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Freund und Feind

Summary:

Sebastian sieht Thorsten mit seinen meergrünen Augen an. Sie sind voller Bedauern. Und Angst.
"Ich bin nicht der einzige", flüstert er.

Notes:

Für den Prompt: gute Miene zum bösen Spiel

Vielen Dank an Lenze für's Korrekturlesen und das Feedback

Chapter Text

Die Planke schwankt unter Thorstens Schritten. Es fühlt sich an wie ein Heimkommen. Wie sehr die Selkie sein Zuhause geworden ist, war ihm vorher gar nicht klar.

Carlo sieht ihn an, als wäre er ein Gespenst und stammelt: "Das ist ... du bist ..." 

"Ja", antwortet Thorsten. "Ich bin ich und ich bin nicht tot."

Carlo dreht sich Richtung Brücke und brüllt unvermittelt: "Thorsten ist wieder da!"

Es dauert nicht lange, dann ist die ganze Mannschaft an Deck und umringt Thorsten und Sebastian. Thorsten sieht Erleichterung. Aber auch viel Verwirrung. 

"Was ist passiert?", fragt Adam.

"Wie hast du überlebt?", möchte Wiktor wissen.

"Wollen wir das nicht unten in der Messe besprechen?", schlägt Franz vor.

Auch Thorsten hält das für eine gute Idee und so landen sie alle unter Deck in Vincents Reich. Nur Sebastian scheint ein wenig widerwillig. Aber als Thorsten ihn hinter sich herzieht, folgt er stumm.

"Setzt euch", weist Ivo sie an. "Vincent, bring uns doch bitte etwas zu trinken. Etwas Starkes."

Vincent nickt und verschwindet in der Kombüse.

Alle warten darauf, dass Thorsten zu erzählen beginnt. Oder Ivo zu fragen.

Da Thorsten stumm bleibt, ergreift Ivo nach einigen Momenten das Wort: "Wie geht es dir? Wir haben uns alle große Sorgen gemacht."

Mist. Thorsten war zwar klar, dass er seinen Leuten nicht einfach so die ganze Wahrheit sagen kann, aber er hat gehofft, noch etwas mehr Zeit zu haben, bevor er ins Kreuzverhör genommen wird. Das war wohl nicht so klug. Er wirft Sebastian einen Blick zu in der Hoffnung, dass er übernimmt.

Sebastians Mund ist verkniffen. Er versucht zwar gelassen zu wirken, doch es ist offensichtlich, dass er sich nicht wohlfühlt. Von ihm ist keine Hilfe zu erwarten.

"Es geht mir gut", beginnt Thorsten ausweichend. "Sebastian hat mich vor dem Ertrinken gerettet. Ohne ihn wäre ich sicher gestorben. Er hat viel für mich riskiert und sich dabei großen Ärger eingehandelt."

Das stimmt alles. Nichts davon ist gelogen.

Aus den Augenwinkeln sieht Thorsten, dass sich Sebastian noch mehr anspannt. Wahrscheinlich erwartet er, dass Thorsten jeden Augenblick sein Geheimnis ausposaunt.

Stattdessen fragt Thorsten Ivo: "Wäre es möglich, dass Sebastian eine Weile hier an Bord bleibt?"

Bevor Ivo antworten kann, kommt Vincent wieder. Mit einer Hand trägt er eine große Teekanne, von der anderen baumeln viel zu viele Tassen - eine pro Person. Es ist ein Wunder, dass ihm nichts herunterfällt. Jeder bekommt eine großzügige Portion.

Ivo bleibt so lange still. Er sieht nachdenklich aus.

Der Geruch von heißem Tee, vermischt mit einem fruchtigen Aroma, breitet sich aus und füllt die Messe. 

Thorsten hat eigentlich erwartet, dass Vincent irgendeinen Schnaps bringt. Mit Tee hat er nicht gerechnet. Auch Ivo betrachtet seine Tasse skeptisch.

"Wir brauchen alle einen kühlen Kopf", erklärt Vincent, führt seine eigene Tasse elegant zum Mund und trinkt.

Franz nickt zustimmend.

Adam sieht aus, als überlege er, das Gesöff aus der nächsten Luke zu kippen.

"Hat jemand etwas dagegen?", fragt Ivo in die Runde. Er erntet Schulterzucken und verhaltenes Kopfschütteln.

