Oder wir verrotten in meiner feuchten Gruft in Ferndean. Wir sind obdachlos, Jane. Mrs. Fairfax habe ich eine Leibrente ausgestellt, so dass sie zu ihrem Bruder reisen kann, um dort ihren Lebensabend zu genießen. Die Diener sind mit meiner Empfehlung auch bereits in anderen Verhältnissen untergekommen. Und Mason hat Berthas Leiche bereits nach Jamaika geholt. Wir haben nichts, was uns derzeit dort hält, außer Pilot und Adèle. Und den beiden geht es gut, wo sie sind. Nur grausige Erinnerungen würden uns dort einholen. Jane, bitte, lass uns reisen! Vielleicht bringt es uns auf andere Gedanken. Es ist bald Winter und bis dahin sollten wir in Italien sein."
Eines realisierten wir in unserer Trauer nicht. Diese Erkenntnis wurde erst bei einem weiteren Ereignis in Gang gesetzt. Edward war nun kein Ehemann mehr. Er war Witwer. Er war frei. Der Anstand verbot in der Trauerzeit von einem Jahr zwar eine Wiedervermählung, aber gesetzlich gefordert war diese Wartezeit nicht. Wir dachten nicht daran, sprachen nicht darüber und verbrachten die nächsten zwei Tage mit Vorbereitungen und unserem inzwischen gewohnten Tageablauf. Dann traf ein Brief von Mr. Laurent aus Paris ein. Die Prüfung der Papiere hatte ergeben, dass durch den Wahnsinn der Kreolin, die arglistige Täuschung zur Eheschließung, und die rein kirchliche Registration der Heirat in Jamaika, die Ehe ohne notwendige Formalitäten ungültig war, bereits die ganzen langen 15 Jahre. Der Abbruch unseres ersten Heiratsversuchs war nicht zulässig gewesen! Jetzt hatte er es schwarz auf weiß. Er war nie wirklich verheiratet gewesen. Und unserer Heirat stand nun nichts mehr im Wege.
Chapter 14: Kapitel 14 Der zweite Antrag
Summary:
Finally Edward is free and Jane is equal to him. The way to a legal marriage in France is open now.
Chapter Text
Kapitel 14 Der zweite Antrag
Am Abend fragte Edward schließlich nach dem Auffinden meiner unerwarteten Verwandten. Die seltsame Fügung hatte er in seiner Trauer nur am Rande wahrgenommen. Ich schilderte ihm nun ausführlich meine Reise und die Zufallsbekanntschaft auf dem Schiff, die sich dann auf Madeira als überraschender Familienzuwachs entpuppte. Ich erzählte von Onkel John und seinen Erinnerungen an meine Eltern. Natürlich kam der Name St. John Rivers im Verlauf meiner Erzählung häufig vor. Zu häufig vor. Als ich zu Ende war, knüpfte er sofort an diesen Namen an.
„Dieser St. John ist also Dein Vetter?"
„Ja."
„Du hast so viel von ihm gesprochen. Hattest Du ihn lieb?"
„Er war ein sehr guter Mann. Man musste ihn mögen.", log ich, um die entsetzliche Bevormundung nicht erwähnen zu müssen.
„Ein guter Mann. Bedeutet das ein achtbarer, ruhiger Mann von fünfzig Jahren. Oder was soll das heißen?"
„St. John war erst 29 Jahre alt, Sir!"
„Jeune encore", wie die Franzosen sagen. Ist er ein Mann von kleiner Figur, phlegmatisch und hässlich? Ein Mensch, dessen Güte eigentlich mehr darin besteht, dass er keinem Laster frönt, als dass er irgendeine Tugend ausübt?"
Ich konnte mein Grinsen nicht verkneifen: „Er ist unermüdlich tätig. Er lebt nur, um große und erhabene Taten zu vollbringen."
„Aber sein Verstand? Der wird wohl nur sehr gering sein! Er hat die besten Absichten, aber man zuckt mit den Schultern, wenn man ihn reden hört?"
„Er spricht wenig, Sir. Er hat einen außerordentlichen Verstand, nicht sehr empfänglich, aber mächtig."
„Er ist also ein gescheiter Mann? Ein durch und durch gebildeter Mann?"
„St. John Rivers ist ein hervorragender und gründlich gebildeter Gelehrter."
„Hm. Aber mich dünkt, du sagtest, seine Manieren seien eher pfäffisch und langweilig."
Ich musste vor Überraschung husten. „Ich sprach durchaus nicht von seinen Manieren. Aber er ist höflich, ruhig und beherrscht sich stets, Sir."
„Sein Äußeres, ich habe ganz vergessen, welche Beschreibung du von seinem Äußeren machtest. Eine Art von ungehobeltem Landprediger, der in seiner weißen Krawatte halb erstickt, und in seinen dicksohligen Stiefeln wie auf Stelzen geht, was?"
„St. John kleidet sich sehr gut. Er ist ein schöner Mann, schlank, blass, blond, mit blauen Augen und einem griechischen Profil."
„Hol ihn der Teufel! Und Du hattest ihn lieb?"
„Das hast du schon einmal gefragt."
Ich bemerkte natürlich schon lange, was der Fragesteller beabsichtigte. Die Eifersucht hatte sich seiner bemächtigt, sie quälte und reizte ihn, aber dieser Reiz war gesund, er riss ihn aus seiner qualvollen Melancholie, welcher er anheimgefallen. Deshalb wollte ich das grünäugige Ungeheuer auch nicht sofort bändigen.
„Vielleicht wird es Ihnen zu unangenehm, Miss Eyre, noch länger auf meinem Knie zu sitzen?" war seine nächste, ziemlich unerwartete Bemerkung.
„Weshalb, Mr. Rochester?"
„Dieses Bild muss Ihnen doch den überwältigenden Kontrast noch deutlicher vor Augen geführt haben. Zwischen einem schlanken, bleichen, blonden, blauäugigen Apoll im griechischen Profil und einem breitschultrigen schwarzen Vulcanus und obendrein noch ein verkrüppelter und blinder Grobian."
„Daran habe ich bis jetzt noch gar nicht gedacht. Aber Sie sind wirklich ein richtiger Vulcanus, Sir!"
„Gut, schöne Dame, Sie können mich jetzt verlassen. Aber bevor Sie gehen, beantworten Sie mir noch eine oder zwei Fragen."
Dann kam folgendes Kreuzverhör: „Und er versuchte Dich zu überreden, mit ihm und den Schwestern zurück nach England zu reisen? Warum wollte er das?"
„Weil er wollte, dass ich ihn auf seine Mission nach Indien begleite."
„Aber jetzt komme ich endlich an die Wurzel des Ganzen. Er wollte, dass Du seine Frau würdest?"
„Er bat mich, ihn zu heiraten."
„Das ist eine Lüge! Eine freche Erfindung, um mich zu ärgern!"
„Ich bitte um Verzeihung, es ist wörtlich die Wahrheit. Er hat mir mehr als einen Heiratsantrag gemacht, und beharrte ebenso hartnäckig bei seinem Willen, wie Du es getan haben würdest."
„Miss Eyre, ich wiederhole es noch einmal, Sie können mich verlassen. Weshalb bleiben Sie so eigensinnig auf meinem Schoße sitzen, wenn ich Ihnen sage, dass Sie gehen sollen?" Dabei hielt er mich fester umschlungen als zuvor.
„Wohin soll ich gehen, Sir?"
„Geh Deinen eigenen Weg mit dem Gatten, den Du Dir erwählt hast."
„Und wer soll das sein?"
„Dieser St. John. St. John Rivers!", presste er zynisch zwischen seinen Zähnen heraus.
„Er wird nie mein Gatte werden. Er liebt mich nicht und ich liebe ihn nicht. Du müsstest am besten wissen, was das bedeutet. Er glaubte, dass ich mich zu einer Missionarsfrau eignen würde und dass er nun mein Vormund sei. Er ist gut, groß, aber streng und kalt wie ein Eisberg. Er hat keine Nachsicht mit mir und keine Zärtlichkeit. Und nun soll ich zu ihm gehen?"
