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Und Neues beginnt

Summary:

Nicht mal ein Jahr hatte ihre heile Welt gehalten. Die Risse waren eigentlich schon in den ersten Tagen überdeutlich sichtbar gewesen, sie wiederholte es wieder und wieder. Und machte sich Vorwürfe, sie ausgeblendet zu haben.

Wilhelmine irrt gedankenverloren über den Münchner Weihnachtsmarkt. Wer ihr da wohl über den Weg laufen könnte...

Notes:

Das 21. Türchen des Tatortadventskalenders 2025. Leider etwas verspätet, aber bei mir war dieses Jahr die Hölle los... Immerhin steht jetzt hier eine fertige Geschichte, und nicht mehr nur ein paar halbfertige Absätze :) Frohe Festtage, ihr Lieben!

(See the end of the work for more notes.)

Work Text:

Wilhelmine ließ sich treiben.

Von den abertausenden blinkenden Lichtern und goldenen Glöckchen und bunten Schleifchen, die das Tannengrün auf dem Münchner Weihnachtsmarkt beinah erwürgten, bekam sie nur tangential etwas mit.

Sie war dabei, sich aktiv ein wenig sehr selbst leid zu tun. Zweimal dem gleichen Typen auf den Leim zu gehen, das war schon eine Kunst. Man sollte meinen, dass man mit einigen Jahrzehnten mehr Lebenserfahrung etwas klüger geworden wäre. Aber gut, mit dem Kopf hatte sie eben nicht denken wollen, dieses eine Mal nicht.

Die Risse waren eigentlich schon in den ersten Tagen überdeutlich sichtbar gewesen, hätte man sie nur sehen wollen. Kurt, der eine spitze Bemerkung über ihre Urlaubslektüre machte (Was bitte war an Simone de Beauvoir am Sonntagmorgen denn auszusetzen. Jaja, sie wusste schon.) Kurt, der immer wieder darauf anspielte, dass man doch auch noch heiraten könnte (irgendwann gingen ihr die witzigen und schlagfertigen Ablehnungen einfach aus). Und vor allem: Kurt, der ständig mit seiner Tochter telefonierte. Die Art und Weise, wie er mit seiner Tochter telefonierte. Kontrollierend, von oben herab. Am Anfang war er ja noch raus gegangen. Aber mit den Wochen und Monaten war die Fassade gebröckelt.

Es ist egal, hatte Wilhelmine sich am Anfang gedacht. Ich mische mich nicht in diese verworren Familiengeschichten ein. Womöglich hatte sie das Kurt sogar wortwörtlich so gesagt, das hatte er ihr zumindest an den Kopf geworfen bei ihrem letzten Streit, und sie als 'außerordentlich heuchlerisch' bezeichnet. Tja.

Wilhelmine hatte halt ihre Prinzipien und die würde sie nach vierzig Jahren nicht einfach so über Bord werfen. Sie ließen sich ein Weilchen ignorieren, das ja. Ein Weilchen.

Nun kullerte ihr doch wieder eine Träne über die Wange. So ein Mist. Ein Happy End ist was für andere, war immer ihr Credo gewesen. Für die, die es brauchen. Sie brauchte es nicht. Sie kam auch so klar. Aber irgendwo tief drinnen hatte sie es sich doch gewünscht.

Anstrengend, immer alleine stark sein zu müssen, wo andere die Last des Lebens gemeinsam schultern konnten. Sogar Thiel, der in gewisser nur anfänglich noch überraschender Weise ein Seelenverwandter war... sogar Thiel hatte Boerne. Der war vielleicht nicht immer eine Stütze, aber manchmal dann doch. Und 'manchmal' war gut genug in diesem Leben, solange das halbwegs auf Gegenseitigkeit beruhte. Manchmal war gut genug für Wilhelmine Klemm. Nur schade, dass es am Ende nicht einmal mehr für 'manchmal' gereicht hatte. Nicht mal ein Jahr hatte ihre heile Welt gehalten. Die Risse waren eigentlich schon in den ersten Tagen überdeutlich sichtbar gewesen, sie wiederholte es wieder und wieder. Und machte sich Vorwürfe, sie ausgeblendet zu haben.

Ausgerechnet in der Adventszeit waren nun die Fetzen geflogen, waren Worte gefallen, die man nicht so einfach zurücknehmen konnte, war von einer 'Auszeit' die Rede, die wie sie wusste den Rest ihres Lebens andauern würde. Aber nicht einmal einen sauberen Bruch hatte sie hinbekommen. Eine zweite Träne kullerte. Das kam bestimmt von der nicht vorhandenen Kälte.

