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Wie in ein verlassnes Haus

Summary:

Sprotte war schon immer gut darin, Türen zuzuknallen.

Notes:

Für 8Lionne8, irgendwie. <3 Dein Kommentar hat mich noch eine Weile beschäftigt und dann war da neulich dieses Brecht-Zitat darüber, dass man die Tür schließen muss, wenn ein Freund geht, und irgendwie...ist dann das hier daraus geworden. Ein bisschen anders, als du geschrieben hattest, aber ich hoffe, es gefällt dir trotzdem.

Kurz zum Setting: das meiste ist aus dem Universum der Bücher übernommen, nur die Geschichte mit who-the-fuck-is-Sabrina ist aus dem 3. Film geblieben. Sonst bräuchte es ja kein Fix-It.

Der Titel ist aus "Linda" von Gundermann.

(See the end of the work for more notes.)

Work Text:

Sprotte war schon immer gut darin, Türen zuzuknallen.

Bei Türen, die sie gut kannte, wusste sie genau, wie fest sie sie zuziehen musste, mit wie viel Schwung, ab wann sie loslassen musste, um den lautesten Knall zu erzeugen, ohne etwas kaputtzumachen oder sich selbst zu verletzen.

Offene Türen bedeuteten Kälte. Bedeuteten, angreifbar zu sein, sichtbar, im schlimmsten Fall sogar sehnsüchtig. Nein, es war besser, Türen zuzumachen. Sich zu schützen, abzuwehren, abzuschirmen und niemandem zu erlauben, einen Fuß über die Schwelle zu setzen, auch nicht sich selbst. Oft war sie mit Worten nicht gewandt genug, diese Grenze zu ziehen, nicht mit der Vehemenz und Endgültigkeit, die sie wollte, und dann saßen da noch immer stachelige, scharfkantige Sätze auf ihrer Zunge, die nur darauf warteten, abgeschossen zu werden und zu verletzen. Auch dagegen schützten Türen. Keine aus Worten. Dicke, solide Türen, die den Blick versperrten, den Reiz, und im besten Fall auch jedes Geräusch verschluckten.

Zimmertüren, Wohnungstüren, Haustüren.

Bauwagentüren.

Autotüren.

Nur Stalltüren, die schlug sie nicht zu. Zu leicht konnte sich ein hektisches Huhn zwischen Tür und Angel verirren. Und Pferde mochten keine lauten Geräusche, erschreckten sich schon, wenn nur ein Dielenbrett unter ihren langen Schritten knarrte.

 

Und Baumhäuser. Baumhäuser hatten keine Türen.

 

Fühlte es sich deshalb so an wie eine offene Wunde?

 


 

Stalltür

 

„Sprotte?“

Friedas Stimme. Sprotte lauschte für einen Moment, doch sie konnte kein zweites Paar Schritte hören, keine tiefere Stimme, die leise lachte. Maik war also nicht dabei.

„Ich bin aufm Klo.“

„Alles okay?“ Nun war die Stimme näher, drang durch das dünne, billige Holz der Klotür.

„Ja, alles gut.“ Hastig faltete sie den kaum mehr lesbaren Zettel zusammen, den sie in der Tasche ihrer Reithose gefunden hatte – wie auch immer der die letzten Waschgänge dort überlebt hatte – und schloss auf.

Ihre Hände waren noch etwas feucht, als Frieda sich bei ihr einhakte und sie sanft, aber nachdrücklich wieder in Richtung Stall zog.

„Komm schon. Melli macht die armen Tiere wieder verrückt mit ihren Pferdeflechtfrisuren.“ Sie kicherte. „Wenn Pferde reden könnten…“

Sprotte schnaubte. „Ja, die hier hätten sicher einiges zu erzählen.“

Frieda blieb stehen und sah sie von der Seite an.

„Was?“

„War es eine blöde Idee, nochmal hierherzukommen? Wegen…na, du weißt schon.“

Ja, Sprotte wusste. Frieda war die Einzige, der sie je von diesem Kuss in Monas Flur erzählt hatte. Monate später, als das alles sich nicht mehr so neu und komisch und zerbrechlich angefühlt hatte.

Über zwei Jahre war dieser erste Kuss jetzt her.

Fast ein halbes Jahr der letzte.