Unwillkürlich überlief mich ein Schauer, und ich klammerte mich instinktiv noch fester an meinen geliebten, blinden Gebieter. Er lächelte milde.
„Was Jane! Ist das wahr? Stehen die Dinge wirklich so zwischen Dir und St. John Rivers?"
„Genauso. Sir! Du hast keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Ich wollte Dich nur ein wenig necken, um Dich Deiner Traurigkeit zu entreißen. Ich glaubte Ärger sei besser für Dich als Kummer. Wenn Du aber willst, dass ich Dich liebe! Wenn Du nur sehen könntest, wieviel grenzenlose Liebe in meiner Seele ruht, um nie mehr von Dir getrennt zu werden."
Er küsste mich. Aber wiederum zogen dunkle Wolken um seine Stirn.
„Jane ich sehne mich nicht nach einer Freundin oder Pflegerin. Ich will eine Frau!"
„Wirklich, Sir?"
„Überrascht Dich das?"
„Natürlich. Bisher hast Du davon nichts mehr gesagt."
„Ist das eine willkommene Nachricht für Dich?"
„Das hängt von den Umständen ab, oder besser von Deiner Wahl, Sir!"
„Ich getraue mich nicht. Triff Du die Entscheidung für mich. Von Deinem Entschluss will ich alles abhängig machen."
„So wähle die, die Dich am meisten liebt."
„Ich wähle lieber, die, die ich am meisten liebe. Jane, willst Du mich noch heiraten?"
„Ja Sir".
„Einen armen, blinden Mann, den Du an der Hand führen musst, Janet?"
„Ja, Sir!"
„Einen Krüppel, der zwanzig Jahre älter ist als Du, den Du warten und bald pflegen musst?"
„Ja, Sir!"
„Wirklich Jane?"
„Wirklich und wahrhaftig, Edward."
„O mein Liebling! O mein Liebling! Janes sanfte und geduldige Leitung wird mir immerwährende Freude sein. Jane ist mir sehr sympathisch. Bin ich es ihr auch?"
„Sympathisch bis in die tiefste Fiber meines Ichs, Edward."
„Nun wenn dies so ist, so haben wir auf nichts mehr in der Welt zu warten; wir müssen uns sofort verheiraten. Ohne Aufschub."
Er sah erregt aus und sein altes Ungestüm erwachte wieder.
Chapter 15: Kapitel 15 Die Heirat
Summary:
Reader, she married him!
Chapter Text
Kapitel 15 Heirat
Wir hatten nur noch eine kurze Woche bis zu unserer Abreise. Daher sollte die Eheschließung möglichst schnell und möglichst einfach von Statten gehen. Wir suchten gemeinsam am nächsten Tag mit sämtlichen Papieren das Standesamt der Gemeinde Antibes auf, und erhielten unverzüglich die Erlaubnis und einen Termin am 25. September zu heiraten. Ich zog wieder mein vor inzwischen zwei Monaten abgelegtes Hochzeitskleid an, das sich seltsamerweise im Gepäck befand, und den gemeinsam mit Frauen des Dorfes reparierten Seidenschleier, den Bertha damals zerrissen hatte. Ich flocht mir weißgelbe Rosen aus Edwards Garten zu einem Kranz und legte die Medaillons meiner Eltern um meinen Hals. Dazu trug ich abergläubisch, wie ich war, hellblaue Stiefel, die ich mir beim Schuster im Dorf machen ließ. Auch Edward zog exakt dieselbe Garderobe an, die er schon im Juli getragen hatte. Für uns war diese Hochzeit nun eine Fortsetzung. Als Trauzeugen wählten wir Camille Corot, einen alten Maler des Dorfes, dem Edward freundschaftlich verbunden war, und der ihm vor Jahren das Zeichnen beibrachte. Und ich konnte Madame Messoud als meine Trauzeugin gewinnen, die mir auch bereitwillig beim Ankleiden zur Hand ging.
In der damals exklusiv für diesen Anlass gekauften weißen Kutsche, mit der wir bereits ganz Frankreich durchquert hatten, fuhren wir feierlich gelaunt nach Antibes. Wir wurden in einen wunderbar dezenten und doch feierlich gestalteten barocken Raum geführt. Seine Stuckdecke, die orangen Tapeten und die weißen Möbel gaben dem Ort einen fröhlichen Charakter. Auch die Porzellankerzenhalter und der Kronleuchter leuchteten weiß. An einem großen Eichentisch, hinter dem die französische Tricolore und ein Gemälde des Bürgerkönigs Louis Philipp I. thronte, nahmen wir Platz. Diese bürgerliche laizistische Trauung hatte ihre eigene Zeremonie, die weniger salbungsvoll ablief, und scheinbar mehr den Stolz als Bürger heben sollte. So war die kurze Ansprache, bei der Edward nicht so ungeduldig von einem Bein auf den anderen trat, wie damals in der Kapelle von Thornfield, gespickt mit Zitaten aus der neuen Verfassung und verzichtete, außer einigen Floskeln, auf die göttliche Fügung des heiligen Sakramentes.
Es gab auch keine Frage nach einem Einspruch in die Ehe, die uns so viel Schaden angerichtet hatte. Denn die Hinderungsgründe waren bereits bei der Anmeldung ausgiebig geprüft worden, und Außenstehende hatten keinen Anspruch, sich dem Willen zweier mündiger Bürger entgegenzustellen. Wir beide schauten uns bei dieser Passage verschmitzt an. Dafür wurde mehr Wert auf die Wertschätzung der Ehegatten untereinander und die Pflichten in und außerhalb der Ehe gelegt. Wir hatten neben dem obligatorischen „Ja, ich will" einen umfassenden Eid abzulegen, den wir selbst ausformulieren konnten, und der auch mit Sätzen ergänzt, die uns bei unserem Aufgebot übergeben worden war, auswendig vorzutragen hatten. Dem Beamten entfleuchte während seiner Rede die eine oder andere flapsige Bemerkung, die uns Anwesenden zum Lachen brachte. Als er sah, dass Edward an der linken Hand keinen Finger hatte, die in Frankreich und im Mittelmeerraum traditionell üblich zu sein schien, an dem ich ihm den Ring hätte stecken können, empfahl er ohne Federlesens die rechte Hand.
„Entscheidend ist nicht der Ring, sondern das Band, das Ihre Herzen verbindet. Und Madame, was ist schon links oder rechts? Seine linke Hand ist von Ihnen aus gesehen rechts".
Und dann hatten wir unzählige Urkunden und Register zu unterzeichnen, die sofort in eine Schreibstube getragen, mit Siegel abgestempelt, unterzeichnet zurückgebracht und uns ausgehändigt wurden. Darunter war auch eine Urkunde, die mich nun offiziell als „Jane Rochester, geborene Eyre" auswies.
Leser, ich habe ihn geheiratet. Ein Kuss und schon waren wir verheiratet. Zum Abschluss überreichte mir die Beamtin einen kleinen Blumenstrauß, den ich mit dem Rücken zum Platz gedreht aus dem Fenster werfen sollte. Dort hatten sich einige Mädchen der Stadt in meinem Alter versammelt, die ihn quietschend vor Vergnügen auffingen. Eine pausbäckige rothaarige Magd mit Sommersprossen trug lachend ihre Trophäe davon.