Und überhaupt, die Weihnachtszeit hatte sie schon immer deprimierend gefunden. Kurt war es gewesen, der München als nächste Etappe vorgeschlagen hatte, noch ohne zu wissen, dass es das letzte gemeinsame Reiseziel werden würde. Womöglich war er auch noch irgendwo in der Stadt und zog das geplante Programm alleine durch. Stur waren sie beide zur Genüge. Sie sollte weg von hier, bevor sie ihm noch über den Weg lief.

"Wilhelmine."

Die tiefe Männerstimme ließ sie herumfahren.

Silbergraue Locken, ein missmutiges Stirnrunzeln, das nur langsam einem halben Lächeln Platz machte. Sie brauchte einen Moment bevor sie das halb unter einer Strickmütze versteckte Gesicht identifiziert hatte, dann fiel sie dem dadurch sichtlich überrumpelten Mann um den Hals.

"Franz!"

Eine Fortbildung; gut fünfzehn Jahre musste das her sein. Sie hatte über die Verbesserung der Zusammenarbeit mit der Polizei referieren sollen. Thielchen war dabei gewesen und hatte den Vortrag mit erstaunlich vielen lobenden Worten begleitet, wurde dann aber mittendrin weggerufen. Also war sie abends alleine auf einen Absacker in die nächste Kneipe, und dabei prompt einem der Schulungsteilnehmer über den Weg gelaufen.

"Alles gut bei dir?" brummte Franz in die spontane Umarmung und sie brachte gerade noch ein grabtiefes "Reden wir nicht drüber" unter, bevor eine ihr unbekannte Stimme dazwischenfuhr.

"Magst mich nicht vorstell'n."

Es klang leicht... knatschig, um ein Wort zu verwenden, das für Wilhelmine immer schon nach Bayern gepasst hatte.

"Ach, entschuldige."

Franz klang alles andere als entschuldigend, aber er tat zwei Schritte rückwärts und sagte, mit einer übertrieben ausladenden Geste,

"Ivo, Wilhelmine. Wilhelmine, Ivo."

Und dann, während sie den taff wirkenden Mann mit dem schlohweißem Haarschopf und den selbst durch den Wintermantel sichtbaren Oberarmmuskeln noch neugierig betrachtete,

"Ivo Batic, mein Partner. Wilhelmine Klemm, Staatsanwältin aus Münster."

"Staatsanwältin a.D." korrigierte Wilhelmine trocken, ohne Franz' 'Partner' aus den Augen zu lassen, der es ihr gleichtat und zurückstarrte.

"Ach was, das musst' mir aber gleich erzähl'n", kam es von Franz, während Ivo endlich mit einem knappen Nicken die Hand ausstreckte.

Wilhelmine schüttelte sie. Ihr kräftiger Händedruck wurde mit einem ganz leichten Anheben der Mundwinkel quittiert. Ah, gut. Mit dem würde sie schon auskommen.

"Also ich kann die Einkäufe auch alleine – " setzte Ivo an, und Franz unterbrach in sofort.

"Ach so ein Schmarrn, fehlt doch nur noch der Flasch'nglühwein. Den holen wir jetzt und dann kann die Wilhelmine gleich mit zum Kaffee. Also, falls du Zeit hast?"

Falls sie Zeit hatte. Sie hatte Zeit. Sie hatte nur noch Zeit, viel anderes war da momentan nicht.

"Ja, gerne."

Und so kam es, dass sie nun zwei Münchner Polizisten hinterherstapfte, von denen der eine dem anderen viel zu laut zuzischte, "Verfügst mal wieder nach Gutdünken über meine Wohnung, ja, Herr Leitmayr?" und der andere nicht minder laut zurückgrummelte "Hab ich doch gar ned g'sagt." – "Ja aber ist doch trostlos bei dir. Natürlich gehn' wir zu mir." – "Des hast jetzt du g'sagt."

Wilhelmine musste lächeln. Zum ersten Mal seit Tagen.

 

Der Kaffee war gut bei Herrn Batic. Eine Mischung, die Verwandte in Zagreb für ihn kauften und per Paket schickten, erfuhr sie auf Nachfrage.

Die Plätzchen waren auch gut. Die hatte heuer "der Franz" gemacht, wie Ivo dieses Mal von selbst Preis gab, aber der wimmelte ab.

"Ich hab' nur mitgeholf'n. Der Ivo ist der Experte."

Der so gelobte Plätzchenexperte brummte nur irgendetwas vor sich hin, aber es war eindeutig erkennbar, dass die stoische Maske Zufriedenheit versteckte. Vielleicht kein immer einfacher Mensch, aber ein guter, war Wilhelmines erster Eindruck, der sich nur noch verstärke, als der Mann nach dem gemeinsamen Kaffee mit einem "Ich lass‘ euch reden" in die Küche verschwand.