„Sprotte?“

„Nein.“ Die Antwort kam, ehe sie recht darüber nachgedacht hatte. „Nein, war’s nicht.“

„Sicher?“

Sie zuckte mit den Schultern. „War nicht das Einzige, was hier passiert ist. Ich glaub, die Tage hier waren die schönsten, die ich in dem Jahr hatte.“ Dann grinste sie Frieda an. „Und nicht zu vergessen – du hast hier deinen Schnuckiputz getroffen.“

Frieda streckte ihr die Zunge heraus.

Lachend zog Sprotte die Stalltür auf. Der Geruch nach Stroh, Mist und Pferd schlug ihr entgegen, goldene Staubkörnchen funkelten in den tapferen Strahlen der frühen Nachmittagssonne. Wilma lehnte kichernd an einem Pfosten und sah Melanie dabei zu, wie die versuchte, Brunka davon abzuhalten, ein Haargummi zu fressen, und Trude war mit ein paar Jüngeren dabei, Gladur und Lipurta die verschorften Stellen einzucremen.

Alles war wie vor zwei Jahren und irgendwie doch ganz anders.

Ein seltsames Gefühl flutete Sprottes Herz und ließ sie den Griff der Stalltür fester umklammern, bis das raue Holz in ihre Handfläche stach.

Sie vermisste…

Sie vermisste.

 


 

Gartentür

 

„Bist du sicher?“

„Herrgott, Melli.“ Sprotte verdrehte die Augen. „Ja. Irgendjemand muss dir beim Transportieren helfen, oder?“

„Schon, aber – “ Melanie sah nach links und rechts und senkte die Stimme wie eine schlechte Agentin in einem Spionagefilm. „Du weißt schon wer könnte da sein.“

„Stell dir vor, das hab ich mir fast gedacht, als du mir erzählt hast, dass es im Schrebergarten seines Großvaters stattfindet.“

„Und das macht dir nichts aus?“

Sprotte erwiderte den verblüfften Blick aus Melanies großen, blauen Augen. Himmel, an ihren Wimpern klebte wieder die halbe Tube Wimperntusche.

Unter ihren Händen kippte die Kiste fast vom Gepäckträger und sie fluchte, griff nach und hakte den Spanngurt ein. „Nein.“

„Du lügst“, stellte Melanie fest. „Ich kenn dich doch, Sprotte. Es macht dir was aus. Du hast Schiss, Fred außerhalb der Schule zu treffen und ihm ins Gesicht sehen zu müssen.“

„Wovor sollte ich denn Schiss haben? Dass er Taubenmist nach mir wirft?“

„Nein. Davor, dass er dich wieder verletzt.“

Zu dumm, dass Melanie sich in Sachen Beziehung besser auskannte als sonst eine ihrer Freundinnen. Sogar besser als Frieda, die Sprotte schon so lange kannte. Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch – und sie hatte ja Recht. Sprottes Herz schlug wie wild allein bei der Vorstellung, Freds fuchsrotes Haar in der Menge zu erkennen, ihm ins Gesicht zu sehen, seine Stimme zu hören, ihm die Kiste in die sommersprossigen Arme zu drücken –

Schluss. Sie schüttelte sich. „Ich fahr mit dir da hin, bleibe draußen, lade die Kiste ab und fahr wieder heim. Ganz einfach.“

„Mhm.“ Melanie tippte auf ihrem Handy herum. „Dann sag ich Willi mal, dass wir kommen.“

 

Willi war es nicht, der vor dem sauber eingehegten Schrebergarten von Opa Baldewein auf sie wartete. Natürlich war es Fred. Sprottes Fuß rutschte fast vom Pedal, als sie vor dem grün lackierten Gartentor anhielten.

„Na, sowas“, sagte Melanie spöttisch und drückte Fred statt einer Begrüßung den Einkaufskorb voll Brot in die Hand.  „Bring den schonmal rein, ich helf Sprotte beim Abladen.“

„Da gibt’s nichts zu helfen“, murmelte Sprotte, als Fred außer Sichtweite war.

