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Like fathers, like sons

Summary:

Fynn hasste Ferienlager. Er sollte hier auch gar nicht sein, sondern mit seinem Vater an der Nordsee, wenn der ihn nicht mal wieder versetzt hätte. Dann müsste er sich auch nicht von grobschlächtigen Jungen schikanieren lassen.

Noah liebte Ferienlager. Als er dort den jüngeren Fynn vor den Bullys des Camps rettet, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen ihnen, in der sie entdecken, dass sie vielleicht mehr verbindet als eine Sommerbekanntschaft.

 

Seine Mama hat mal gesagt, dass etwas in der Jugend seines Papas passiert war und er sich deswegen mit Gefühlen so schwer tat. Dass es da mal jemanden gegeben hat, der ein wichtiger Teil in seinem Leben gewesen war und plötzlich verschwand. War das Noahs Papa gewesen?

 

„Fynn”, flüsterte Noah, die Hand krallte sich durch den Schlafsack in Fynns Oberschenkel. „Ich glaube, unsere Väter kannten sich.”

Notes:

Nach fast einem Jahr freue ich mich euch Fynn und Noah vorzustellen, die seit einem Gespräch mit der wundervollen Tea_EarlGrey in meinem Kopf und meinen Entwürfen lebten. Ihr gilt auch meine tiefster Dank fürs Hypen, für die eine Gehirnzelle, die wir uns teilen und für das Beta-Lesen <3

Nun endlich erblicken die beiden Rabauken das Licht der Welt und sind bereit das Leben ihrer Väter gehörig auf den Kopf zu stellen.

Ich wünsche euch ganz viel Spaß beim Lesen!

Eure Q.

(See the end of the work for more notes.)

Chapter Text

 

⛺️🛶☀️Kapitel 1☀️🌳🛶

Fynn hasste das Ferienlager schon, da war das Auto seiner Mutter nicht mal abgefahren. Er wollte nicht hier sein. Es war nicht einmal geplant gewesen, dass er hier war. Eigentlich hätte er die nächsten beiden Ferienwochen mit seinem Vater verbringen sollen. Aber natürlich war dem wieder was dazwischen gekommen und Pläne hatten geändert werden müssen. Wie jedes Mal.

„Mordfälle richten sich nun mal nicht danach, ob man Urlaub hat oder nicht, Fynn. Das musst du doch verstehen.“ 

Fynn verstand vieles, schließlich war er mit seinen fast dreizehn Jahren kein kleines Baby mehr. Er verstand gut, dass er seinem Vater nicht wichtig genug war und er auf der Prioritätenliste von Leo Hölzer sehr weit unten rangierte. Das hatte er seinem Vater am Telefon auch an den Kopf geworfen und dann das Handy wütend an seine Mutter weitergegeben, bevor er mit laut zuschlagender Tür aus dem Zimmer gestürmt war. 

Er wollte nicht, dass sie seine Tränen der Enttäuschung sah. Ja, vielleicht war er unfair. Sein Vater jagte immerhin Mörder und brachte sie hinter Gittern. Ein cooler, aber auch gefährlicher und verantwortungsvoller Beruf, wie seine Mutter ihm immer wieder erklärte. Dass er dadurch mehr abwesend in Fynns Leben war und nicht der tolle Super-Papa, den er sich wünschte, konnte Fynn ihm dennoch immer schwerer verzeihen.

Am meisten ärgerte er sich in dem Augenblick, in dem er auf diesem Zeltplatz stand und auf die zehn Zweimann-Zelte vor sich blickte, dass er für einen kurzen Moment wirklich dran geglaubt hatte, dass sein Vater dieses Mal sein Versprechen halten und sie zwei Wochen gemeinsam und ungestört an der Nordsee verbringen würden. 

Wie dumm er gewesen war, dachte er bitter. Statt zwei Wochen Nordsee standen ihm nun zwei Wochen Ferienlager bevor, das seine Eltern noch kurzfristig für ihn gebucht hatten, da er gerade nicht in ihr Betreuungskonzept passte. Seine Mutter musste dienstlich verreisen und hatte sich auch darauf verlassen, dass Fynn bei seinem Vater sein würde. 

Er hatte die zornigen Worte seiner Mutter am Telefon gehört, wie sie seinem Vater vorwarf, immer alles durcheinander bringen zu müssen und ob er auch einmal an seinen Sohn denken würde. Fynn hatte daraufhin seine Zimmertür geschlossen. Streit zwischen seinen Eltern konnte er noch weniger ertragen.

Eigentlich war Fynn auch gar nicht wütend auf seinen Vater. Eher traurig und enttäuscht, weil er trotz allem an ihm hing und sich über jeden Moment freute, den sie gemeinsam verbrachten. In diesen seltenen Momenten war sein Papa auch immer voll bei ihm und sie machten nur Dinge, die Fynn Spaß machten. Sie waren nur zu selten, diese Papa-Fynn-Momente und Fynn war es leid auf sie zu hoffen und sich zu freuen, nur um dann enttäuscht zu werden.

Missmutig stapfte er nun auf die Zeltreihen zu, auf der Suche nach Zelt Nummer fünf, welches ihm der übermotivierte Jugendreiseleiter zugewiesen hat. Die erste Aufgabe sollte sein, eben dieses Zelt zu finden und sich schon mal mit den anderen Jungen und Mädchen bekannt zu machen, bis alle da waren und sie gemeinsam Holz für das abendliche Lagerfeuer sammeln würden.

Fynn entdeckte das Zelt mit der Nummer fünf im Schatten eines großen Baumes. Gegen die Plane lehnte ein weiterer Rucksack. Nervosität kroch in ihm empor. Fremde Kinder kennenzulernen, war nicht sein liebstes Hobby. Zuhause hatte er eine Handvoll Freunde, die er bereits aus dem Kindergarten kannte, wo das mit Freundschaften schließen noch einfacher war. Am Gymnasium hatte er keinen einzigen Freund und galt als Außenseiter in seinem Jahrgang. Deswegen hatten seine Eltern diese Jugendfreizeit im Ferienlager als wertvollen Ersatz für den weggefallenen Nordseeurlaub verstanden. So kam er mal mit anderen Kindern fernab seines gewohnten Umfeldes in Kontakt und vielleicht fiel es ihm so auch leichter, neue Freundschaften zu schließen. 

Ganz überzeugt war Fynn davon nicht.

Vor allem nicht, als er den Kopf in das Zelt steckte und ihm ein großer, bulliger Junge unfreundlich entgegen funkelte. Neben ihm auf der Isomatte saß ein drahtiger Junge mit rattenähnlichem Gesicht, der genauso mürrisch drein blickte. Fynn schluckte schwer.

„Hi, ich bin Fynn und mir wurde das Zelt zugewiesen!“ Er versuchte sich an einem freundlichen Lächeln, doch merkte selbst, dass dieses sehr wackelig wirken musste.

„Was willst du Vogel hier? Verpiss dich!“, schnarrte der bullige Junge. 

„Aber das Zelt wurde mir zugewiesen“, stotterte Fynn und wich ein Stück zurück, als die beiden Jungen ins Freie drängten und sich vor ihm aufbauten.

„Ich will aber nicht mit so einem Baby wie dir das Zelt teilen. Du machst doch sicher noch in die Hose.” Der kräftige Junge lachte höhnisch und stieß Fynn an der Schulter nach hinten. Der kam ins Taumeln.

„Ich bin schon dreizehn und kein Baby!”, verteidigte sich Fynn und reckte den Kopf nach oben. Keine Schwäche zeigen, hatte sein Vater ihm eingebläut. Sie durften nicht denken, dass sie dir überlegen waren.

Leichter gesagt als getan, wie Fynn feststellte. Der fremde Junge war um einiges größer als er und sah aus, als könne sein rechter Harken ihm ernsthafte Schmerzen zufügen.

Der kleine Junge neben ihm lachte schallend auf. „Er ist schon dreizehn! Hast du das gehört, Kevin? Das kleine Baby denkt, dass es erwachsen ist.” 

Kevin schnaubte spöttisch und kam nun weiter auf ihn zu. Fynn machte automatisch einen Schritt nach hinten, sein hämmernder Herzschlag dröhnte in seinen Ohren. 

Ein kräftiger Stoß traf ihn an der Schulter und riss ihn nach hinten. Sein Rucksack federte das meiste von dem Sturz ab und eine Staubwolke umnebelte ihn. Hustend wedelte er die feinen Partikel vor sich aus der Luft und sah sich Kevin gegenüber, der sich mit hämischen Grinsen zu ihm herunter beugte. 

“Na jetzt hast du kein großes Maul mehr, oder?”

Fynn kniff die Augen zusammen, als der Junge die Faust hob, und rollte sich so klein zusammen wie er konnte, um ihm nicht zu viel Angriffsfläche zu bieten. Nur der Schlag kam nicht. Dafür gellte ein lauter Schrei über den Platz und als Fynn die Augen öffnete, sah er, wie Kevin von ihm fortgezogen wurde. Eilig rappelte er sich in eine sitzende Position auf. 

Ein dritter Junge war dazu gekommen, der Kevin noch um einige Zentimeter überragt und vor dem die beiden Angreifer zurückwichen.

„Zischt ab ihr Pisser und sucht euch jemanden in eurer Größe, den ihr schikanieren könnt. Wenn ich noch einmal sehe, dass ihr euch an jüngeren oder kleineren vergreift, brech’ ich euch die Finger, ist das klar?”

Der Ton war schneidend und Fynn überlief ein Schauer. Er sah, wie Kevin seinem Kumpel etwas zu murrte.

„Willst du das nochmal laut wiederholen, Arschgesicht? Oder traust’ dich nicht?”, fragte der fremde Junge spöttisch und hob seine Faust. Mit einem letzten Blick auf Fynn wandten sich die beiden ab und stapften zurück zum Zelt. 

Ein zufriedenes Brummen entkam dem Jungen und er drehte sich zu Fynn rum. Der grimmige Blick wurde sofort wärmer und die strahlend blauen Augen zwinkerten ihm freundlich zu. 

Er reichte ihm die Hand und zog Fynn auf die Beine. Im Stehen fiel Fynn erst auf, wie groß der Junge tatsächlich war und er musste den Kopf leicht in den Nacken legen, um ihm weiterhin ins Gesicht schauen zu können. 

Die dunkelblonden Haaren mit einem Undercut waren lässig in die Stirn gestylt und eine Strähne hing ihm ins linke Auge. Eine hellblaue Jeansjacke, unter der ein weißes T-Shirt hervorblitzte, und eine farblich passende Jeans mit ehemals weißen Sneakern, ließen ihn ein wenig fehl auf diesem Zeltplatz wirken.

Fynn blinzelte überrascht seinen Retter an, der ihm nun den Staub von der Sportjacke klopfte. Dabei fiel Fynns Blick auf die Hände des Jungen, die lang und feingliedrig waren und aussahen, als könnten sie jemandem ernsthaft wehtun. Was ihn aber am meisten überraschte, war der schwarze Nagellack, der von einigen Fingern bereits abblätterte. Der Junge war einfach cool, wie Fynn befand und er konnte dabei nicht viel älter als er selbst sein.

„Hey, ich bin Noah, Noah Schürk”, stellte sich der Junge vor und reichte ihm die Hand. 

Verdattert griff Fynn nach ihr. „Fynn Hölzer”, stammelte er und Noah strahlte ihn an.

„Freut mich Fynn. Was meinst du, willst du mit in mein Zelt ziehen? Die kleine Ratte, die da um deinen ursprünglichen Zeltgenossen rumschlawenzelt, habe ich erfolgreich vertrieben, nachdem der mir blöd kommen wollte. Ist wohl sofort zu seinem Kumpel gerannt und hat sich gedacht, dass er sich ungeschoren an jemand anderem vergreifen kann.” Noahs Gesicht verdüsterte sich. „Ich hasse es, wenn solche Kerle denken, sie können andere tyrannisieren.” 

Er klopfte Fynn freundschaftlich auf die Schulter. „Aber du stehst jetzt unter meinem persönlichen Schutz. Deal?” Noah hielt ihm die Hand zum Einschlagen hin und Fynn ergriff sie mit einem erleichterten Seufzen. 

„Deal!”, stimmte er zu und folgte Noah zu dem Zelt am anderen Ende des Platzes. 

⛺️🛶☀️

Noah hielt ihm die Plane auf, sodass Fynn erst seinen Rucksack und dann sich selbst hineinschieben konnte. Auf einer Isomatte lag schon ein Schlafsack, eine Taschenlampe und ein Buch. In die Ecke war ein Rucksack, ähnlich wie der seine, geschoben. 

Fynn ließ seine Sachen auf die freie Seite fallen und beobachtete, wie Noah die Plane ihres Zeltes nach oben klappte und befestigte, damit sie hinausgucken und die Ankunft der anderen beobachten konnten. 

Zögerlich begann Fynn, seine Sachen auszuräumen. Den Schlafsack schmiss er ans Ende seiner Isomatte und zog dann eine Feldflasche aus der Seite seines Rucksacks. Sie hatte verblasste Sterne und Planeten drauf, die ihm im Angesicht der Coolness von Noah ein wenig peinlich waren. 

