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claws & fangs

Summary:

Adam ist ein Werwolf. Vincent ist ein Vampir. Die gemeinsame Geschichte zwischen Werwölfen und Vampiren ist... schwierig, wenn man es simpel ausdrücken möchte, aber davon lassen sich beide nicht aufhalten, wenn es um ihre Zusammenarbeit geht. Manchmal sehen sie sich allerdings mit ganz eigenen Problemen konfrontiert - und glücklicherweise sind sie füreinander da, wenn es dazu kommt.

[urban!fantasy AU with complicated world building, a self destructive werewolf with a dangerous addiction to his medication and a vampire that might have forgotten to feed before getting stranded in the middle of nowhere]

Chapter 1: claws

Summary:

Vincent macht sich Sorgen, weil Adams Abhängigkeit von Lunapredin nicht nur das Leben des Werwolfs gefährdet, sondern auch das von unschuldigen Menschen. In der Vollmondnacht findet er jedoch nicht ein wildes Biest, sondern nur einen sehr einsamen Wolf, der sich nach Nähe sehnt.

Chapter Text

„Du weißt schon, dass das gefährlich für dich ist?”, fragte Vincent und hielt die leere Packung in die Höhe. Es war wirklich nur die Packung; die Umrisse des Inhalts konnte er von hier aus in der kleinen Brusttasche von Adams Hemd sehen. Seit dem kleinen… Vorfall wagte er es jedenfalls nicht mehr, ihm wirklich die Tabletten abzunehmen. 

Von dunklen Schatten unterlaufene Augen blitzten zu ihm herüber, länger als sie es eigentlich sollten, wenn man bedachte, dass Adam sie gerade mit 70 Stundenkilometer durch eine 50er-Zone jagte. 

„Willst du mich gerade wirklich über Lunapredin aufklären? Ich nehm das Zeug seit ich dreizehn bin.”

„Bisschen früh für ‘ne erste Verwandlung.”

Von Adams Seite aus kam nur ein müdes Grollen, von dem Vincent mittlerweile wusste, dass es nicht bedeutete, dass er wütend war. Wohl eher nur mal wieder genervt davon, dass Vincent sich erdreistete, mit ihm ein offenes Gespräch führen zu wollen. Auch noch das gleiche, wenn man es ganz genau nahm. Zumindest drehte es sich immer in irgendeiner Weise um die Tabletten.

„Ich war halt einer von den Frühstartern. Mein Körper ist es also gewöhnt.”

„Oh ja, gewöhnt… - oder schon resistent?”

Adam antwortete nicht, aber an dem leichten Zucken in seiner Augenbraue konnte Vincent zumindest ablesen, dass er ihn zwar versuchte zu ignorieren, es aber nicht schaffte. Da er jedoch kein weiteres Wort darüber verlor, musste Vincent wohl noch einmal etwas direkter werden.

„Adam, das kann dich töten, wenn du so weiter machst. Du spielst mit deinem Leben.” 

Natürlich erlangte der Werwolf dadurch keine magische Einsicht, sondern rollte seufzend die Augen einmal gen Wagendecke. Schließlich - und schneller als Vincent es dem offensichtlich müden Körper zugetraut hätte - schoss Adams Hand in seine Richtung und zog ihm die Packung aus den Fingern, die daraufhin aus dem eilig herunter gelassenen Fenster verschwand. Vincent sah sie im Rückspiegel noch in einem Gebüsch landen. 

„Fertig jetzt? Oder muss ich mir jetzt auch noch was anderes von dir anhören, das mir sehr wohl bekannt ist - bahnbrechende Erkenntnisse, wie zum Beispiel, dass Werwölfe Rudeltiere sind?”

Vincent wusste, wann er begann gegen eine Wand zu sprechen und schüttelte nur leicht den Kopf. Mit vor der Brust verschränkten Armen starrte er aus dem Fenster. Seine Sorge konnte er damit natürlich nicht unterdrücken, obwohl er die auch gerne einfach wie die Packung aus dem Fenster geworfen hätte. 

 


 

Seitdem er wusste, dass Adam von Lunapredin abhängig war, war die Sorge jeden Tag ein kleines Stück größer geworden und jede Vollmondnacht in unermessliche Höhen geschossen. 

Mittlerweile glaubte er zu wissen, dass Adam sich der Risiken mehr als bewusst war. Ihm war sein Kollege zwar schon seit dem ersten Tag grenzwertig depressiv vorgekommen, doch dass sie so tief gingen, dass Adam sein eigenes Leben in Kauf nahm, war ihm erst so wirklich bewusst geworden als er bemerkt hatte, wie viel Lunapredin tatsächlich von ihm konsumiert wurde. Allein in ihrer Zeit im Grutzke-Fall. 

Das Schlimmste war wohl, dass Vincent auf eine abartige Art sogar nachvollziehen konnte, warum Adam es tat. Lunapredin war ein starker Hemmer. Stark genug, um einen Werwolf bei seiner ungewollten Verwandlung bei Vollmond seinen Verstand bewahren und ihn nicht zu einem mörderischen Biest werden zu lassen. Natürlich hatte es auch die schönen Effekte, dem Werwolf am Tag vor Vollmond die Kopfschmerzen, Rastlosigkeit und all die anderen körperlichen Vorzeichen zu ersparen. Es beruhigte. Auch, wenn gar kein Vollmond war - und Adams Schlafstörungen schien Lunapredin wohl auch zu lindern. 

Obwohl…

Vincent warf Adam einen unauffälligen Blick zu. Mit den dunklen Schatten unter den Augen, seiner Gereiztheit und den Mengen Kaffee, die er benötigte, um sich auf den Beinen zu halten, schienen die Tabletten langsam ihre Wirkung zu verlieren. 

Was das denkbar Schlechteste war, das passieren könnte. 

Je mehr sein Körper eine Resistenz gegen den Hemmer aufbaute, desto stärker würden die Nebenwirkungen der Verwandlung zurückkommen und, an einem Ende, vor dem Vincent allein bei der Vorstellung erschauderte, würden sie sogar die Verwandlung selbst nicht mehr hemmen können. 

Mondkrank nannte man das. 

Zumindest hatte er das im Psychologie-Studium so gelernt in dem einen halbjährigen Kurs, der zum Lehrplan gehört hatte. Egal ob Mensch, Werwolf oder Vampir, sie alle hatten sich durch die staubtrockenen Lesungen quälen müssen. Vincent hatte sich oft gefragt, wie sich die anwesenden Werwölfe gefühlt hatten, wenn er oder ein anderer Vampir so offen über die Problematik diskutiert hatten. Er hatte sich nämlich jedes Mal ziemlich unwohl dabei gefühlt. Kein Werwolf ließ sich gern von einem Vampir erklären, was falsch mit ihm lief. - Und Adam bildete da keine Ausnahme, denn er warf ihm von Zeit zu Zeit noch immer einen Blick zu, der davon sprach, dass er nur darauf wartete, dass Vincent wieder den Mund öffnete.

Mondkranke Werwölfe verloren ihren menschlichen Verstand bei der Vollmond-Verwandlung. Sie erlangten ihn zwar bei Sonnenaufgang wieder zurück, doch die bis zu acht Stunden zwischen Verwandlungsbeginn und Rückverwandlung waren acht Stunden zu viel, in denen der Werwolf nicht bei Sinnen war. 

Und selbst wenn die Gesellschaft seit der Entdeckung und Einführung von Lunapredin Werwölfen nicht mehr feindlich gegenüberstand, so war ein mondkranker Werwolf etwas ganz anderes. Nicht umsonst war die Einnahme des Medikaments für alle Werwölfe verpflichtend; nicht, dass irgendein Werwolf mondkrank werden wollte. Seit Lunapredin konnten sie an der Gesellschaft teilnehmen wie jeder andere auch - und deshalb kam es so gut wie nie zu Problemen. 

Vincent konnte an einer Hand abzählen, wann es in Deutschland in den letzten achtzig Jahren zum Abschuss eines mondkranken Werwolfs gekommen war. Denn nichts anderes drohte jemandem, der sich bewusst auf eine Abhängigkeit von Lunapredin einließ - sein eigenes Todesurteil. 

Mondkranke Werwölfe waren sonderberechtigt zum Abschuss freigegeben, um das Wohl der Bevölkerung zu schützen. In ihrem Blutwahn konnten sie eine hohe zweistellige Zahl von Menschenleben in einer Nacht fordern, wenn sie nicht aufgehalten wurden. 

Bei dem Gedanken, dass es als Polizist nun seine verdammte Pflicht war, ohne zu zögern einen mondkranken Werwolf zu erschießen, lief es Vincent kalt den Rücken herunter. Dass Adam der Nächste sein könnte, der sich in eine kurze Reihe von drei Serienmördern und zwei leider geistig kranken Personen einreihen würde, die alle aus dem einen oder anderen Grund auf Lunapredin verzichtet hatten, war eine grauenhafte Vorstellung und ließ ihn entgegen allem noch einmal den Mund öffnen. 

„Du spielst auch mit dem Leben anderer Leute.”

Adam war für ein paar Momente still, doch gerade als Vincent glaubte, er würde keine Antwort mehr erhalten, sprach er doch noch. 

„Ich hab das unter Kontrolle, ok?” 

Der Tonfall der unter seinen Worten lag, steckte so voller leichter Verzweiflung und der Bitte, das Thema fallen zu lassen, dass Vincent kurz schluckte. Es war nicht das erste Mal, dass Adam das sagte und niemals hatten die Worte so überzeugt geklungen, wie er es vielleicht wollte.

„Wir sind übrigens da.” 

Mit einem Ruck brachte Adam den Wagen zum Stehen und Vincent, der sich plötzlich daran erinnerte, dass sie sich gerade im Dienst befanden und sich um diesen verzwickten Mordfall kümmern mussten, sah sich kurz verwirrt um. 