Melanie legte ihr einen Arm um die Schulter. „Ich weiß. Aber wenn Fred glaubt, ich lass dich hier mit ihm allein, damit er dir vorsülzen kann, wie sehr er dich vermisst und sowas, hat er sich geschnitten.“

„Wieso sollte er?“ Der Spanngurt schnalzte mit mehr Vehemenz ab, als sie erwartet hatte, und sie wich ein Stück zurück, um sich nicht zu verletzen. „Er braucht mich doch gar nicht. Kann ja Sabrina anrufen, wenn ihm langweilig ist. Oder wer auch immer gerade aktuell ist.“

„Ach, Sprotte.“ Der Arm um ihre Schulter zog sie noch ein wenig näher. „Fred hat’s viel schlimmer erwischt als dich, glaub mir. Und auch schon viel länger. Der hat dich angehimmelt, spätestens, seit wir den geheimen Keller deiner Oma gefunden haben. Der ärgert sich jeden Tag schwarz, dass er so blöd war, dich zu betrügen – was absolut dämlich war und was ich ihm bis an sein Lebensende übelnehmen werde –, und würde dir den Mond vom Himmel holen, wenn du ihn dann wieder liebhättest.“

Sprotte musste lachen. „Was soll ich denn mit dem Mond?“

„Eben.“ Melanie hob die erste Salatschüssel aus der Kiste und stellte sie auf den Boden, dann ging sie zu ihrem Fahrrad und schloss es ab. „Das allergrößte Problem ist, dass du nicht darauf vertrauen kannst, dass er es nicht nochmal macht. Völlig zu Recht übrigens.“

„Dass wer was nicht nochmal macht?“

Willi, natürlich, schweigsam und unauffällig wie immer. Melanie gab ihm einen Begrüßungskuss und sah ihn dann nachdrücklich an. „Das weißt du ganz genau.“

„Mmmm.“ Willi nahm Sprotte die zweite Salatschüssel ab. „Komm doch mit rein, Oberhuhn.“

„Ich glaub nicht, dass das ‘ne gute Idee ist.“ Sprotte kratzte nervös an einem Mückenstich auf ihrem Unterarm. „Außerdem muss ich noch mit Bella Gassi gehen.“

„Aber erst in einer Stunde“, warf Melanie ein. Verräterin.

„Komm schon.“ Willi nickte in Richtung des Gartens. „Da beißt schon keiner. Und ist irgendwie nicht das Wahre ohne euch.“

Melanie streckte eine Hand nach ihr aus, fing ihre Finger ein, um zu verhindern, dass sie weiter kratzte. „Wir passen schon auf dich auf.“

Sprotte gab nach. „‘Ne halbe Stunde. Dann muss ich wirklich los. O.S. reißt mir sonst den Kopf ab.“

„Ich dachte, Erschießen ist mehr so ihr Stil?“ Willi grinste und hielt ihnen mit der freien Hand die Gartentür auf.

„Nicht bei Hühnern.“

Sprotte war froh darum, dass Melanie den zweiten Salat trug, denn ihr selbst wäre definitiv die Schüssel aus der Hand gefallen, als Fred auf einmal wieder bei ihnen stand, ein paar Flaschen in der Hand. Bier für Willi, Melanie und sich selbst und eine Cola für Sprotte.

„Oder wär dir Tee lieber?“

„Passt schon so“, brachte sie hervor und ließ ihre Flasche gegen Melanies klirren.

„Wir bringen mal den Salat weg“, zwitscherte Melanie und zog Willi mit sich. Verräterin, Sprotte hatte es ja gewusst.

Fred sah sie unverwandt an. „Schön, dass du da bist.“

Sie sah sich in dem vertrauten Garten um, bemerkte bekannte Gesichter und registrierte, dass Freds Opa an manchen Stellen auf Hochbeete umgestiegen war.

„Sprotte, hey.“

„Ich will nicht darüber reden“, sagte sie schnell. Freds Mundwinkel zuckte.

„Ich auch nicht. Aber können wir wenigstens für heute Abend, ich weiß nicht, Freunde sein?“

Freunde war gefährlich. Freunde bedeutete Vertrauen, Spaß…Zuneigung.

Und Sprotte hatte es so vermisst.

Hatte sie ihre Entscheidung nicht schon längst getroffen, als sie durch das Gartentor getreten war?

 


 

Zelttür

 

„Kannst du auch nicht schlafen?“

Sprotte sah auf. Eigentlich hatte sie gedacht, Fred sei nur nochmal kurz hinter die Büsche gegangen, aber offensichtlich hatte er nicht vor, sich gleich wieder zu seinen schnarchenden Mit-Pygmäen ins Zelt zu verziehen.