Der andere Junge hatte sich zwischenzeitlich auf seine Matte fallen lassen und sah gegen seinen Rucksack gelehnt zu Fynn hinüber. Eilig wollte Fynn seine Trinkflasche verstecken, da klatschte Noah lachend in die Hände und kramte neben sich. Mit einem triumphierenden Grinsen hielt er seine Flasche hoch - auf der zerkratzt und blass noch Planetenkonstellationen zu sehen waren. Verblüfft sah Fynn von der Flasche zu Noah, der ungerührt mit den Schultern zuckte.

„Das Weltall ist doch cool”, sagte Noah gleichgültig und nahm einen Schluck aus der Flasche. Erleichterung durchflutete Fynn, dass er sich wenigstens für Noah nicht für seine Flasche schämen musste. Er sah hinunter und auf die kaum noch sichtbaren Sterne und seufzte.

„Mein Papa hat die mir zur Einschulung geschenkt. Seitdem nehme ich die eigentlich immer mit.” Als eine Art Andenken an seinen Papa, aber das sagte er lieber nicht laut, sonst würde Noah ihn doch noch für ein Baby halten. 

„Ja, mein Paps mir auch”, sagte Noah und lächelte versonnen. „Er mochte den ganzen Weltraumkram selbst als Kind und hat auch noch bis in mein Alter mit seinem besten Freund alles über Schwarze Löcher und fremde Galaxien gelesen. Sogar eine Hausarbeit haben sie zusammen darüber geschrieben.”

Überrascht blickte Fynn auf. Das kam ihm vertraut vor. 

„Mein Papa auch”, flüsterte er und nun war es an Noah ihn perplex anzusehen. Fynn rutschte auf seiner Matte näher an Noah. „Mein Papa erzählt auch immer, dass er das Thema so cool fand, dass er darüber eine Hausarbeit in der Neunten geschrieben hat mit einem Kumpel zusammen.”

Lachend legte Noah den Kopf in den Nacken.

„Zufälle gibt es”, meinte er dann mit einem Schulterzucken und nahm einen weiteren Schluck, bevor er die Flasche wieder verstaute. 

Für einen Moment zögerte er, ehe er in seinem Rucksack nach etwas suchte. Mit einem Becher von Knorr setzte er sich Fynn gegenüber in den Schneidersitz und zog den Aludeckel von der Verpackung. Er griff mit den Fingern ein paar trockene Nudeln und warf sie sich in den Mund. Mit einem auffordernden Nicken hielt er die Packung dann Fynn hin.

„Eigentlich kommt da Wasser drauf, aber Paps futtert die auch immer so und schmeckt auch geiler.” Noah raschelte mit dem Becher und zögerlich griff Fynn zu. Vorsichtig steckte er die trockenen Nudeln, an denen noch etwas Instantpulver hing, in den Mund. Die Nudeln knackten unheilvoll, aber nach einigem Kauen verstand Fynn, was Noah daran so geil fand. 

„Gut nicht?”, fragte Noah mit einem Grinsen und stellte die Packung zwischen sie auf den Boden des Zeltes. „Und nun, erzähl’ mal, was hast du so für Hobbys?”

Fynn senkte verlegen den Kopf und griff sich lieber noch mal trockene Instantnudeln. Er hasste die Frage nach seinen Hobbys. Wenn er hörte, was andere Jungs in seinem Alter so machten, fand er sich langweilig.

„Ich lese gern”, nuschelte er daher und hoffte, dass es Noah als Antwort reichen würde und er lieber von sich erzählte. Jemand wie er hatte sicherlich spannende Hobbys.

„Mega und was liest du so?” Noah stützte sich auf seine Oberschenkel und sah Fynn aufmerksam an, dessen Ohren rot wurden. “Also ich mag ja Scientific und solchen Kram. Roboter, die die Welt übernehmen und die Menschheit versklaven! Oder, wenn wir irgendwann mal im Weltall und auf anderen Planeten leben können!” 

Noah griff neben sich und zog das Buch zu sich heran, eine abgegriffene Ausgabe von Per Anhalter durch die Galaxis.

„Hat mal meinem Papa gehört”, erklärte er stolz und hielt das Buch hoch. “Er hat es mit seinem besten Freund in Jugendzeiten immer abwechselnd vorgelesen. Voll cool, wenn du mich fragst.”

Gebannt hörte Fynn Noah zu, wie er ins Schwärmen über die Handlung und die Figuren geriet und sein Herz schlug aufregt schneller. Seine Mitschüler fanden es immer blöd, dass er so viel las. Für sie war er nur der Streber, den keiner mochte.

„Sorry, jetzt laber’ ich hier nur von mir, dabei wollte ich von dir wissen, was du gern liest!” Noah stupste gegen sein Knie und sah ihn abwartend an. Fynn dachte an das Buch in seinem Rucksack, was bei weitem nicht so aufregend war wie Noahs. 

Helden des Olymp”, nuschelte er daher kaum verständlich und senkte den Kopf. 

Noahs Kleidung raschelte, als er sich noch weiter vorlehnte und Fynns Blick suchte. Bei der verdrehten Körperhaltung, die der andere Junge dabei einnahm, musste Fynn lachen und sah wieder auf. Ein zufriedenes Lächeln lag auf Noahs Lippen. 

„Das ist der erste Band der Fortsetzung von Percy Jackson, oder?”, fragte Noah und warf sich ein paar trockene Nudeln in den Mund. 

Fynn nickte. “Es spielt auch wieder im Camp Half-Blood und eine Figur heißt Leo.” Wie Papa fügte Fynn gedanklich hinzu. Er hatte das Buch wegen der Figur ausgesucht, weil sie ihn an seinen Papa erinnerte und er ihn als Jugendlichen vor sich sah, wie er den mechanischen Drachen zum Leben erweckte, um das Camp zu beschützen. 

Noahs hellblaue Augen leuchteten begeistert. „Was hältst du davon, wenn wir Bücher tauschen für die Zeit? Oder uns auch gegenseitig vorlesen? Das ist wäre so cool mit Taschenlampe abends und hier im Zelt.”

Die Begeisterung sprang auf Fynn über und er nickte begeistert, was Noah noch mehr strahlen ließ. 

Fynn mochte dieses Lächeln. Es war nicht spöttisch oder aufgesetzt, wie er es von den Kindern von Freunden seiner Eltern kannte, die genötigt wurden, sich bei Besuchen mit ihm zu beschäftigen. Noahs Lächeln war ehrlich und offen und Fynn musste nicht befürchten, dass der andere Junge ihn insgeheim doof fand. 

„Danke”, sagte er daher leise und Noah zog fragend die Augenbrauen zusammen. 

„Für was denn danke?”

„Du hast mir geholfen und du bist nett zu mir”, sagte Fynn kleinlaut und nestelte an dem Träger seines Rucksacks.

Ein Schnipsen gegen seine Stirn ließ ihn zusammenzucken und erschrocken zu Noah aufsehen. Kaum spürbar pochte die Stelle, gegen die Noah geschnipst hat.

„Sei kein Schaf, Fynn. Dafür sollte man nicht dankbar sein, sondern es ist normal, dass man nett zu anderen ist.”

Noah schob seinen langen Körper zu Fynn auf die Matte und legte einen Arm um ihn.

„Pass mal auf, mein Paps hat immer gesagt, wenn ich jemanden sehe, der Hilfe braucht, soll ich helfen. Nett sein kostet nichts und man macht die Welt ein bisschen besser.”

„Dein Papa klingt sehr klug”, stellte Fynn fest und Noah lachte laut auf.

„Ja, er hat auch seine helle Momente, wie Onkel Mo sagt. Er macht aber auch oft nicht so kluge Sachen.” 

Bis zum Gong, der sie alle auf den Platz an der Feuerstelle rief, saßen sie nebeneinander im Zelt und lernten sich besser kennen. 

Noah war vierzehn und wohnte in Berlin, wo er mit seinen Kumpels oft im Skatepark und auf dem Basketballplatz abhing, wenn er nicht gerade seinen zahlreichen Sportarten nachging. Jiu Jitsu mit seinem Vater, Judo mit seinem Onkel Moritz und als mentalen und körperlichen Ausgleich Yoga mit Onkel Vincent. Letzterer war es auch gewesen, der Sport empfohlen hatte, als Noahs Konzentration in der Schule litt und er öfter Wutanfälle bekam, da ihm ein Ventil fehlte. 

Sein Papa, so erzählte Noah, während sie gemeinsam aus dem Zelt krochen und sich zu den anderen gesellten, hatte ihn nicht zum Sport zwingen wollen, weil ihm der Zwang seines Vater die Freude am Sport genommen hatte und er nicht dasselbe für Noah wollte. Am Ende war es seinen beiden Onkels zu verdanken, dass sie ihm eine Auswahl an Sportmöglichkeiten präsentierten und er letztendlich an allen drei Spaß fand. Was wohl auch zum Großteil daran lag, dass er so alleine Zeit mit den Drei verbringen konnte.

Fynn sah mit großen Augen zu ihm auf. Noah scheute sich nicht zuzugeben, dass er eine innige Verbindung zu seiner Familie hatte und Fynn konnte das nachempfinden. Seine Mama und er waren auch eine eingeschworene Gemeinschaft, in die nicht so schnell jemand kam. Nicht mal sein Papa, obwohl Fynn auch gern so ein starkes Band zu ihm hätte, wie es Noah es mit seinem hatte. Noahs Papa klang einfach cool.

 

Für den restlichen Tag hielt sich Fynn vorsichtig an Noahs Seite. Auch wenn Noah im Zelt noch gesagt hatte, dass er auf ihn aufpassen würde, hieß das ja noch lange nicht, dass er Fynn als Anhängsel wollte. Er wartete nur darauf, dass er fortgeschickt wurde, weil Noah genervt von ihm war und lieber mit den anderen aus dem Camp abhängen wollte. 

So hielt sich Fynn ein paar Schritte hinter Noah, als sie zusammen in den Wald aufbrachen, um Reisigzweige für das Lagerfeuer am Abend zu suchen und sich untereinander ein wenig besser kennenzulernen. 

Noah fiel es leichter als Fynn mit den anderen Kindern des Ferienlagers ins Gespräch zu kommen und sie nach wenigen Augenblicken schon zum Lachen zu bringen. Ein paar Mal schlossen Mädchen zu ihnen auf und versuchten auch rein aus Höflichkeit mit Fynn zu sprechen, doch der stotterte nur und blickte mit roten Kopf zu Boden, bis sie sich mit einem Schulterzucken abwandten und sich wieder lieber mit Noah unterhielten. 

In der Dämmerung kehrten sie ins Lager zurück und schichteten das Holz an der Feuerstelle auf. Fynn fühlte sich etwas verloren, als sich alle auf das aufgebaute Bufett stürzten und sich hungrig darüber hermachten. Er blieb auf dem Baumstamm sitzen und kämpfte gegen die aufkommenden Tränen an. 

Überforderungstränen nannte seine Mutter sie und wischte sie ihm immer liebevoll aus dem Gesicht, wenn er sie nicht zurückhalten konnte. Zuhause mochte es in Ordnung sein, dass sie ihn gelegentlich übermannten, doch hier würde er die uncoole Heulsuse sein. Und das nur, weil er sich in der sozialen Dynamik der Gruppe nicht so leicht zurechtfand wie alle anderen. 

Ein dunkler Schatten schob sich in sein Blickfeld und erschrocken sah Fynn auf. Noah stand mit einem Lächeln vor ihm und hielt ihm einen voll beladenen Teller hin. „Ich habe dir von allen etwas mitgebracht.“

Fynn entwich ein dankbarer Laut und Noah setzte sich grinsend neben ihn. „Alles etwas viel für dich, was?“, fragte der Ältere mit vollem Mund. 

Verlegen nickte Fynn. „Ich bin das nicht so gewohnt“, gestand er leise und pikte mit der Gabel in die Bratwurst.

„Kein Ding, hast ja mich“, sagte Noah und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. 

Und nicht nur der Schein des Feuers ließ Fynns Kopf hochrot aufleuchten.

⛺️🛶☀️

Noah liebte Ferienlager. Klar, vermisste er Berlin und seine Freunde und ganz besonders seine Familie, aber im Sommer rauskommen und in der Natur übernachten, war für ihn, seit er denken konnte, das Größte. 

Früher war er oft mit seinem Vater an einen der zahlreichen Seen im Berliner Umland gefahren und sie hatten dort gezeltet. Doch seit Noah zur Schule ging und sein Vater zum Kriminalhauptkommissar aufgestiegen war, blieb dafür kaum noch Zeit. Ab und zu war er auch mit Moritz und Vincent zum Zelten gefahren, wenn sein Vater verhindert war, aber das war nicht dasselbe gewesen.

Moritz war ein Kollege seines Vaters und alter Studienfreund, der auch in ihrer WG geblieben war, als da ein schreiendes Baby einzog und ihr Leben durcheinander brachte. Statt Partynächte durchwachte Nächte, wenn Noah krank war oder zahnte, Babybrei statt Sterneküche. Moritz hatte sich schneller als sein Vater an die neue Situation gewöhnt, was vermutlich aber auch einem Großteil dem Dritten im Bunde geschuldet war.

