Chapter Text
Mach die Augen zu und küss mich
Und dann sag, dass du mich liebst
„Willst du tanzen?“ Ich wusste nicht, woher der plötzliche Selbstbewusstseinsschub herkam. Okay, doch, eigentlich wusste ich es, doch für den Moment wollte ich den Gedanken zur Seite schieben. Doch zu meiner Überraschung willigte er ein, nahm meine Hand, zog mich auf die Tanzfläche.
Ich weiß genau, es ist nicht wahr
Doch ich spüre keinen Unterschied
Wenn du dich mir hingibst
Er zog mich an sich heran, ich vergrub meinen Kopf in seiner Halsgrube, gab mich dem Moment hin, den ich wohl nie wieder erleben würde.
Mach die Augen zu und küss mich
Mach mir ruhig etwas vor
Als ob er gespürt hätte, was für ein besonderer Moment dies für mich war, legte er seine Hand an meine Wange, schob meinen Kopf sanft so, dass ich ihn ansah, sah das „JA“ in meinen Augen, küsste mich sanft.
Ich vergesse, was passiert ist
Und ich hoffe und ich träume
Ich hätt dich noch nicht verloren
Für den Moment ignorierte ich, dass ich nur eine von vielen war, dass dies für ihn nichts bedeutete, dass er sich wahrscheinlich über mich lustig machen würde, sobald er wieder bei seinen Freunden saß. Ich verdrängte, wie er mich die ersten Jahre, als wir uns kannten, behandelt hatte. Dieser Kuss, dieser sanfte, liebevolle Kuss, war mehr, als ich mir jemals hatte erwünschen können.
Es ist mir total egal, ob du wirklich etwas fühlst
Tu, was du willst
Meine letzten Zweifel wurden von seinen weichen Lippen verdrängt, von seinen Händen, die bestimmt und doch ganz sanft an meiner Hüfte lagen. Wir bewegten uns weiter zur Musik, die ich aus mir unerfindlichen Gründen noch hören konnte, denn wie konnte ich mich dieser so utopischen und himmlischen Situation noch auf dem selben Planeten befinden wie vor fünf Minuten?
Mach die Augen zu und küss mich
Ist es auch das letzte Mal
Unsere Lippen lösten sich wieder, ich blinzelte die Tränen in meinen Augenwinkeln weg, schmiegte mich wieder an ihn, wollte nicht losgelassen werden.
Lass uns den Moment des Abschieds noch verzögern Lass mich jetzt noch nicht allein mit meiner Qual
Er tat mir den Gefallen, ließ mich nicht los, gab mir Halt. Wir bewegten uns in unserem eigenen Mikrokosmos, blendeten alles aus.
Mach die Augen zu und küss mich
Mach mir ruhig etwas vor
Er drückte mir einen letzten Kuss auf die Lippen, meinte, er müsse wieder gehen, gab mir sein Jackett, damit ich nicht fror, lächelte mich mit seinem typischen schiefen, charmanten Lächeln an, ging zurück, ließ mich allein.
Wenn du willst, kannst du dann gehn, aber denk dran:
Ohne dich, ohne dich bin ich verloren
Eine Woche später stand er am Grab, ihren Brief in der Hand, in dem stand, dieser Kuss zwischen ihnen wäre ihr letzter erdlicher Wunsch gewesen. Sie hatte sich am gleichen Abend, immer noch in ihrem Abiballkleid, sein Jackett ordentlich gefaltet neben sich gelegt, ihre verfickten Pulsadern aufgeschlitzt. Mit dem Messer aus der Tasche ebenjenes Jacketts, welches er völlig vergessen hatte. „Boys don‘t cry“ von The Cure beschallte ihn durch seine Kopfhörer, trotzdem liefen ihm die Tränen über sein Gesicht, vermischten sich mit dem Regen, der ihn unaufhörlich überströmte.
Es ist mir absolut egal, ob du nur noch mit mir spielst
Tu, was du willst
Noch eine Woche später fand die zweite Beerdigung statt. Niemand konnte sich erklären, wie zwei so nach außen hin lebensbejahende, junge Menschen sich das Leben nehmen konnten.
Mach die Augen zu, mach die Augen zu
Mach die Augen zu und küss mich
Er eilte durch die endlosen Weiten der Unterwelt, weder Himmel noch Hölle, nur unendliche Landschaft. So viele Gestalten in diesen Feldern, Gestalten, die dahin schwanden. Er erreichte den ersten Baum, den er hier sah, wollte sich an dessen Wurzeln setzen, um kurz zu verschnaufen. Dann sah er ein weit ausgebreitetes Kleid auf der anderen Seite des Baumes liegen, dachte, er hätte gefunden, wonach er gesucht hatte, könne endlich wieder glücklich werden. Doch als er herumging, war sie schon dahingeschwunden.