Trude hatte sich diesen Ausflug zu ihrem zwanzigsten Geburtstag gewünscht, aus Nostalgiegründen und weil sie noch nie in ihrem Leben gezeltet hatte, und dann hatten sie auf ein warmes, trockenes Datum gewartet, an dem sie alle Zeit hatten. Die Jungen teilten sich ein Zelt, Melanie, Wilma und Trude ein zweites. Sprotte und Frieda hatten ein kleines zu zweit, aber Frieda war vorhin mit den anderen Hühnern mitgegangen und Sprotte saß noch immer vor dem Zelt, horchte in die Stille und das Grillenzirpen der Nacht und starrte in die Dunkelheit jenseits des langsam verglimmenden Lagerfeuers.

Es war eine wunderbare Sommernacht, nicht zu warm und nicht zu frisch, sternenklar und fast windstill, und über ihr funkelten die Sterne. Wäre es nicht Verschwendung, nun schon schlafen zu gehen und sich das entgehen zu lassen?

Statt einer Antwort zuckte sie also nur mit den Schultern.

Neben ihr ließ Fred sich in einen Schneidersitz sinken und stupste mit seiner Schulter sanft gegen ihre. „Wo siehst du hin, Oberhuhn?“

Sprottes Zunge löste sich nur schwer von ihrem Gaumen. „Weit weg.“

Eine Weile herrschte Stille. Freds Atemzüge gesellten sich zum Zirpen der Grillen und der Geruch seiner Haut, leicht salzig von der Hitze des Tages mit der Pfefferminznote seiner Zahnpasta, mischte sich unter den süßen Duft von gemähtem, von der Sonne getrocknetem Gras. Gefährlich, sowas; konnte ihr leicht zu Kopf steigen.

„Wird dir nicht schwindelig?“, fragte Fred leise.

Sprotte zuckte zusammen. Woher wusste er… „Was meinst du?“

„Na ja, wenn man es genau nimmt, schauen wir gerade in einen riesigen Abgrund.“

Also hatte er es nicht gemerkt. Sie atmete erleichtert aus. „Wenn ich dafür nach oben schauen muss, ist es kein Abgrund.“

„Ach so.“

„Außerdem ist er ja nicht leer. Da sind Planeten und Sterne…ich kann bis zum Aldebaran gucken. Mindestens.“

Er lachte. Dann:

„Schon verrückt, wie unwichtig einem die eigenen Probleme vorkommen, wenn man sich bewusst macht, wie winzig man eigentlich ist.“

Was sollte das denn jetzt?

Sprotte wartete noch ein paar Herzschläge auf eine Erläuterung, aber es kam keine.

„Ich find nicht, dass es die eigenen Probleme unwichtig macht. Ich hab ja nicht bei jedem Kummer das Universum danebenstehen, das mich daran erinnert, was für ‘n Zwerg ich bin.“

„Hab ich was Falsches gesagt?“, fragte Fred vorsichtig.

Sie räusperte sich. Sie mochte diese seltsame, ungewisse, verheißungsvolle Stimmung zwischen ihnen nicht besonders. Nichts daran war klar oder eindeutig.

„Nur weil ich in die Sterne gucke, vergess ich nicht einfach, dass du mir wehgetan hast, Fred.“

„Nein, ich weiß.“

Er schwieg für einen langen Moment.

„Es tut mir wirklich leid, Sprotte. Wenn ich die Zeit zurückdrehen und es anders machen könnte, ich würd’s tun. Mir selbst sagen, dass ich nichts verpasse und dass du es wert bist, zu warten, bis du soweit bist. Sogar, wenn du’s nie wärst. Aber das kann ich nicht und ich weiß nicht, was ich sonst tun kann, damit du mir verzeihst und mir glaubst.“

Sie schluckte. Nun war ihr doch schwindelig. Oh, sie war verletzt gewesen, als sie Fred mit Sabrina gesehen hatte, zutiefst getroffen, mitten in ihr kleines Herz, das sich nur zögerlich öffnete.

Es war leichter gewesen, zu glauben, dass er es mit Absicht getan hatte, um ihr wehzutun. Es war sogar leichter gewesen, sich selbst einen Idioten zu schimpfen dafür, dass sie geglaubt hatte, Fred wichtiger zu sein als alle anderen Mädchen, mit denen er was gehabt hatte.

Zu hören, dass sie es war und dass es ihm leidtat, zog ihr den Boden ihrer Gewissheiten unter den Füßen weg.