Vincent, seines Zeichens Psychotherapeut und Stimme der Vernunft, hatte die anderen beiden immer wieder eingefangen, wenn sie sich in Kinderratgebern und Doktor Google verloren und es nach ihnen schon längst mit Noah hätte zu Ende sein müssen. Meistens hatte nur die Verdauung verrückt gespielt und Vincent ihn mit einigen Griffen von seinen Beschwerden befreit.

Nicht, dass sich Noah an irgendetwas davon erinnern konnte, doch die Geschichten kamen spätestens an seinem Geburtstag wieder auf den Tisch und wurden mit jedem Mal noch drastischer und skurriler ausgeschmückt.

Er liebte es auch heute noch, alleine Zeit mit seinem Vater zu verbringen. Egal, ob die anderen in seinem Alter das uncool fanden. Seine Familie war eh unkonventionell und er dadurch oft genug Zielscheibe von Spott. Vincent war es zu verdanken, dass er sich nicht in der Wut verlor, die ihn manchmal überkam, wenn die Sticheleien zu viel wurden. Was war groß dabei, dass er keine Mutter hatte, dafür einen Vater und zwei Ziehväter? 

Wobei es drei Ziehväter waren, wenn er den Chef seines Vaters mit dazu zählte, der irgendwann mal zu Noah meinte, dass Adam und Moritz bei der Erziehung eines Kindes besser beaufsichtigt wurden. 

Robert Karow war vielleicht nicht so präsent in Noahs Alltag wie Moritz und Vincent, mit denen sie zusammen wohnten, aber dennoch war er eine Bezugsperson für Noah geworden. Wenn er mal Mist baute, den er selbst seinem Vater nicht beichten wollte, wusste er, dass er Karow anrufen konnte. Der rückte ihm zwar den Kopf gerade, boxte ihn aber auch aus dem Schlamassel raus. 

Vor zwei Jahren war Noah mit seinem Skateboard gegen ein parkendes Auto gefahren und hatte im schwarzen Lack einen tiefen Kratzer hinterlassen. Statt seine Kontaktdaten hinter die Windschutzscheibe zu klemmen oder auf den Besitzer des Fahrzeuges zu warten, war Noah abgehauen. Das Kennzeichen hatte er sich aus schlechtem Gewissen heraus gemerkt. 

Ein paar Straßenzüge weiter war sein Puls wieder im Normalbereich und Noah konnte besser denken. Auch wenn ihm zu Hause kein ernsthaftes Donnerwetter drohen würde - je nachdem wer von den Drei ihn zuerst in die Finger bekam und das Geständnis aus ihm herauspresste - rief er Karow an. Der fluchte zwar und murmelte etwas von „wie Vater so Sohn“, doch keine zwanzig Minuten später fuhr er in seinem Dienstwagen vor und mit Noah zurück zur Unfallstelle, wo der Besitzer des Wagens bereits mit der Polizei diskutierte und die Anzeige aufgab. 

Am Ende zog der Besitzer die Anzeige zurück und Karow drückte dem Mann seine Kontakte in die Hand zur Regulation des Schadens. Aus einem Impuls der Dankbarkeit hatte sich Noah in Karows Arme geworfen, der kurz zögerte, ehe er die Umarmung fest erwiderte und ihn nach Hause fuhr.

Seinem Vater hatte Noah nie etwas davon erzählt, aber fortan darauf bestanden, dass Karow zu größeren Familienfesten wie Geburtstagen oder Weihnachten bei ihnen war -  sehr zum Leidwesen seines Vaters. 

Karow hatte ihnen auch dieses Ferienlager empfohlen, als sie auf der Suche nach einem neuen für diesen Sommer gewesen waren. Noah hatte keine Lust auf einen weiteren Sommer in den Alpen gehabt und das Camp im Thüringer Wald vorgezogen. Die beste Entscheidung, die er hatte treffen können, wie Noah fand, als er zur Seite blickte und dort den stillen Fynn sah, der etwas verloren aus großen grünen Augen in die Welt sah. 

Etwas an ihm hatte sofort den Beschützerinstinkt in ihm geweckt. Jemand wie Fynn, der weicher in seiner ganzen Art war, ging gerne schon mal in solchen Lagern unter und wurde schnell Opfer von Mobbing und Kindern, die sich überlegener fühlten. Noah verabscheute das aus ganzem Herzen und bei Fynn gleich nochmal mehr. 

Fynn mochte zwar schüchtern sein, aber Noah liebte schon nach einem Tag die Gespräche mit ihm. Der Jüngere wusste viel über Mythologien oder den Mikroorganismus Wald, dass Noah ihn bei der Waldrallye vor zwei Tagen verblüfft angesehen hatte. Es war kein Wunder, dass sie den ersten Platz belegten und sich abends in ihrem Zelt breit grinsend die gewonnene Tüte Gummibärchen teilten, während sie abwechselnd aus ihren Büchern vorlasen.

Zumal Fynn gut vorlesen konnte, wie Noah befand. Seine Stimme war angenehm und er gab den Sätzen eine ganz eigene Melodie. Auch las er die Charaktere mit unterschiedlichen Stimmen vor, dass Noah vor Spannung an seinen Lippen hing und nur ungern selbst vorlas, wenn Fynn der Mund zu trocken wurde und er eine Pause brauchte. 

Ihm selbst ging das nicht so flüssig von den Lippen und er kriegte nicht genügend Ruhe rein. Konnte er ja schon beim Sprechen nicht und verschluckte Endungen von Wörtern, dass man ihn manchmal kaum verstand. Sein Vater sagte immer, dass er das von seiner Mutter haben musste, er selbst war nie der große Redner gewesen. Von ihm konnte Noah es also nicht haben. Fynn schien es jedoch nicht zu stören, dass Noahs Texte oft nur mit Haspeln vorgetragen wurden. Wie gebannt sah er ihn an, in seinen Schlafsack gekuschelt und die Augen freudig glitzernd im Taschenlampenlicht. 

Noah konnte sich nicht erklären, woher das vertraute Gefühl kam, dass sie schon ewig Freunde sein mussten. Etwas an Fynn war ihm vertraut, wie ein Puzzleteil, das sein Leben lang verschwunden gewesen war. Von seinem Papa und Ziehvätern wusste er, dass es nicht schlimm war, wenn Jungs andere Jungs mochten oder Jungs und Mädchen. Doch das war es nicht, was Noah zu Fynn hinzog. Mehr sah er in Fynn einen kleinen Bruder, den er sich immer gewünscht hatte. 

Vielleicht hatte er sogar einen Bruder, wer wusste das schon.

Seine Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, da war er kein Jahr alt gewesen, und hatte sich seitdem nicht mehr bei ihm gemeldet. Nicht, dass Noah sie vermisste. Er hatte seine Familie und an liebevoller Fürsorge fehlte es ihm nicht. Nur manchmal fragte er sich, ob seine Mutter noch mal Kinder bekommen hatte und sich diesen auch gewachsen gefühlt hat, ob er vielleicht Geschwister hatte, von denen er nichts wusste.

Als er in die Schule gekommen war, hatte er seinen Vater gefragt, ob er nicht noch ein Geschwisterchen bekommen könnte. Das Lachen war auf dem Gesicht seines Vaters eingefroren und mit ernster Miene hatte er sich vor Noah gehockt und ihm erklärt, dass das nicht ginge. Dafür brauchte es Mann und Frau, die sich mochten und im besten Fall auch Kinder wollten. Und er mochte nun mal Männer und da ging das nicht so einfach und er hatte doch schon Noah. 

Wie es ihn dann geben konnte, hatte Noah wissen wollen und die Wangen seines Vaters waren feuerrot geworden. Hilfe suchend hatte er zu Vincent geschaut, der schweigend neben ihnen in der Küchentür gestanden hatte, und der Noah zärtlich eine Hand auf die Schulter legte. Das man sich ausprobieren muss, hatte sein Vater gestammelt. Und dass Wunder passierten, wenn man nicht mit ihnen rechnete. Ein solches Wunder war Noah für ihn und er würde ihn um nichts in der Welt wieder hergeben.

Dennoch ließ Noah der Gedanke nicht los, dass es irgendwo auf der Welt vielleicht einen Bruder oder eine Schwester gab. Und vielleicht war das ja Fynn, vielleicht auch nicht. Etwas daran ändern, dass er den Jüngeren schon nach so kurzer Zeit ins Herz geschlossen hatte, würde es nicht.

 

Für den heutigen Tag war eine Kajaktour geplant und Noah konnte an Fynns verbissenen Gesicht erkennen, dass er davor eine Heidenangst hatte. Nervös nestelte der Jüngere an den Riemen seines Rucksacks, während er neben Noah hinunter zu den Booten ging, wo der Jugendleiter schon auf sie wartete. Im Wasser dümpelten gelbe und rote Kajaks, die mit leisen Klongs gegen den Steg schlugen. Noah zupfte an Fynns Ärmel und nickte zum hintersten Boot. Da würden sie abseits der neugierigen Blicke der anderen einsteigen können und wenn Fynn dabei Probleme hatte, wie Noah befürchtete, würde das auch keiner mitbekommen. 

Mit geübten Griffen verstaute er ihre Rucksäcke in der wasserdichten Tonne und zurrte den Deckel fest, ehe er sich ins Innere auf den hinteren Platz gleiten ließ und das Kajak noch näher an den Steg zog. Fynn biss sich auf die Unterlippe und in den grünen Augen stand Überforderung. 

„Setz dich nah an den Rand und schieb’ deine Beine zuerst ins Kajak.” Er beobachtete, wie Fynn mit angestrengtem Gesichtsausdruck seinen Anweisungen folgte. „Und dann lass dich vorsichtig hineingleiten. Keine Sorge, ich halte das Kajak fest.” Ein skeptischer Blick traf ihn, doch Fynn seufzte schließlich leise und rutschte in das Kajak.

„Gut gemacht!”, sagte Noah, als Fynn sicher vor ihm saß und klopfte dem Jüngeren auf die Schulter. Die anderen ihrer Gruppe waren noch dabei, sich auf die anderen Kajaks zu verteilen und mit einer gewissen Genugtuung stellte Noah fest, dass die Boote gefährlicher schunkelten als bei Fynn und ihm. 

„Komm, wir paddeln schon mal ein Stück voraus, damit du dich an die Bewegungsabläufe gewöhnen kannst.” Noah angelte nach den beiden Paddles und schob eins zu Fynn, der zögerlich nickte. 

„Hoffentlich kentern wir nicht”, kam es leise und ein wenig ängstlich von Fynn, doch da hatte Noah keine Bedenken. Paddeln war intuitiv und er würde im Notfall sie beide schon austariert bekommen, so dass keiner von ihnen im Wasser landete.

Noah behielt Recht. Dafür, dass Fynn zum ersten Mal in einem Kajak saß, schlug er sich gut und mit der Zeit sah Noah auch, wie sich seine Schultern entspannten und die Bewegungen geschmeidiger und flüssiger wurden. Sie hatten vor einer Weile schon die anderen vorbeiziehen lassen, damit sie nicht nur ungestörter waren, sondern auch, um Fynn den Druck zu nehmen. 

Sie glitten geräuschlos durch das Wasser, unter den tiefhängenden Zweigen der ufernahen Birken, Linden und Weiden hindurch. Die Sonnenstrahlen, die durch das dichte Blätterdach brachen, ließen die Wasseroberfläche magisch glitzern. 

„Wie schön es hier ist”, hörte er Fynn flüstern, der den Kopf staunend von einer Seite zur anderen drehte. Noah konnte ihm da nur zu stimmen. Der Wasserwanderweg, den sie nahmen, war nicht ganz so verwunschen und gewunden wie die nahe seiner Heimat, aber auch er konnte sich der Schönheit dieser Ruhe nicht entziehen. 

Früher war sein Vater oft mit ihm in den Wald oder an einen See gefahren war, um den Trubel der Stadt zu entkommen, erklärte er Fynn, während sie nur das gelegentliche Plätschern der Paddel und das entfernte Stimmengewirr der Gruppe umgab. 

„Machen du und dein Vater oft was gemeinsam?”, fragte Fynn nachdenklich. 

Noah zuckte mit den Schultern, auch wenn der Jüngere das nicht sehen konnte. “Schon hin und wieder. Nicht mehr so viel wie früher, aber manchmal fahren wir einfach für ein Wochenende irgendwo hin und machen was zu zweit. Und du und dein Vater?”

Eine Weile antwortete Fynn ihm nicht und erste Zweifel nagten an Noah. Fynn sprach nicht viel von seinem Vater, mehr von seiner Mutter. Vielleicht war etwas vorgefallen und Noah hatte ihn jetzt wieder daran erinnert. 

„Mein Papa hat nicht so viel Zeit”, kam es leise von Fynn, als sie eine Kurve passierten und vor ihnen eine gerade Strecke lag. „Er arbeitet ständig, auch wenn er eigentlich versprochen hat, etwas mit mir zu unternehmen. Meist muss er absagen, weil die Arbeit wichtiger ist.”

„Oh”, machte Noah und sah auf Fynns Rücken und die hängenden Schultern. „Das tut mir leid.” 

„Egal. Ich bin ja auch kein Baby mehr, das ständig seinen Papa oder seine Mama braucht.” Ein Achselzucken sollte wohl unterstreichen, dass es Fynn gleichgültig war, wenn sein Vater keine Zeit für ihn hatte, doch Noah kaufte ihm das nicht ab. Dafür hatten Fynns Worte zu bitter geklungen. Wenn sein Vater sich nicht an Absprachen halten würde, wäre Noah noch sein kleinstes Problem. 