Edward reichte mir mit einem süffisanten „Mrs. Rochester" seinen Arm und wir schritten festlich gestimmt und von aller Last und Trübsal entledigt, erleichtert aus dem Saal. Auf dem Flur des mit Marmor und Stuck geschmückten Rathauses, zog er mich hinter sich her und suchte einen stillen Winkel in dem riesigen Gebäude, in dem wir ungesehen waren. Er schlang seine Arme um mich und küsste mich mit brennender Leidenschaft, wie er sich seit unserer fatalen Nacht in Thornfield nicht mehr getraut hatte. Bevor wir auf unseren Mond, unsere weiße Villa, zurückkehrten, gönnten wir uns gemeinsam mit unseren Trauzeugen in einem Restaurant mit himmlischer Seeterrasse und Blick auf die Weiten des Meeres, ein festliches Hochzeitsmahl. Edward zeigte auf eine stattliche Fregatte mit vier Segelmästen und der rotgrünweißen Flagge des Königreichs beider Sizilien, das mit seinem juwelenartigen Wappen im Wind flatterte. Es war die Maria Clementina di Austria, benannt nach der Mutter des neapolitanischen Herrschers, die uns in drei Tagen nach Neapel tragen sollte. Wir sahen zu, wie die Ladung gelöscht und ausgetauscht wurde, für die nächste, unsere Route, und die Segel repariert wurden. Camille Corot ließ es sich nicht nehmen, während unserer kleinen Feier eine detailreiche Zeichnung von uns beiden anzufertigen, die er später nach unserer Rückkehr als Gemälde kopiert und koloriert haben wird. Nach einem ausgiebigen Spaziergang gesellten wir uns zur verabredeten Stunde wieder zu unseren Kutschern, denen Edward ein opulentes Mahl in einem der Restaurants als Hochzeitsgabe geschenkt hatte. Genauso heiter kehrten wir nach Vallauris zurück.
Lieber Leser, ich bin fast am Ende unserer Erinnerungen angekommen. Ich ahne eure Neugier, die sich in unzähligen sinnlichen Fantasien über unser Liebesglück finden lassen. Doch gestattet mir die Intimitäten, die uns nun in unserer Hochzeitsnacht endlich gestattet waren, als Geheimnis unseres Glückes für uns zu behalten. Es gab nun keine Tabus mehr. Nach unzähligen Annäherungen unseres Begehrens, hatte ich nun keine Angst mehr, die Grenze zu überschreiten, die uns als Mann und Frau vereint. Beide hatten keine Scheu mehr, unsere Leidenschaften und Zärtlichkeiten bis zur Ekstase auszuleben, wann immer wir es wollten, bis zum heutigen Tag. Wir waren ein Fleisch und ein Knochen. Wir gehörten zusammen mit Geist, Seele und Leib und trennten uns von nun an keine Stunde mehr.
Chapter 16: Kapitel 16 Flitterwochen
Summary:
The freshly wedded couple arrived her first destination in Italy: Napoli and enjoying their honeymoon with and without lemons.
Chapter Text
Kapitel 16 Flitterwochen
Am späten Abend des 27. September schifften wir uns auf der Maria Clementia ein und stachen bei Tagesanbruch in See Richtung Neapel. Ich hatte mich nach meinem ungeplanten Abstecher nach Portugal an die Seereise gewöhnt und genoss sie jetzt gemeinsam mit Edward in vollen Zügen. Wir beobachteten die Delfine, die wie ein Talisman um uns herumsprangen. Wir zeichneten die Küsten Italiens mit ihren bunten Bergdörfern, die so eng in die Klippen gebaut waren, dass man um ihre Sicherheit bangen musste. Nach einem Zwischenstopp in Napoleons Heimat Korsika flogen wir in zwei Tagen zu unserem Ziel, dem wir im Rausch unserer Flitterwochen entgegenschwebten.
Je südlicher wir kamen, um so schwüler umwehte uns die Brise. Am Nachmittag des 1. Oktober erreichten wir den Golf von Neapel mit seinen vielen vorgelagerten Inseln, und eine von Bergen, Klippen und Grotten zerfressenen Küste, die sich hier und da zu weiten weißen Sandstränden öffneten. Die Hauptstadt des Königreiches beider Siziliens umarmte von beiden Seiten den Golf wie eine Schüssel, von der aus unzählige, verwinkelte, und doch symmetrisch verlaufende Boulevards, Straßen und Gässchen die steilen Hügel von Posillippo, Capodimonte und San Martino emporkrochen. Das griechische Parthenope und die Besatzung der Römer, Ostgoten, Byzantiner, Araber, Normannen, Staufer, Anjou, Spanier und Österreicher hatten nicht nur im Stadtbild dieser unbeschreiblich schönen, aber auch schmutzigen und turbulenten Altstadt mit seinen urtümlichen, mächtigen Burgen, Schlössern, Kirchen und Plätzen, in seinem eigentümlichen Dialekt, sondern auch in den Gesichtszügen und dem Übermut seiner Bewohner Spuren eines unvergleichlichen Schmelztiegels hinterlassen.
Über allem thronte mit dem fast jährlich Feuerbälle spuckenden Vesuv der König der Berge, der dem Temperament seiner Einwohner ebenso entsprach, wie dem Ungestüm meines frischgebackenen Ehemannes. Wir bezogen eine Wohnung im barocken Palazzo des Patriziers Sanfelice im Außenbezirk Sanità, dessen geschwungene Treppenhausfassade mit Fresken überdeckt war. Wir logierten in fürstlichen Gemächern aus dem vorigen Jahrhundert mit hohen Freskenwänden und einer hölzernen Facettendecke. In dem uralten riesigen Himmelbett mit vergoldeter Bekrönung verbrachten wir den gesamten Herbst über unsere Flitterwochen, die wir uns widmeten und der Erkundung dieser urigen Königsresidenz und seines Umlandes. Wir sahen uns Alles an, besuchten die berühmten Museen und Galerien, sahen die exquisite Caravaggio Sammlung des Capodimonte, bestaunten mittelalterliche Klöster wie die Majolica von Santa Chiara, barocke und klassische Paläste. Es gab antike Theater und Aquädukte, die Ruinen und versteinerten Menschen der von der Lava verschütteten Städte Pompeij und Ercolano am Fuße des Vulkans.
Edward drängte mich, den Feuerberg zu besteigen und zog mich die letzten unbefahrbaren 600 m bergauf über eine Mondlandschaft aus Lavageröll bis zum Kraterrand. Aus allen Ritzen und Fumarolen spie der explosive Berg seine heißen Schwefeldämpfe und zitterte unter unseren Füßen. Erst vor Jahren hatte er sein Umland mit flüssigem Feuer getränkt, auf dem jetzt die üppigste Vegetation wucherte. Auf dem gewaltigen Kraterrand, den zu umrunden wir mehr als eine Stunde benötigten, erlebte mein Vulcanus, wie an einer Passage jeder Laut der Natur und unsere Stimmen verschluckte, und nur wenige Meter weiter ein Dröhnen tief im Inneren des Vulkans grollte. Anders als wir es uns ausgemalt hatten, kochte im Krater keine brodelnde Hexensuppe aus Feuer und Schwefel, sondern ein gähnender Schlund an Geröll, aus denen es immerzu dampfte. An diesem Ort fand Edward sich im Einklang mit seiner Natur. Den steilen Abhang herab, rutschten und tollten wir wie die kleinen Kinder, als das Lavageröll, deren seltensten Steine wir emsig sammelten, uns keinen Halt gab.
Wir befuhren die wilde bergige Sorrent- und Amalfiküste entlang bis zu den Tempeln von Paestum im Cilento-Gebirge. Unbeobachtet nahmen wir an versteckten Stränden im kühlen Herbstmeer Bäder so wie Gott uns schuf. Unsere Abende verbrachten wir oft im prächtigen Teatro San Carlo, nach dem ich später kein größeres mehr kennenlernte. Dort war genau vor drei Jahren unsere Lucia di Lammermoor mit „Fanny" uraufgeführt worden, deren bodenständiges und doch pikantes Wesen kennenzulernen ich dann doch noch kurz das Vergnügen hatte. Allerdings vermieden wir nun die sentimentalen Tragödien und amüsierten uns in den originellen Opernkomödien, die den lebenshungrigen Geist dieser Stadt besser widerspiegelten. Ich erfuhr auch, was die Commedia dell'Arte war, und dass sie dieselbe Improvisationsgabe nutzte, mit der ich inzwischen so gerne andere Menschen nachahmte und Edward neckte. Die einfachen und leichten italienischen Gerichte und die rustikalen Essensmanieren lagen mir mehr als Frankreichs extravagante Gaumenfreuden und Tischetikette. Die Zutaten dufteten und schmeckten, frisch aus den Paradiesgärten rund um Neapel gepflückt. Nach unseren Erkundungstouren stahlen wir uns bei der Dämmerung heimlich in diese Gärten und trugen einen Korb an Zitronen, Oliven, Tomaten, Auberginen, Artischocken und Paprika oder Kräutern wie Rosmarin und Basilikum heim, die wir am Abend in unserer fürstlichen Küche selbst zubereiteten und in unserem Bett verzehrten, das wir manchmal tagelang nicht verließen. Für die Bauern hinterließen wir einen Beutel voller Geld.