"Gut. Sebastian kann erst mal bis morgen bleiben. Wenn irgendwer doch noch mit Sebastians Anwesenheit nicht einverstanden ist, steht meine Tür offen. Ich bespreche das heute Abend mit Franz und Nika genauer."

~~~

Auch wenn bisher alles besser gelaufen ist als erwartet und niemand darauf bestanden hat, dass Thorsten haarklein berichtet, was ihm alles widerfahren ist, ist er doch froh, als er die Tür zu seiner Kajüte zumacht.

Sebastian sieht immer noch viel zu nervös aus. So als würde er jeden Augenblick die Flucht ergreifen wollen. Inzwischen versucht er nicht mal mehr, das zu verbergen.

"Setzt dich", fordert Thorsten ihn auf und deutet auf die schmale Koje.

Wortlos lässt sich Sebastian darauf nieder. Entspannter wirkt er aber nicht.

Thorsten nimmt neben ihm Platz, seufzt und sinkt ein wenig in sich zusammen. Er fühlt sich erschöpft und ausgelaugt an. Am liebsten würde er sich hinlegen, aber vorher muss er noch mit Sebastian sprechen und er hat das Gefühl, dass dieses Gespräch nicht einfach wird.

"Was ist los, Sebastian? Wir sind hier unter Freunden. Selbst wenn einer deiner Leute hier ebenfalls als Mensch auftaucht und herumschnüffelt, wird dich niemand verraten."

Sebastian sieht Thorsten mit seinen meergrünen Augen an. Sie sind voller Bedauern. Und Angst.

"Ich bin nicht der einzige", flüstert er. "Ihr habt noch einen anderen Meermenschen an Bord."

Chapter Text

Thorsten weiß erst mal nicht, was er mit dieser Offenbarung anfangen soll.

Ein Meermensch?

Einer der Crew?

Entsprechend verwirrt und skeptisch sieht er Sebastian an.

Er kann sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen kein normaler Mensch, kein Landmensch sein soll. Jetzt, wo er Sebastian ein bisschen länger kennt, sieht er all die kleinen Dinge, die ihn verraten. Gibt es wirklich jemanden unter ihnen, der sich so gut angepasst hat, dass er alle an der Nase herumführt?

Ist es Carlo? Sein polternd jovialer Ton wirkt manchmal übertrieben und aufgesetzt.

Oder Adam? Er will nicht darüber sprechen, was er gemacht hat, bevor er auf der Selkie gelandet ist.

Was ist, wenn es gar Wiktor ist? Er ist ruhig, beherrscht und wirkt manchmal so, als würde er alles von außen betrachten.

Thorsten stellt eine einzige Frage: "Wer?"

Sebastian zögert einen Moment und spielt nervös mit dem Saum seines Hemdes. Dann endlich findet er den Mut und spricht einen Namen aus, mit dem Thorsten im Leben nicht gerechnet hat:

"Vincent."

Vincent, der immer darauf bedacht ist, dass seine Messe ein sicherer Anlaufort für alle ist.

Vincent, der mit unglaublicher Feinfühligkeit auf die verschiedenen Charaktere am Bord eingeht und sich nicht nur um ihr leibliches Wohl kümmert.

Vincent, der schon so oft versucht hat, die Wogen zu glätten, nachdem Thorsten und Nika mal wieder aneinandergeraten sind.

Er soll ein Meermensch sein?

Irgendetwas davon muss sich wohl auf seinem Gesicht widerspiegeln, denn Sebastian sagt: "Du glaubst mir nicht."

"Wie sicher bist du dir? Ich meine, ist das nur eine Vermutung?"

Sebastian schüttelt den Kopf. "Ich weiß es, Thorsten." Eine weitere Erklärung gibt er nicht.

Thorsten schaut ihn noch einen Moment lang forschend an. Dann sagt er: "Jetzt ruhen wir uns erst mal aus." Er weiß nicht, ob er schlafen können wird. Aber es ist mitten in der Nacht, sie haben einen ereignisreichen Tag hinter sich und er fühlt sich wie gerädert. Vielleicht sieht die ganze Situation morgen ja vollkommen anders aus. Oder zumindest ein bisschen besser.

Außerdem sind sie hier im Hafen. Nicht auf hoher See. Was sollen die Meermenschen schon großartig ausrichten? Selbst wenn Vincent einer von ihnen sein sollte. Selbst wenn Vincent ihnen Bescheid geben und Sebastian und Thorsten verpfeifen sollte. Hier an Bord fühlt sich Thorsten sicher.

Doch Sebastian bleibt einfach nur sitzen und starrt auf den Fußboden.

Es ist offensichtlich, dass ihm die ganze Situation zu schaffen macht. Thorsten kann sich kaum vorstellen, wie er sich fühlen muss. Er hat sein ganzes Leben zurückgelassen, ist Hals über Kopf aus seinem Heim geflohen und ist hier in einer Welt gelandet, die er wahrscheinlich nicht ganz versteht. Noch dazu ist ausgerechnet dort, wo sie sich Sicherheit erhofft haben, ein Meermensch aufgetaucht.

Normalerweise hätte Thorsten jetzt Vincent um Hilfe gebeten. Vincent ist einfach so viel talentierter beim Reden als er. Was soll er großartig sagen, damit es Sebastian besser geht?

Thorsten beschließt, dass auch Sebastian etwas Erholung braucht. Aber nicht in den Klamotten, mit denen sie im Hafenbecken schwimmen waren. Er steht auf, nimmt Sebastians Hand und zieht ihn zu sich hoch.

Sebastian folgt ohne Widerstand.