"Musst natürlich nicht", gab ihr Franz gleich zu verstehen und das half, irgendwie.

"Erinnerst du dich, damals, als wir uns bei der Fortbildung getroffen hatten... da hattest du dich an dem Abend zehnmal entschuldigt, dass du mir deine halbe Lebensgeschichte erzählst."

Auch nach all den Jahren, in denen sie sich mindestens ein halbes Duzend weitere Male bei jeder sich bietenden beruflichen Gelegenheit über den Weg gelaufen waren und sich immer aufs Neue wieder blendend verstanden hatten, sah Franz ob der Erinnerung noch peinlich berührt drein. Beinahe musste sie schmunzeln, obwohl ihr ja eigentlich gerade sonst nicht so zum Schmunzeln war. Sie stand auf; wusste nicht so genau warum. Vielleicht war es besser, sich bei ihren nächsten Worten groß zu machen.

"Ich würde mich gerne revanchieren, fürchte ich."

"Leg los", meinte Franz nur, deutete aufs Sofa und erhob sich ebenfalls. Er ging um den Esstisch und öffnete ein Fach in der massiven Wohnzimmerschrankwand. Als er sich umdrehte, hielt er eine angebrochene Flasche in der einen Hand und zwei Gläser in der anderen.

"Whiskey?"

"Ja, wenn's recht ist?"

"Gute Idee."

Sie redeten bestimmt zwei Stunden lang. Nun ja. Meist redete sie, und Franz hörte zu. Ließ ab und an ein zustimmendes Brummen oder missbilligendes Grummeln vernehmen.

Als sich Schweigen einstellte, war die Dämmerung angebrochen und tauchte Ivos Wohnzimmer in Grautöne. Vom Wohnungsbesitzer selbst war weiterhin nichts zu sehen. Sogar das Kaffeegeschirr stand noch auf dem Esstisch.

"Ich räum' die mal weg."

Franz hatte die Whiskeyflasche in der Hand und ein Fragezeichen in der Stimme.

"Ja."

Anders als vor fünfzehn Jahren hatten sie Maß gehalten. Sie wurden nicht jünger, sie kannten sich besser (und anders als Franz brauchte Wilhelmine vielleicht auch sowieso nicht so viel Alkohol, um jemandem ihr Herz auszuschütten, aber den Gedanken behielt sie für sich).

Nachdem die noch halbvolle Flasche verstaut war, räumten sie das Kaffeegeschirr ab und Franz trug es in die Küche. Nach kurzem Zögern entschloss sich Wilhelmine, ihm zu folgen, die vergessene Plätzchendose in der Hand. Kurz vor der halb offenen Tür jedoch blieb sie abrupt stehen.

Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Ivo die letzten zwei Stunden dort verbracht hatte (wahrscheinlich hatte die Küche ja noch eine Tür zum Flur?) aber jetzt war er dort, und er klang gereizt. Die Worte, die Wilhelmine vom Eintreten abhielten, waren die folgenden:

"Eine schöne Frau."

Beinah hätte sie gelacht ob des leidvollen Tonfalls.

"Ach Ivo, lass den Scheiß!"

Franz war sofort brummig, in dieser Art wo er sich immer etwas hektisch anhörte.

"Wieso, stimmt doch."

Wilhelmine biss sich auf die Unterlippe. Unter anderen Umständen hätte das Kompliment ihrem Ego gutgetan, jetzt war sie hauptsächlich amüsiert.

"Ja, aber... du und deine Eifersüchtelei. Ich hab mich damals bei Wilhelmine wegen meinem Liebeskummer ausgeheult wenn's genau wissen willst. Sonst nix."

In der Tat. Es war viel Alkohol konsumiert worden an jenem Abend, aber an Franz' Monolog erinnerte sie sich noch bestens, hatte es ihm schließlich gerade gleichgetan. Auch daran, dass aus der 'Kollegin' für die Franz was übrig hatte dann nach noch ein zwei Glas mehr ein Koll –

"Ach. Wer war das denn vor fünfzehn Jahr'n. Diese Anja?"

Wilhelmine biss sich etwas fester auf die Unterlippe.

"Nee, Ivo. Sandra."

"Sandra? Das war doch meine damalige... du warst verknallt in die Sandra?"

"Sag mal, heut bist besonders schwer von Begriff. Du hattest ne neue Freundin, die Sandra. Und ich hab mich bei Wilhelmine ausgeheult, ja. Blickst des jetzt."

"Ach."

"Ja, 'ach'."

"Mensch, Franz. Damals schon."

"Na. Vielleicht ja immer schon."

Mit einem Mal war es verdächtig still in der Küche. Wilhelmine schob die Tür mit dem Fuß ganz sanft ein Stückchen weiter auf und war wenig erstaunt ob des Bilds, das sich ihr bot.