Adam stieg aus, hielt kurz die Nase in den Wind und lehnte sich noch einmal zurück ins Wageninnere. Ein halbes Grinsen lag auf seinem Gesicht. 

„Du darfst dich jetzt schon freuen. Wir haben hier einen Traditionalisten.”

Die Falte zwischen Vincents Augenbrauen wurde noch tiefer, doch als er ausstieg, konnte er es selbst sehen. Rund um das Dach des alten Bauernhauses hing ein Kranz aus Knoblauch. Das hatte er mittlerweile auch schon erfahren. An der deutsch-polnischen Grenze waren die Menschen noch etwas in der Zeit und ihren Ansichten stehen geblieben. 

Leider waren Vampire in Polen noch nie besonders beliebt gewesen. Zu sehr viel früherer Zeit als Polen noch Werwolf- und Deutschland Vampir-Gebiet gewesen war, hatten hier auf der Grenze schreckliche Kämpfe stattgefunden. Ein kleines bisschen Vorurteile hatten sich die Menschen jedoch bis heute bewahrt. Aber Vincent würde dem armen Bauern nicht erklären, dass Knoblauch ihm so gar nichts ausmachte, vor allem, weil der Mann sowieso die ganze Zeit nur mit Adam sprach und ihn ignorierte als sei er gar nicht da. Oder still darauf hoffte, dass er in der Mittagssonne in Flammen aufging  - was auch so ein Klischee war, über das Vincent sich immer wieder amüsierte. Gern auch mit einem Stück Knoblauchbaguette.

 


 

Er versuchte, sich unauffällig umzusehen, während Adam den Bauern befragte und warf hin und wieder einen Blick in ihre Richtung. Seit knapp vier Monaten war er nun schon hier in Slubice und auch wenn sein Polnisch mittlerweile etwas besser wurde, fühlte er sich von Zeit zu Zeit noch immer fremd am Platz. 

Menschen machten seit jeher den Großteil der Weltbevölkerung aus. Werwölfe und Vampire nahmen einen mickrigen Platz von zehn Prozent ein und hier ganz im Grenzbereich vom Osten Deutschlands grenzte es schon an ein reines Wunder, wenn man einen anderen Vampir traf, einzige Ausnahme bildete natürlich das bunte Berlin. Vampire waren zwar mittlerweile auch in Polen geduldet, aber mehr auch nicht. Traditionell blieb es einfach ein Werwolfgebiet.

Es hatte nur zwei Wochen von sehr widersprüchlichen Signalen gebraucht, bis er Adam zur Rede gestellt hatte, woran der sich störte. An Vincents Kleidungswahl? Seiner Sexualität? Seiner Dreistigkeit, zu Pawlak zu gehen nach dem Vorfall mit den Tabletten? Oder einfach nur ganz simpel an ihm selbst? Adam hatte nur bitter gelacht. Das wäre nicht, was ihn störte. Dass sie ihm einen Vampir zugeteilt hätten, wäre das eigentliche Problem.

Vincent war erst sehr viel später klar geworden, dass Adam im Grunde nichts gegen ihn oder Vampire hatte, sondern nur damit kämpfen musste, dass Vincent eben… sehr viel auf einmal war (etwas, das Vincent sich selbst eingestehen musste, denn er hatte auch den ein oder anderen Kulturschock mit Adam erlebt, was dessen Vorgehensweisen und Ansichten anging). Dass Vincent Adam zu Beginn vorgekommen sein musste wie ein bunter Papagei, war keine Überraschung. Irgendwie lebten sie ja beide ein Klischee ihrer Art. Vincent, der queere Vampir und Adam, der mürrische Werwolf.

Denn mittlerweile wusste Vincent, dass es weder seine Kleidung, seine Sexualität, noch sein Vampirismus war, die Adam zeitweise gegen ihn aufbrachten. Es war schlichtweg Adam, der seit Jahren seine Gefühle und Probleme herunterschluckte und Vincent, der zugegebenermaßen manchmal ein wenig mit der Tür ins Haus fiel, um zu versuchen ihn dazu bringen, sich zu öffnen. Und dass er vielleicht ein kleines bisschen für seinen älteren Kollegen schwärmte, war auch so ein Problem.

Wie von selbst wanderte Vincents Blick von der alten Backsteinmauer zu Adam zurück. Die letzten warmen Strahlen der Spätsommersonne tauchten ihn in ein warmes Licht und selbst, wenn Vincent wusste, dass die entspannte Körperhaltung seines Kollegens im Moment nicht mehr war als eine Maske, mit der er versuchte, dem Bauern mehr zu entlocken als dieser wollte, war es einfach sich vorzustellen, wie Adam aussah, wenn er wirklich entspannt war. Das ruhige Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte, die Stimme, die leiser und sanfter wurde. Die Art und Weise, wie er sich dabei zurücklehnte und die beiden geöffneten Knöpfe seines Hemdes etwas mehr von seiner Brust zeigten - 

Mit einem Seufzen zwang Vincent sich den Blick wieder abzuwenden. Dass war wirklich das Letzte, das er der sowieso schon komplizierten Situation auflasten wollte, die sich so anfühlte als bräuchte es nur ein weiteres Streichholz, bis alles unter ihnen zusammenbrach.

Als sich Adam wenig später auf den Fahrersitz fallen ließ, landete etwas in Vincents Schoß. 

„Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so verwirrt darüber war, dass du nicht in Flammen aufgegangen bist."

Vincent lachte kurz, drehte den Knoblauch in den Händen und steckte ihn in die Tasche seines Rocks.

„Den mach ich in den Dip fürs nächste Grillen."

Mit einiger Genugtuung beobachtete er, wie sich bei der Aussage Adams Mundwinkel zu einem zufriedenen Lächeln nach oben zogen und die Anspannung für einige Momente aus seinem Gesicht wich. Denn neben all den Sorgen und Startschwierigkeiten, die zwischen ihnen im Raum standen und gestanden hatten, machte es Vincent noch immer Spaß, mit Adam zu arbeiten.

Er mochte ihn. Mehr sogar noch als der Werwolf es vermutlich für möglich hielt. Aber das waren Gedanken, die Vincent sich selbst rigoros verbat.

Fakt war, dass Beziehungen zwischen Vampiren und Werwölfen passierten, aber sie alle von ihrer gemeinsamen Geschichte überschattet wurden, denn so lange war es noch gar nicht her, seitdem sie alle auf Augenhöhe miteinander sprechen und leben konnten.

Werwölfe hatten Menschen wie Wild gejagt und die Menschen hatten kaum Werkzeuge besessen, sich dagegen zu wehren. Vampire waren leider nicht wirklich besser gewesen, selbst, wenn sie sich dafür gehalten hatten. Auf der Suche nach Blut hatten sie ebenso geplündert wie die Wölfe. Zumindest bis zum Pakt von 1335, auf dem beschlossen wurde, die Vampire würden die Menschen vor den Wölfen schützen. Zu dem Zeitpunkt hatten sie nämlich selbst bemerkt, dass sie sich quasi den Ast absägten, auf dem sie saßen. Menschen waren schwach und überlebten die Nährung eines Vampirs meist nicht. Werwölfe hingegen waren gegen das Gift immun. Mehrjährige Kriege folgten, an deren Ende Werwölfe schließlich ausschließlich als Nahrung für Vampire in Leibeigenschaft herhielten, zahlreiche Aufstände und noch mehr Namen von Vampirgenerälen folgten, die dabei ums Leben gekommen waren (die Vincent alle seit der neunten Klasse nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten). Mehr Revolutionen, mehr Unabhängigkeitskriege, mehr Blutvergießen, bis plötzlich in den späten 1890ern Lunapredin entdeckt wurde. Seitdem war die Gesellschaft dabei, sich selbst ordentlich umzukrempeln und die Schrecken der Vergangenheit zu vergessen. Gemeinsam. Als ein Volk.

Werwölfe wurden bundesweit gleichgestellt, Vampire hörten auf Lebendblut zu trinken und Menschen brauchten nicht mehr um ihre Leben fürchten. 

Aber Beziehungen waren noch immer selten. Was wohl nur dem Umstand geschuldet war, dass es regelrecht verpönt war, wenn ein Vampir sich an einem Werwolf nährte. In Werwolfreihen galt es dementsprechend natürlich als abartig, sich in einer Beziehung einem Vampir zu 'unterwerfen' und Vincent fand allein diese Ausdrucksweise schon widerlich genug. 

Wenn dazu noch kam, dass die Gesellschaft für gleichgeschlechtliche Beziehungen auch noch nicht immer und jederzeit bereit war, war das Chaos eigentlich perfekt. 

Es war bescheuert. Und deshalb machte sich Vincent auch keine Hoffnungen, dass das mit Adam mehr werden könnte als der Tagtraum, der ihm seit ein paar Wochen nicht mehr aus dem Kopf ging. Er wusste ja noch nicht mal, ob Adam hetero war oder die Zeichen, die Vincent glaubte zu sehen, wirklich da waren und der Mann ein paar Seiten von sich nur sehr erfolgreich leugnete und unterdrückte. 

So oder so waren sie Freunde geworden, trotz ihrer Unterschiede.

Was auch der Grund war, warum er sich derart Sorgen um die Sache mit dem Lunapredin machte, denn „unter Kontrolle” hatte Adam es nicht. Dass Adam so gar nicht über die Sache reden wollte, machte es nicht besser. 

Vincent hatte keine Ahnung, wie lange er es schon tat und welche Ausmaße es bereits angenommen hatte. Doch ein Blick in die Richtung seines Kollegen genügte, um ihm einen Werwolf zu zeigen, der von den Nebenwirkungen eines bevorstehenden Vollmondes gebeutelt war - obwohl er mindestens eine Lunapredin intus hatte. Die hatte er nämlich gerade genommen, als Vincent vor zwei Stunden ins Auto gestiegen war.