Mit Karow, zum Beispiel, würde sich Noah niemals freiwillig anlegen. 

„Egal ist es nicht, aber Erwachsene sind nun mal halt einfach doof”, erwiderte Noah. „Aber davon lassen wir uns nicht die Laune vermiesen, oder?” 

Fynn wandte leicht den Kopf und Noah sah, wie einige verstohlene Tränen sich aus Fynns Augenwinkel lösten. 

Auch wenn sie den restlichen Nachmittag nicht mehr über ihre Väter und ihre Familien sprachen und Fynn sogar fröhlich wirkte und über Noahs Witze lachte, spürte er, dass seinem neuen Freund das Thema mit seinem Vater nah ging und ihn nicht losließ. 

⛺️🛶☀️

Der Tag war anstrengend gewesen und Fynn brannten die Arme vom Paddeln, doch sein Kopf war noch viel zu wach, um an Schlaf zu denken. Unruhig hatte er sich in seinem Schlafsack von einer Seite auf die andere gedreht, in der Hoffnung, Noah nicht zu wecken, dessen gleichmäßige Atemzüge schnell das Innere des Zelts durchdrungen hatten. Zumindest hatte Fynn das geglaubt, bis Noahs verschlafene Stimme die Stille durchschnitten hatte und ihn fragte, ob er nicht schlafen konnte. 

Doch statt ihn anzuherrschen, dass er dennoch ruhig sein sollte, war Noah aus seinem Schlafsack gekrochen und hatte ihn vor das Zelt gezogen und Fynn durch im silbrigen Mondlicht breit angegrinst. Wenn sie schon wach waren, könnten sie auch Sterne schauen, war seine Antwort auf Fynns stumme Frage gewesen. 

Sie lagen dicht beieinander in ihre Schlafsäcke gekuschelt vor ihrem Zelt auf dem Boden, über ihnen das dunkelblaue Himmelszelt mit unzähligen Sternen. Leise knisterten die Blätter im Wind und Wellen schwappten an das Ufer des Sees. Die Nachtluft war angenehm kühl im Vergleich zu ihrem Zelt und doch fror er nicht. Die frische Luft schien auch endlich das Gedankenkarussell in seinem Kopf zu stoppen. Noahs Erzählungen über seinen Vater und die Ausflüge, die sie miteinander machten, hatte die Traurigkeit verstärkt, die ihn immer überkam, wenn er sah, welches Verhältnis andere Kinder zu ihren Vätern hatten.

Warum konnte er das nicht auch haben? Lag es an ihm? Musste es doch, oder? Noahs Vater war auch Polizist und fand dennoch Zeit, um sie mit Noah zu verbringen. Wenn alle Polizisten keine Zeit für ihre Kinder hätten, würde es Fynn vielleicht beruhigen. Dann war nichts falsch an ihm, aber sein neuer Freund war der beste Beweis, dass es auch anders ging. 

Vielleicht, wenn er so cool und selbstbewusst wie Noah wäre, dann würde sein Vater bestimmt auch gern Zeit mit ihm verbringen wollen. Würde er ja auch gerne selbst. Noah konnte spannende Geschichten erzählen von seinem Vater und seinen Onkels, die mit ihm in einem kleinen Garten außerhalb Berlins, der seinem Onkel Mo gehörte, ein Baumhaus gebaut hatten.

„Mein Papa hatte früher einen Freund, der ein Baumhaus hatte und Papa hat es geliebt, dort Zeit mit ihm zu verbringen.” Ob das auch in Berlin gewesen war, hatte Fynn wissen wollen.

Einmal, vor vielen Jahren, war sein Vater mit ihm durch den Wald gestreift und hatte ihm einen morschen Baum gezeigt, in dem die noch morscheren Überreste eines Baumhauses hingen. Wehmütig hatte sein Vater in die Äste gestarrt und seine große, warme Hand hatte fest Fynns Schulter umklammert. Dort oben hatte er die schönsten Zeiten mit seinem besten Freund verbracht, hatte er ihm erklärt. Lange bevor sie zu schnell und zu früh erwachsen geworden waren. 

Es war das einzige Mal gewesen, an das Fynn sich erinnern konnte, dass sein Vater ihm gesagt hatte, dass er ihn lieb hatte. Und vielleicht hatte er nicht mal ihn gemeint, sondern die Erinnerung an den Freund von damals. 

Amüsiert kichernd streckte Noah sich neben ihn in seinen Schlafsack und seine Ellenbogen stießen Fynn in die Seite. 

Nein, sein Papa ist nicht in Berlin aufgewachsen, sondern aus einem kleinen Bundesland irgendwo im Südwesten des Landes, fast schon bei Frankreich, vielleicht irgendwo in der Nähe, wo Fynn herkam, erklärte Noah ihm und klang dabei ein wenig wehmütig. Sein Vater sei aber nie mit ihm dort gewesen, nicht mal als sein Opa starb, den er nie kennengelernt hat. Manchen Menschen weinte man keine Träne nach, hatte Noahs Vater gesagt, auch nicht, wenn es der eigene Vater war. 

Kurz hatte Fynn der Gedanke durchzuckt, dass er seinem Vater auch keine Tränen hinterher weinen würde. Augenblicklich hatte er sich dafür geschämt. Nein, egal wie kompliziert es mit Leo Hölzer auch war, Fynn würde seinen Vater schrecklich vermissen.

„Schau mal, Fynn!“ Noah neben ihm streckte den Arm vor sich in die Luft und schien auf die Sterne zu deuten. „Das ist Papas Lieblingssternbild, der Löwe. Dort, wenn du die Sterne zu einem Rechteck verbindest.“ Er ließ den Arm sinken und verschränkte die Arme wieder hinterm Kopf. „Er hat es sogar als Tattoo.” 

„Warum? Ist sein Sternzeichen Löwe?”, fragte Fynn froh über die Ablenkung und suchte mit den Augen nach den Sternen, von denen Noah sprach. Sein Papa hatte sie ihm vor Jahren auch mal gezeigt, als sie im Garten seiner Großeltern gezeltet haben und bis spät in die Nacht aufgeblieben sind, weil Fynn die Sterne sehen wollte.

Noah schüttelte den Kopf. „Nein, sein bester Freund, der mit dem Baumhaus, hieß Leo. Das ist der lateinische Name des Sternbilds.” 

Fynn runzelte nachdenklich die Stirn. „Mein Papa heißt Leo. Und er hatte früher auch ein Baumhaus, das er mit seinem besten Freund geteilt hat.”

Ihre Schlafsäcke raschelten, als sie sich mit einem Ruck aufsetzten. Das trübe Licht des Mondes spiegelte sich in Noahs weit aufgerissenen Augen.

Konnte es Zufall sein, dass ihre Väter beide einen Jugendfreund mit Baumhaus gehabt hatten? Bestimmt, Baumhäuser gab es sicherlich überall und nicht nur im Saarland.

„Wo ist dein Papa aufgewachsen?” Noah war der Erste, der seine Sprache wiederfand. 

„In Saarbrücken, im Saarland.” 

„Meiner auch”, hauchte Noah und streckte seine Hand nach Fynn aus. „Wie alt ist er?” 

„34 Jahre.” Dass auch diese Information mit Noahs übereinstimmte, konnte Fynn an dem aufgeregten Gesichtsausdruck ablesen. Auch in ihm überschlugen sich die Gedanken. 

Seine Mama hat mal gesagt, dass etwas in der Jugend seines Papas passiert war und er sich deswegen mit Gefühlen so schwer tat. Dass es da mal jemanden gegeben hat, der ein wichtiger Teil in seinem Leben gewesen war und plötzlich verschwand. War das Noahs Papa gewesen?

„Fynn”, flüsterte Noah, die Hand krallte sich durch den Schlafsack in Fynns Oberschenkel. „Ich glaube, unsere Väter kannten sich.”

⛺️🛶☀️

Das Freizeichen klang laut über den stillen See. In der Ferne hörten sie die anderen Kinder im Lager, einer der Betreuer hatte zum Volleyball-Match aufgerufen. Der ideale Zeitpunkt für Fynn und Noah sich zum See zu schleichen und Teil Eins ihres Plans in die Tat umzusetzen. Oder vielmehr, erstmal genug Beweise zu sammeln, die ihr Vorgehen rechtfertigen würden. So wie Noah es von seinem Vater und Onkel Robert kannte und was Moritz manchmal bissig als verlorene Liebesmüh und Augenwischerei bezeichnete, weil sie sich so oder so nicht von ihren Vorhaben abbringen lassen würden.

„Noah?”, ertönte es aus dem Lautsprecher und Noah hörte die Sorge in der Stimme seines Vaters. Fynn rutschte auf dem Steg näher zu ihm und Aufregung stand in den grünen Augen. 

„Hallo Paps”, antwortete er und versuchte möglichst beiläufig zu klingen.

„Noah, ist etwas passiert? Geht’s dir gut?” Im Hintergrund waren aufgeregte Stimme zu hören, dann ein Poltern sowie ein Zischen. Noah lächelte bei dem Gedanken, dass er wohl gerade auch seine beiden Ziehväter mit seinem Anruf aufgeschreckt hatte.

„Nein, alles gut. Ich wollte dich nur was fragen.” Er hielt das Telefon ein Stück von sich weg, suchte Fynns Blick, der aufmunternd nickte und nach dem Block und dem Stift auf seinen Schoß griff. „Paps, du bist doch in Saarbrücken aufgewachsen, oder?” 

Stille trat ans andere Ende der Leitung, nur leises Atmen. Dann fiel eine Tür ins Schloss und Dielen knarrten. Noah sah förmlich ihren Flur vor sich und ein kurzes Gefühl von Heimweh überkam ihn. Es raschelte und dann sprach sein Vater wieder.

„Warum möchtest du das wissen, Noah?” Ruhiger Ton, bewusst zurückgenommen. Genau wie der Tonfall, den er bekam, wenn er etwas angestellt hatte und sein Vater zwar nicht böse war, aber verstehen wollte, warum er es getan hatte.

Noah holte tief Luft. „Ich habe hier jemanden kennengelernt, der auch aus Saarbrücken kommt. So wie du, oder?” 

„Ja, Noah, ich bin in Saarbrücken aufgewachsen.” Fynn neben ihm kritzelte eine Notiz auf den Block. 

„Dein Freund, Leo, auch? Der mit dem Baumhaus, von dem du immer erzählst.” Sie hielten den Atem an und lauschten. 

Ein tiefes Seufzen drang aus dem Lautsprecher. „Wozu willst du das alles wissen, Noah? Nur weil du jemanden aus Saarbrücken kennengelernt hast?” 

Eine Schar Enten schwamm in einiger Entfernung an ihnen vorbei, das fröhliche Schnattern wie Musik über dem See. Fynns Arm drückte warm gegen seinen, als er sich bewegte und die Berührung beruhigte sein aufgeregt schlagendes Herz. Sie brauchten Antworten und da Noah ein besseres Verhältnis zu seinem Vater hatte als Fynn, konnten sie nur dort ihre Fragen stellen. 

Helfen würde es am Ende hoffentlich allen. 

„Derjenige meint, dass er auch einen Leo kennt, einen Leo Hölzer, der aus Saarbrücken stammt”, entgegnete Noah. Seine Hand um das Telefon zitterte mit einem Mal.

Für einige Augenblicke war nichts mehr in der Leitung zu hören. Mehrmals überprüfte Noah, ob die Verbindung noch stand oder ob sein Vater einfach aufgelegt hatte. Wobei sein Vater das nie machen würde. Egal wie schwierig es auch manchmal war, er ließ Noah nicht hängen oder schob die Aufgabe an Vincent und Moritz ab. Er war Noahs Sicherheitsnetz und während sich seine Freunde nach und nach von ihren Eltern lösten und sie uncool fanden, fand Noah an den meisten Tagen seine familiäre Situation ganz akzeptabel, auch wenn es bei ihnen mal Streit gab und Türen flogen. 

„Noah”, die Stimme seines Vaters war ganz rau und leise klopfte das schlechte Gewissen in Noahs Kopf an. „Warum fragst du nach Leo?” Er sprach den Namen so zärtlich aus, dass es Noah Antwort genug war. Fynn hob den Kopf und auch in seinen Augen stand die Erkenntnis, dass sie auf der richtigen Spur waren. 

„Also ist es Leo Hölzer?” Eine warme Hand schob sich in seine und ohne hinzusehen drückte Noah sie fest, sein Herz ein wildes Trommelsolo in seiner Brust.

„Ja”, kam es krächzend. „Ja, er hieß Leo Hölzer.” 

Chapter 2

Notes:

Hier kommt nun das Finale der Geschichte! Ich danke euch fürs Lesen, Kommentieren, Kudos dalassen und jegliche Art Feedback. Es freut mich, dass ihr Fynn und Noah in euer Herz gelassen habt und den beiden Mini-Kopien der Chaoten eine Chance gegeben habt.

Nun schauen wir mal, was die beiden aushecken und was Adam und Leo dazu zusagen haben.

