Chapter Text
Ein Klopfen am Autofenster reißt Esther aus ihren Gedanken. Erschrocken blickt sie zur Beifahrertür. Sie hat das Auto nicht abgeschlossen, was jetzt, wo sie drüber nachdenkt, ziemlich fahrlässig war. Aber als sie die bunte Sportjacke erkennt, beruhigt sich ihr Herzschlag schnell wieder. Pia hat einen Kaffeebecher in jeder Hand und grinst ins Auto. Esther spürt, wie sich auch ihr Mund zu einem Lächeln verzieht und lehnt sich über die Mittelkonsole, um die Tür von innen zu öffnen. Sofort zieht ein kalter Windstoß in das Auto. So schnell, wie Pia sich auf den Beifahrersitz fallen lässt, ist es anscheinend auch ihr zu kalt draußen. Der Kaffee schwappt dabei bedenklich in den beiden Kaffeebechern – es grenzt an ein Wunder, dass tatsächlich alles im Becher bleibt.
Pia kommentiert das Ganze mit einem kurzen, niedlichen Lachen. „Das war knapp. Sorry, dass es so lange gedauert hat. Anscheinend braucht halb Saarbrücken gerade Koffein.“
Sie reicht Esther einen der Becher. Dankbar pustet Esther in den dampfenden Kaffee. „Alles gut. Ich saß hier ja im Warmen. Danke.“
Pia antwortet mit einem Lächeln. „Und hab‘ ich was verpasst?“
Mit einem Seufzen wendet sich Esther wieder dem Wohnhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu. „Nein, scheint noch immer niemand da zu sein.“
„Na dann wird das wohl ein langer Abend.“ Pia klingt nicht unbedingt unzufrieden mit dieser Aussicht.
Auch Esther kann sich nicht dazu bringen, die anstehende Observation zu bedauern. Sie kann sich durchaus einige Abendgestaltungen vorstellen, auf die sie deutlich weniger Lust hätte, als auf einen Abend mit Kaffeetrinken und langen Gesprächen mit Pia.
Pia streift sich die Turnschuhe ab und zieht die Beine auf den Sitz. Ihre Socken sind mit vielen kleinen Croissants bestickt. Esther kennt diese Socken sehr gut. Bei ihrem letzten Frankreichurlaub, der mittlerweile auch schon wieder knapp ein Jahr her ist, stand sie sehr lange vor ebendiesen Socken. Sie haben geradezu „Pia“ geschrien, aber eigentlich ist es nie Esthers Angewohnheit gewesen, Kolleginnen oder Kollegen Andenken aus dem Urlaub mitzubringen. Nur dass für Pia schon lange andere Regeln zu gelten scheinen als für andere. Also hat Esther die Socken gekauft und am ersten Tag nach ihrem Urlaub mit klopfenden Herzen mit ins Büro genommen.
Pias strahlendes Lächeln, als sie die Socken ausgepackt hat und die Wärme, die sich jedes Mal in Esthers Brust ausbreitet, wenn sie Pia die Socken tragen sieht – was häufig vorkommt – bestätigen sie darin, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat.
Pia wackelt mit den Zehen und Esther reißt ihren Blick von den Socken los.
„Das sind noch immer meine Lieblingssocken, auch wenn ich jedes Mal Lust auf Hörnchen bekommen, wenn ich sie sehe.“ Pia grinst breit.
„Du meinst im Gegensatz zu sonst?“
„Tu nicht so, Baumann. Du kannst mir nicht erzählen, dass im Büro weniger Hörnchen gegessen würden, wenn ich nicht da wäre.“
Esther zuckt grinsend mit den Schultern. „Okay, da hast du wahrscheinlich Recht. Andererseits, ich mag eigentlich auch Nussecken sehr gern.“
„Warum erfahre ich solche Details über dich immer nur in Nebensätzen?“ In Pias Stimme ist keinerlei Vorwurf zu hören – sie klingt eher belustigt, trotzdem muss Esther die erste, etwas patzige Antwort runterschlucken. Pia kann nichts dafür, dass Esther so eine Mauer um sich gezogen hat. Und eigentlich führt die Tatsache, dass Pia sich über die Jahre scheinbar mühelos und mit so viel Geduld einen Weg durch ebendiese Mauer bahnt, zu einem angenehmen Kribbeln in Esthers Bauch.
Sie probiert es mit der Wahrheit – oder zumindest einem Teil davon. „Ich tue mich nicht leicht, ungefragt so viel von mir Preis zu geben.“
Pia lehnt den Kopf gegen die Kopfstütze und schaut Esther nachdenklich an. Esthers Blick bleibt an Pias Augen hängen, die im dunklen Auto, lediglich erhellt von dem Mond und den Sternen in der kalten Nacht, unendlich tief wirken. Nach einer Weile hebt sich Pias rechter Mundwinkel zu einem leichten Lächeln. In Momenten wie diesen hat Esther das Gefühl, dass sie beide auf das Gleiche hoffen, aber bevor sie weiter darüber nachdenken kann, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte und wie unangebracht Rummachen bei einer Observation wäre, bricht Pia den Blickkontakt und wendet sich wieder zur Windschutzscheibe. Vielleicht ist es doch alles nur Wunschdenken. Und von Rummachen sind sie hier ohnehin meilenweit entfernt. Da macht Esther sich keine Illusionen.
Einen Moment schweigen sie sich an, bevor Pia Esther wieder aus ihren Gedanken reißt. „Aber es stört dich nicht, wenn ich frage?“
Bei vielen Leuten stört es Esther schon. Da fühlt es sich an, als würden diese versuchen einen Weg unter Esthers Panzer zu finden; ihre verletzlichen Stellen suchen. Aber auch hier gelten für Pia offensichtlich wieder andere Regeln. Bei Pia fühlt sich das Offensein fast befreiend an. „Nein, stört mich nicht.“
Pias sanftes Lächeln wird verschmitzter. „Perfekt, Fragen habe ich nämlich genug.“