In diesem Moment gähnte Adam einmal ausgiebig und zeigte die ausgeprägten Fangzähne, die eigentlich an diesem Tag noch nicht einmal zu sehen sein sollten.

Vincent fuhr ein Schauer über den Rücken. 

Adams Körper war so taub geworden, dass das Lunapredin nicht einmal jetzt eine Wirkung zeigte. 

 


 

Am nächsten Tag erschien Adam nicht auf der Arbeit - was nicht überraschend war. Immerhin standen Werwölfen zwei zusätzliche freie Tage um den Vollmond zur Verfügung, in denen sie in Ruhe die Verwandlung durchmachen konnten. 

Vincent nutzte die Gelegenheit, um ein bisschen unauffällig herum zu fragen. Was er in Erfahrung brachte, tat allerdings nicht viel, um seine Sorgen zu beruhigen. - Im Gegenteil. 

Er lernte, dass Olga, Adams vorherige Partnerin, ebenfalls ein Werwolf gewesen war und die beiden wohl manchmal zusammen die Vollmonde verbracht hatten. 

„Und jetzt? Mit wem verbringt Adam jetzt die Verwandlung?”, fragte er in einem nebensächlichen Tonfall und setzte sich auf Wolles Tisch. 

Wolle seufzte und wich seinem Blick für einen Moment aus. Als er ihn wieder ansah, stand auch ihm die Sorge ins Gesicht geschrieben. 

„Na, mit niemandem. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Lydia ihm den Gefallen noch tut. Die sind nämlich allesamt menschlich - seine Kinder auch.”

Auf der anderen Seite des Tisches fuhr sich Wiktor einmal über das Gesicht und seufzte tief.

„Ich war in der Zwischenzeit bei ihm so oft es ging während Vollmond. Aber in der Zeit zwischen Olga und dir musste jemand hier die Stellung halten, der Adam im Notfall vertreten konnte. Ist Vorschrift, da konnten ich oder Pawlak nichts gegen machen." Wiktors Blick glitt zur Uhr an der Wand. „Ich hab heute Nacht auch Dienst, weil ihr beide nicht hier seid. Aber all die Male davor, die ich Nachtschicht hatte? Ich glaub tatsächlich, dass er alleine war."

Vincent versuchte sich die Sorge darüber nicht ansehen zu lassen, aber in der Stille, die sich danach zwischen ihnen ausbreitete, stand sie unausgesprochen im Raum. Nur Speedy kratzte sich mit einem wohligen Brummen hinter den Ohren, vollkommen unbeeindruckt von der Situation.

Werwölfe waren und blieben Rudeltiere. Deshalb fand man sie auffällig häufig in der Polizei, der Feuerwehr oder dem Militär - es steckte ihnen quasi im Blut. Das bedeutete jedoch auch, dass ein Werwolf in der modernen Zeit sich andere Lösungen für ein richtiges Rudel suchen musste. Entweder waren dies Beziehungen, Freunde oder andere Werwölfe, mit denen man die Verwandlung zusammen verbrachte. Es beruhigte den Körper zusätzlich. 

Vincent war zwar kein Experte, was das anging, aber wenn diese Dinge schon im Grundkurs Biologie gelehrt wurden, dann schienen sie auch zu stimmen. 

Eine Verwandlung war selbst mit Lunapredin schmerzhaft und alles andere als angenehm. Sie multiplizierte Sinneswahrnehmungen. Gehör-, Geruchs- und Sehsinn wurden ungewohnt perfekt und der Ruf des Wolfes exponentiell größer. Sie sehnten sich nach Artgenossen, vielleicht in einem alten Instinkt aus Urzeiten, brauchten ein Rudel, um sich sicher zu fühlen. Nicht umsonst war es sogar in Gefängnissen verboten, Werwölfe allein ihre Verwandlung durchmachen zu lassen. Es galt als Verletzung ihrer Rechte, ihnen das Verlangen nach Gesellschaft zu verwehren. Ein paar Werwölfe, die in internationalen Gefängnissen gesessen hatten, in denen Einzelhaft während des Vollmondes als Strafe eingesetzt wurde, beschrieben es auch als Folter. 

Vincent konnte es nur mit einem Durst nach Blut vergleichen, wenn niemand es ihm geben würde. 

Und natürlich war Adam der vermutlich sturköpfigste Werwolf auf dieser Welt, dachte wahrscheinlich noch, es verdiene es, unter Schmerzen und allein seine Verwandlung durchzumachen. Schlimmer noch - in dem Wissen, dass sowohl seine Familie, wie auch Olga nicht mehr bei ihm waren. 

Die letzte Stunde seiner Schicht zog sich nach dem kurzen, bedrückenden Gespräch unerträglich in die Länge und selbst als er endlich zu hause auf dem Bett lag und die Decke anstarrte, wollte ihm Adam nicht aus dem Kopf gehen. Draußen war es längst dunkel geworden und wie eine hämische Erinnerung leuchtete der große, runde Vollmond durch das Fenster direkt auf sein Gesicht. 

Adam hatte sich sehr wahrscheinlich längst verwandelt. 

Dieser Gedanke führte nicht zum ersten Mal dazu, dass Vincent erleichtert war, kein Werwolf zu sein. Auf die Verfügbarkeit von Blut angewiesen zu sein, war nicht wirklich perfekt, aber es war ein besseres Los als einmal im Monat zu spüren, wie die eigenen Knochen brachen, wuchsen und sich neu zusammensetzten. 

Auch jetzt erschauderte er. Es sprach eigentlich nur für die Brutalität des Vorgangs, dass Vincent sich noch immer wortgenau an den Bericht erinnern konnte, in dem ein Werwolf beschrieb, wie eine Verwandlung ablief. Etwa dreißig Minuten - so lange dauerte es bis aus einem Mensch ein Wolf wurde. Alles, während die Person spüren konnte, wie sich ihr Körper einem urzeitlichen Zwang folgend selbst zerstörte. Wie Kieferknochen auseinander brachen und das Gesicht sich langsam verformte, das Ziehen und Zerren, wenn die Gliedmaßen sich scheinbar über ihr Limit streckten und das Brennen, das das viel zu schnell wachsende Fell auf der Haut hinterließ wie ein Feuer. 

Kein Wunder eigentlich, dass Werwölfe danach nicht allein sein wollten. Die Schmerzen waren nach der Verwandlung zwar vorbei, doch diese halbe Stunde musste mentale Narben hinterlassen. 

Bevor Vincent wusste, was er tat, war er aufgestanden. Für einen Moment verharrte er regungslos vor seinem Bett und starrte seine eigenen Füße an, wusste eigentlich nicht, warum er noch zögerte. 

Vierzig Minuten später stand er vor dem Garten im Innenhof, in dem er und Adam schon des Öfteren gegrillt hatten und starrte in die Dunkelheit. Dem Vampirismus war es zu verdanken, dass er von Natur aus schon eine gute Nachtsicht hatte und nicht auf Licht angewiesen war, doch er hätte auch so ohne Schwierigkeiten die riesige, liegende Gestalt ausfindig machten können, die das kleine Gartenhäuschen beinahe überragte. 

„...Adam?”, fragte er mit einem Wispern. Als würde hier noch ein anderer, einsamer Wolf liegen...

Es war das erste Mal, dass er einen verwandelten Werwolf sah. Natürlich hatte es immer Fotos gegeben, Videoaufnahmen und Zeichnungen, doch er war nie persönlich auf einen gestoßen. 

Mit langsamen, vorsichtigen Schritten kam er vor dem Wolf zum Stehen und hätte nur einen Arm ausstrecken brauchen, um ihn zu berühren. 

Der Berg vor ihm gab ein müdes Grollen von sich, nicht ganz unähnlich dem Brummen, das Adam ihm schon gestern im Wagen zugeworfen hatte und Vincent hielt einen Moment den Atem an. Dann bewegte sich die Masse vor ihm und der Wolf hob den Kopf, drehte ihn in seine Richtung. 

Vincent vergaß, wieder auszuatmen. 

Adams grüngraue Augen leuchteten ihm entgegen. Es war das einzige Zeichen, dass er von seiner menschlichen Gestalt noch behalten hatte. 

Er lag, bis gerade eben noch mit dem Kopf unter der Rute eingerollt, auf dem Boden und sein Atem stieß Vincent bei jedem Atemzug die Haare aus dem Gesicht. Es war atemberaubend. Selbst in der liegenden Position überragte der Wolf Adams menschliche Körpergröße und mit einem Mal war es schwierig, sich wirklich vorzustellen, dass dies Adam war, nur in einer ganz anderen Gestalt. Die Vorderpfoten glichen mehr klauenartigen Händen als Pfoten und ein Blick nach unten zeigte Vincent, dass sie sich vermutlich ohne Anstrengung um seinen ganzen Körper hätten schlingen können. Die große, schwarze Nase allein war groß genug, dass seine Hand darauf Platz finden könnte und das Maul voller Zähne hätte ihn vermutlich verschlucken können, wenn es nicht gerade geschlossen wäre. 

Der Mond kam hinter einer Wolke hervor. 

Dunkles Fell bedeckte den Wolfskörper, nicht ganz unähnlich von Adams Haarfarbe. Genau wie die grauen Strähnen, die den Pelz durchzogen. Vor allem um die Schnauze und seinen Augen stachen die grauen Haare besonders hervor. 

„Ich-”, begann Vincent, wusste aber einfach nicht, was er sagen sollte. Er schluckte. „Du solltest nicht allein sein heute Nacht.”

Adams Schnauze kräuselte sich zu kleinen Falten und ein leises Knurren stieg seine Kehle hinauf, bevor er den Kopf demonstrativ abwandte und ihn wieder unter seiner Rute vergrub, sich enger einrollte, um Vincent den Rücken zuzuwenden. 

Sehr erwachsen. 