An einem der letzten sommerheißen Tage im Oktober, der gleichzeitig auch mein Geburtstag war, verband mir Edward die Augen und entführte mich den Hang herab. An den Geräuschen des Hafens und den Gerüchen nach Fischerbooten erkannte ich den Hafen und ich fand mich auf Deck einer Brigantine wieder, wie ich bei der Heimfahrt später feststellte. Nach zwei Stunden schaukelnder Fahrt landeten wir auf festem Boden, doch Edward entführte mich gleich danach in ein weiteres schwankendes Ruderboot, das er nun selbst lenkte, während ich krampfhaft meinen Sonnenhut festhielt. Plötzlich wurde, wie auf dem Vesuv, jeder Laut verschluckt, bevor ich das Glucksen der Ruder und das Plätschern des Meeres wie in einer Halle als Echo wahrnahm. Edward nahm mir meine Augenbinde ab, und wir waren von einem magischen marineblauen Funkeln und Leuchten umgeben. Er hatte mich in die Grotta Azzurra auf Capri geführt, die erst vor 10 Jahren entdeckt worden war. Wir waren ganz allein in der Höhle, in die kaum Tageslicht eindrang. Edward rief „Ich liebe dich!", deren Hall sich an den Wänden der Grotte vermehrte und ausbreitete. Ich tat es ihm gleich. Selig schaukelten wir in dem Boot und liebten uns erstmals außerhalb unseres Bettes, während wir vom Echo unserer Liebesseufzer umgeben wurden. Wir verbrachten bis zur Rückkehr des Seglers einen traumhaften Tag auf der Insel Capri und fanden gegenüber den Faraglioni unser Traumhaus, das hoch oben in den Felsen hineingehauen war. Nur ein schmaler Pfad führte herauf, abgeschieden von jeder Zivilisation. Leider war es im Besitz einer Contessa, die sich verständlicherweise nicht davon trennen wollte.
Zurück auf der Brigantine fragte ich Edward schelmisch, „Dieser Ausflug war wohl jetzt die Abbitte für den Streich mit der Fontanelle letzte Woche, hmmm?"
Er kicherte fröhlich, „Nein die beiden Ausflüge gehören zusammen."
Er hatte mich eine Woche zuvor ebenso mit verbundenen Augen überraschen wollen und den Camaldoli-Hügel hinaufgeführt. Hier war ich ihm einen unebenen Gang hinterhergestolpert, wie Eurydike ihrem Orpheus, dessen Echo eine riesige Halle vermuten ließ. Nach etwa 100 m in die Tiefe, nahm er mir die Binde ab, und ich fand mich in einer dunklen riesigen Höhle wieder, deren Deckenhöhe über 20 m betragen haben musste. Die sich verengenden Gänge gruben und verzweigten sich tief in den Fels. Dann schaute ich aber zur Erde. Durch ein Gitterfenster in der Höhe fiel das Tageslicht auf Berge von Schädeln und Knochen aller Art, die liebevoll sortiert und gestapelt, die ganze Höhle füllten. Meine Augen waren groß aufgerissen. Auf den Schädeln lagen Münzen oder bunte Heiligenbildchen. Andere waren mit Blumen geschmückt, wieder andere waren zu zweit in Holzschatullen geborgen. Das blanke Entsetzen ergriff mich, und ich fing an zu Rennen. Doch statt zum Eingang drang ich immer tiefer in das Totenlabyrinth vor. Es herrschte kein Gestank nach Verwesung in der Luft, es roch lediglich etwas muffig, denn durch die Felsen waren große vergitterte Fenster eingehauen, die durch die hohen Wände einen frischen Windzug pfeifen ließen, was für schaurige Geräusche sorgte. Das Echo meines Schreis gellte durch die Höhlenräume, ebenso wie das schallende Lachen von Edward, das mir nun sehr teuflisch vorkam. An manchen Stellen hingen Skelette in Kleiderfetzen an der Wand. In einer der Nischen starrte ich entsetzt auf ein gebücktes, altes Weib in schwarzen langen Gewändern und einem Kopftuch, das hingebungsvoll behutsam die Schädel polierte, während sie lateinische Gebete murmelte und am Ende eine Münze auf den Schädel legte, oder andere Devotionalien, die es in dieser katholischen Stadt an jeder Ecke zu kaufen gab. Sie entzündete am Ende ihres grausigen Rituals eine Grabkerze. In einem domartigen Raum, der nur durch Kriechen zugänglich gewesen wäre, aber große Felsendurchlässe hatte, standen die barocke Skulptur eines kopflosen Engels und hohe Holzkreuze wie in Golgatha. Darum herum waren kleine Elfenbein- und Holzsärge angeordnet, die mit aufwendigen Ornamenten graviert waren, deren Material aber stellenweise so beschädigt war, dass man den Inhalt erahnen konnte. Auf ihnen standen Daten wie "1665". Zu einem weiteren Bereich war der Zutritt mit einem Hinweisschild „Quarantena 1837" durch eine dicke neue Tür versperrt. Ich lief und lief, bis ich wieder an der frischen Luft war, vergessend, dass Edward mit seinem verletzten Auge nicht jede Unebenheit sehen konnte und sich an manchem Felsvorsprung den Kopf einstieß und eine dicke Beule davontrug. Trotzdem konnte er sich vor Lachen kaum halten, während ich empört vor mich hin prustete. Er fasste nach mir und küsste mich, legte mir dann seinen Arm um die Schulter und erklärte:
„An diesem Schlund der Hölle werden tausende Opfer der Pest bestattet. Das ist ein Friedhof, meine kleine Fee. Der heiligste Ort von Neapel, Du Christin! Hast Du die Alte mit den Münzen gesehen? Das ist ein archaischer Totenkult aus der Antike, die die Christianisierung überlebt hat. Es ist das Fahrgeld für Charon über den Styx! Die Witwen suchen den Ahnen einen Besuch ab und ehren sie so noch nach 200 Jahren. Und sie beten für sie."
„Und der Raum mit der Quarantäne?"
„Darin sind die Verstorbenen der letzten Cholera-Epidemie 1837 bestattet. Ich bin damals nur knapp entkommen".
„Ach, du Ärmster!", rief ich sarkastisch, „Dabei wäre ich so gerne jeden Monat hier her gekommen, und hätte Dir Deine Knochen poliert, sogar angemalt und Dir genügend Fahrgeld hinterlassen, hätte ich, damit Du Deine Eurydike immer wieder in der irdischen Welt besuchst, Du Orpheus!"
Er gluckste selbstzufrieden vor Lachen, wie damals, als er mich als Zigeunerin so heimtückisch ausgehorcht hatte.
„So nun bring mich aber weg aus diesem Hades."
Dieses Gruselabenteuer gehörte also zu Edwards exzentrischer Inszenierung zu Ehren meines Wiegenfestes, geboren in seinem manchmal doch sehr bizarren Geist. Danach konnten wir allerdings beide köstlich darüber lachen. Und nun nach Capri, war sein Lausbubenstreich vergeben und vergessen.