„Sprotte, sag was. Bitte. Jag mich zum Teufel, wenn du willst, aber schweig mich nicht an. Das ist das Schlimmste…“

„Mach’s nicht nochmal.“

Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, hätte sie sie am liebsten wieder verschluckt. Neben ihr lachte Fred jedoch, halb verzweifelt, halb erleichtert; seine Finger suchte ihre und drückten sie einmal.

„Versprochen.“

Sprotte musste lächeln.

Eine Weile saßen sie noch still nebeneinander, Freds Hand noch immer warm auf ihrer, bis sie spürte, wie die Müdigkeit ihr wie Blei in die Gliedmaßen sickerte.

Sie rappelte sich auf und klopfte sich Steinchen und Grassamen von der Hose. „Ich geh mal schlafen.“

Fred seufzte. „Ich wünschte, das könnte ich auch, aber…“

Er machte eine sägende Bewegung mit der Hand und nickte zum Zelt hinüber, von wo dreistimmiges Schnarchen zu ihnen herüberklang. Sprotte verbiss sich ein Grinsen und schlug vorsichtig die Zelttür auf, um Frieda nicht zu wecken.

Frieda war jedoch gar nicht da. Verdutzt sah Sprotte sich um, bis ihr einfiel, dass sie Frieda noch eine ganze Weile leise mit Trude hatte reden hören. Vermutlich war sie drüben bei den anderen eingeschlafen.

Sie biss sich noch einmal auf die Lippe und zögerte, doch dann drehte sie sich um. Fred hatte sich auf die Ellenbogen gestützt und starrte in den Nachthimmel.

„Fred.“

„Hm?“

„Frieda ist bei den anderen. Willst du…ich mein…also, ich schnarche nicht.“

Es war zu dunkel, um Freds Miene zu erkennen, aber die Vorsicht in seiner Stimme war deutlich, als er fragte: „Bist du sicher?“

„Sonst hätte ich nicht gefragt.“

Er stand auf. „Ich hol meinen Schlafsack.“

Es gab ihr genug Zeit, Jeans und T-Shirt auszuziehen und das Schlaf-Shirt überzustreifen, bevor er wieder da war, den Schlafsack in der Hand. Das Zelt war schon für Sprotte und Frieda klein gewesen, aber mit Fred, der genauso groß war wie sie, kam es ihr winzig vor. Sie streckten sich der Länge nach aus und Sprotte machte sich so schmal, wie sie konnte, und Fred war trotzdem – sehr nah.

„Ist ziemlich warm“, raunte er. „Sollen wir die Zelttür offen lassen?“

Dankbar streckte sie die Hand nach dem Reißverschluss aus. Durch die aufgeschlagene Plane kam kühle Nachtluft und sie konnte im Liegen die Sterne funkeln sehen.

Kurz bevor ihr die Augen zufielen, spürte sie es wieder, warme Finger zwischen ihren und das Versprechen eines Händedrucks.

 


 

Automatische Tür

 

Mit jedem Schritt, der sie vom Flugzeug entfernte, kehrte Sprottes Hirn wieder in die Realität zurück. Der Nebel von Schlaf und Tabletten gegen die Flugangst lichtete sich allmählich.

In der langen Schlange vor der Passkontrolle nahm sie ihre Kamera aus der Tasche und blätterte sich durch einige der Fotos, die sie am letzten Tag gemacht hatte. Das unglaubliche Grün, durch das sie gefahren waren, um zum Flughafen zu kommen. Der vor Hitze fast gelbe Himmel. Eine Eidechse, die sich auf der spiegelnden Motorhaube gesonnt hatte. Ihr Vater, der eine Orange schälte.

Das halbe Jahr – vier Monate eigentlich nur – war eine willkommene und notwendige Abwechslung vom sonstigen Ablauf in ihrer Ausbildung gewesen. Keine Hochzeiten, Porträts oder Bürgermeisterkandidaten, wenig Inszenierung mit Licht und Blumenschmuck, stattdessen eine Schulung für das Auge, im richtigen Moment das richtige Licht einzufangen, geduldig darauf zu warten, dass sich ein Tier zeigte, die Energie einer Menschenmenge in einem einzigen Augenblick zu erfassen. 