Vincent rollte die Augen zum Himmel und war froh, dass Adam das zumindest nicht sehen konnte. Jeden anderen hätte das Grollen des Wolfes wohl umkehren lassen, aber er kannte Adam nun lange genug, um zu wissen, dass hinter den Drohungen nichts stand. Selbst, wenn er plötzlich zweieinhalb Meter groß war.

„Adam, ich geh nicht weg”, informierte er ihn, doch eine Antwort blieb aus. Nur die lauten Atemzüge durchschnitten die Nacht in regelmäßigen Zügen. 

Vincent wartete ein paar Sekunden, still, bewegungslos, dann trat er vorsichtig einen Schritt näher und streckte seine Hand aus, ließ sie zaghaft über das Fell zwischen Adams Schulterblättern wandern. Unter seinen Fingern spürte er wie sich der riesige Wolfskörper anspannte, verharrte und schließlich atmete Adam aus und entspannte sich. Oder gab sich dem Schicksal hin, dass Vincent nicht verschwinden würde. 

„Das ist weich”, sagte er unnötigerweise und der Wolf gab ein Schnauben von sich, das wohl ein kurzes Lachen sein sollte. 

Das Fell unter seinen Fingern war warm und floss in einem leicht struppigen Strom Adams Rücken hinunter. Obwohl das Verlangen beinahe unerträglich war, ließ Vincent seine Hand nicht weiter als Adams Schultern wandern. Er war schon zufrieden genug, dass er ihn nicht verscheucht hatte. Einfach genug wäre es immerhin gewesen. Und vielleicht fühlte er sich auch ein klein wenig stolz, dass Adam ihn hier haben wollte. 

Plötzlich bewegte sich der Körper vor ihm. Bevor er verstand, was Adam vorhatte, hatte sich der Wolf auf den Rücken gedreht und streckte sich. 

Adam brummte, ließ sich auf die andere Seite fallen und sah ihn nun an. Das Licht des Mondes brach sich für einige Momente in seinen Pupillen und strahlte zurück wie die Augen einer Katze. Dann streckte er den Kopf nach hinten und die Vorderbeine aus, präsentierte etwas mehr graues Fell an seiner Brust, in das Vincent nach einem kurzen Zögern die Hand vergrub. 

Unter seinen Fingerkuppen begann es zu vibrieren. Brummend schloss Adam die Augen und Vincent musste unwillkürlich lachen. 

Der echte Adam - der, der nicht unter dem Einfluss des Vollmondes stand - hätte ihm vermutlich die Tür vor der Nase zugeschlagen, wäre Vincent an irgendeinem Abend vor seiner Haustür erschienen, um ihm anzubieten mit ihm zu kuscheln.

Doch der Vollmond war schon immer eine starke Droge gewesen. Selbst für einen sonst so stoischen Werwolf wie Adam musste seine Wirkung enorm sein. Verborgene Wünsche stiegen nach oben und Unterdrücktes kam an die Oberfläche. Scheinbar - und das überraschte Vincent nun überhaupt nicht - sehnte sich Adam einfach nur nach Nähe. Und er gab sie ihm nur zu gern. 

Als Adam beschloss, genügend an der Brust gekrault worden zu sein, richtete er sich in eine liegende Position auf, kam mit dem Kopf wieder näher und sog Vincents Geruch ein. Der Windzug kitzelte an seiner Brust, doch Vincents Hand streckte sich wie von selbst aus und begann Adam zwischen den Ohren zu kratzen. Das Hinterbein zuckte einige Momente, bevor sein Kollege den Kopf schüttelte, sich selbst hinter dem Ohr kratzte und dann plötzlich aufstand. 

Vincent wich unbewusst ein paar Schritte zurück als sich der riesige Körper vor ihm aufbaute, hinter seiner massigen Gestalt sogar den Mond für einen Moment am Himmel verdeckte und ihn dazu zwang, den Kopf in den Nacken zu legen, um ihm weiterhin in die Augen sehen zu können. Adam hingegen schien einen Plan zu verfolgen, denn er legte seine Nase an Vincents Brust und drängte ihn rückwärts, immer weiter und weiter bis Vincent mit dem Rücken gegen die Schuppenwand stieß. 

Er suchte Adams Blick, der ihn schon beinahe erwartungsvoll ansah. 

„Ich kann keine Gedanken lesen, Adam”, sagte er leise und der Wolf vor ihm schnaubte erneut. Dann zuckten seine Augen ein paar Mal nach unten. 

Er sollte sich hinsetzen. 

Verwirrt runzelte Vincent die Stirn, kam der Aufforderung jedoch nach. Immerhin war er hergekommen, um Adam Gesellschaft zu leisten. Kaum, dass er allerdings einen gemütlichen Platz gefunden hatte, bewegte sich der riesige Wolf wieder.

„Adam!” Vincents Protest wurde ihm aus den Lungen gepresst als der Wolf seinen Kopf auf seinen Schoß fallen ließ. Nach ein paar Momenten hatten sie eine Position gefunden, in der Vincent nicht Gefahr lief, von Adams Gewicht erdrückt zu werden und der Wolf seinen Kopf bequem in seinen Schoß betten konnte. Das Gewicht lag schwer auf seinen Oberschenkeln, aber war nicht wirklich unangenehm. Warm war es vor allem. Und Adam jetzt noch näher als zuvor. 

Gedankenverloren fuhr Vincent mit der Hand über das weiche Fell zwischen den Augen und Adam gab ein zufriedenes Brummen von sich, streckte sich und ließ den Kopf etwas weiter fallen.

„Das hat ein bisschen Ähnlichkeiten mit Speedy...”

Kurz kräuselte sich die Lefze zu einem halbherzigen Knurren, doch Adams Rute verriet ihn. In einem ruhigen Rhythmus wedelte sie auf dem Boden hin und her, ein stummer Zeuge von der Entspannung, die gerade durch den Wolf gehen musste. Und erschreckend amüsant. 

„Soll ich vielleicht auch einen Ball werfen?"

Adam grollte protestierend und drückte seinen Kopf gegen Vincents Brust, hielt seine Arme für ein paar Momente genau dort, wo sie waren. Die Geste war klar: Vincent sollte nicht dumme Sprüche reißen, sondern ihn weiter kraulen. Als Adam annahm, dass Vincent ihn verstanden hatte, ließ er den Kopf wieder sinken und atmete tief aus.

Vincent musste nun doch lachen.

„Alles klar, Herr Raczek. Ich mache so weiter, wie bisher. Keine Bälle, keine Stöckchen."

Adam schnaubte erneut, nickte beinahe.

Es war schwierig zu sagen, wie lange sie beide dort saßen - lagen, in Adams Fall - und Vincent seine Hände über den Wolfskopf fahren ließ. Zwischen den Augen, hinter den Ohren, vorne auf der Schnauze und unter dem Kinn. Irgendwann war er sich sogar sicher, dass Adam kurzzeitig eingeschlafen war und nutzte den Zeitpunkt, um auf sein Handy zu sehen. 

Zwei Uhr. 

Er ließ den Kopf gegen die Schuppenwand sinken und schloss die Augen. Ein wenig Schlaf musste er diese Nacht auch bekommen und im Moment konnte er sich keinen sichereren Ort vorstellen als genau hier. Erst als der Wolf in seinem Schoß begann sich wieder zu bewegen, rieb er sich über die Augen, plötzlich wieder hellwach.

„Adam?”, flüsterte er. 

Der Wolf hatte die Augen noch immer geschlossen, doch nun war die Rute erstarrt und die Zähne bissen fest aufeinander. Ein Zittern lief in einer Welle den großen Körper herunter, gleich darauf spannte er sich dermaßen an, dass Vincents Beine unwillkürlich unter dem Gewicht in die Erde gedrückt wurden. Ein leises Geräusch entstieg Adams Kehle, irgendwo zwischen Wimmer und Grollen und eine seiner Vorderpfoten krallte sich in den lockeren Erdboden, zog eine große Furche durch das Gras. 

„Was ist los?”

Adam antwortete nicht, sondern presste seinen Kopf nur fester gegen seinen Oberkörper. 

Vincents Hand suchte im Dunklen nach seinem Handy, fand es mit zittrigen Fingern und entsperrte es. 

5:32 Uhr

„Lässt der Einfluss des Mondes nach?”, flüsterte er. 

Adam grollte, gleich darauf krampfte sich der Wolfskörper zusammen, erschauderte und einer seiner Hinterläufe krachte gegen die Schuppenwand, brachte diese zum erzittern. Dahinter fiel irgendetwas laut scheppernd zu Boden. 

„Ok”, bekam Vincent atemlos zustande. „Ok, ich bin hier. - Eine halbe Stunde, Adam. Das ist nicht viel." 

Vincent wusste, dass er schon wieder versuchte, Adam für ihn selbstverständliche Dinge zu erklären, doch für einen Moment zog so etwas wie Panik durch seinen Kopf, die er mit aller Macht zu unterdrücken versuchte. Eine halbe Stunde war unerträglich viel, wenn man währenddessen unfassbare Schmerzen erlitt und selbst die wenige Linderung, die Lunapredin eigentlich versprach, konnte in Adams resistentem Körper kaum etwas ausrichten. Und Vincent konnte rein gar nichts tun, um ihm zu helfen sondern nur zusehen , wie sich Adam weiterhin in seinen Schmerzen wandt.

Tatsächlich dauerte es nur zwanzig Minuten, in denen die Krämpfe in immer enger werdenden Abständen durch seinen Körper fuhren und Vincent in stummer Sorge und Faszination beobachtete, wie vom riesigen Wolf nichts mehr übrig blieb und nur noch Adam in seinem Schoß lag. Adam Raczek, der wohl sturköpfigste Werwolf der Welt. 

Er hatte die Augen noch immer zusammengepresst und stieß den Atem zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, konnte die Schmerzen wohl noch immer nicht abschütteln. Vincent hatte nicht bemerkt wann er damit angefangen hatte, doch seine Hände fuhren noch immer beruhigend durch Adams Haare und er flüsterte leise beruhigende Zusprüche in einem nicht enden wollenden Mantra in die Stille der Nacht.  