Lieber Leser, ich werde euch nicht weiter mit Berichten unserer langen Reise quälen, die ihr ausführlich bei Seume oder Goethe nachlesen könnt. Die weiteren Stationen nach diesen Flitterwochen, folgten der traditionellen Route der „Grand Tour", nur rückwärts. So verbrachten wir den Dezember bis Weihnachten im heiligen Rom, um im Januar Florenz, Pisa, Ferrara und Bologna zu erkunden. Die Karneval- und Theatersaison im Februar und März verbrachten wir in Venedig mit Abstechern nach Mailand, Mantua, Verona, Padua, Rimini und Ravenna. Den März nutzten wir für die Vorbereitung unserer beschwerlichen Alpenüberquerung über den Brennerpass nach Innsbruck im April. In diesem halben Jahre hatte ich mir dank meiner Französischkenntnisse ein nutzbares Grundwissen an Italienisch angeeignet, und schloss dadurch die herzlichen Italiener genauso immer tiefer in mein Herz, wie meinen eigenen schwarzhaarigen Italiener aus England. Mir fiel es schwer, dieses Land, wo die Zitronen blühen, zu verlassen.
Wir waren uns unschlüssig, wohin die Reise jetzt weitergehen sollte. Edward stand im regen Kontakt mit seinem Verwalter in Thornfield, der ihm auch einen nicht übermäßig teuren Vorschlag unterbreitete, auf den stabilen Mauern des Schlosses einen hellen und modernen Umbau vorzunehmen, der weniger düster sein würde als es bei einer Restaurierung der Fall gewesen wäre. Denn scheinbar hatte Mrs. Fairfax den Zustand des Schlosses stark übertrieben. Das gesamte Hintergebäude hatte fast unversehrt überlebt, wohin alles, was zu retten war, untergebracht worden war, um den Winter zu überstehen. Wir würden auf der abgebrannten Fläche auf den Grundmauern ein neues, gemütliches, kleineres und helleres Herrenhaus errichten, das unser neues Heim werden sollte. Das Hinterhaus sowie der Teil, der weniger beschädigt war, sollte zu einem Gästehaus umgebaut werden, das wir auch vermieten konnten. Dort konnten dann auch die Diener ihr eigenes Zuhause einrichten. Denn wer brauchte diese 100 Räume? Dieser Umbau würde sich aber noch auf ein weiteres Jahr hinziehen. Wir beschlossen daher erst einmal nur nach Wien weiterzureisen, und dann weiterzusehen. In den letzten Monaten hatte sich die Sehqualität von Edwards geschädigtem Auge zusehends verschlechtert. Weiße Flächen erkannte er als gelbgrün, der Blick verdunkelte sich und die Sehschärfe ließ nach. Die Überlagerungen waren dieselben. In Wien hofften wir einen Augenspezialisten zu konsultieren.
Im April waren die Wege über den Brenner wenigstens so abgetaut, dass wir mit dem Wagen passieren konnten. Stellenweise war die Strecke aber noch so vereist, dass wir den Pferden die Gewichte nicht zumuten konnten, und selbst neben ihnen zu Fuß weitermarschieren und die Kutsche schieben mussten, mit dem Gepäck auf dem Rücken, in Eiseskälte. Einen Koffer mit Kleidern mussten wir dort zurücklassen. Diese Strapazen erhitzten auch manchmal unsere Gemüter, so dass wir unseren Frust in einem unserer ersten Streits entluden. Diese verblassten aber angesichts der atemberaubenden Aussichten der österreichischen Bergwelt, die ich noch nie gesehen hatte. Als ich immer wieder feststellte, dass mein vornehmer Sir Rochester sich während dieser Mühsal für keine noch so anstrengende und eklige Aufgabe zu fein war, selbst Kadaver verendeter Tiere vom Weg beräumte, und wie er sich auf derselben Augenhöhe mit den ärmsten Bauern und Arbeitern unterhielt, vertiefte sich meine Liebe und Achtung zu ihm ins Unermessliche. Wir meisterten beide die steilen Abhänge und unpassierbaren Engen mit viel Einfallsreichtum und trotzten auch so manchen Gefahren, die uns mit Stolz erfüllten.
Chapter 17: Kapitel 17 Augenlicht
Summary:
The honeymoon in Italy is finished. Edward has to decide how to act regaining again his full sight. Should they return? They will decided after a dreadful trip through the Alpes.
And Thornfield could be reconstructed perhaps.
Chapter Text
Kapitel 17 Augenlicht
In Innsbruck hielten wir uns nicht lange auf. Wir brauchten fast eine Woche bis nach Wien, wo wir uns in einem Hotel direkt gegenüber der Hofoper einquartierten. Übersättigt von den vielen Eindrücken aus Paris und Italien erschien uns Wien nun nicht mehr so attraktiv, wie wir vermuteten. Wir konzentrierten uns darauf, Edwards Sehfähigkeit retten zu können. In Neapel und Rom, war er noch zu Ärzten gegangen, die aber vor riskanten Schritten wie einer Operation dringend abgeraten hatten. Wir fanden an der Universität in Professor Schmickel eine Koryphäe der Augenheilkunde, der sich Edwards Augen nochmals gründlich anschaute. Die Netzhaut war intakt. Die rechte Linse hatte sich weiter eingetrübt und verformt. Da dieser Prozess nicht aufzuhalten war, und in zwei bis drei Jahr zur völligen Blindheit führen würde, riet er ihm, die Operation vornehmen zu lassen.
„Wenn das mein Auge wäre, würde ich Antoine de Marne in St. Petersburg konsultieren. Er hat die größten Erfahrungen mit dieser Grauen Star-Operation gemacht, und vielen ebenso im Krieg verletzten Offizieren das Augenlicht gerettet. Er hat die französische Methode weiter durch einen minimalen Schnitt verfeinert, so dass die Risiken minimiert sind. Ich mag zwar ein fähiger Spezialist sein, ein Chirurg bin ich keiner."
Edward, der schon zweimal in der Zarenstadt an der Ostsee gelebt hatte, schreckte davor zurück, „Das sind über 1000 Meilen! Eine Weltreise! Man kann sie auch nur zu den Weißen Nächten im Sommer ertragen!"
„Mr. Rochester, Sie müssen nichts überstürzen, aber Sie haben Recht, entweder sollte die Reise jetzt oder spätestens in einem Jahr geschehen. Aber auf jeden Fall sollten Sie bereits jetzt zu Antoine de Marne Kontakt aufnehmen, ihm alle Untersuchungsergebnisse zur Verfügung stellen, damit er bereits jetzt die Möglichkeiten ausloten und sich gegebenenfalls vorbereiten kann. Bedenken Sie, dass auch Briefe bei 1000 Meilen und über die vielen Grenzen hinweg viel länger brauchen. Er sollte bei Ihrer Ankunft dann ja auch wirklich in St. Petersburg weilen und nicht in Moskau oder im hintersten Ural. Und vielleicht ist er ja selbst gerade in Frankreich."
Er übergab uns die Adresse und ein Referenzschreiben für den Arzt in Russland und stellte uns einen ausführlichen Bericht über den Zustand des Auges aus. Diesen mussten wir mit dem englischen Gutachten ins Französische übersetzen und abschreiben. Als Adresse gaben wir Dr. Carter in Millcote an, da wir unsicher waren, wo wir bis zu einer Antwort sein würden. Das ganze übergaben wir dann der Post, die es über den Schiffsweg in die ferne Metropole an der Neva sendete.
Unsere Reise endete also so, wie sie angefangen hatte. Wir beschlossen nach England zurückzukehren, um uns um den Umbau unseres neuen Zuhauses in Thornfield zu kümmern. Vorerst würden wir in dem Waldhaus in Ferndean unterschlüpfen, das im Sommer nicht so ungemütlich feucht war. Schließlich wussten Adèle und Mrs. Fairfax noch nichts von unserem Glück. Und das Herrchen hatte Sehnsucht nach Pilot. Herbst und Winter wollten wir dann in unserer weißen Villa an der Côte d'Azur verbringen. Also setzten wir nach einer weiteren Woche in Wien unsere Reise fort über Prag, Dresden, Berlin und Hamburg ohne längere Aufenthalte fort. Dort bestiegen wir ein Schiff, dass uns sehr umständlich nach Liverpool brachte. Von dort fuhren wir erstmalig mit der neuen Dampfeisenbahn nach Manchester, da wir unsere inzwischen unansehnlich abgenutzte Kutsche in Hamburg zurücklassen und die Pferde verkaufen mussten. Auch hatten wir ja seit unserer Abreise nach Neapel keine eigenen Kutscher mehr, die wir seitdem etappenweise immer nach Bedarf in Dienst nahmen. In Manchester kaufte Edward ein neues Gespann mitsamt Kutscher, das uns direkt nach Millcote brachte, wo wir im Gasthaus „Zum Wappen der Rochester" übernachteten. Dr. Carter war sichtlich erfreut über die glückliche Schicksalsfügung und lauschte unseren Erlebnissen. Er befand, dass wir beide jünger und mit unserer sonnengebräunten Haut gesünder aussahen. Wir informierten ihn über die Wiener Entscheidungen, und er versprach uns sofort zu verständigen, wenn Professor de Marne sich melden sollte.