Alles Liebe <3

Chapter Text

⛺️🛶☀️Kapitel 2 ☀️🌳🛶

Am Abend saßen vor ihrem Zelt, zwei Flaschen mit kühler Limo zwischen ihnen und Fynn hatte seinen Notizblock auf seinem Schoß ausgebreitet. 

Nach dem Telefonat mit seinem Vater war Noah ungewöhnlich still geworden. Sie hatten sich noch alibimäßig zu den anderen gesellt und waren ins Volleyballspiel integriert worden. Das Lachen auf Noahs Gesicht war steif gewesen, egal wie sehr er sich bemühte, Fynn etwas anderes weiszumachen. Das Gespräch beschäftigte seinen neuen Freund und Fynn wünschte sich, dass sie den Anruf nicht getätigt hätten. Sie hätten vielleicht keine Gewissheit und Bestätigung ihres Verdachts, aber wenigstens ginge es Noah besser. Und wahrscheinlich auch seinem Vater, der sehr benommen geklungen hatte, als Noah sich von ihm verabschiedet hatte. 

Adam Schürk, der vermisste beste Freund seines Vaters. Das Puzzleteil, das fehlte, damit Leo Hölzer seinen Sohn lieben konnte. War es egoistisch, sich das um jeden Preis zu wünschen? Vielleicht war sein Vater glücklicher, wenn er seinen besten Freund wieder hatte. 

Seine Mama sagte immer, dass man erst selbst glücklich sein musste, um andere glücklich machen zu können. 

„Wir müssen irgendwie dafür sorgen, dass sie beide herkommen. Und das nicht erst, wenn das Sommercamp zu Ende ist.” Noah durchbrach die abendliche Stille, die nur vom entfernten Gesang von Schwalben unterbrochen wurde. 

„Und wie wollen wir das machen? Wir können sie doch nicht einfach anrufen und bitten herzukommen. Papa würde eh meine Mama oder jemand anderen schicken, egal wie sehr ich betteln würde, dass er kommt”, hielt Fynn dagegen. Ein Plan musste her, aber das war einfacher gesagt als getan.

Mit grimmigem Ausdruck nahm Noah einen Schluck von seiner Limo. „Dann müssen wir was anstellen, was deine Mutter bewegt, deinen Vater zu schicken. Er ist doch auch Polizist.”

Fynn riss erschrocken die Augen auf. „Ich will aber nichts Illegales machen!”

Noah rollte mit den Augen. „Sein kein Frosch. Glaubst du, das will ich? Ich würde für den Rest des Jahres kein Tageslicht mehr sehen, wenn Paps mich wegen so etwas abholen muss. Es muss schon was Harmloses sein, wofür wir aber dennoch Ärger kriegen, weil es gegen die Regeln verstößt.” 

Er verfiel wieder in Schweigen und nippte gedankenverloren an seiner Limo. Die Sonne war mittlerweile komplett hinter den Bäumen verschwunden und nur die letzten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg zu ihnen auf die Lichtung. 

„Wir klauen Zigaretten und lassen uns dabei erwischen”, platzte es aus Noah und er stellte seine Flasche so energisch auf den Boden ab, dass ein wenig Flüssigkeit heraus schwappte. Die blauen Augen strahlten begeistert. „Rauchen ist im Camp verboten und ein Verstoß dagegen wird mit sofortigen Ausschluss geahndet."

Angewidert verzog Fynn das Gesicht. „Rauchen ist ekelig.” 

Mit einem schnaubenden Lachen stieß Noah gegen seine Schulter. „Du musst ja auch gar nicht wirklich rauchen. Nur die brennende Kippe gut sichtbar in der Hand halten und so tun. Keine Sorge, ich weiß wie das geht.”

Fragend hob Fynn die Augenbrauen und eine verlegene Röte schlich sich auf Noahs Wangen. „Also, theoretisch. Paps, Vincent und Mo rauchen alle Drei. Da habe ich gesehen, wie das geht”, setzte er eine hastige Erklärung hinterher und knibbelte nervös an dem Etikette der Flasche. „Der Thilo raucht. Ich habe ihn gesehen, wie er hinter dem Toilettenhäuschen heimlich geraucht hat. Wir müssen uns nur in sein Zelt schleichen und schwupps haben wir das Ticket nach Hause und unsere Väter hier. Und wenn die sich erstmal wiedersehen, vergessen die auch die Strafe für uns.” 

Noahs Stimme überschlug sich leicht und wurde kieksig, während er den Plan hervorbrachte. So ganz wusste Fynn nicht, was er davon halten sollte. Überhaupt in das Zelt der Betreuer zu kommen und dann auch noch die Zigaretten zu entwenden, würde schon ein aussichtsloses Unterfangen sein. Und dann war es noch nicht mal sicher, dass ihr Plan wirklich aufging. Was, wenn sie nur eine Verwarnung bekamen und man nicht gleich ihre Eltern anrief?

Doch Noah wischte seine Bedenken mit einer Handbewegung fort. „Vertrau mir. Der Plan wird funktionieren.”

Fynn war überrascht, dass ihr Plan wirklich funktionierte und sie drei Tage später beide in dem provisorischen Büro in einem Flachdachbungalow saßen, einen ungehaltenen Thilo vor sich, der ihre Anmeldeformulare nach den Kontakten ihrer Eltern durchforstete. Und wie durch ein weiteres Wunder war seine Mutter immer noch auf Dienstreise und konnte ihn sowieso nicht abholen, so dass sie Leo schicken würde. Aufgeregt krallte er seine Hand in Noahs, der seinen Druck erwiderte, als auch sein Vater bestätigte, schnellstmöglich zu kommen.

Jetzt hieß es nur noch warten und hoffen, dass auch der letzte Teil ihres Plans aufging.

⛺️🛶☀️

Nach der nächsten Kurve erstreckte sich vor Adam eine schier endlose Allee, durch deren Blätterdach die Sonnenstrahlen wie goldener Regen fielen. Er war fast am Ziel, nach über vier Stunden Fahrt und unzähligen Umleitungen, um nicht im Stau zu landen. Die Landstraßen hier waren in der letzten Stunde zu Adams persönlichen Feind mutiert, so ganz ohne Mittelstreifen, an dem er sich orientieren konnte. Dreispurige Autobahnen in Berlin und an jeder Ecke eine Baustelle? Kein Problem, solange man noch den Mittelstreifen sah.

Den Anruf des Camps hatte er definitiv nicht gebraucht, auch wenn sie aktuell keinen Fall hatten und Karow ihm nur allzu bereitwillig frei gegeben hatte, um Noah frühzeitig vom Ferienlager abzuholen. Bei seinem Ziehneffen wurde sein sonst eher mürrischer und verschlossener Chef ganz weich und zugänglich und Adam wagte sogar so weit zu gehen, dass Karow sie gern als Familienersatz ansah. Er war zu allen wichtigen Festen da und auch wenn sie auf Arbeit professionelle Distanz pflegten, war er aus dem Chaos, das seine Familie war, nicht wegzudenken und hielt Adam, wo es ging, den Rücken frei.

Hätte Adam jemand mit achtzehn gesagt, dass er fast fünfzehn Jahre später so etwas wie eine Familie haben würde, mit der er einen wunderbaren Sohn groß zog, und auf die er sich verlassen konnte, in der Liebe und das Miteinander das größte Gut waren, er hätte denjenigen ausgelacht. 

Wie sollte er eine Familie finden, wenn er nicht wusste, was eine war und nur Angst und Gewalt kannte? Eigene Kinder waren nie ein Thema gewesen, nicht, wenn er so früh schon wusste, dass er auf Jungs stand und er der Letzte war, der ein Kind erziehen sollte. Und dennoch war der Ausrutscher mit Noahs Mutter im Nachhinein das Beste gewesen, was ihm in seinem bis dahin verkorksten Leben passieren konnte. Es hatte ihm diesen wundervollen Menschen gebracht, dem er nachher zwar ordentlich die Leviten lesen würde, der ihn aber vor dem Untergang gerettet hatte. 

Noah machte sein Leben lebenswerter und es stimmte Adam melancholisch, seinen kleinen Jungen zu einem Jugendlichen reifen zu sehen. Er sah so viel von sich selbst in ihm und unweigerlich kamen die Erinnerungen hoch, wie es für ihn in diesem Alter gewesen war. Es bescherte ihm Albträume, in denen er wieder in dem Bunker ähnlichen Haus und seinem Vater ausgeliefert gewesen war. Manchmal sah er auch nicht sich in dem alten Schrank in seinem Zimmer sitzen, sondern Noah, der von innen an der Tür rüttelte, um Hilfe schrie und Adam nicht zu ihm kam. Wenn er dann schweißgebadet aus dem Schlaf fuhr, musste er sich versichern, dass es Noah gut ging und er friedlich schlief. 

Als Noah noch ein Baby gewesen war, hatte Adam gezweifelt, ob er das konnte, ein Vater sein, wo er doch nie gesehen hatte, wie man ein guter Vater war. Würde er nicht früher oder später so werden wie sein Alter und wäre es nicht besser, Noah in Sicherheit vor ihm zu bringen?

Doch egal wie sehr Noah ihn auch provozierte, an den Rand der Verzweiflung trieb und vor allem jetzt ein Teenager wurde, der seine Grenzen testete, nie würde Adam ihm dasselbe antun können wie sein Vater ihm. Und das war nicht allein nur der Verdienst von Vincent und Moritz, die ihre Familie im Gleichgewicht hielten. Adam war auch in den Jahren gewachsen, hatte gelernt, nicht nur anderen zu vertrauen, sondern zuallererst sich selbst. 

Adam hatte seinen Frieden mit seiner Vergangenheit gemacht. Zumindest hatte er das geglaubt, bis Noahs Anruf vor ein paar Tagen die nie heilen wollende Wunde in seinem Herzen aufgerissen hatte, die jetzt in seinem Brustkorb blutete. 

Leo. 

Den einzigen Menschen, den er abseits von Noah je mit jeder Faser seines Herzens geliebt hatte. Die Erinnerung an ihn war jeden Tag da, wie ein chronischer Schmerz, an den er sie gewöhnt hatte und mit dem er lebte. Er hatte Noah von ihm erzählt, natürlich hatte er das. Sein Sohn sollte von dem anderen Menschen wissen, der unwiderruflich mit Adams Herzen verwachsen war, auch wenn er schon so viele Jahre kein Teil seines Lebens mehr war. Dank Leo war er heute überhaupt noch da, konnte Vater sein und so auch dem kleinen Jungen von damals helfen. 

Nur woher Noah Leos vollen Namen kannte, das Rätsel erschloss sich ihm nicht, egal wie lange er darüber grübelte und es das Einfallstor für die Albträume noch weiter öffnete. Vincent hatte ihm geraten, mit Noah zu sprechen, sobald er wieder da war. Adam hatte nur matt genickt und sich an seinen besten Freund geschmiegt, der ihn zuvor aus einem seiner Albträume geweckt und sich geduldig angehört hatte, was ihn die letzten Tage belastete. 

Vielleicht bekam Adam seine Antwort bereits heute. Genug Zeit hätten sie auf der Heimfahrt und die Standpauke, dass Noah noch viel zu jung zum Rauchen war, würde er sich für Zuhause aufsparen und hoffen, dass Vincent und Moritz ihm zur Seite standen.

Er lenkte seinen Wagen auf den improvisierten Parkplatz. In der Ferne sah er die spiegelglatte Oberfläche eines Sees und auf der Wiese davor, umringt von Bäumen, eine Ansammlung an Zelten. Ein schöner Ort, fast so friedlich wie einst der Wald hinterm Haus seiner Eltern, in dem sich Leos Baumhaus befand. 

Wehmut ergriff ihn, als er den Motor ausstellte und seinen Blick über die Bäume wandern ließ. Die Stunden im Baumhaus gehörten sowohl zu seinen liebsten Leo-Erinnerungen, als auch zu denen, die die Trauer hervor holten. Vielleicht fühlte er sich in Berlin so wohl, weil es da keine Wälder gab, die ihn traurig machen konnten.

Er folgte dem festgetretenen Pfad, den ein verwittertes Schild als Richtung zur Anmeldung auswies. Dort sollte er den Campbetreuer treffen, der ihm noch ein paar Takte über seinen Sohn erzählen wollte. Als wüsste Adam nicht selbst, dass er ein ernstes Gespräch mit seinem Sohn würde führen müssen. Aber das machten sie in Berlin und sicherlich nicht vor den Ohren eines überengagierten Pädagogen, der meinte, die Universallösung für alle Erziehungsfragen zu haben.

 

Auf der Wiese vor einem Flachdachbungalow lagen einige Baumstämme zu einer Sitzgruppe angeordnet und auf einem der Stämme saßen zwei Jungen, von denen einer ihm bekannt vorkam. 

„Paps?”, hörte da auch schon die helle Stimme seines Sohnes, der mit langen Schritten ihm entgegen rannte. 

War es möglich, dass er in der einen Woche, die er hier gewesen war, noch größer geworden war? Sein Gesicht hatte eine gesunde Farbe bekommen und auf der Nase zeichnete sich ein Sonnenbrand ab und vereinzelte Sommersprossen zogen sich bis über die Wangenpartie. 