Und dann, endlich, mit einem letzten, schmerzhaften Krampf, entspannte sich der Körper in seinem Schoß vollends und Adams Kopf sank kraftlos gegen Vincents Bauch, vollkommene Erschöpfung auf sein Gesicht geschrieben.

Vincent atmete mit einem leichten Zittern aus und ließ den Kopf gegen die Schuppenwand hinter sich fallen, während er spüren konnte, wie sich langsam die Anspannung auch aus seinem Körper löste und sein Herzschlag sich wieder beruhigte. 

Unermüdlich fuhren seine Finger durch Adams Haare, strichen ihm ein paar Strähnen aus der Stirn und eine Träne aus dem Augenwinkel. Selbst im dämmrigen Licht der Nacht konnte er sehen, wie blass Adam war, doch gleichzeitig glühte sein Körper vor Hitze als würde er gerade ein hohes Fieber durchmachen. Kleidung trug er nicht mehr. Hatte sie vielleicht von Anfang nicht getragen, um die Verwandlung nicht unnötigerweise zu komplizieren - und Vincent verbot sich selbst, seinen Blick tiefer wandern zu lassen als nötig. 

„Bist du wieder ganz hier bei mir?", fragte er stattdessen leise.

Adam schaffte es ein „Mm" von sich zu geben, das Vincent als Zustimmung auffassen konnte, doch die Anstrengung, die diese kleine Geste von Adams Körper verlangte, war ihm an der Stirn abzulesen.

„Komm, du musst ins Bett.” 

Wäre Vincent ein Mensch hätte er das wohl nicht geschafft. Adams müder Körper, den er die Treppe hinauf mehr trug als stützte und die Tür, die sich mehr wehrte als sie sollte, doch schließlich lag Adam in seinem Bett und Vincent schlug die Decke über ihn, löschte das Deckenlicht und schaltete die kleine Nachttischlampe an. Wenn er ihn morgen danach fragen würde, wie viel von seinem nackten Körper er gesehen hatte, dann würde Vincent ihn anlügen müssen, um seinem Kollegen das letzte bisschen Ehre bewahren zu lassen, stellte er mit einem leisen Lächeln fest. 

„Ich habe dir hier noch ein Glas Wasser hingestellt”, sagte er leise. „Du musst was trinken. Während des Vollmondes hast du gar nichts zu dir genommen.”

Adam gab ein Geräusch von sich, das auch ganz ohne Worte ausdrückte, dass er absolut keine Lust darauf hatte, selbst jetzt auf seinen Körper zu hören.

Vincent verdreht die Augen. 

„Adam. Trinken. Jetzt, bitte", fügte er mit etwas mehr Nachdruck hinzu. Für ein paar Momente passierte gar nichts, dann legte sich die Stirn vor ihm in altbekannte, genervte Falten.

„Sch'ngut”, nuschelte Adam und unter der Decke erschien sein Arm, der nach dem Glas langte. Auf dem anderen stützte er sich ab und bevor Vincent sich versah, war das Glas leer. 

Er goss Wasser nach und auch das stürzte Adam in eins herunter, bevor er sich mit einem Seufzen zurück auf sein Kissen fallen ließ und den Kopf halb darin vergrub.  

„Ich seh dich dann morgen, ja?”, flüsterte Vincent, schon gar nicht mehr sicher, ob Adam noch wach war und ihn hören konnte. Er zögerte einen Moment, dann streckten sich seine Finger dennoch aus und fuhren ein letzten Mal über Adams Stirn. Der gab nur ein müdes „Hm-hm” von sich und schaffte es irgendwie, sich die Decke bis unters Kinn zu ziehen. 

Vincent hörte seine Stimme kaum als er im Türrahmen stehen blieb und sich noch einmal umdrehte. Doch Adams Mund bewegte sich tatsächlich und zwischen dem Kissen und der Decke blitzten ihn zwei erschöpfte, aber nachdenkliche Augen an. 

„Danke”, sagte Adam mit rauer Stimme, nachdem er ihn lange gemustert hatte, ein unerklärlicher Ausdruck in seinem Blick. 

„Immer gern”, antwortete Vincent und lächelte sanft.

Es dauerte einen Moment. Zwei Momente. Drei Momente, bis Vincents Herz ihm unruhig begann in der Brust zu schlagen. Doch dann erwiderte Adam das Lächeln, müde, aber aufrichtig. 

„Ich freu mich schon." 

Chapter 2: fangs

Summary:

Adam kann zwar nichts dafür, dass sie mitten in Polen (mitten in der Nacht) gestrandet sind, aber er fühlt sich trotzdem ein wenig Schuld daran, dass Vincent durstig ist und keine Möglichkeit hat, etwas dagegen zu tun. Es ist nur logisch, dass er anbietet, Vincent könnte von seinem Blut trinken... oder?

Chapter Text

„Er hätte uns wenigstens reinrauschen können, bevor wir 70€ fürs Tanken hingelegt haben”, sagte Vincent und sah den immer kleiner werdenden Rücklichtern des Abschleppwagens hinterher. 

Adam brummte zustimmend. „Pawlak wird sich freuen. Darüber - und die 120€ Übernachtungskosten.”

„Du hast den Preis für den Mietwagen vergessen.”

„Und den.” Mit einem Seufzen nickte Adam und verschränkte die Arme vor der Brust.

Es war kalt. Im Auto war es wunderbar warm gewesen. Aber das trat gerade seine letzte Fahrt in Richtung Schrottplatz an und ließ sie gestrandet an der Tankstelle mitten in Polen, mitten im Januar- mitten in der Nacht. 

Und irgendwie war das nicht das größte Problem, das sie im Moment hatten. 

Adam wandte den Kopf zu Vincent, der neben ihm stand und sich mittlerweile mit den Händen über die Arme fuhr, das Zittern damit jedoch auch nicht aufhalten konnte, obwohl er in seiner Jacke und Adams Schal steckte. Selbst in dem dämmrigen Licht der Tankstelle konnte Adam die schattenunterlaufenen Augen sehen, die er den ganzen Tag dabei beobachtet hatte, wie sie immer dunkler und dunkler geworden waren. Er gab sich selbst ein wenig die Schuld daran. 

Die Spur zum Täter hatte sie tief in die Bauernschaft nach Polen geführt und er hatte Vincent früh morgens quasi vor seiner Wohnung überfallen, um ihn gleich mitzunehmen; die Zeit hatte gedrängt und Vincent da auch noch nichts weiter gesagt. Im Laufe des Tages jedoch war sein Kollege immer ruhiger geworden, wirkte müde, bis er irgendwann kurz eingenickt war, direkt auf dem Sofa einer älteren Dame, die sie gerade befragten. 

„Durst”, hatte er nur geantwortet als Adam ihn mit einem leichten Grinsen wieder aufgeweckt hatte. 

Im ersten Moment hatte er gar nicht wirklich verstanden, was Vincent meinte. 'Durst'. Es lag eine unangebrochene Flasche Wasser auf der Rückbank und der Kaffee, den die alte Damen ihnen angeboten hatte, schmeckte zwar als sei er ungefähr so alt wie sie, aber er war genießbar. 

Dann erst hatte er zu Vincent aufgeholt. 

Durst. 

Blut. 

Vincent hatte Durst nach Blut. 

Wie dieser ihm schließlich leise mitgeteilt hatte, um die laufende Befragung nicht zu stören, hatte er am Morgen in der Eile das Frühstück ausfallen lassen - Frühstück eine schöne Umschreibung für Blut - in der festen Überzeugung, dass sie nicht so lange unterwegs wären und dass er es schon aushalten würde. 

Er hatte bei beidem falsch gelegen. Zwar gab sich Adam Mühe, die Befragung so schnell wie möglich effektiv zu beenden, doch als sie aufgebrochen waren, hatte die Sonne schon tief am Himmel gestanden. Mitten im Nirgendwo war von einem Supermarkt oder einer Apotheke keine Spur zu finden gewesen, was eigentlich kein Problem gewesen wäre, denn es hatte sie nur noch dieser Tankstop von Slubice getrennt, als sie hier angehalten hatten. 

Bis ein Anwohner beschlossen hatte, mit über 50 Sachen auf die Tankstelle zuzuheizen und in ihren Dienstwagen zu krachen. Totalschaden. Der Fahrer: sturzbetrunken, aber größtenteils unverletzt. 

Und sie beide - gestrandet. 

Wie der Tankwart Vincent mitgeteilt (und Adam mitgehört) hatte, verkauften sie hier auch kein Blut an „Volk wie deines”.

Willkommen in Polen. Leider scheinbar für immer als Werwolfgebiet stehen geblieben. Zumindest auf dem Land.  

„Du hättest die Kollegen von der polnischen Verkehrspolizei doch fragen können, ob die dich wenigstens bis zur nächsten Dienststelle mitnehmen.” 

„Hast du gesehen, wie dich mich angesehen haben? Nein, danke. Da warte ich lieber.”

„Auf was? Dass sich ein Auto hier aus dem Nichts materialisiert?” 

Adams Hand deutete auf die Straße, direkt unter die noch immer flackernde Straßenlaterne, die der Fahrer ebenfalls gerammt hatte. Vincent folgte seinem Deuten widerwillig, zog die Schultern hoch und vergrub die Nase unter seinem Schal. 

Adam konnte nicht abstreiten, dass die polnischen Kollegen tatsächlich nicht sehr erfreut gewesen waren, einem Vampir als Kriminalkommissar zu begegnen. Mit seiner Anwesenheit hatten sie sich zwar benommen, aber ob das auch angehalten hätte, während sie Vincent in die nächstgrößere Stadt fuhren, wusste er nicht. Der Gedanke, Vincent in ein Auto zu setzen, wo er sich für die nächste unbestimmte Zeit mehr als widerliche Kommentare anhören musste, gefiel ihm nicht.