Die zwei knutschten wild, anders konnte man das nicht nennen.

Sie würde sich leise aus dem Staub machen. Aber sie kam nur bis zum Wohnzimmer und kramte gerade in ihrer Handtasche nach dem Handy, als Franz wieder vor ihr stand.

"Kommst morgen dann eigentlich schon noch zum Frühstück, bevor du abreist?"

Na das war ja –

"Wo reise ich denn hin?"

Franz blickte sie schief an.

"Muss ich jetzt so tun, als ob des ned eh klar ist?"

"Franz. Du glaubst doch sonst nicht dran, Frauen vorzuschreiben, was sie zu tun haben", stichelte Ivo prompt, der unbemerkt dazugekommen war.

Franz fuhr herum.

"Ich schreib hier gar nix vor!"

Wieder dieser hektische Ton, der seine Stimme etwas höher rutschen ließ.

Wilhelmine schaute den beiden Streithähnen noch einen Moment zu – richtig gockelhaft, Streithähne traf es wirklich perfekt – bevor sie sich mit ihrer tiefsten Oktave zu Wort meldete.

"Nun, die Herren, Frauen sind auch immer begeistert, wenn über ihre Köpfe hinweggeredet wird."

Sie blickte in zwei mürrisch-schuldbewusste Gesichter.

"Also ich find' ja, du rufst deine Leute in Münster an und sagst, dass du kommst. Die fehlen dir doch", füllte Franz schließlich die kleinlaute Stille.

"Meine Leute?" stellte Wilhelmine sich dumm, obwohl ihr das Herz schon wild pochte. Sie konnte doch jetzt niemanden aus Münster... alle würden sie Fragen stellen, die sie nicht beantworten wollte...

"Ja. Vielleicht den KHK? Der fragt doch nicht viel", kam es von Franz, fast so, als ob er Gedanken lesen könnte.

"Oder den Rechtsmediziner, der ist doch zu sehr mit sich – und dem KHK – beschäftigt..."

"Klingt nach einer interessanten Truppe", brummte Ivo und nun musste Wilhelmine doch wieder schmunzeln.

"Ja gut, vielleicht versuch' ich es bei Thielchen. Aber hinreisen... ich weiß nicht."

Franz und Ivo tauschten einen bedeutungsschwangeren Blick.

"Wenn nicht, dann bleibst über die Feiertage eben hier."

Es war Ivo, der die Einladung aussprach, und vehement hinzufügte,

"Weihnachten allein im Hotel, das geht gar nicht."

Wilhelmine dachte darüber nach, dass sie über all die Jahre nie von Franz etwas über einen veränderten Beziehungsstatus gehört hatte… und gut, die letzten beiden Jahre hatten sie wenig Kontakt gehabt und vielleicht war das nichts, was man so nebenbei erzählte, dass man nach Jahrzehnten mit dem beruflichen Partner privat zusammengekommen war – Thiel und Boerne hatten ja schließlich auch nie was gesagt –, aber sie hatte doch den Eindruck, dass das noch relativ neu war mit den beiden und sie wollte auch nicht das dritte Rad am Drahtesel... keine gute Metapher. Sie wollte nicht dazwischenfunken, ganz einfach gesagt.

"Na schön. Dann lasst mich mal telefonieren."

Sie ging raus in den Flur, aber nicht bevor ihr Ivo klipp- und klargemacht hatte, dass er sehr eingeschnappt wäre, wenn sie heute seine kroatischen Kochkünste zum Abendessen verschmähen würde.

"Er kocht und er backt und gut sieht er auch noch aus? Warum hast du meinen Traummann", wollte Wilhelmine daraufhin von Franz wissen, der zu ihrer Begeisterung ziemlich rot wurde. Und auch Ivo stand ihm da wenig nach. Er schien auch nicht so ganz sicher, ob er Franz anblicken sollte oder nicht.

Sie überließ die beiden ihrem Schicksal und entschwand mit gezücktem Handy in den Flur.

Im letzten Moment drückte sie auf den Namen über 'Thielchen' und blickte fast erstaunt über sich selbst auf das Display.

Ruft an: Silke Haller.

Schon nach viermal Klingeln wurde abgehoben.

"Hallo? Frau Klemm... Wilhelmine?"

Sie hatten sich auf der Verabschiedungsfeier noch das Du angeboten, mit vielen "Warum eigentlich nicht längst" Kommentaren auf beiden Seiten.

"Ja, hallo Silke. Wilhelmine hier."

 

Fin

 

 

 

 

 

Notes:

Über Kommentare freue ich mich immer :) Und falls jemand sich hier zu einer wlw Fortsetzung inspiriert fühlt, dann immer her damit!