Zerknirscht schaute Noah zu ihm auf. Die blauen Augen, seinen nicht ganz unähnlich, waren im Sonnenlicht noch heller. Adam hob die Hand, umfasste die Wange seines Sohns und zog ihn dann sanft an sich ran. Es musste Noahs schlechtem Gewissen oder der Situation geschuldet sein, dass er sich ohne Widerstand umarmen ließ. Langsam aber sicher hatte Noah ihn eingeholt in der Größe. Längst reichte er ihm bis zur Schulter, auch wenn er sich gerade kleiner in seinen Armen anfühlte, als er war.  

„Was stellst du nur an, mh?”, fragte er leise in den Haarschopf unter seinem Kinn.

„Ich habe das nicht für mich gemacht, ehrlicherweise. Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst”, gestand Noah kaum vernehmlich. 

Noah löste sich von ihm, griff nach Adams Hand und zog ihn zu dem Jungen, der immer noch auf dem Baumstamm saß und der neugierig zu ihnen herüber schaute. Als sie näher kamen, erhob er sich und Adam verschlug es für einen Moment die Sprache. Der Junge erinnerte ihn an Leo, als sie sich kennenlernten. Große, viel zu traurige Augen in einem blassen Gesicht, das mit braunen Zotteln umrandet war, sahen sie zu ihm auf. Es war, als wäre Adam durch ein Zeitloch gefallen und wieder auf dem Schulhof sein, wo er seinen späteren besten Freund das erste Mal getroffen hatte.

„Das ist Fynn, Paps. Fynn Hölzer.“ 

„Guten Tag, Herr Schürk”, sagte der Junge schüchtern und reichte ihm höflich die Hand, die Adam perplex ergriff, mit einem Seitenblick auf seinen Sohn, der sie mit angehaltenem Atem beobachtete.

Langsam begann Adam zu verstehen, doch ehe er seinen Verdacht äußern konnte, trat ein Mann, wenige Jahre jünger als er selbst, auf ihn zu und stellte sich als Thilo Meisner, Leiter des Camps, vor und winkte ihn mit scharfen Blick auf Noah und seinen Freund zum Bungalow hinüber.

Adam sah über seine Schulter zurück zu dem Baumstamm. Sein Sohn und der Junge, der Leos Sohn sein musste, hatten sie wieder nebeneinander auf den Stamm gesetzt. Adam stolperte fast über seine Füße, als sein Herz bei dem Anblick ächzte, der sich ihm bot. Der dunkelhaarige Junge, in seiner Statur seinem Vater von damals so ähnlich, dass es an Adams Herzen riss, hatte den Arm um Noah gelegt und sein Sohn sackte gegen den anderen. 

Es war wie ein Blick durch ein Fenster in die Vergangenheit. Wie oft hatten Leo und er genauso dagesessen und einander Trost gespendet? 

Leo, kleiner und zarter als er, während Adam mit den Muskeln und der Kraft, den sein Vater ihm antrainiert hatte, nicht klar kam. Er schüchterte die Menschen um sich ein, sie wichen alle instinktiv vor ihm zurück. Alle außer Leo. Leo hatte hinter die Fassade geblickt, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn Adam sich an die Aussicht von Leos Baumhaus in ihren Garten erinnerte, und er hatte Adam trotzdem zum Freund gewollt. Hatte später sogar mehr in ihm gesehen. Seinen ersten Kuss, sein erstes Mal Verliebtsein, all das war Leo für ihn gewesen, aber auch sein erster Liebeskummer, weil ihre junge Liebe nicht die Geheimnisse und Dunkelheit ertragen konnte, die sich wie eine Lawine über sie gerollt hatten. 

Der Tag, an dem Leo ihre Beziehung beendet hatte, war der Tag gewesen, an dem Adam Saarbrücken für immer den Rücken gekehrt hatte. Wenn Leo ihn nicht wollte, hielt ihn dort nichts. Leo war alles gewesen, was ihn dort gehalten hatte, wofür er jeden Tag kämpfte. 

Nicht mal, als sein Vater gestorben war, hatte er einen Fuß in seine Heimat gesetzt, auch wenn kein Tag verging, an dem er nicht an Leo dachte. Ob er immer noch dort war oder ob er irgendwo neu angefangen hatte, wo ihn nichts an Adam erinnerte. Ob er glücklich war.

Letzteres hoffte er, wenn er jemanden gefunden hatte, mit dem er eine Familie gegründet und Kinder bekommen hatte. 

„Herr Schürk?”, hörte er die ungeduldige Stimme des Betreuers hinter sich. Seufzend schüttelte er die Gedanken ab und folgte dem Mann in den schlichten Flachbau.

⛺️🛶☀️

„Ja, Esther, bitte stelle selbst den Antrag für den Untersuchungsbeschluss bei der Staatsanwaltschaft. Meyer-Besdorf betreut unseren Fall. Sie weiß auch, dass ich kurzfristig nicht da bin und ihr euch direkt meldet, wenn ihr etwas braucht.”

Esthers Antwort klang verzerrt und abgehackt aus dem Lautsprecher und doch konnte Leo hören, dass seine Kollegin von der Situation mehr als genervt war. Natürlich war es nicht ideal, als leitender Ermittler eine laufende Untersuchung zu verlassen und die Kollegen alleine da stehen zu lassen. Nur was sollte er machen? Fynn musste vom Ferienlager abgeholt werden und seine Ex-Frau war auf Dienstreise im Ausland. Leo hatte seine Eltern oder die von Verena bitten wollen, doch da hatte seine Ex-Frau eine Schimpftirade abgefeuert, dass Leo immer noch die Ohren glühten. 

Unrecht hatte sie mit ihren Vorwürfen auch nicht. Wenn es um die Betreuung von Fynn ging, rühmte sich Leo nicht gerade mit Anwesenheit seit seiner Beförderung zum Teamleiter der Mordkommission. Er arbeitete viel, zu viel und opferte dafür Zeit, die er mit seinem Sohn verbringen könnte. 

Verena versuchte ihm alle paar Wochen ins Gewissen zu reden, dass Fynn seinen Vater brauchte und sie nicht alles alleine abdecken konnte. Fynn sah zu ihm auf, wollte seine Aufmerksamkeit und Liebe und merkte, dass Leo sich damit zurückhielt. Und je älter er wurde, desto mehr litt er darunter, zwar einen Vater in seinem Leben zu haben, aber von ihm nicht genug beachtet zu werden.

Es war das Eine, wenn er diese Gedanken selbst nur für sich hatte und sich erfolglos einzureden versuchte, dass ihm sein Kopf da nur etwas vormachte und es Fynn gut ging, so wie es war. Etwas anderes war es, diese Worte Verena direkt zu hören und auch wie in der letzten Woche von Fynn selbst, als Leo ihren gemeinsamen Urlaub hatte absagen müssen, weil sie eine Leiche in einem Parkhaus in Saarlouis hatten. 

Fynns Worte hatten ihn getroffen und all die Dämonen freigelassen, die Leo sonst mühselig zurückhielt. Er liebte seinen Sohn über alles, doch wenn das Leben ihn Eins gelehrt hatte, dann dass er Menschen, die er liebte, früher oder später weh tat. Seinen Eltern, weil er nicht der perfekte Sohn war, den sie sich wünschten. Vom Problemkind in seiner Jugend zum geschiedenen Mann, weil er Verena zwar eine Zeit lang geliebt und sie, als sie schwanger wurde, aus Pflichtbewusstsein geheiratet hatte, aber die Ehe von Anfang zum Scheitern verurteilt gewesen war, wenn Leo noch in der Vergangenheit festhing.

In einem schwachen Moment hatte er seiner Ex-Frau gestanden, dass er sie nie von ganzem Herzen lieben konnte, weil ein wichtiger Teil von ihm unwiederbringlich an jemand anderen verloren war. Verena hatte es mit Fassung getragen, obwohl er den Schmerz in ihren Augen gesehen hatte. Die Scheidung war unproblematisch verlaufen. Sie bestand sogar darauf, dass sie sich für Fynn das Sorgerecht teilten, auch wenn er wohl besser bei ihr leben würde. Sechs war Fynn damals gewesen und hatte es mit dem Schulstart eh schon schwer genug, dass es Leo leid tat, ihn auch noch seiner gewohnten familiären Situation zu berauben. 

Leo hatte sich geschworen, dennoch für seinen Sohn da zu sein und ihm alles zu geben, was er brauchte. Doch dann war die Beförderung gekommen und Leos Arbeitsvolumen um das Dreifache gestiegen, so dass es sich langsam eingeschlichen hatte, dass er nicht mehr so wie früher für Fynn da war und irgendwo auf diesem Weg auch die Verbindung zu ihm verlor. 

Vielleicht war das die gerechte Strafe für das, was er damals Adam angetan hatte. 

Egal wie sehr Leo bereute, er konnte seine Worte nicht zurücknehmen, Adam nicht zurückbringen. Menschen, die liebten, konnten einander den schlimmsten Schaden zufügen und hatte nicht Adam damals schon genug erlitten durch seinen Vater? Hatte es Leo gebraucht, der ihm vorwarf, dass Adam alles um sich herum in den Abgrund riss? War es nicht Leo selbst, der sie erst an den Rand der Klippe gebracht hatte und ihnen dort den finalen Todesstoß gab? 

Es verging kein Tag, an dem er nicht bereute, dass Adam vermutlich seinetwegen ohne ein Wort gegangen war. Kein Tag, an dem er nicht nach ihm suchen wollte. Er saß an der Quelle, eine Abfrage, vage mit laufenden Ermittlungen erklärt, und er würde wissen, wo Adam war. Wenn er ganz mutig war, würde er Adam auch anrufen, ihn fragen, wie es ihm ging, was er machte, ob er manchmal auch noch an Leo dachte und ob es zu spät war, um über damals zu reden.

Doch Leo war feige und konnte mit Ablehnung und Zurückweisung noch nie gut umgehen. Noch schlimmer als der Schmerz, den er im Moment durch Adams Verlust spürte, wäre der, wenn Adam ihn zurückwies. 

 

Auf dem Parkplatz des Ferienlagers stand bereits ein Auto mit Berliner Kennzeichen. Leo erinnerte sich, dass Fynn nicht alleine beim Rauchen erwischt worden war und auch die Eltern des anderen Jungen aufgefordert waren, ihren Spross abzuholen. Er hatte nicht wirklich Lust, sich mit anderen Eltern auseinandersetzen zu müssen. Das war Verenas Aufgabe, die in Eltern-Chatgruppen hing und Leo schon mehr als einmal gefragt hatte, ob er sie im Falle eines Mordes decken würde. 

Schon von weitem sah er Fynn auf einem Baumstamm neben einem anderen Jungen sitzen, um den er den Arm gelegt hatte und der sich vertrauensvoll an ihn lehnte. Leo verharrte in der Bewegung. Fynn war ihm ähnlicher als Leo es sich wünschen würde. In der Schule fand er nicht leicht Anschluss, war oft außen vor, auch wenn ihm zum Glück die Mobbingerfahrungen erspart blieben, die Leo durchleben musste. Erst die Freundschaft mit Adam hatte dem ein Ende gesetzt und er war so glücklich gewesen, dass da endlich jemand war, der Zeit mit ihm verbringen wollte und ihn nicht komisch fand. Auch sie hatten einst so vertrauensvoll nebeneinander gesessen und Tränen brannten in Leos Augen. Fynn sollte genau das gleiche fühlen dürfen, wie schön es war, einen besten Freund zu haben. 

Langsam kam er näher. Der fremde Junge hatte dunkelblondes Haar, das ihm in langen Strähnen in die Stirn fiel. Er trug eine helle Jeans und ein dunkles Shirt mit dem Aufdruck einer Band, die Leo nicht kannte. Alles an dem Kind schrie Berlin, wie Leo mit einem Schmunzeln feststellte und er konnte es seinem Sohn nicht verübeln, dass er sich mit ihm angefreundet hatte. 

Ihm wäre es in dem Alter nicht anders gegangen, zumal der Junge eine frappierende Ähnlichkeit mit Adam hatte. Nur, dass er schlaksiger und nicht so trainiert wie Adam in diesem Alter war, auch fehlte der militärische Kurzhaarschnitt. Ansonsten wäre der Fremde eine perfekte Kopie von Adam. 

Konnte sich der Hang zu einem bestimmten Typ an Personen vererben?

Fynn hob den Kopf und sprang auf, als er Leo auf sich zukommen sah. Ungläubig sah er ihn an, als hätte er nicht damit gerechnet, dass es wirklich Leo war, der ihn abholen würde. Konnte Leo ihm diese Zweifel verdenken?

„Fynn”, sagte er leise und fand sich keine Sekunde später in einer klammernden Umarmung wieder, die ihm förmlich die Luft abschnürte. 

„Du bist wirklich gekommen”, kam es undeutlich von Fynn und als er den Kopf leicht hob, sah Leo die Tränen, die über die leicht gebräunten Wangen rollten.

„Natürlich”, setzte Leo an, doch realisierte er selbst, dass es nicht so natürlich war, dass er hier war, da er Fynn mehr als einmal enttäuscht hatte, weil er nicht da war, wie versprochen. Statt weiterzusprechen zog er Fynn wieder an sich, vergrub eine Hand am Hinterkopf seines Sohns und drückte ihn gegen seine Brust, wo er die erstickten Schluchzer spürte. Hinter seinen Augen brannten selbst Tränen und er blinzelte hastig gegen sie an, als sein Blick wieder auf den anderen Jungen fiel, der sie aufmerksam beobachtete, ein kleines Lächeln auf den Lippen. 