Dann lockte er Edward und mich unter einem Vorwand hinter seine Ställe, wo er seine Pferde auf einer großzügigen Koppel weiden ließ und auch kranke Tiere gesund pflegte. Er wurde von seiner Frau ins Haus gerufen. Als wir ihm etwas perplex hinterschauten und mit dem Rücken an das Gatter gelehnt ihn davoneilen sahen, wurde Edward durch ein Ziehen und Kneifen an seinem Hemd abgelenkt.
"Jane, du Wechselbalg! Lass das! Das tut weh!"
Ich erwiderte verwundert, "Aber Schatz, ich mache doch gar nichts".
Edward schlug nach der vermeintlich piesackenden Hand und erntete ein erbostes Schnauben und Wiehern. Verblüfft drehte er sich um und sah in die großen schwarzen Augen von Mesrour, der aufgeregt von einem Huf auf den anderen trat, und an seinem Ärmel knabberte. Edward entfuhr ein Freudenschrei und umschlang den mächtigen Hals seines Hengstes und weinte, wie er es bei dem vermeintlichen Feuertod seines geliebten Pferdes getan hatte. Die Freude war beiderseits, denn auch Mesrour wich nicht mehr von seiner Seite.
"Ach ja, Sir Rochester, genau das wollte ich Ihnen zeigen. Wie ich sehe, haben Sie sich schon wiedererkannt. Ich habe Mesrour vor zwei Monaten völlig abgemagert in einem Stall eines verstorbenen Bauern gefunden. Der soll es eine Woche nach dem Brand verletzt im Wald gefunden und aufgepäppelt haben. Wie Sie sehen, habe auch ich ihn wieder auf die Beine gebracht. Ich dachte mir, dass Sie beide doch auf dem Rücken des Pferdes schneller in Thornfield sein werden, als zu Fuß, wie es Ihre Gattin wahrscheinlich vorhatte."
Die beiden Männer spotteten weiter über meine Wanderlust, während ich mich über die glückliche Fügung freute, als Edward mich zu sich auf sein wiedergefundenes Pferd hob.
Die nächsten Tage verbrachten wir auf der Baustelle von Thornfield. Der Anblick der verkohlten Türme, in die sich die Krähen eingenistet hatten, trieben uns die Tränen in die Augen. Unter Begleitung des Architekten sahen wir, dass die Trümmer und die verkohlten Einrichtungen bereits vollständig entfernt waren. Die Zugänge und hohlen Fensteröffnungen waren mit Holzbeschlag verschlagen, damit die Feuchtigkeit die Substanz nicht zusätzlich schädigte. Neue Holzplanken, die mit Schiffspech bestrichen waren, deckten die offenen Dachlücken ab. Insgesamt hatte das Feuer wirklich nicht so viel zerstört, wie wir nach den erhaltenen Berichten fürchteten. Mit etwas Geduld war auch der hintere weniger betroffene Gebäudetrakt bereits jetzt bewohnbar. Es war also nicht „alles" verloren. Hier waren sämtliche Gegenstände, Gemälde, Möbel und Andenken verstaut, die das Inferno einigermaßen unbeschadet überlebt hatten, aber noch von Ruß überzogen waren. Darunter befanden sich auch ein Teil meiner Kleider, die ich aus Lowood mitgebracht hatte. Auch die Arbeiter hatten sich hier ihre Unterkünfte eingerichtet. Die Tage, die wir in Millcote verbrachten, nutzten wir, um dieses gerettete Hab und Gut zu säubern und zu reparieren oder halfen den Arbeitern bei den Bergungs- und Aufbauarbeiten. Wir gaben uns alle Mühe, die unversehrten Räume bald nutzbar zu machen, damit wir nicht zu lange in Ferndean verweilen mussten. Diese körperliche Beschäftigung belebte unsere Sinne neu, die durch die vielen kulturellen Eindrücke der letzten Monate übervoll waren.
Zuerst aber besuchten wir Adèle im Internat, die inzwischen schon wieder geschossen war und uns überschwänglich auf Französisch begrüßte. Sie hatte sich liebevoll um Pilot gekümmert, der nun mit wedelndem Schwanz an seinem Herrchen hochsprang und ihn winselnd jauchzend begrüßte. Edward nahm seinen Liebling wieder an sich und wir tobten gemeinsam durch den so vermissten Park.
Im düsteren Wald von Ferndean verbrachten wir einige herrliche gemeinsame einsame Monate, in denen wir uns ganz uns selbst widmeten und treiben ließen. Wir hielten unsere Erinnerungen fest oder zeichneten und lasen. Nach dem ereignisreichen Jahr brauchten wir eine Auszeit, in der wir keine Pläne schmiedeten. Ich war auch im dritten Monat schwanger, doch verlor ich den Embryo Mitte August während einer starken Blutung. Edward war die Sorge ins Gesicht geschrieben, und er brachte mich unverzüglich zurück zu Dr. Carter nach Millcote, der mich eine Woche gesund pflegte. Ich war untröstlich, doch Edward trug es mit Fassung. Er hatte nicht mehr mit Vaterglück gerechnet und war starr vor Angst um meine Gesundheit. In dieser Zeit traf nun endlich auch ein dicker Brief aus Russland ein. Antoine de Marne hatte die Unterlagen ausführlich studiert und war bereit, Edward zu untersuchen und bei Bedarf zu operieren. Er bot uns einen Operationstermin ab 4. Mai 1840 an. Edward müsse etwa 8 Wochen in St. Petersburg in Behandlung bleiben, bevor er sicher wieder reisefähig wäre. Er legte ausführliche Informationen zu der Operation und den möglichen Konsequenzen bei, wägte die Risiken ab, und gab Handlungsempfehlungen, wie er sich bereits jetzt auf die Operation vorzubereiten habe. Dazu gehörten immer wieder Phasen, in der er seine Klappe zur Schonung aufsetzen und bestimmte Essenzen, zu denen er Rezepte beilegte, ins Auge träufeln sollte. Edward willigte ein und hielt sich diszipliniert an diese Vorgaben.
Im September war das Haus in Ferndean derart ungemütlich und auch die bewohnbaren Trakte der Ruine in Thornfield waren noch nicht beheizbar. Aus Sorge um unsere Gesundheit, entschlossen wir unseren Aufbruch zu unserem Winterquartier in Südfrankreich, wo wir dann unseren ersten Hochzeitstag begehen wollten. Die Reise fiel dieses Mal zügiger aus, ohne Aufenthalt in Paris, aber zwei Wochen waren wir bestimmt unterwegs, nach denen wir uns erst einmal ausruhten. Den 25. September verwöhnten wir uns gegenseitig mit einer Wanderung am Meer mit Pilot und veranstalteten eine größere Feier mit unseren Trauzeugen und ihren Anverwandten. Am folgenden Tag überreichte mir Edward einen Buchband, in dem eine Widmung an mich eingetragen war.
„Ich hatte Dir am Vorabend unserer Hochzeit versprochen, Dich ein Jahr und ein Tag nach unserer Hochzeit mich Dir komplett zu offenbaren. Nun weißt du das, was ich Dir damals sagen wollte, aber schon seit über ein Jahr. Daher, mein Liebling, habe ich Dir hier mein ganzes Leben aufgeschrieben, alles was du noch nicht von mir weißt."