Mit wenigen Handgriffen hat Thorsten zwei Garnituren frischer Kleidung aus seinem Schrank geholt. Die Sachen werden Sebastian ein wenig zu kurz sein, dafür stinken sie nicht mehr nach Öl, Diesel und alten Algen.

Im Waschraum angekommen, schlüpft Thorsten ohne zu zögern aus seinen Klamotten und stopft sie in eines der Waschbecken. Später werden sie in seinem Wäschebeutel landen. Jetzt freut er sich erst mal auf eine ausgiebige Dusche.

Wenn sie draußen auf dem Meer sind, ist ihr Süßwasservorrat begrenzt. Wasser anstellen, nass machen, abstellen, einseifen, kurz abspülen, fertig. Aber hier im Hafen genießt er das Gefühl des warmen Wassers, das auf sein Gesicht prasselt. Ein oder zwei Minuten steht er einfach nur so da. Seine Augen sind geschlossen. Langsam weicht die Spannung aus seinen Muskeln.

In der Duschkabine nebenan läuft auch Wasser. Dort befindet sich Sebastian - der Gedanke holt Thorsten sehr schnell wieder in die Realität zurück.

Er drückt sich etwas Duschgel auf seine Handfläche und fragt: "Brauchst du Shampoo oder erst Duschgel?"

"Was ist der Unterschied?"

Thorsten hält verdutzt inne und betrachtet das grünliche Gel in seiner Hand.

Gute Frage. Was ist eigentlich wirklich der Unterschied?

"Das eine ist für die Haare, das andere für den Rest von dir."

"Ich habe an mehreren Stellen Haare", erwidert Sebastian.

Damit hat Sebastian vollkommen recht. Was würde geschehen, wenn Thorsten das Shampoo auch untenrum benutzt? Oder wenn er das Duschgel zum Haarewaschen verwendet?

Die Situation kommt Thorsten sehr skurril vor. Erst vor wenigen Stunden sind sie um ihr Leben geschwommen und haben sich dann an einen großen Frachter geklammert. Und jetzt philosophiert er darüber, dass Haare offenbar nicht gleich Haare sind und manche Körperregionen bei der Pflege offenbar sträflich vernachlässigt werden, während andere eine bevorzugte Behandlung bekommen.

"Eigentlich ist das Shampoo nur für die Haare auf deinem Kopf gedacht. Aber ich glaube nicht, dass irgendetwas Seltsames passiert, wenn du es für den ganzen Körper benutzt. Außer dass du dann auch untenrum nach Apfel riechst."

"Apfel?"

Die Frage verwirrt Thorsten. Ja, sein Shampoo riecht nach Apfel. Er mag es eben gern fruchtig. Dann dämmert ihm, dass Sebastian nicht Thorstens Vorliebe für angenehm riechende Pflegeprodukte infrage stellt, sondern dass Meermenschen gänzlich andere Nahrungsmittel haben und er mit dem Begriff einfach gar nichts verbindet.

"Das ist ein Obst …" Thorsten greift nach der Flasche, stellt das Wasser ab und zieht seinen Vorhang zurück. Es ist einfacher, wenn Sebastian selbst riecht, was einen Apfel ausmacht. Außerdem scheint ihn die Körperhygiene der Landmenschen ausreichend abzulenken, sodass er zumindest ein paar Minuten nicht über Vincent und seine unklare Zukunft nachdenkt.

"Ich hab hier das Shampoo für dich, dann kannst du probieren, ob du Apfel magst."

Eigentlich wollte Thorsten seine Hand mitsamt der Flasche durch den schmalen Spalt zwischen Vorhang und Wand hindurchschieben, damit Sebastian das Shampoo einfach nehmen kann. Stattdessen zieht auch Sebastian seinen Vorhang zur Seite.

Thorsten wird klar, dass Meermenschen offenbar ein gänzlich anderes Schamgefühl haben als Landmenschen. Während sein erster Instinkt ist, sich eine Hand vor die Lenden zu halten, wirkt Sebastian vollkommen unbekümmert. Er mustert Thorsten sogar neugierig auf eine Art und Weise, die jeder Landmensch als unanständig empfinden würde.

Aber eigentlich ist das nicht weiter verwunderlich. Was für Kleidung tragen Meermenschen denn? Sie schwimmen die ganze Zeit nackt im Meer! Wahrscheinlich ist es für Sebastian weitaus seltsamer, Stoff auf seiner Haut zu tragen, als jetzt splitterfasernackt vor Thorsten zu stehen.

Thorsten versucht selbst, nicht allzu sehr zu gaffen, drückt stattdessen Sebastian die Flasche in die Hand und verzieht sich wieder in seine eigene Kabine, bevor deutlich wird, was Sebastians Anblick mit ihm macht.

Ihre Situation ist sowieso schon kompliziert genug. Da braucht er nicht auch noch Hormone, die dazwischenfunken.

Chapter Text

Natürlich ist an Schlafen nicht zu denken. Sie versuchen es beide eine Weile, aber Sebastian liegt so angespannt neben Thorsten, dass es sich anfühlt, als würde er sein Bett mit einem Stück Holz teilen. Er selbst würde vielleicht in einigen Minuten wegdämmern, aber nicht, wenn er Sebastians Sorgen bei jedem Atemzug spüren kann.

Mit einem lauten Ächzen rappelt Thorsten sich wieder auf.

Auch Sebastian setzt sich auf und beobachtet Thorsten mit seinen großen, tiefgrünen Augen, die selbst im Dunklen in den Farben des Meeres schimmern.

Thorsten bereitet es fast physische Schmerzen, die Angst und Unsicherheit darin zu sehen. Das bestärkt ihn in seinem Vorhaben. Er weiß, mit wem sie sprechen müssen.