Vincent gähnte.

„Ein paar Stunden werde ich schon noch durchhalten. Bis sieben Uhr sind es nur noch acht Stunden und sobald wir den Mietwagen haben, nur noch eineinhalb Stunden bis Slubice. - Können wir jetzt einfach reingehen?”

Adam seufzte eine kleine Atemwolke in die Dunkelheit der Nacht.

Nannte man es jetzt Glück oder Unglück, dass sie es geschafft hatten auf der einzigen Tankstelle in diesem Kaff von einem betrunkenen Fahrer gerammt zu werden? Immerhin lag genau an dieser Ecke das einzige Gasthaus im Umkreis, gleich neben einem ziemlich dubiosen Mietwagenverleih, der allerdings im Gegensatz zum Gasthaus erst morgen wieder öffnen würde. Im Moment war es kurz vor halb zwölf und Vincent hatte gegen den Vorschlag protestiert, Wiktor nach dessen Frühschicht aus dem Bett zu klingeln, damit er sie abholen konnte. 

Das Gasthaus war also die willkommene, wenn auch einzige Möglichkeit, wenn sie beide nicht heute Nacht bei vier Grad draußen auf einer Parkbank erfrieren wollten. 

Dieses Mal hatte Adam es selbst in die Hand genommen und sich nach freien Zimmern erkundigt. Ein weiteres Erlebnis wie das mit Lenski konnte und wollte er sich nicht leisten. Nicht mit Vincent. 

Seit der Vollmondnacht auf gar keinen Fall mit Vincent. 

Seitdem waren seine Gefühle für ihn… etwas durcheinander geraten. 

Vincent hatte ihm bei seinen letzten drei Verwandlungen zur Seite gestanden, ohne auch nur jemals ein schlechtes Wort darüber zu verlieren. Adam zerbrach sich seit Wochen den Kopf darüber, was er fühlte, wenn Vincent ihm ohne Bedenken jeden Vollmond entgegentrat, aber es kam ihm immer so vor als würde ihm das Wort durch die Finger gleiten, wenn er versuchte danach zu greifen. Verwirrung war das einzige Ergebnis aus dieser Grübelei und die stumme Frage, woher dieses... Gefühl überhaupt kam.

Er erinnerte sich dumpf an die Geschehnisse in der ersten Nacht, die Vincent bei ihm gewesen war. Der Vollmond machte alles ein wenig vernebelt und ließ einzelne Details zu größeren Eindrücken verschmelzen, aber Adam konnte sich klar daran erinnern, dass er sich jede Verwandlung nach Gesellschaft gesehnt hatte. Wiktor war der Name, der dem Wolf in ihm dabei immer durch den Kopf gegangen war. Sein bester und längster Freund, der immer da war, wann er es sein konnte. Doch schon bevor er plötzlich im Innenhof aufgetaucht war, hatte sich der Wolf unter dem Einfluss des Vollmondes plötzlich nach jemand weiterem gesehnt: Vincent.  Adam konnte sich nicht genau erinnern, wann er sich das erste Mal nach Vincent gesehnt hatte, während er im Innenhof lag und in Selbstmitleid verging, aber kaum, dass der Name einmal mental gefallen war, hatte er ihn nicht mehr abschütteln können.

Und dann hatte Vincent plötzlich vor ihm gestanden und sein Verstand hatte verrückt gespielt.

Die Schuld daran lag nicht bei Vincent… Sie lag bei ihm. Adam.

Während des Vollmondes entwickelte sein Verstand schon von Natur aus ein Eigenleben. Es war nur natürlich, dass er sich auf den ersten Kontakt seit einiger Zeit während der Verwandlung stürzte als wäre es das beste, was ihm jemals passiert war. Mit Wiktor war es ähnlich gewesen - überschwängliche Freude, mit der er seinen Freund teilweise wortwörtlich überfallen hatte - doch der musste ihn während seiner Abwesenheit im Revier vertreten. Dass Vincent nun als konsequente Gesellschaft einfach da war, war für seinen mondfokussierten Kopf manchmal so überfordernd, dass ihm ein wenig schwindelig wurde. Jede Emotion, verdreifacht unter dem Einfluss des Mondes, jedes Geräusch und jede Geste von Vincent drei Mal so bedeutend, wie sie ihm vorkamen, wenn er vollkommen menschlich war.

Jetzt allerdings hatte er keine Ausrede, warum er Vincent ansah als sei er gerade das Zentrum der Welt. 

Irgendwo ziemlich tief in sich drin kannte Adam die Antwort auf seine Verwirrung schon längst. Wann immer er sich allerdings mit den Gefühlen auseinander setzen wollte, rief er sich selbst zur Ordnung. Es war Vincent. Vincent war zu allen freundlich. Sogar zu ihm, nach allem, was an ihrem zweiten Tag geschehen war. Und Adam wollte nicht der Idiot sein, der Gefühle für jemanden entwickelte, nur weil er ihm ein Minimum an Zuneigung entgegengebracht hatte. Das wäre mehr als nur erbärmlich. Aber war es denn wirklich nur das Minimum gewesen? Eigentlich nicht. Es war mehr. Zumindest wollte Adams Herzschlag ihm das weismachen.  

Also definitiv kein Bett für ihn und Vincent zusammen. Das hatte er dem Mann an der Rezeption klar gemacht - und dem Teil seines Verstandes, der sich beinahe beleidigt über die Entscheidung beschwert hatte. 

Was er aber wollte, war Vincent die gleiche Selbstlosigkeit zurückzugeben, die der Vampir ihm gegeben hatte. Das Maß an Vertrauen, das Vincent in der Nacht zu ihm geführt hatte, obwohl er wusste, dass Adams Verwandlung mit der Tablettenabhängigkeit alles andere als sicher gewesen war. 

„Du kannst auch von mir was trinken”, kam der Vorschlag aus seinem Mund bevor er ihn aufhalten konnte. Er meinte ihn so wie er ihn aussprach. Vollkommen aufrichtig. 

Doch Vincent sah ihn an als hätte er gerade das Schlimmste gesagt, das man mit Worten ausdrücken konnte und etwas zog sich krampfhaft in Adam zusammen, mit einem Mal ängstlich. 

„Adam”, zischte Vincent und senkte seine Stimme noch weiter. „So etwas kannst du doch nicht sagen.”

Tatsächlich zuckten seine Augen dabei umher als befürchtete er jemand könnte sie belauscht haben. 

„Warum nicht?” Er sei verdammt, dass auch er die Stimme senkte. War das irgendeine indirekte Beleidigung? Irgendetwas, das Vincent in einen minutenlangen Vortrag stürzen würde, der mit den Worten „Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Adam” endete? Es wäre nicht das erste Mal, das so etwas passierte. Aber mit der Zeit waren Vincents Vorträge zu etwas geworden, dem Adam gern zuhörte und sich hinterher Mühe gab, seine Worte nicht zu wiederholen und Vincent zu beweisen, dass, ja, er in diesem Jahrhundert angekommen war und nicht so verbohrt und stur, wie es manchmal den Anschein hatte. Nichts sah er lieber als Vincents leicht verwirrten, aber stolzen Blick, wenn Adam richtig genderte oder die richtigen Begriffe und keine konservativen Bezeichnungen verwendete. Umso größer war allerdings auch jedes Mal das Stechen, wenn er wieder etwas sagte, das nicht in Ordnung war - ohne es zu wissen. 

Vincent schien die aufrichtige Verwirrung in seiner Stimme glücklicherweise zu bemerken, denn die Falte zwischen seinen Augenbrauen glättete sich etwas. 

„Adam”, seufzte er und verdrehte leicht die Augen. Der Knoten in Adams Magen löste sich etwas, erleichtert. „Es ist lieb - wirklich - dass du das anbietest, aber es wäre einfach… falsch.”

„Falsch?” Nun hatte er definitiv das Gefühl, etwas Grundlegendes zu übersehen.

Vincent sah ihn erwartungsvoll an als würde er darauf warten, dass Adam von allein darauf kam. Leider musste er ihn enttäuschen, denn er starrte nur verwirrt zurück. 

„Du bist ein Werwolf”, sagte Vincent schließlich und Adam schnaubte abfällig. 

„Ja, und? Ich dachte, Vampire haben früher ausschließlich von Werwölfen getrunken.”

„Ja, deshalb eben. - Weißt du nicht, wie viel Geschichte dahintersteckt? Wie viele Jahrhunderte von sozialer Unterdrückung und Gewalt? Folter, Gefangenschaft und Rebellion? Das ist-”

„Sehr lange her, Vincent”, fiel er ihm ins Wort. Zwar verstand er mittlerweile, was das Problem war - oder sein sollte - aber scheinbar war es in Vincents Augen größer als in seinen. „Das ist mehr als einhundert Jahre her.”  

„Nicht so lange, als dass du sagen könntest, dass dein Urgroßvater es nicht erlebt hat.”

„Ich kann dir nicht einmal sagen, wie mein Urgroßvater hieß. - Du sagst doch immer, dass die Zeiten sich geändert haben und wir sie mit offenen Armen begrüßen sollen. Dass ich 'mal schnell mit einigen Dingen klarkommen' soll.”

Adam konnte sich nicht davon abhalten mit einer Handbewegung Vincent und alles an ihm einzufassen. Obwohl der heute nicht einmal einen Rock trug. 

„Und ich komme dann auch sehr schnell mit Dingen klar”, fügte er hinzu, bevor Vincent sich verletzt fühlen konnte oder die Diskussion zu anderen Themen abschweifte, die gerade überhaupt nichts zur Sache taten und die Adam nicht noch einmal durchkauen wollte. Nicht, wenn er eigentlich nur helfen wollte und er dermaßen zurückgewiesen wurde.