 

Für einen Augenblick blieb Leo noch mal die Luft weg, als er in die strahlend blauen Augen sah, die ihm so bekannt vorkamen. Ein Blau, das je nach Stimmung zwischen der Farbe der Gletscher und dem Himmel an einem warmen Sommertag changierte. Das Gesicht trug zwar noch die weichen Züge der Jugend, doch jetzt konnte man schon die Kanten sehen, die einmal hervorkommen würden. Schmale Lippen, prominente Wangenknochen, wie einst bei Adam. Wenn Leo es nicht besser wüsste, würde er meinen, dass Adam wieder vor ihm stand.  

„Adam”, entfuhr es Leo und die Augen des Jungen weiteten sich erschrocken. Fynn machte sich von ihm los und trat einen Schritt zurück. 

„Papa, das ist Noah.” Der Junge kam zögerlich näher, die blauen Augen wachsam auf Leo gerichtet. „Noah Schürk.”

„Hallo”, kam es zaghaft von dem Jungen und er lächelte Leo schüchtern an. Noah , Adams Sohn?

„Fynn?”, fragte Leo und wusste selbst nicht, was er eigentlich fragen wollte. Was ging hier vor? War das Zufall? War das vor ihm wirklich Adams Sohn? Adam war sich doch so sicher gewesen, dass er keine Mädchen mochte. Wie konnte er dann einen Sohn haben, der wie ein Spiegelbild seiner Jugend aussah?

„Sei bitte nicht böse, Papa. Wir können das erklären.” Fynn griff nach seiner Hand und zog an ihr, um Leos Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. 

Zu einer Erklärung kam es jedoch nicht. Die Tür des Bungalows ging auf und ein großer Mann in Jeansjacke und farblich passender Jeans trat heraus, auf seinem Gesicht ein genervter Ausdruck. Leo erstarrte und jeder Gedanke, der noch in seinem Kopf herum wirbelte und versuchte, die Situation zu zerlegen und zu analysieren, kam zum Erliegen.

Adam. Das war eindeutig Adam, der da gerade auf sie zutrat. Größer war er als in Leos Erinnerung, nicht mehr so muskulös und trainiert, eher drahtig und von kontrollierter Kraft, die sich in seinem federnden Gang zeigte, der ins Stocken kam, als sein Blick Leos fand. 

 

Wenige Schritte von ihnen entfernt, blieb er stehen, die Augen auf Leo geheftet. „Leo”, sagte er schlicht. 

Nichts in seiner Stimme oder in seiner Mimik deutete darauf hin, was ihm in diesem Augenblick durch den Kopf ging. Schlug ihm sein Herz wie Leos bis unter den Hals? War sein Mund ebenso trocken, dass er nicht mal Worte formen könnte, wenn er welche fand? 

Zögerlich löste Adam sich aus seiner Starre und kam auf ihn zu. Hinter ihm ein missmutig drein schauender Mann, der sich nun an Adam vorbei schob.

„Herr Hölzer nehme ich an? Wenn ich dann bitte auch noch mit Ihnen sprechen dürfte.” Er wollte Leo die Hand reichen, doch Adam fing die Hand in der Bewegung ab und drückte sie nach unten.

„Ich werde mit Herr Hölzer über den Vorfall reden. Ich denke, es ist nicht nötig, dass Sie Ihre anderen Schützlinge noch länger vernachlässigen. Noah und Fynn werden ihre Sachen packen und so lange rede ich mit Herrn Hölzer. Vielen Dank für Ihre Bemühungen und einen schönen Tag.” 

Adams Stimme war eisig und ließ keinen Widerspruch zu. Der Mund des Mannes klappte mehrmals auf und zu, ohne dass ein Wort herauskam. Mit einem resignierten Schulterzucken zog er seine Hand aus Adams Griff und stapfte über den Sandweg hinüber zum Zeltplatz. 

„Ihr habt eine Stunde Zeit eure Sachen zu holen. Alles klar?”, wandte sich Adam die beiden Jungen, die mit angehaltenem Atem die Szene vor sich verfolgt hatten. Eilig nickten die beiden und folgten dem fremden Mann den Sandweg hinunter. Im Gehen drehte Fynn sich zu ihm um und Leo fing den hoffnungsvollen Blick auf. 

Sobald die Jungen aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren, wurde Leo sich der angespannten Stille bewusst. Der Sand knirschte unter Adams Füßen, als er einen Schritt auf Leo zutrat und Leo nun auch die Wärme des anderen neben sich spüren konnte. Ein feiner Duft nach Deo und Zigarettenqualm drang in Leos Nase und legte sich beruhigend über sein wild schlagendes Herz. 

Schon damals war Adam einige Zentimeter größer als er gewesen, so dass Leo immer ein wenig den Kopf recken musste, um in Adams Gesicht sehen zu können. Auch daran hatte sich in den letzten Jahren nichts geändert. Er ließ seinen Blick von Adams Hals, um den grobgliedrige Gold- und Silberketten lagen, hinauf wandern. Ein feiner Bartschatten betonte Adams Kinnlinie und ging in einen gepflegten Bart auf der Oberlippe über. Die Wangenknochen standen noch prominenter und messerscharf hervor und gaben dem Gesicht eine Chance eiserne Kontur. Alles war Leo so vertraut und doch gleichzeitig so neu, so erwachsen. 

Nur die Augen und der warme Blick, den Adam schon früher nur für Leo reserviert hatte, waren noch gleich. Das Blau erinnerte ihn an die vergangenen Sommertage ihrer Jugend, und Leo kam nicht umhin, den feinen Tränenfilm zu bemerken, der es wässrig erscheinen ließ. 

Leo wollte etwas sagen, musste etwas sagen. Wie sehr er sich freute, Adam zu sehen, wie sehr es ihn aber ängstigte. Doch er konnte keine Spur von Ablehnung in Adams Gesicht erkennen. Ein Lächeln zupfte an Adams rechten Mundwinkel und seine Augen huschten unruhig umher, als würde auch er Leos Anblick in sich aufnehmen. 

„Ich habe dich vermisst“, kam es leise, aber mit emotionsschwangerer Stimme von Adam und ließ Leos Zweifel in Rauch aufgehen. 

 

Für eine Weile liefen sie schweigend auf dem Waldweg ein Stück vom Parkplatz weg. Ihre Schultern stießen im Gehen immer wieder gegeneinander und jede Berührung schickte ein warmes Kribbeln durch Leos Körper. 

Wie gern würde er wie früher nach Adams Hand greifen, seine langen Finger um seine spüren. Doch an diesem Punkt waren sie noch lange nicht, würden es vielleicht auch nie sein. Nur weil Adam ihm gestanden hatte, dass er ihn vermisst hat und Leo überhaupt diesen Spaziergang vorgeschlagen hatte, hieß es nicht, dass sie so nahtlos an damals anknüpfen konnten. Zu viel war geschehen, nicht nur in den letzten Jahren. Sie hatten beide Kinder, Adam könnte in einer Beziehung sein, dachte vielleicht, dass Leo es war. Ein ganzes Leben war in den letzten fünfzehn Jahren passiert und passte gar nicht in eine Stunde, von der sie den Großteil bereits schwiegen. 

An einer kleinen Bucht hielt Adam, wo sich der Blick auf den See öffnete. Wie einst ihr Angelplatz am Polizeiweiher, an dem sie gestohlene Sommertage verbracht hatten. Fernab neugieriger Blicke hatten sie im Wasser getobt, waren um die Wette geschwommen (Adam hatte immer gewonnen) und sich danach von der Sonne trocknen lassen. 

„Gibt es unsere Stelle am Weiher eigentlich noch?”, fragte Adam, die Hände in den Jackentaschen versteckt. Etwas Sehnsüchtiges lag auf seinem Gesicht, das er weiterhin zum See gerichtet hielt. 

Leo trat neben ihm. Kleine Wellen schwappten zu ihren Füßen ans Ufer. „Ich war lange nicht mehr da”, gestand er leise und Adams Lippen pressten sich fest zusammen. 

„Es hat sich wahrscheinlich viel in den letzten Jahren geändert. Nicht nur in Saarbrücken. So generell. Immerhin sind wir Väter.” Adam neigte den Kopf in Leos Richtung und lächelte. „Wer hätte das gedacht.” 

„Noah wirkt wie eine jüngere Ausgabe von dir”, entfuhr es Leo und er lächelte Adam zögernd an.

Lachend Adam warf den Kopf in den Nacken. „Das stimmt. Er baut auch ähnlich viel Scheiße wie ich. Da kann selbst Vincent nichts mehr ausgleichen.” 

Ein heißer Klumpen formte sich in Leo Eingeweide. „Vincent, dein Freund?”, fragte er nach und hoffte, dass Adam seine aufgewühlten Gefühle nicht heraushören konnte. 

„Vincent ist mein bester Freund und der kompetente Part, wenn es darum geht, Noah zu erziehen. Alleine wäre das in einer Katastrophe geendet, wenn wir mal ehrlich sind.” Adam nickte auf eine Stelle, an der dichtes Gras wuchs und sie ließen sich dort nieder. 

„Noahs Mutter hat ihn im Stich gelassen, da war er gerade mal ein Jahr. Sie war ein Ausrutscher, irgendwann in meiner ersten Zeit in Berlin, als ich noch sehr selbstzerstörerisch unterwegs war. Nach allem, was passiert war–”, er stockte und seufzte, „Nach allem, was passiert war, hatte ich nicht mehr so viel Drang zum Überleben.” 

Noch ehe Leo groß darüber nachdenken konnte, lag seine Hand auf Adams Arm. Einen Moment lang sahen sie beide auf die Verbindung, bis Adam seine freie Hand über Leos schob. 

„Ich habe mir auch viel Leid selbst getan. Noah war da meine Arche.” Er lächelte versonnen. „Daher auch sein Name.” Leo hob skeptisch eine Augenbraue und Adam grinste noch breiter. „Gut, stimmt nicht ganz, aber passend ist er trotzdem.”

Leo spürte die Wärme, die von Adams Hand ausging. „Es tut mir leid, was ich damals zu dir gesagt habe”, brach es aus Leo heraus und Adam spannte sich an, zog aber seine Hand nicht weg. „Ich habe meine Worte bereut, kaum dass du aus der Tür warst. Ich war an keinem guten Ort, mental gesehen, aber ich hätte dir dennoch nicht die Schuld geben dürfen.” 

Adam zuckte mit den Schultern, Leo eine so schmerzlich vertraute Geste. Wie oft war das damals Adams Antwort auf Nachfragen gewesen. 

 

Wie geht’s dir? - Schulterzucken. 

Wollen wir zum Baumhaus? - Schulterzucken.  

War das wieder dein Vater? - Schulterzucken.

 

„Du kannst doch auch nichts dafür, Leo. Wir waren so verdammt jung und die Scheiße von meinem Vater zu groß. Ich hatte auch Angst, dass unsere Lüge auffliegt und du die Konsequenzen tragen musst. Erst in der Ausbildung habe ich verstanden, dass es Notwehr war. Du wolltest mir helfen und hast mir auch das Leben gerettet. Ich konnte es verstehen, dass du nicht mehr konntest und ich dich an alles erinnert habe und die Angst so nicht weggeht.” Adam vermied es, ihn anzusehen, blickte auf seine Hände, die er von Leo gelöst hatte. Ein Muskel in seinem Kiefer war angespannt und zuckte. 

„Adam", setzte Leo an und Adam drehte ihm das Gesicht zu, sein Ausdruck weich und verletzlich. Da war er wieder, der Junge, in den Leo sich damals so bedingungslos verliebt hatte. „Die Angst ging aber nicht weg, im Gegenteil. Auch wenn die Angst vor einer Strafe irgendwann kleiner wurde, die Angst, dass dir was passiert, war umso größer.” 

Schwach lächelte Adam ihn an. „Ich hatte Angst, dass du mich hasst, Leo. Dass ich dein Leben zerstört habe.” Er legte seine Hand wieder auf Leos. “Dem scheint aber nicht so, wenn ich mir Fynn anschaue.” Leo sah das stumme Flehen in Adams Blick, dass sie das Thema wechselten. 

„Fynn ist großartig, nur–” Nun war es Leo, der die Hand unter Adams hervor zog und schützend die Arme um sich schlang. Er hatte es noch nie ausgesprochen, immer nur Verenas Vorwürfe geschluckt und sie im Selbsthass in seinem Inneren gespeichert. Er atmete tief durch, richtete den Blick starr nach vorn auf den See. „Nur ich bin durch das, was passiert ist, kein guter Vater. Ich war auch kein guter Ehemann. Ich enttäusche Fynn und meine Ex-Frau ständig und egal wie sehr ich kämpfe, ich reiche nicht.” 

„Ich glaube nicht, dass du nicht reichst, Leo.” Adams Stimme war sanft und riss an Leo Fassung. Er hörte es rascheln und dann lag ein schwerer Arm um seine Schulter, der ihn behutsam gegen Adams Körper zog. Ein Schauer rann Leos Rücken entlang, als es sich wie nach Hause kommen anfühlte. 