~~~

Kühler Wind fährt durch Thorstens Haare, streicht über seine nackte Haut und bringt ihn dazu, zu erschaudern. Auch Sebastian scheint zu frösteln, aber er trägt wenigstens ein T-Shirt.

Der Himmel ist noch dunkel, doch wie Thorsten erwartet hat, brennt auf dem Achterdeck dennoch ein kleines Licht. Ivo und Franz haben es sich dort mal wieder bequem gemacht. Wie immer, wenn sie über irgendetwas sprechen müssen. Das Flackern einer alten, ölbetriebenen Sturmlampe beleuchtet ihre Gesichter.

Sie sehen ernst aus. Als würden sie sich über ein schwieriges Thema unterhalten.

Thorsten vermutet, dass es dabei um Sebastian und ihn geht.

Tatsächlich verstummt das Gespräch, sobald die beiden bemerken, dass sie nicht mehr allein sind.

"Thorsten, Sebastian", begrüßt Franz sie. "Könnt ihr nicht schlafen?"

"Wir haben eventuell ein Problem", beginnt Thorsten vage. Er weiß nicht, wie viel Sebastian verraten möchte. Eigentlich wäre es ihm lieber, wenn Sebastian das Gespräch führt. Aber er sieht aus, als würde er sich äußerst unwohl fühlen.

"Ich hab ja schon angedeutet, dass sich Sebastian etwas Ärger eingehandelt hat, als er mich gerettet hat …"

"Ich bilde mir ein, deine Formulierung war 'großen Ärger'", unterbricht Ivo ihn.

"Ich würde sogar auf 'mächtigen Ärger' erhöhen", murmelt Sebastian.

"Egal", winkt Thorsten ab. "Sebastian kann sich eine Weile bei seinen Leuten nicht mehr sehen lassen."

"So viel haben wir uns auch schon zusammengereimt", bemerkt Franz trocken.

"Jetzt scheint es aber so, als könnte es hier an Bord ebenfalls ein Problem geben", fährt Thorsten unbeirrt fort. "Sebastian glaubt, einen anderen Meermenschen erkannt zu haben. Auf der Selkie."

Ivo seufzt.

Franz wirft ihm einen Blick zu, der klar macht, dass Thorsten ihnen nichts Neues erzählt hat. Offenbar haben sie beide nicht nur davon gewusst, sondern auch unterschiedliche Meinungen. Warum sonst sollte Franz Ivo jetzt so vorwurfsvoll anschauen? Er muss das Hab ich's dir nicht gesagt nicht laut aussprechen. Es ist ihm deutlich anzusehen.

"Sebastian ist hier sicher. Wir werden niemanden verraten", sagt Ivo mit Nachdruck.

"Ihr beide nicht, davon bin ich überzeugt, aber …"

"Ich lege für Kalli meine Hand ins Feuer", unterbricht Ivo ihn. "Der Junge würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Außerdem weiß er selbst ja gar nicht, dass er kein Landmensch ist. Wie soll er Sebastian da an die Meermenschen verraten?"

"Kalli?", fragt Thorsten verwirrt. Er sieht Sebastian fragend an, aber er scheint ebenso überrascht zu sein.

Kalli? Ein Meermensch?

Der stille Junge mit dem hoffnungsvollen Blick soll kein Landmensch sein?

"Ja, warum?", fragt Franz irritiert. "Sprechen wir nicht über Kalli?"

"Nein", antwortet Thorsten.