An der Überraschung in Vincents Gesicht konnte er ablesen, dass er mit dieser Antwort nicht gerechnet hatte. Stolz darüber konnte Adam sich dieses Mal allerdings nicht fühlen, denn Vincent wich seinem Blick schließlich aus.

„Das ist anders, ok? Genderidentität und Sexualität sind nicht so… vergangenheitsbelastet wie diese ganze Ernährungssache.”

„Wirklich? Sollte nicht ich derjenige sein, der darüber zu entscheiden hat? Als ‘Belasteter’ in dieser Sache? - Was ich nicht bin, um das noch einmal zu betonen.”

Nun presste Vincent die Lippen aufeinander und schien ein paar Momente nachzudenken. 

„Schon”, gab er schließlich zu. „Aber ich fühle mich nicht wohl dabei. Wirklich nicht. Und das solltest du respektieren.”

Für ein paar Momente stierten sie sich gegenseitig an. Adam seufzte schließlich und nickte, wenn auch widerwillig. Jetzt darüber zu streiten würde ihnen überhaupt nichts bringen außer ein schlechtes Gewissen.

„Ok”, sagte er. „Dann lass uns reingehen.”

Er war ganz froh, dass vom Wirt nichts mehr zu sehen war, sondern nur gedämpftes, betrunkenes Gegröle durch die Tür zu ihrer Linken waberte als sie das Gasthaus betraten. Vincent sah mittlerweile aus wie das Klischee eines Vampirs. Er war blass, blasser als sonst, selbst im warmen Licht des Treppenhauses und die Schatten unter seinen Augen stachen dadurch noch mehr hervor. Es half auch nicht, dass er Kajal trug. Von Zeit zu Zeit wankte er auch bedrohlich als würde er vor Müdigkeit die Füße nicht mehr richtig heben können.

„Soll ich nicht doch einen RTW rufen?”

„Adam, ich habe Durst. Ich sterbe nicht.” Vincent verdrehte die Augen und blieb auf der Treppe vor ihm stehen, drehte sich um und sah mürrisch zu ihm herunter. „Und was soll mir ein RTW hier nutzen? Entschuldige das Klischee, aber ein polnischer RTW hat mit Sicherheit nichts für Vampire dabei.”

„Diese Vorurteile gegen Polen…"

„Das meinte ich doch gar nicht-”

„Das sollte auch ein Witz sein. Ich weiß doch, dass deinen Mund nichts Schlechtes verlassen kann.”

Vincent stöhnte leise und presste sich die Handballen auf die Augen. 

„Sorry. Ich bin nicht wirklich auf dem Damm, wenn ich Durst habe.”

„Ja, das merke ich.” 

Und deshalb war Adam auch immer noch der Meinung, dass sie sich ein Taxi rufen könnten, wenn ein RTW schon nicht in Frage kam. Gut, Pawlak würde sie allein für die Fahrtkosten vermutlich auf die Straße setzen, aber Vincent noch länger so zu sehen und ihm nicht helfen zu können, fühlte sich einfach beschissen an.

Ein paar Treppenstufen stiegen sie weiter hoch.

„Was passiert denn noch, wenn du Durst hast?”, wechselte er das Thema. Vielleicht konnte das ja seine Sorgen etwas besänftigen.

„Mir wird kalt.” Wie aufs Stichwort fuhr ein Schauer durch Vincents Körper. Als wäre Adam das nicht schon vorher aufgefallen. „Und ich werde etwas, uhm, kraftlos. - Das restliche Blut konzentriert sich in solchen Momenten darauf, alles Lebenswichtige am Laufen zu halten. Deshalb fällt die Körpertemperatur und die Muskeln-”

„Jajaja, so genau wollte ich das gar nicht wissen.”

Allein der Gedanke, dass fremdes Blut Vincents Körper am Laufen hielt, war gruselig genug und Adam wollte sich nicht mit dem mentalen Bild quälen, obwohl es natürlich genau in diesem Moment eine sehr detailreiche Vorstellung vor seinem inneren Auge zusammensetzte. Ein Körper, der eigentlich nicht leben konnte, weil sein Knochenmark keine Blutzellen bilden konnte - und er sie deshalb aus fremdes Quelle beziehen musste. Entweder direkt vom lebenden Organismus oder glücklicherweise mittlerweile auch synthetisch hergestellt... irgendein Ersatzprodukt, das Vincent des öfteren dabei hatte und daraus trank wie Adam aus seinem Kaffeebecher.

„Und wenn du nun kein Blut bekommst - was passiert dann?”

„Erstmal gar nichts. Mir wird nur immer kälter und manchmal bin auch etwas benebelt." Bei den Worten schlich sich tatsächlich etwas Farbe in die blassen Wagen und Vincent wich seinem Blick für ein paar Momente aus, kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ein bisschen so als wäre ich betrunken. Nach 48 Stunden setzt dann so etwas wie ein Dämmerzustand ein. Nach ein paar Tagen aber erst ein Koma, danach gehts aber sehr schnell und der Vampir stirbt.”

Adam versuchte den Schauer zu unterdrücken, der seinen Rücken herunterlief, schaffte es aber nicht.

Vincent hatte währenddessen die letzte Stufe erreicht, blieb im Flur vor einer Tür stehen und fing mit einiger Mühe den kleinen Zimmerschlüssel, den Adam ihm zuwarf.

„Ich will mich einfach nur eine Decke einwickeln und schlafen.” Wie aufs Stichwort gähnte Vincent, entblößte dabei vier sehr spitze Eckzähne und fuhr sich danach durch die Haare.  „Gute Nacht, Adam. Bis morgen.”

„Bis morgen”, konnte er nur echoen und sah Vincent hinterher, bis die Tür ins Schloss fiel.

Wirklich zufrieden ließ er sich nicht auf sein eigenes Bett fallen und ein paar Minuten verbrachte er damit, grimmig an die Decke zu starren. Das Zimmer war klein und nicht wirklich unähnlich dem winzigen Dachverschlag, den Olga damals gebucht hatte - bevor die Erinnerung daran allerdings wieder an die Oberfläche kommen konnte, drehte sich Adam mit einem Seufzen auf die Seite und vergrub den Kopf in dem dünnen Kissen. 

Er wusste schon jetzt, dass an Schlaf nicht zu denken war in dieser Nacht. Zwar reduzierte er in Absprache mit einem Arzt, den Vincent ihm rausgesucht hatte, Lunapredin seit einigen Monaten und musste sich der Erkenntnis stellen, dass es ihm sogar besser ging als mit den Tabletten - schlafen war aber noch immer nicht wirklich mit seinem Körper vereinbar. Es verbesserte sich so langsam, dass der Fortschritt kaum zu erkennen war und heute hatte er genug im Kopf, dass er es nicht einmal zu versuchen brauchte. Da Vincent ihm bevorzugt in seinen Gedanken herumspukte, zog er schließlich sein Handy hervor (‘kein Empfang’ - wie sollte es auch anders sein) und wälzte den Fall, an dem sie saßen, einige Zeit herum. Neue Erkenntnisse ergaben sich dabei nicht, selbst nach einer Stunde, in der er sich bei dem schwachen Licht der Nachttischlampe immer mal wieder über die müden Augen gefahren hatte. 

Trotzdem schlich sich Vincent immer wieder in den Vordergrund und Adam kam irgendwann zu dem Schluss, dass er sich mehr von seiner Abweisung getroffen fühlte als er sollte. Doch der nagende Zweifel blieb, ob Vincent diese ganze Sache mit der Vergangenheit nicht einfach vorgeschoben hatte, weil ihm keine bessere Ausrede eingefallen war. Eigentlich war Adam klar, dass seine Gedanken keinen Sinn ergaben. Vincent war klug genug, um eine Ausnahmesituation zu erkennen. Selbst wenn er ihn nicht mögen würde - für was es absolut keine Hinweise gab - hätte er vor ihm getrunken, wenn die Lage so ernst war wie jetzt. 

Es war wirklich nur die Zurückweisung, die Adams Magen zu einem festen Knoten zusammenpresste, bis nichts anderes mehr in seinem Kopf war außer Vincent.

Ein Klopfen riss ihn aus seinen kreisenden Gedanken und ihm fiel beinahe das Handy aus der Hand auf das Gesicht. 

„Adam?”, kam Vincents gedämpfte Stimme von hinter der Tür und Adam kam gar nicht schnell genug auf die Beine, um die sie zu öffnen. Der Knoten in seinem Magen zog sich mit einer plötzlichen unruhigen Sorge noch weiter zusammen. 

Vincent stand vor ihm auf dem Flur in die geblümte Bettdecke gewickelt, die auch auf Adams Bett lag. Die Schatten unter seinen Augen waren noch ausgeprägter als vor einer Stunde und mit einem weiteren Zittern zog er sich die Decke enger um die Schultern. 

„Ich wollte dich fragen, ob du noch ‘ne Decke für mich hast”, sagte er leise und Adam sah unwillkürlich zurück auf sein Bett und die Decke, die er noch nicht benutzt sondern nur darauf gelegen hatte. Drei Grad höhere Körpertemperatur hatte seine Vorteile. Im Gegensatz zu Vincent, der mit seiner deutlich niedrigeren Körpertempertur nun sichtbar zu kämpfen hatte. Vielleicht unpassend der Situation gegenüber, doch Adam verspürte eine spontane Erleichterung, dass er als Werwolf auf die Welt gekommen war. 

„Klar kannst du-”

Auch noch meine Decke haben , hatte er eigentlich sagen wollen, doch Vincent hatte sich in diesem Moment an ihm vorbei gedrückt und sich mit dem Gesicht voran auf sein Bett geworfen. Seine Hand tastete nach Adams Decke und schlang sie um sich. 

„Warm…”, hörte er ihn leise murmeln und sah ihn sich strecken, bevor er sich lächelnd einrollte. „Einfach warm.”

Adam brauchte ein paar Sekunden, in denen er einfach nur blinzelnd Vincent auf dem Bett ansah, bevor er die Tür schloss und verwirrt zurück in Richtung Bett ging.