Und gleichzeitig war es eine Zeit gewesen, in der sie ihren Vater kennengelernt hatte, so gut das in vier Monaten eben ging. In der sie entdeckt hatte, worin sie sich ähnlich waren und worin so verschieden wie Tag und Nacht. In der sie begonnen hatte, zu verstehen, wieso ihre Mutter sich getrennt hatte, wieso sie bis vor ein paar Jahren nie ein Wort von ihm gehört hatte, geschweige denn ein Bild von ihm gesehen, wieso ausgerechnet ihre Großmutter mit ihm Kontakt gehalten hatte. Vielleicht hatte sie es auch besser verstanden, weil sie nach dem, was zwischen Fred und ihr vorgefallen war, beide Seiten verstehen konnte – die Wut und Verbitterung ihrer Mutter, die Angst vor erneuter Verletzung, die ihr Vater gehabt hatte. Und die Sehnsucht, die beide dazu gebracht hatte, doch wieder Kontakt zu suchen.

Dafür brauchte es Mut.

„Davon hast du offensichtlich mehr als wir beide zusammen“, hatte ihr Vater mit kaum verhohlenem Stolz festgestellt.

„Ach, Quatsch.“

„Na klar. Du hast jedenfalls keine fünfzehn Jahre und ein Kind dafür gebraucht, wieder mit deinem…wie hieß er nochmal?...zu reden.“

Sie hatte ihrem Vater von Fred erzählt, gerade weil er ihn nicht kannte. Weil er ihn weniger voreingenommen sehen konnte, kein von Kinderstreichen und Hühnerdiebstählen geprägtes Bild im Kopf hatte.

(Von der Hühnerrettung hatte O.S. ihm erzählt, wie sie später herausfand.)

„Der nächste bitte.“

Sie schob der Beamtin am Schalter ihren Reisepass hin, nahm ihn wieder entgegen, schlenderte weiter zum Gepäckband.

Am Tag vor ihrer Abreise war sie mit Fred noch Kaffeetrinken gegangen, nicht im Baumhaus oder Bauwagen. Es hatte sich seltsam erwachsen angefühlt. Nicht nur des Kaffees wegen. Sie hatten über alles Mögliche gesprochen, nur nicht über das, was zwischen ihnen war; aber was Fred ihr bei der Umarmung zum Abschied gesagt hatte, hatte noch lange in ihrem Kopf widergehallt.

Gute Reise, Oberhuhn. Ich warte auf dich.

Die ersten Koffer purzelten auf das Gepäckband, drehten mit schleifenden Geräuschen die Runde durch die Halle. Sprotte suchte die Toiletten auf, frischte ihr Deo auf, holte sich eine Flasche Wasser am Automaten und schrieb ihrem Vater, der vermutlich gerade schlief, eine SMS, dass sie sicher gelandet sei. Das Zugticket nach Hause würde teuer werden, aber sie hatte nicht im Voraus buchen wollen für den Fall, dass der Flug doch Verspätung hatte. Mam würde sie daher erst später anrufen, wenn sie genauer wusste, wann sie da sein würde.

Ihre ausgebeulte Rollreisetasche kam in Sicht. Sprotte schob sich näher an das Gepäckband heran, verstaute ihr Handy wieder in der Hosentasche und hob die Tasche herunter. Das Gefühl des rauen Tuchs unter ihren Fingerspitzen ließ die Reiselust schon wieder leise in ihr kribbeln, trotz aller Müdigkeit und Vorfreude darauf, Mam, die Hühner – menschliche wie gefiederte – und Bella wiederzusehen.

Vielleicht nach der Zwischenprüfung, dachte Sprotte, und zog ihre Tasche hinter sich her in Richtung Ausgang. Vor ihr versuchte ein Paar, seine drei Kinder im Zaum zu halten, die vom Flug noch aufgekratzt waren, und Sprotte musste aufpassen, keines der Kleinen mit der Tasche zu erwischen. Die Schiebetüren in die Flughafenhalle öffneten sich mit einem Zischen und die Kinder stoben davon –

Sprotte blieb abrupt stehen.

Ein paar Meter vor ihr löste Fred die verschränkten Arme und winkte ihr zu, ein halbes Lächeln auf den Lippen. Sein Blick taxierte sie von Kopf bis Fuß, ehe er sich mit der erhobenen Hand nervös durch die Haare strich, bis sie in alle Richtungen abstanden.

Sie löste sich aus ihrer Starre und bewegte sich endlich aus der Schranke heraus, ging unsicher auf ihn zu.