"Vincent", stellt Sebastian klar.

~~~

Eine Stunde später sitzen sie in der Messe. Vincent hat für alle Tee gekocht - eine dunkle Flüssigkeit, die nach Wärme und Geborgenheit riecht. Sebastian hat sich in eine Decke gewickelt, unter der auch Thorsten Platz gefunden hat.

Kalli sitzt neben Ivo. Er blinzelt in das helle Licht und gähnt. Ihm ist deutlich anzusehen, dass er als einziger am Tisch schon tief und fest geschlafen hat.

Vincent trägt ein ausgewaschenes T-Shirt mit einem bunten Regenbogen darauf. Be gay! Do crime! fordert es auf. Es ist ihm etwas zu groß - eindeutig ein Schlafshirt. Thorsten glaubt, dass auch Adam so eines besitzt. Und wenn er darüber nachdenkt, könnte es sein, dass er auch bei Wiktor schon ein T-Shirt mit dem gleichen Aufdruck gesehen hat.

Im Gegensatz zu Kalli sieht Vincent aber hellwach aus. Nur seine Haare sind etwas zerzaust und Kajal und Wimperntusche fehlen.

"Wir müssen euch etwas erzählen", sagt Ivo leise. Seine Stimme ist sanft, aber auch ernst.

Vincent presst die Lippen aufeinander. Fast so, als wüsste er, was jetzt kommt.

Doch statt Ivo, beginnt Franz zu berichten: "Es ist inzwischen schon fast siebzehn Jahre her, da haben wir mit unserem damaligen Schiff vor den Shetlandinseln geankert …"

Chapter Text

Nordsee, 1992

Franz ist sich nicht ganz sicher, warum er aufgewacht ist. Er reibt sich die Augen und blinzelt in die Finsternis. Wie spät es wohl ist? Durch das Bullauge fällt überhaupt kein Licht. Wahrscheinlich sind sie noch mitten auf dem Ozean.

Er streckt sich, gähnt und setzt sich danach mit einem Ächzen auf, das für seine vierunddreißig Jahre eigentlich noch lange nicht angebracht ist.

Hat ihn seine Blase geweckt?

Er lauscht in sich hinein.

Nein. Das war es nicht.

Immer noch ein wenig schlaftrunken steht er auf und durchquert mit zwei Schritten seine kleine Kajüte, um einen Blick durch das Fenster zu werfen.

Dunkler Himmel, schwarzes Meer - es ist tatsächlich tiefste Nacht.

Das Schiff schwankt im hohen Wellengang.

Erst jetzt fällt Franz auf, dass es verhältnismäßig ruhig ist. Die Motoren sind zwar an, aber im Leerlauf. Das ist sehr ungewöhnlich. Die MS Triton ist auf dem Weg von Hamburg nach Reykjavík mit einem Zwischenstopp in Bergen. Aber in Bergen waren sie schon, in Reykjavík werden sie erst im Laufe des nächsten Tages ankommen und das, was er da draußen sieht, ist definitiv kein Hafen. Das ist das offene Meer.

Franz schlüpft in seinen Troyer und fährt sich ein paarmal durch seine störrischen Locken. Um zu kontrollieren, ob er halbwegs vorzeigbar ist, müsste er eigentlich das Licht anmachen.

Fast drei Wochen ist es schon her, seit er zum zweiten Offizier des Schiffes befördert wurde. So richtig hat er sich aber noch nicht daran gewöhnt. Früher hätte er keinen Gedanken an sein Aussehen verschwendet und seine Kajüte einfach im Pyjama verlassen. Doch jetzt hat er als Offizier einen gewissen Status und muss dementsprechend aussehen. Er überlegt einen Moment, ob er seine Locken mit einem Zopf bändigen soll, aber so wichtig ist es ihm wiederum doch nicht, dass er seines Ranges gemäß auftritt.

Er öffnet die Tür und tritt hinaus. In der Nacht ist hier nur die Notbeleuchtung an, aber das bisschen Licht reicht aus. Mit sicherem Schritt macht sich Franz auf den Weg zur Brücke.

Bis morgen früh hat Ivo Dienst und er weiß sicher, warum die Triton keine Fahrt mehr hat.

~~~

Auf Deck peitscht Franz eisiger Wind entgegen - der Toyer war keine so schlechte Idee gewesen. Und eventuell hätte er sich auch Schuhe anziehen sollen. Aber jetzt ist es zu spät dafür. Er zieht den Kopf ein und stellt sich der steifen Brise entgegen.

Die Böen peitschen Gischt über das Deck. Der Boden ist feucht und kalt unter Franz' nackten Füßen. Zum Glück ist der Weg nicht allzu weit.

Auf der Brücke findet Franz allerdings zu seinem Erstaunen Kapitän Stoever. Er sucht mit einem Fernglas die Wellen ab und zuckt erschrocken zusammen, als Franz die Tür aufreißt, um drinnen vor dem Wetter geschützt zu sein.

"Leitmayr, was machen Sie denn hier?" Er klingt beinahe ein wenig ungehalten.

"Bin aufgewacht und hab mich gewundert, warum wir uns nicht mehr vorwärtsbewegen", erklärt Franz knapp. "Wo ist denn der Ivo, sollte er nicht …?"

Der Kapitän unterbricht Franz mit einer Handbewegung, als wollte er die Frage beiseiteschieben. "Konnte nicht schlafen. Hab ihn ins Bett geschickt und selbst übernommen."

Das kommt manchmal vor. Auch er ist schon überraschenderweise von Stoever abgelöst worden. Aber es erklärt immer noch nicht, warum sie im offenen Meer gestoppt haben.

Als hätte er Franz' Gedanken gelesen, fährt der Kapitän fort: "Irgendwas am Hauptmotor läuft nicht rund. Peter sieht sich das schon an. Kein Grund zur Sorge. Gehen Sie wieder schlafen, Leitmayr. Ich weck Sie dann um um null-sechs-hundert."

"Und warum das Fernglas? Suchen Sie was?"

Stoever wirkt so, als wäre seine Geduld langsam zu Ende. "Was soll ich denn sonst machen, während ich drauf warte, dass wir weiterfahren können? Ich beobachte eben das Meer! Und jetzt hauen Sie ab in Ihre Koje!"

Franz gibt ein bestätigendes Brummen von sich. Der Kapitän hat ja recht. Es ist besser, wenn er sich wieder hinlegt, damit er am Morgen fit ist. Das Wetter ist unangenehm. Wenn der Sturm noch stärker wird, muss er hellwach sein, um das Schiff sicher nach Island zu bringen.