Das Buch endete mit unserer Begegnung und war der Anlass, ihm und euch, meine lieben Leser, hier die Fortsetzung meines Lebens und unseres gemeinsamen Lebens zu widmen. Ich war gerührt, als er mir sein Leben in die Hände legte und rätselte, wann er dies alles geschrieben haben könnte. Nach einer Weile der Neckerei, gab er zu, dass er es über Jahre in seinen einsamen gequälten Stunden als eine Art Tagebuch niedergeschrieben hatte, mit all seinen geheimen Gedanken und Ängsten.
Der Aufenthalt in unserer weißen Villa wurde zu den entspanntesten und intimsten Momenten unseres Lebens. Wir unterhielten Kontakte zu einem immer größer werdenden Freundeskreis und merkten nichts vom Winter. Viele Stunden konnten wir am Meer verbringen. Doch meine Freizeit, in der Edward mit seinen inzwischen wieder selbst übernommenen geschäftlichen Aufgaben erfüllt war, lernte ich Russisch, um auf die Kommunikation im Alltag gewappnet zu sein, die mich dort sicherlich während seines baldigen Klinikaufenthaltes erwarten würde, wenn ich in der Stadt an der Neva allein unterwegs war. Wir trafen auch Vereinbarungen und Vorbereitungen für den „worst case", bei dem er sein Augenlicht oder gar sein Auge komplett verlieren würde. Mitte Februar reisten wir zurück nach Thornfield, wo die Arbeiten über den Winter nur schleppend vorangegangen waren, aber zumindest der Winter hatte dem Gebäude nichts anhaben können.
Chapter 18: Kapitel 18 St. Petersburg
Summary:
There is one place in Europe where Edward wanted o take Jane to. And here there is the help to recover his sight. But they wont return alone.
Chapter Text
Kapitel 18 St. Petersburg
Wir buchten unsere Überfahrt von Liverpool nach St. Petersburg mit Schiff, die zwei bis drei Wochen dauern würde, für Anfang April. Die Überfahrt erwies sich nach dem Skagerak als rau. Mein Magen war wesentlich empfindlicher. Doch stellte es sich bald heraus, dass es keine Seekrankheit war. Der Schiffarzt bescheinigte, dass ich wieder schwanger war, vermutlich wieder im dritten Monat. Edward nahm diese Glücksnachricht die Angst vor seiner drohenden Operation. Er umsorgte mich rührend und achtete darauf, dass ich mich nicht überanstrengte, mehr als ich zulassen wollte.
Wir erreichten St. Petersburg am 24. April 1840 und dort bezogen wir eine Wohnung in der Nähe der Klinik, die gegenüber dem Winterpalais an der Neva gelegen war. Ich staunte über die unermessliche Breite dieses Flusses, in die die Themse zweimal passen würde. Nachdem wir uns zwei Tage akklimatisiert hatten und die nötigen Besorgungen erledigt hatten, begannen wir unsere Streifzüge durch die Metropole. Da Edward die Stadt wie seine Westentasche kannte, hatten wir genau abgesprochen, welche Sehenswürdigkeiten wir unbedingt zu zweit erleben wollten, wie die Zarenresidenzen die viele Meilen außerhalb der Stadt lagen: das Schloss Peterhof mit seinen unermesslichen Gärten und Brunnenspielereien direkt an der Ostsee, den Katharinenpalast Zarskoje Zelo in Pushkin, oder bis nach Petrovsk, und diejenigen, die seiner Gegenwart nicht bedurften, wie die unendliche Gemäldesammlung der Eremitage im Winterpalast oder dem Russischen Museum, das die gesamte russische Malerei barg.
Auch die vielen Klöster, Kirchen, Synagogen, Moscheen und Friedhöfe überließ er mir allein. „Dort wird dich mir keiner stehlen."
Wir besuchten Ballettaufführungen des Mariinsky Theaters und er zeigte mir die besten Restaurants, wo ich unbehelligt während seiner Abwesenheit dinieren konnte. Außerdem stellte er mich mehreren seiner adligen verheirateten Freundinnen und Freunde vor, denen er mich anvertraute. Ich verliebte mich in die goldene Zarenstadt mit seinen weiten Wegen, Kanälen, entlang derer sich ein barocker Prachtbau nach dem anderen reihte. Ich liebte die Zurückhaltung der Russen, die trotzdem mit so viel Herzlichkeit und Gastfreundschaft auf mich reagierten. Sie hatten keinen Dünkel bezüglich meiner Herkunft, die sich immer wieder in meinem Benehmen und meinem Kampf mit der Etikette zeigte.
Edward und ich vertrieben gemeinsam so viel Zeit in der Stadt, dass ich bei seiner Einweisung in die Klinik vertraut in ihr bewegen konnte, ohne Angst um mich zu haben. Und dennoch gab es etwas, was uns beide erschütterte, das war das unfassbare Aufeinanderprallen der Armut der normalen Bevölkerung und dem unermesslichen Reichtum der adligen Bojaren, die sich die Gehwege teilten. Alte Weiber in schwarzen Gewändern und Kopftüchern, die mich an die Alte in der neapolitanischen Unterwelt erinnerten, saßen am Straßenrand, verkauften Blumen und bettelten. Mir wurde der Begriff Leibeigenschaft erst bewusst, als wir den Griboyedovo Kanal entlangspazierten und uns der Löwenbrücke näherten, wo ein junger Mann über die Brücke hetzte, gefolgt von berittenen Polizisten, die ihn brutal mit Knüppeln zu Fall brachten. Edward konnte Pilot, der sich auf die Polizisten stürzen wollte, mit Müh und Not zurückhalten. Eingeschüchtert verkrochen sich die Anwohner hinter ihren prachtvollen Fassaden. Als Edward mich und Pilot in einen Hinterhof zerrte, trafen wir auf einen Mann, den er über den Vorfall ausfragte.
„Das war Sergej, ein Dichter, er ist gerade aus der Verbannung aus dem Ural zurückgekehrt. Sie hatten ihn dorthin verschleppt, weil er vor 12 Jahren am Dekabristen-Aufstand gegen die Leibeigenschaft teilgenommen hatte. Er ist der Einzige, der überlebte, und seinem Gefängnis entfloh. Sie haben ihn durch ganz St. Petersburg gejagt. Der Zar ist unerbittlich mit ihnen!"
Niedergeschlagen über solche Misshandlung der Menschenrechte träumten Edward und ich von unserer Gleichberechtigung in Frankreich.
Wir hatten uns schon gleich nach unserer Ankunft bei Professor de Marne vorgestellt. Er nahm erneute genauere Untersuchungen und Abmessungen vor, die er in seine Berechnungen und Planungen einbezog. Je näher der Tag rückte, um so nervöser wurden Edward und ich, obwohl es uns meist gelang, die Angst auszublenden. Die Tage vor der Operation wich ich nicht von seiner Seite und verharrte am ganzen Leib zitternd im Flur der Klinik, während Professor de Marnes Zauberhände das Auge meines Liebsten aufschnitten und aussaugten, nur lokal betäubt. Die Prozedur dauerte keine halbe Stunde. Nach einer weiteren Stunde kam Professor de Marne zu mir und versicherte, dass die Operation ohne Komplikationen und zu seiner vollen Zufriedenheit verlaufen sei. Er schickte mich erst einmal in die Wohnung zurück, damit Edward und ich uns von der Narkose erholen konnten, wobei er wohlwollend Richtung der Wölbung meines Bauches nickte.