„Was machst du denn hier?“

„Dich abholen. Wenn du willst.“ Er zog einen Autoschlüssel aus der Tasche.

„Oh. Danke.“

„Ich hab doch gesagt, ich warte auf dich.“

Wie ein Vogel flatterte ihr Herz, wollte fast aus ihrer Brust fliegen.

„Ich…“ Fred kratzte sich am Kopf. „War eine blöde Idee?“

„Nein! Nein, überhaupt nicht.“ Sie biss sich auf die Lippen, um nicht plötzlich blöd zu grinsen wie ein Honigkuchenpferd. „Ich hab nur nicht damit gerechnet.“

Licht, Farbe, Bewegung, Energie. Ehe der Mut sie verlassen konnte, stellte sie ihre Tasche ab, machte noch einen langen Schritt auf Fred zu und umarmte ihn. „Schön, dich zu sehen.“

Freds Arme legten sich um sie und sein Kinn hakte sich in einer vertrauten Geste in ihre Schulter.

„Ich hab dich vermisst, Oberhuhn.“

 


 

Wohnungstür

 

Das braunrot lackierte Holz war trocken und nicht mehr ganz glatt. Jahrelange Heizungstrockenheit, Benutzung und ein paar Behandlungen mit Putzmittel hatten die Maserung prominenter werden lassen. Sprotte spürte jede feine Rille, jedes Astloch unter ihren Fingerspitzen; sah sie auch, weil vom Küchenfenster die Morgensonne in den Flur strömte und den Schatten ihrer Hand auf das Holz zeichnete.

Da war der Spion. Ein Stück daneben das kleine Kettchen, eine zusätzliche Sicherung.

Unten das Türschild aus Messing, glatter und kühler als das Holz bis auf die Schlossöffnung. Ein bisschen altmodisch, wie die ganze Wohnung es gewesen war. Das Bad hatten sie letzte Woche neu gefliest, weiß und blau statt des orange-braunen Siebzigerjahre-Horrors der Vormieter. Seit gestern war auch die neue Dusche installiert. Die Küche war ihre, übernommen von einer von Tortes Schwestern und nicht hochwertig, aber auch weiß und hell.

Gestrichen hatten sie auch und die Decke im Schlafzimmer mit einem Sternenhimmel tapeziert. Ihre eigenen Möbel waren alle hell und offen.

Nur das Türblatt war geblieben – dunkler als der Rest, hölzern und solide. Versicherung und Schutz zugleich. Und direkt daneben hingen die Türschlüssel an weiß übermalten Nägeln, eine Erinnerung daran, dass diese Tür nicht dauerhaft verschlossen war und dass es in Sprottes Hand lag, sie zu öffnen.

„Na, Oberhuhn?“

Zwei Arme legten sich von hinten um sie. Freds Stoppeln kratzten zart an ihrer Wange, als er wieder einmal das Kinn auf ihrer Schulter ablegte.

„Musst du dich mal wieder mit den Fingern versichern, dass die Welt echt ist?“

Fred kannte sie einfach zu gut. Sprotte presste die Handfläche ein bisschen fester gegen das Holz, hörte es leise ächzen, weil die Tür ein kleines bisschen verzogen war und nicht mehr so perfekt in die Scharniere passte wie früher vielleicht einmal.

Aber sie tat, was sie sollte.

„Und?“

„Ja. Ist echt.“

Fred lachte und küsste sie auf die Wange. „Dann ist ja gut. Meinst du, du kannst sie aufmachen? Der Pizzabote steht unten und unsere fleißigen Umzugshelfer kommen in ein paar Minuten.“

„Hast du die Stühle beiseitegeräumt?“ Für fünf Hühner und vier Pygmäen hatten sie nicht genug Sitzmöbel. Trude wollte daher die große Picknickdecke aus dem Bauwagen mitbringen.

„Natürlich.“

Sie griff nach einem Schlüssel und öffnete die Tür, um mit Fred an ihrer Seite ins Treppenhaus zu gehen. Auf der Schwelle hielt er sie fest, lächelte sie an, küsste sie noch einmal. Auf die Lippen diesmal, und Sprotte schloss für einen Moment die Augen und küsste ihn lächelnd zurück.

Notes:

Ihr findet mich auf tumblr unter "stabat-mater" und auf Discord unter "stabatmater" :)