Er verlässt die Brücke wieder und klettert hinunter aufs Deck. Der Himmel ist immer noch dunkel und das aufgewühlte Meer pechschwarz. Dennoch glaubt er, an Backbord eine Silhouette wahrnehmen zu können. Ist das Land? Wenn ja, dann können es nur die Shetlandinseln sein. Oder Färöer. Aber vielleicht ist es auch nur Einbildung.

Chapter Text

Franz klopft an die Tür von Ivos Kajüte - nicht zu laut, damit er niemand anderen aufweckt. Er wartet kurz und lauscht. Dann hebt er die Hand, um ein weiteres Mal zu klopfen. In dem Augenblick öffnet sich die Tür.

Ivo sieht ihn an, seufzt und lässt ihn in die Kabine, ohne ein Wort zu sagen. Er trägt nur seine Unterwäsche. Das Bett ist zerwühlt. Natürlich, er hat auch schon tief und fest geschlafen - wie Franz, bevor ihn die verhältnismäßige Stille geweckt hat.

Ivo reibt sich die Augen, dann lässt er sich auf seine Koje fallen.

"Hattest du 'nen Albtraum?", fragt er.

"Irgendwas ist faul. Wir machen keine Fahrt. Stoever steht oben auf der Brücke und sucht das Meer ab. Angeblich gibt's irgendein Problem mit den Maschinen. Brockmöller kümmert sich schon darum. Und überhaupt, solltest nicht du jetzt dort oben sein?"

Ivo gibt ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Resignation und Unmut liegt. "Meinst du, sie schmuggeln schon wieder irgendwas?"

"Was soll es denn sonst sein?"

Ivo schnaubt, dann reibt er sich übers Gesicht. "Immer dasselbe. Versteckte Ladung, Zwischenstopp und die üblichen Ausreden. Ich hab's bis hier, Franz!" Er fährt sich mit dem Zeigefinger über die Stirn.

Franz nickt. Sie haben schon einige Male darüber gesprochen. Sie beide wollen mit diesen illegalen Machenschaften nichts zu tun haben. Aber die Reederei verlangt offenbar solche außertourlichen Lieferungen. Stoever und Brockmöller scheinen kein Problem damit zu haben und die restliche Crew weiß von nichts.

"Du weißt, was die Alternative ist", sagt Franz leise. Er braucht sie nicht aussprechen. Sie wissen beide, dass sie sich nach einem anderen Schiff umsehen müssen. Aber die Zeiten sind schwierig. Seit der Wende ganz besonders.

"Ja, klar, weiß ich das", grummelt Ivo.

Für einen Moment glaubt Franz, dass Ivo das Thema damit auf sich beruhen lassen will. Doch dann ist da eine Bewegung vor dem Bullauge. Irgendein Ding, das die Wellen einen Moment ans Schiff drücken und das beim nächsten Wimpernschlag schon wieder weg ist. Sie haben es beide gesehen.

Ivo steht auf, schlüpft in seinen Troyer und nimmt die Regenjacke vom Haken.

"Wir schauen, ob wir irgendwas von der Schmuggelware abfangen können."

"Nein", widerspricht Franz. "Das ist viel zu gefährlich."

"Ich will endlich wissen, womit wir es hier zu tun haben!"