Edward stand die ganze Zeit unter ärztlicher Beobachtung, denn die kommenden 48 Stunden waren die riskantesten, in denen das Auge und die Netzhaut verstärkt reagieren könnten. Um den vorzubeugen, waren druckaufbauende Gläser über sein Auge gestülpt. Auch sollten sie eine Infektion verhindern. Am frühen Abend sah ich bei Edward vorbei, der wieder bei Bewusstsein, aber noch erschöpft von der Prozedur war. Ich blieb, streichelte ihn und schwieg. Die kommenden zwei Tage verliefen gesprächiger und zuversichtlicher, aber noch wussten wir nicht, welchen Erfolg die Operation und die fortlaufenden Therapien gehabt hatten. Nach den 48 Stunden entfernte Professor de Marne das Glas und untersuchte das Auge. Die Netzhaut war intakt und auch der Augendruck schien in Ordnung zu sein. Er spülte das Auge mit antibakteriellen Essenzen und machte erste Sehtests. Der Blick war klar, fast blendend weiß, besonders beißend, sobald Dr. de Marne mit seinem Brennglas und einer Kerze hineinleuchtete. Die Trübung und die Überlagerungen waren also verschwunden. Doch hatte er wieder einen Rosa-Schleier, den der Professor als Blut von der Operation bewertete, der sich in den kommenden Stunden legen würde. Edward konnte die vier ihm gezeigten Finger sehr unscharf erkennen, doch mit einer Lupe konnte schon eine verbesserte Schärfe erzielt werden.
Diese Verbesserung setzte sich die kommenden Tage fort, so dass ich meine eigenen Stadterkundungen aufnehmen konnte. Inzwischen näherten sich die Weißen Nächte, die die Metropole in ein goldenes magisches Licht tauchten. Viele Strecken legte ich zu Fuß zurück, entlang der Kanäle. Die meiste Zeit verbrachte ich in den Museen, deren Sammlungen schier unerschöpflich waren, und beim Einfangen der Schönheit dieser Stadt in meinen eigenen Bildern. So wie es auf all meinen Reisen zur Gewohnheit geworden ist. Pilot wurde mein stetiger Begleiter und Beschützer und man merkte, dass er die Stadt noch von seinen vorigen Reisen bestens kannte, gelangweilt wie er manchmal hinter mir hertrottete. Mich faszinierte, wie sich das Licht an diesen Tagen, in denen die Sonne nur nach 3 Uhr nachts kurz untergeht, über den Tag veränderte. Die goldenen Kuppeln des Isaakdoms und der Admiralität leuchteten besonders um Mitternacht in diesem mysteriösen silbrigen Licht. Ab und zu wurde ich von Edwards Freunden begleitet und zum Abendessen eingeladen. Dort verbrachte ich vergnügliche Abende, obwohl ich an ihren Wodkarunden nicht teilhaben durfte.
Edward hatte sich körperlich inzwischen gut erholt und die Sehkraft nahm Tag für Tag zu, aber immer nur mit Hilfe von Sehmitteln. Ohne eine Linse sah er hellen Brei. Zum Spaß hatte ich ihm ein Monokel besorgt, mit dem er nun seine Scherze trieb, um mich aufzuheitern. Mit diesem konnte er scharf sehen. Nach weiteren 10 Tagen, in denen die Stabilisierungs- und Wundtherapie fortgeführt war, konnte er endlich entlassen werden. Er sollte alle zwei Tage zur Kontrolle kommen. Die Augenklappe und die entzündungshemmenden Essenzen mussten weiterhin mehrfach täglich aufgetragen werden. Er durfte sich nicht bücken, nicht anstrengen und nichts tragen und bloß keine Erschütterungen. Das bedeutete auch keine Kutschentouren und keine Liebesnächte. So dass ich nun weitere pflegerische Aufgaben hatte. Aber erste Spaziergänge waren möglich. Er staunte, wie stark mein Bauch inzwischen angewachsen war und versuchte mit seiner Hand immer wieder mit seinem Nachwuchs in Kontakt zu treten oder er lauschte, seinen Kopf auf meinen Bauch gepresst.
Schnell verflogen so die vier Wochen, in denen wir den ewigen Tag in der Stadt genossen und oft dann tagsüber schliefen. Einer der Höhepunkte war der Ball der Weißen Nächte im Winterpalast, in dem der Hochadel vertreten war, nur der Zar weilte zu dieser Zeit in Moskau. Ich traute mir nur wenige langsame Tänze, da auch Edward nicht tanzen durfte. Wir beobachten das aristokratische Treiben, über das wir am kommenden Tag genüsslich mit Pantomimen spotteten. Nun gab uns Professor de Marne auch die Erlaubnis für Anfang Juli eine Überfahrt nach Liverpool zu buchen. Als sich die Sehstärke bei Edward eingependelt hatte, passte er ihm eine Brille an, deren eines Glas dicker als das andere war, aber mit dem er jetzt wieder gut sehen konnte. Auch ohne war seine Sicht besser geworden, da nun das gesunde Auge die Führung übernahm und die Unschärfen ausblendete. Immer wieder zog er aber dann tatsächlich das Monokel zur Hilfe.
Der Abschied von den Freunden und der gemächlichen Stadt fiel uns schwer, aber der Zeitpunkt meiner Niederkunft nahte und wir wollten im Sommer zu Hause sein. Die Rückreise dauerte bei Ostwind etliche Tage weniger, so dass wir bereits Mitte Juli wieder in Thornfield eintrafen. Der Bau war so weit fortgeschritten, dass wir mit wenigem Aufwand uns bereits in dem hinteren Trakt häuslich einrichteten. Auch die Dach- und Fensterarbeiten der sich im Wiederaufbau befindlichen Gebäudeteile waren nun so weit abgesichert, dass die Witterung ihnen nichts mehr anhaben konnte, und erste Kamine wieder funktionierten. In den kommenden Monaten wurden mit den Zwischenwänden und -decken nun großzügige Wohneinheiten geschaffen, die uns eine vielseitige Weiternutzung ermöglichten. Der Neubau sollte im folgenden Sommer fertig sein.
Edward kümmerte sich nun verstärkt um seine Geschäfte, um die hohen Ausgaben der letzten Monate und den Ausbau von Thornfield ohne Verluste ausgleichen zu können. Der Müßiggang der letzten Monate hatte ihn zwar zu sich selbst gebracht, lag aber nicht in seinem aktiven Wesen. Sein Leben lang hatte ihn dieses Privileg der "Reichen und Nutzlosen", wie er es immer wieder nennt, in seinem Selbstwertgefühl herabgesetzt und frustriert. Unsere Reisen, die europaweit so viel Ungleichheit und Elend sowohl unter dem Knebel des Adels wie auch des neuen Geldadels, sowie die neuen Ideen von einem menschenwürdigen Leben in Frankreich und Amerika und in der Philosophie eines Kant oder Humes sowie die Bestrebungen nach Selbstständigkeit in fast allen europäischen Ländern offenbarten, hatten ihn aufgerüttelt. Er wollte die Stimme für diese Stimmlosen werden und der republikanischen Idee auch in England zum Durchbruch verhelfen. Das war Edwards leidenschaftlichstes Anliegen in diesen Jahren, seinen Geist und seine Erfahrungen für etwas Sinnvolles einzusetzen. Daher nahm er dank seiner Adelsprivilegien seine Wahl zum Oberhaus an, eine Anstellung, die ihn eine Woche im Monat in London band, zu der ich ihn gelegentlich begleitete. Das brachte uns zusätzliche Mittel ein und ließ seine alten Kontakte wiederaufleben. Die meiste Zeit jedoch verbrachte er an meiner Seite und man merkte ihm die Vorfreude auf sein erstes Kind an. Das Unwohlsein gegenüber Kindern, wie er es noch gegenüber Adèle vor wenigen Jahren verspürte, verflog. Am 28. September wurde es, wenige Tage nach unserem zweiten Hochzeitstag ohne Komplikationen geboren. Es war eine Tochter, die wir Bertha nannten.
Clair_Blake on Chapter 1 Tue 01 Nov 2022 01:12PM UTC
Comment Actions
Rusalka69 on Chapter 1 Sat 12 Nov 2022 02:52PM UTC
Last Edited Sat 12 Nov 2022 03:13PM UTC
Comment Actions
guest (Guest) on Chapter 18 Mon 24 Apr 2023 06:28PM UTC
Comment Actions
Rusalka69 on Chapter 18 Wed 26 Apr 2023 12:05AM UTC
Comment Actions