„Wenn ich eins als Vater gelernt habe, dann, dass es nicht viel braucht, so lange man sein Kind liebt und Zeit mit ihm verbringt. Noah und ich haben früher ständig neue Dinge zusammen gemacht, bevor er zu alt wurde und sein Vater nicht mehr cool ist, wenn er mit Blaulicht irgendwo vorfährt.”

„Blaulicht?”, fragte Leo atemlos. 

Adam rückte leicht von ihm ab, grinste schelmisch. „Darf ich vorstellen: Kriminalhauptkommissar Adam Schürk, Kripo Berlin, Rauschgiftkriminalität.” Er deutete eine Verbeugung an.

Ungläubig sah Leo Adam an, in dessen Augen eine Ermutigung stand, von der Leo bis gerade nicht wusste, dass er sie brauchte. Er schüttelte Adam die Hand. „Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer, Kripo Saarbrücken, Delikte am Menschen. Sehr erfreut, Herr Kollege.”

Adam stimmte in Leos Lachen ein, bevor er versonnen den Kopf schüttelte. „Haben wir beide uns trotz allem an den Plan gehalten.”

Den Plan, eines Tages gemeinsam gegen das Unrecht in der Welt vorzugehen und die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten, damit so etwas wie Adams Geschichte niemanden passieren musste.

„Nur zu welchem Preis.” Leos Lachen erstarb. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal was mit Fynn unternommen habe. Vor allem nicht nach der Beförderung. Ich wollte ihn nie verletzen und habe es doch immer wieder in Kauf genommen, dass er zuerst zurückstecken muss.” 

Leo vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Wir hatten einen Urlaub an der Nordsee geplant. Der erste gemeinsame Urlaub seit Jahren. Und dann kam der Fall dazwischen und wir mussten ihn hierher schicken.”

„Wo er auf Noah traf.” Adam kicherte. „Wie lange meinst du, haben sie gebraucht, um die Verbindung zu finden und diesen grandiosen Plan auszuhecken?”

“Welchen Plan?”, hakte Leo verwirrt nach.

Adam grinste. „Du glaubst doch nicht, dass dein Sohn oder meiner, wirklich geraucht haben? So wie ich Noah kenne, war das seine Idee, uns herauszulocken. Es würde auch den merkwürdigen Anruf erklären, den ich vor einigen Tagen von ihm hatte und wo er nach dir gefragt hat.”

„Er hat nach mir gefragt?” Leo war verwirrt. Er hatte an einen Zufall geglaubt, vielleicht sogar Schicksal, dass sie hier wieder aufeinander trafen. Doch wenn er Adam glaubte, steckte da mehr dahinter. 

„Ich habe oft von dir erzählt, aber nie genaue Details genannt. Aber er fragte konkret nach Leo Hölzer und dem Baumhaus von einst.” Adams Wangen färbten sich in einem zarten Rot und er zuckte verlegen mit den Schultern. 

Für einen Moment sahen sie sich schweigend an, ehe sich aus Leos Kehle ein Lachen schlich. 

„Diese Schlitzohre, aber ich bin ihnen sehr dankbar”, gestand Leo und griff zögernd nach Adams Hand, der seinen Händedruck fest erwiderte. 

„Und ich erst.” 

⛺️🛶☀️

„Sie sind schon ganz schön lange weg, oder?” 

Fynn und Noah saßen mit den Rucksäcken zu ihren Füßen wieder auf den Baumstämmen und ließen suchend ihren Blick über das Gelände wandern.

„Bestimmt haben sie viel miteinander zu besprechen, nach so langer Zeit”, überlegte Fynn und zog die Beine auf den Stamm. „Hoffentlich war das kein Fehler und Papa ist am Ende noch trauriger.” 

„Glaube ich nicht.” Noah streckte sich gähnend und reckte sein Gesicht in die Sonne. „Paps hatte dieses sehr entrückte Lächeln auf den Lippen, das er sonst nur bei Cup-Nudeln hat. Er hat sich gefreut deinen Papa wiederzusehen.”

„Da sind sie!” Fynn stieß ihm so heftig in die Seite, dass Noah nach Luft japste und fast vom Baumstamm fiel.

Am Waldrand tauchten sein Vater und der von Fynn auf. Beide trugen sie ein Lächeln auf den Lippen und Leo Hölzer wirkte auch nicht mehr ganz so traurig wie noch bei seiner Ankunft. Sie wirken vertraut, wie sie sich mit den Schultern anrempelten und lachten, als sie näher kamen.

„So habe ich Papa noch nie gesehen”, flüsterte Fynn neben ihn und suchte nach Noahs Hand. 

„Dann ist unser Plan aufgegangen.” Noah drückte Fynns Hand und lächelte ihm mit einem aufmunternden Nicken zu. 

 

„Euer Plan, also?” Sie fuhren erschrocken zusammen. Ihre Väter standen mit einem wissenden Grinsen vor ihnen, beide die Arme vor der Brust verschränkt und auffordernd die Augenbrauen gehoben. 

Noah spürte wie ihm die Hitze in die Wange stieg unter dem durchdringenden Blick seines Vaters. So mussten sich die Verdächtigen auf der anderen Seite des Verhörs fühlen, wenn sein Vater sie in die Mangel nahm. Da brauchte es nur diesen durchdringenden Blick und sie gestanden alles, was er wissen wollte. Und das waren nicht so banale Dinge wie die große Frage nach dem Schokoladenklau aus ihrem Vorratsschrank (Noah war sich so sicher gewesen, dass er es Moritz in die Schuhe schieben könnte, doch da hatte er sich mit dem Falschen angelegt).

„Wir haben es zufällig herausgefunden. Weil Fynns Papa auch Polizist ist, weil Fynn das Sternbild des Löwen kennt und du mir immer erzählt hast, dass du es dir wegen deines Jugendfreundes Leo hast stechen lassen.” An dem Punkt wurden die Ohren seines Vaters rot und sein Blick huschte schnell zu Fynn und seinem Vater, die aufmerksam zuhörten. 

„Saarbrücken war da nur das letzte Detail, was gepasst hat. Dann mussten wir euch nur noch gemeinsam hierher bekommen. Hat ja auch funktioniert”, schloss Noah ein wenig atemlos seinen Vortrag und sah seinem Vater fest ins Gesicht, dessen Muskeln im Kiefer arbeiteten. Wie immer, wenn Adam Schürk konzentriert nachdachte und seine Schlüsse zog. 

Mit einem Laut des Unglaubens stieß sein Vater die Luft zwischen den Zähnen heraus und streckte seine Arme nach Noah aus. Mit einer ruckartige Bewegung fand Noah sich gegen seine Brust gedrückt wieder und die langen Armen umfassten ihn schraubstockartig. 

„Ich wusste, dass es mir mal zum Verhängnis wird, dass du unter Kriminalhauptkommissaren aufwächst”, murmelte er mit einem Seufzen gegen seine Schläfe und drückte lächelnd einen Kuss dagegen. „Kluges Köpfchen, hast du eindeutig von mir.”

Augenrollend löste sich Noah aus der Umarmung, blieb aber vor seinem Vater stehen, der ihn beruhigend zu nickte. Alles gut, sollte es heißen und Noah atmete erleichtert auf. Sein Vater war ihm nicht böse, obwohl er hier wohl einige Grenzen niedergetrampelt hatte und sich das sicherlich die nächsten Wochen noch mehrmals anhören durfte. 

 

„Und du bist mir auch nicht böse, Papa?”, kam es unsicher von Fynn und sie drehten sich zu den anderen beiden um, die ein wenig unbeholfen voreinander standen. 

Die Mimik von Leo Hölzer stand unter einem Sturm an Gefühlen und sein Blick flackern abwechselnd von Fynn zu Adam und Noah hinüber, als wäre er immer noch dabei, die Situation um sich herum zu begreifen. Vater und Sohn sahen sich ziemlich ähnlich, vor allem die traurigen Augen, die Noah an Fynn zuerst aufgefallen waren, hatten beide gleich. Die dunklen Haare betonten das Grün der Augen und wenn Noah so seinen Vater beobachtete, schien er genau dafür eine Schwäche zu haben, so wie er Leo anhimmelte. 

Fynn senkte mit hängenden Schultern den Kopf und starrte auf einen Fleck vor Leos Schuhen. Mit der Schuhspitze malte er kleine Kreise auf den Sandboden, ein beinahe schon trotziger Ausdruck auf seinem Gesicht.

„Mama sagt immer, dass du so distanziert bist, weil du als Jugendlicher dir jemand wichtigen verloren hast und du dadurch nicht vollständig bist. Ich dachte, wenn das Noahs Papa war und ihr euch wieder habt, dann kannst du mich auch mehr lieb haben.”

Noah hörte, wie sein Vater neben ihm zischend Luft holte, und Leo Hölzer wich wie von einem Faustschlag getroffen ein Stück zurück. 

„Fynn”, stammelte er und ging vor Fynn in die Hocke, die Hände auf seine Schulter gelegt. „Ich habe dich lieb, über alles in der Welt.” Seine Stimme war belegt. Noah suchte blind nach der Hand seines Vaters, der ihn in der halben Bewegung traf und versichernd seine Hand drückte. 

„Warum bist du dann aber nie da? Warum sagst du ständig Verabredungen ab und machst dir nicht mal die Mühe, die Zeit nachzuholen?” Fynns Stimme zitterte und erste Tränen rollten über seine Wange.

In Leos Augen glitzerten auch Tränen und Noah spürte, wie sein Vater vor Unruhe vibrierte, als zöge es ihn an Leos Seite. Doch er blieb wo er war, nur sein Atem ging schneller und sein Griff um Noahs Hand wurde fester. 

„Ich weiß, dass ich viel falsch gemacht habe, Fynn. Und ja, deine Mama hat recht. Da hat wirklich etwas gefehlt jahrelang, aber es hätte sich nie auf dich auswirken dürfen.” Leos Hände fuhren von Fynns Schultern hinauf zu seinem Gesicht und legten sich sanft an die Wangen. „Ich versuche mich zu bessern und mehr Zeit für dich zu haben, aber nicht wegen Adam, sondern weil du es verdient hast und ich nicht möchte, dass du an dir oder mir zweifeln musst. Ich brauche nur etwas Geduld von dir für mich. Kriegen wir das hin?”

Das Schniefen von Fynn klang verrotzt, aber er nickte schwach. Leo wischte ihm die Tränen unter den Augen fort, ehe er ihn an sich zog und Fynn sich schluchzend gegen ihn fallen ließ. 

Verlegen blinzelte Noah seine eigenen Tränen fort und zog leise die Nase hoch. 

„Gut gemacht, Großer”, murmelte sein Vater leise und zog ihn enger an sich, um ihm einen trockenen Kuss auf den Scheitel zu drücken. „Danke”, setzte er noch heiser nach. 

 

„Wie geht es denn jetzt weiter?”, wollte Noah wissen und aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Fynn ein wenig aus der Umarmung löste, aber die körperliche Verbindung zu seinem Vater weiterhin aufrecht hielt. 

Leo tauschte mit einen fragenden Blick mit Adam und richtete sich langsam auf, Fynn weiterhin nah an sich gedrückt. 

„Vielleicht”, begann er und leckte sich über die Lippen. „Ich habe die Anzahlung für das Ferienhaus an der Nordsee schieben können. Die Ferien gehen noch ein wenig. Vielleicht finden wir ein Zeitfenster, wo es uns gemeinsam passt?” 

„Fuck, Leo”, kam es rau von Adam und er stürzte vor, um Leo in die Arme zu ziehen, der perplex Fynn losließ und seine Arme stattdessen um Adam schlang. „Das klingt gut.” 

Grinsend hielt Noah Fynn die Hand für ein High-Five hin, der mit einem wässrigen, aber glücklichen Lächeln einschlug und dann ihn seinerseits in eine feste Umarmung zog. 

„Dein Sohn scheint genauso ein Umarmer zu sein wie du Hölzer”, sagte Adam mit einem Lachen in der Stimme und Leo lächelte stolz zu ihnen hinüber. 

„Und deiner scheint sie genauso zu genießen.”

Noah zuckte mit den Schultern, einen Arm um Fynns Schulter. „Wie die Väter, so die Söhne, oder?” 

⛺️🛶☀️

Fynn drehte sich noch einmal nach dem Auto mit dem Berliner Kennzeichen um, als sie am Ende der Allee den Blinker in verschiedene Richtungen setzten. Noah winkte ihm stürmisch vom Beifahrersitz zu. Wenn alles gut ging, würden sie sich in zwei Wochen schon wieder sehen. Zumindest hatte sein Papa Noahs Vater versprochen, ihn am Abend anzurufen und hatte dabei so selig gelächelt, dass Fynn Noah in die Seite gestoßen und mit den Augen gerollt hatte. 

Vielleicht hatte Fynn in diesem verhassten Ferienlager nicht nur einen besten Freund gefunden. Irgendetwas an dem verträumten Lächeln und dem unbewussten Summen seines Vaters sagte ihm, dass Noah und sein Vater zukünftig eine größere Rolle in ihrem Leben spielen würden.

 

☀️ ENDE ☀️

Notes:

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