Für Ivo scheint damit das letzte Wort gesprochen zu sein. Franz kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass jegliche Diskussion sinnlos ist. "Du gehst nicht ohne mich. Ich hol mir nur auch schnell meine Jacke."

~~~

Wenig später peitscht Franz in dieser Nacht ein zweites Mal Gischt um die Ohren.

Ivo eilt wortlos zur Reling, wo einer der langen Bootshaken befestigt ist.

Sie wissen ungefähr, wo das Ding im Wasser sein muss - falls die Wellen es nicht schon wieder weggerissen haben.

Franz wirft einen Blick zur Brücke. Dort steht immer noch eine einsame und reglose Silhouette. Bisher hat der Kapitän sie nicht entdeckt. Hoffentlich bleibt das eine Weile so.

Ivo stochert eine gefühlte Ewigkeit mit dem Haken im Wasser. Von hier aus können sie absolut nichts im Meer erkennen. Es ist einfach zu dunkel. Wenn der Gegenstand nicht zufälligerweise gegen den Bootshaken stößt, haben sie keine Chance, ihn zu finden.

Eine Welle schlägt gegen den Rumpf und spritzt ihnen eiskaltes Wasser ins Gesicht. Ivo verliert fast den Halt, doch Franz packt ihn am Oberarm. Das Deck ist rutschig. Wenn sie nicht aufpassen, landen sie selbst im Wasser.

"Ich glaub, ich hab was!", raunt Ivo aufgeregt. "Da ist ein Widerstand … Hilf mir!"

Gemeinsam ziehen sie den Haken langsam hoch. Zentimeter für Zentimeter.

Endlich kann Franz einen dunklen Umriss erkennen. Was auch immer das ist, es ist deutlich schwerer als erwartet. Sicher zwanzig Kilo, vielleicht sogar mehr.

Hoffentlich sind das keine Waffen. Welche Schmuggelware könnte sonst so schwer sein? Drogen? Das wären verdammt viele Drogen …

Der Gegenstand ist länglich. Franz kann immer mehr Details erkennen, als sie ihn höher und höher ziehen.

Es ist ein … ein Kind.

Mitten im Meer.

Ein Kind.

Das Kind hält irgendetwas im Arm und versucht, sich verzweifelt mit nur einer Hand am Bootshaken festzuklammern. Es klappt mehr schlecht als recht.

"Schneller!", schnauft Ivo. Sie müssen das Kind hochziehen, bevor es die Kraft verlässt.

Was auch immer das Kind im Arm getragen hat, fällt plötzlich hinunter in die Wellen. Es packt die Stange mit der zweiten Hand und gibt ein Geräusch von sich, kaum lauter als das Meer. Es ist unartikuliert und so voller Schmerz und Trauer, dass sich Franz' Herz zusammenkrampft.

"Franz, der Handschöpfer!"

Das muss Ivo ihm nicht zweimal sagen. Mit wenigen Handgriffen hat Franz das Werkzeug von der Reling gelöst und lässt sich auf die Knie fallen. Er versucht, blind aus dem Meer zu fischen, was auch immer das Kind gerade verloren hat.

Irgendwann spürt er, dass dem Schöpfer etwas ins Netz gegangen ist. Es ist deutlich leichter als das Kind, wiegt aber immer noch genug.

"Hast du's?", fragt Ivo mit gepresster Stimme.

Franz gibt nur ein bestätigendes Grunzen von sich. Er konzentriert sich lieber darauf, den Handschöpfer mit seiner zusätzlichen Last wieder an Deck zu ziehen.

Es ist ein Baby. Mit Fischschwanz und außenliegenden Kiemen. So etwas hat Franz noch nie gesehen. Eine seltsame Mischung aus Mensch und Fisch.

Das kleine Wesen wirkt absolut hilflos. Flossen und Kiemen haben sich im Netz des Schöpfers verheddert. Es windet sich panisch, schafft aber nicht, sich zu befreien.

"Sch … ganz ruhig. Ich helf dir", sagt Franz leise. Er hofft, dass sein Tonfall beruhigend auf das Baby wirkt.

Die ängstlich aufgerissenen Augen sind auf ihn gerichtet. Sie schimmern blau in der Dunkelheit.

Franz' Hände sind feucht und kalt. Das Gefühl in den Fingerspitzen hat sich schon verabschiedet. Trotzdem versucht er, so vorsichtig wie möglich Baby und Netz voneinander zu trennen.

Das kleine Wesen scheint ein Sturkopf zu sein. Es hört nicht auf zu zappeln.

Seine Haut fühlt sich kühl und glitschig an. Wie die eines Fisches.

"Schon gut … Wir haben's gleich", versichert Franz dem Baby.

Endlich.

Die Konturen des Babys werden kurz unscharf, dann ist der Fischschwanz weg. Und auch die Kiemen. Jetzt sieht es zur Gänze menschlich aus und zittert vor Kälte.

Franz hat keinen blassen Schimmer, was da eben passiert ist. Trotzdem weiß er, was zu tun ist. Er hebt das kleine Häufchen Elend auf, drückt es an sich und schließt seine Jacke darüber, sodass nur mehr das Köpfchen herauslugt.

"Räum den Schöpfer wieder weg", weist ihn Ivo an.

Franz hängt das Werkzeug an den vorgesehenen Platz an der Reling und rappelt sich danach auf.

Auch Ivo hat das Kind, das er gerettet hat, unter seiner Jacke und versucht, es vor dem Wetter zu schützen.

"Komm!"

Franz folgt Ivo. Erst unter Deck und dann weiter zu dessen Kajüte. Während der ganzen Zeit wimmert das kleine Wesen, das er aus dem Meer gefischt hat. Er drückt es fester an sich, streicht mit einer Hand sanft über das Köpfchen und hofft, dass beide Kinder unversehrt sind.

Darüber, wer oder was die beiden sind, können sie sich später Gedanken machen. Jetzt ist erst mal wichtig, die zwei wieder aufzuwärmen.

Chapter Text

Es sind zwei Jungen. So viel ist sehr schnell klar. Der Kopf des Babys ist mit einem blonden Flaum bedeckt — noch heller als Franz' eigene Haarfarbe. Das Kind hingegen hat dunkle Locken wie Ivo.

Beide sind nackt. Beiden ist kalt. Und beide sehen ängstlich aus.

Während das Kind still ist, wimmert das Baby immer wieder leise.

Franz hält es im Arm — inzwischen hat er es in eines von Ivos T-Shirts gewickelt. Es fühlt sich trotzdem viel zu kalt an. Zu kalt für einen Menschen.

Aber er hat den Fischschwanz ganz genau gesehen. Und auch die Kiemen.

Das hier ist kein menschliches Baby. Vielleicht ist das eine ganz normale Körpertemperatur? Vielleicht …?

Das Baby wimmert wieder.

Nein, dem Kleinen ist ganz eindeutig kalt.

"Du, Ivo, das Baby friert immer noch."

Ivo nickt. "Der Junge auch. Aber ich hab eine Idee. Zieh dein T-Shirt aus."

Wie es dem Baby helfen soll, wenn er selbst auch zu frieren beginnt, ist Franz nicht klar. Doch bevor er irgendetwas sagen kann, hat Ivo schon sein eigenes Shirt ausgezogen.

"Na komm! Mach endlich", drängt Ivo.

Es ist gar nicht so einfach, sich auszuziehen, wenn man ein Baby im Arm hält. Irgendwie schafft Franz es trotzdem.

Ivo hat inzwischen dem Jungen auf sein Bett geholfen und sich dazugelegt. Jetzt hält er die Decke hoch.

"Komm. Das Baby in die Mitte und du nach außen. Aber pass auf, dass du nicht hinunterfällst."

Die Koje ist zwar deutlich größer als Franz' — das Privileg des ersten Offiziers —, doch es wird dennoch verdammt knapp. Eine falsche Bewegung und Franz landet auf dem Boden. An Schlaf ist so nicht zu denken.

Ivos Idee scheint tatsächlich zu funktionieren. Eng aneinandergekuschelt wird es sehr schnell heiß unter der Decke. Irgendwann hört das Baby auf zu zittern. Seine Haut fühlt sich ganz warm an — wie die eines menschlichen Babys.

"Sie sind beide eingeschlafen", flüstert Ivo.

"Was machen wir jetzt?", fragt Franz ebenso leise.

"Liegen bleiben. Sonst wachen sie wieder auf. Alles weitere überlegen wir uns morgen."

~~~

Zwei Kinder an Bord geheim zu halten ist gar nicht so einfach. Die Entscheidung, schon in Reykjavík abzumustern, fällt Ivo und Franz leicht. Kapitän Stoever versucht sie gar nicht erst dazu zu überreden, länger zu bleiben. Ganz im Gegenteil. Er wirkt, als hätte er diesen Schritt erwartet. Er wünscht ihnen viel Glück und das war's.

Jetzt sind sie auf Island gestrandet.

Ivo besorgt ihnen eine Unterkunft. Und Franz geht Klamotten kaufen. Bedingt durch die Sprachbarriere muss er der Verkäuferin mit Händen und Füßen erklären, was er braucht und wie groß die beiden Jungen sind. So fällt wenigstens nicht auf, dass er keine Ahnung von Kleidergrößen für Babys und Kinder hat.

An diesem Abend erfahren sie, dass der schwarzhaarige Junge Vincent heißt. Das Baby hat entweder keinen Namen oder Vincent kennt ihn nicht.

"Wir müssen ihm einen Namen geben", spricht Ivo das Offensichtliche aus. Sie können das Baby ja nicht ewig "das Baby" nennen.

"Luca", schlägt Ivo vor.

"Gabriel", kontert Franz.

"Karl", bietet Ivo an.

"Heinz", widerspricht Franz. Dann stutzt er. "Was hältst du von Karl-Heinz?"

"Bissl sperrig für ein Baby, meinst du nicht?"

"Dafür gibt's doch Spitznamen. Karli?"

"Er schaut nicht aus wie ein Karli."

Franz betrachtet das Baby nochmal genau. Es sieht ihn mit großen, blauen Augen ebenso interessiert an. "Wie schaut ein Karli denn aus?"

"Na, ned so", lautet die unbefriedigende Antwort.

"Kalli?"

Bevor Ivo erneut widersprechen kann, gibt das Baby ein zufriedenes Geräusch von sich und strampelt mit den Beinchen.

"Ich glaube, du wurdest gerade überstimmt, Ivo."

~~~

Vincent ist ein sehr ruhiges Kind. Er beobachtet seine Umwelt mit unstillbarer Neugierde. Franz hat manchmal das Gefühl, der Junge kann bis in seine Seele schauen. Es ist gruselig.

Er redet selten. Darüber, wo er und Kalli herkommen und wie sie im Meer vor den Shetlandinseln gelandet sind, verliert er überhaupt kein Wort. Zu Beginn versuchen Ivo und Franz, ihn auf alle möglichen Arten dazu zu bringen, sich ihnen zu öffnen. Aber irgendwann wird ihnen klar, dass es keinen Sinn hat. Und eigentlich ist es auch egal.

Kalli ist ein fröhliches Baby. Er lacht viel und er brabbelt mindestens genau oft vor sich hin. Franz führt manchmal ganze Unterhaltungen mit ihm.

Dank Ivos Verbindungen bleiben sie nicht lange in Island. Zurück in Deutschland wagen sie den Schritt und machen sich endlich selbstständig. Es gehen sämtliche Ersparnisse drauf. Franz hat danach Schulden bei sämtlichen seiner Ex-Freundinnen. Aber sie haben keine andere Wahl. Wer nimmt schon einen Matrosen, der ein Baby mitbringt? Oder ein kleines Kind?

Die Selkie wird ihr neues Zuhause. Hier können Vincent und Kalli in Sicherheit aufwachsen.

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