Er räusperte sich.

„Ähm, Vincent…?”

Vincent murrte leise unter seinem Berg von Decken, doch Adam stellte erleichtert fest, dass er viel entspannter aussah als noch Sekunden zuvor. Sein Kopf mit den wuscheligen Haaren drehte sich in seine Richtung und er sah Adam müde an. 

„Sorry, ich hab nur einfach richtig Durst. Und mir ist saukalt.” 

Adams Mundwinkel zuckten bei der Ausdrucksweise, doch er zog nur die Schultern hoch und setzte sich neben Vincent auf das mit einem Mal sehr schmale Bett. Für ein paar Momente saß er schweigend neben ihm, lauschte auf seinen Atem und beobachtete, wie Vincent sich auf die andere Seite drehte. Schließlich gab er sich jedoch einen Ruck.

„Ich biete es dir jetzt noch einmal an. Dieses Mal vollkommen bewusst, wie, was, warum und weshalb - du musst etwas trinken, Vincent. Ich seh' mir das jetzt nicht die ganze Nacht an. Du kannst etwas von mir trinken, ok?”

Vincents Kopf kämpfte sich wieder auf die andere Seite. Dieses Mal sah er beinahe… interessiert an dem Angebot aus. Adam schluckte unwillkürlich und bemerkte, wie Vincents Augen reflexartig zu seiner Kehle zuckten, wo er ohne Zweifel seinen Pulsschlag sehen konnte - und, so schnell wie Adams Herz mit einem Mal in seiner Brust raste, ihn vermutlich auch hören konnte. 

Als hätte er bemerkt, was er da tat, wandte Vincent stöhnend den Blick wieder ab und vergrub seinen Kopf im Kissen. Er blieb ein paar Sekunden still, dann sprach er endlich. 

„Ich nehm' aber nicht viel.”

Erleichterung war das erste, das Adam spürte und gleich danach war er es, der die Augen zur Decke verdrehte. Natürlich nicht. Vincent würde ja niemals mehr nehmen als er dachte, dass es ihm zustand. Dabei wäre das, nach Adams Einschätzung, die ganze Welt im Moment.  

„Das musst du am besten wissen.”

Ganz ruhig versuchte er es zu sagen, doch nun machte sich leichte Unruhe in ihm breit und wurde auch nicht besser als Vincent sich langsam aufrichtete und sich zu ihm drehte. Kurz flackerte sein Blick zu Adams, suchte dort noch einmal nach seiner Zustimmung, die Adam ihm nur zu gern mit einem Nicken gab. Bevor er ihm jedoch sein Handgelenk reichen konnte, hatte sich Vincent bereits in seine Richtung bewegt und ein Bein über seinen Schoß geschwungen - und Adam hörte für ein paar Momente auf zu denken. Und sich zu bewegen. Erstarrt war er unter Vincent, mental wie körperlich. 

„Ähm, Vincent…?”, stellte er seine Frage ganz leise, denn Vincent war ihm so nah, dass er spüren konnte, wie dessen Haare auf seiner Haut kitzelten. Die Durchbrechung der Stille schien den Vampir vor ihm kurz auszunüchtern und Vincent zuckte zurück, bis er Adam wieder in die Augen sehen konnte. 

„Sorry, ich-”

Für einen quälend langen Moment glaubte Adam, dass er Vincent verschreckt hatte. Dass er sich dieses Trauerspiel nun doch die ganze Nacht antun musste. Unwillkürlich legte sich seine Hand auf Vincents unteren Rücken und hielt ihn da, wo er saß. Auch, wenn das genau Adams Schoß war. 

„Ich erinnere mich, keine Sorge. Benebelter Zustand und so weiter. - Ich dachte nur, das Handgelenk ist-”

„Ich weiß. Aber hier oben ist es besser.”

Vincents Finger fuhr über Adams Halsschlagader und ein Schauer gleichzeitig Adams Rücken herunter, gefolgt von einer neuen Welle Unruhe. Vielleicht war Vincent nicht ganz so bei Sinnen wie es den Anschein hatte. Und vielleicht hatte Adam nie so wirklich darüber nachgedacht, dass jemand ihm in den Hals beißen würde. Ein paar Überlebensinstinkte erwachten jedenfalls in diesem Moment zum Leben und wiesen ihn auf den Umstand hin, dass sich nicht nur seine Halsschlagader dort befand sondern auch ein paar andere wichtige Teile, wie seine Luftröhre. 

„Ok”, sagte er schließlich, mehr zu Vincents Wohl als zu seinem. „Du bist der Fachmann. Tut mir leid. Ich wollte dich nicht aufhalten.”

Die Worte waren beinahe absurd in Anbetracht ihrer Situation.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Vincent sich wieder vorlehnte und fühlte nur eine Sekunde später, wie dessen Atem über seine Haut strich. Nur am Rand nahm er wahr, dass Vincents Hände jeweils auf einer seiner Schultern lagen, dann spürte er auch schon, wie Vincents Zähne seine Haut an seinem Hals durchbrachen. 

Es zog. Nur für ein paar Momente. Nicht mehr als die Nadel beim Blutabnehmen und verhallte schnell wieder, wie ein Echo. Dafür breitete sich eine Wärme an der Stelle aus. Wohlige Wärme als würde die Sonne auf seine Haut scheinen und mit einem Mal auch durch seine Adern fließen, gefolgt von einem angenehmen, tauben Kribbeln, das die Haare dazu brachte sich aufzustellen. 

Von Vincent oder seinen Zähnen spürte er überhaupt nichts mehr, sah ihn auch nicht mehr, denn wie Adam feststellte, hatte er die Augen geschlossen und den Kopf noch mehr zur Seite geneigt, alle gerade erst gefundenen Überlebensinstinkte von einer Sekunde auf die nächste ausgelöscht. 

Vampire waren stille Jäger, fiel es ihm wieder ein. Anders als Werwölfe. Sie lauerten, sie überfielen und sie töteten dich, ohne, dass du es überhaupt merkst. Das Gift, drang es durch seinen vernebelten Verstand durch. Das war die Wärme, die er spürte und die sich rasant in seinem Körper ausbreitete. Mit ihr kam ein wunderbares Gefühl von Zufriedenheit, auf das ihn nichts hätte vorbereiten können und eine dichte Wolke, die seinen Verstand einhüllen wollte. 

Irgendwo tief vergraben wusste er, dass Vincent ihn nicht töten konnte. Dafür waren Werwölfe zu anders als Menschen - deshalb hatte es diese ganze Unterdrückung überhaupt gegeben. Und im Moment dachte er auch nicht daran, dass Vincent irgendeinen anderen Gedanken hatte als nur ein wenig Blut zu nehmen. Eigentlich dachte er an kaum etwas anderes außer die Wärme und Vincents Körper, der sich gegen seinen presste. 

Und mit einem Mal zerriss ein panischer Gedanke Adams Wohligkeit, je weiter die Wärme in seinem Körper südlicher sank. Es war nicht nur das Gift, wurde ihm plötzlich klar, das war Adams Körper ganz allein, der bei der Vorstellung, wie sie hier saßen, ganz eigene Gedanken bekam. So, wie Vincent im Moment saß, würde es ihm unwillkürlich auffallen. Die Panik sank tiefer, rüttelte ihn weiter wach, bis er fast glaubte, sich wieder bewegen zu können bevor sein Körper das Rennen gegen seinen Verstand gewann. 

Bevor auch nur eines von beidem passierte, wich Vincent von ihm ab und mit ihm versickerte die Wärme beinahe augenblicklich aus Adams Körper, wie ein Lichtschalter, der umgelegt wurde. Nur einen Augenblick später presste Vincent seinen Ärmel auf die Stelle an Adams Hals und ein feines, aber stetig wachsendes Pochen kehrte zu der Wunde zurück, die sich langsam in seinen Nacken ausstrahle. Eine verspätete Reaktion als würde seinem Körper erst jetzt auffallen, dass er blutete.

„Besser?”, bekam er schließlich zustande, nachdem er sich sicher war, dass er die Reaktionen seines Körpers wieder unter Kontrolle hatte und auch wirklich das letzte bisschen des Nebels seinen Verstand verlassen hatte.

Vincent gab ein kurzes, atemloses Lachen von sich und lehnte sich zurück. 

Adam sah sich plötzlich zwei beinahe schwarzen Augen gegenüber; so geweitet waren Vincents Pupillen. Doch er lächelte. Breit und hell, aber noch immer müde. 

„Ja, danke.” 

Er rutschte von Adams Schoß und gerade als er dachte, Vincent würde aufstehen und gehen, ließ sich dieser auf die Seite fallen und vergrub sich wieder in den Decken. Leise seufzend rollte sich Vincent so gut es ging ein und für ein paar lange Momente schien es fast so als sei er auf der Stelle eingeschlafen. Dann erschien plötzlich eine winzige Falte auf seiner Stirn. Vielleicht die Erkenntnis, dass das hier noch immer nicht sein Bett war. Mit einem seltsamen Ausdruck sah er zu Adam hinauf; eine stumme Bitte, stellte Adam schließlich fest. Eine Bitte, ihn nicht vor die Tür zu setzen. 

Adam seufzte ein theatralisches Seufzen und rückte hinter Vincent, bis er neben ihm lag und über ihn hinweg zur Nachttischlampe greifen und diese ausknipsen konnte. Kaum, dass sich der Raum in Dunkelheit hüllte, gab Vincent ein zufriedenes „Mh” von sich und drückte sich etwas näher an Adam, suchte scheinbar noch immer mehr Wärme als sein Körper produzieren konnte und Adam drehte sich unwillkürlich auf den Rücken.

Es fühlte sich seltsam beruhigend an, Vincent so nahe zu sein und er schloss die Augen, fühlte sich allerdings mit einem Mal knapp zwei Jahre zurück in die Vergangenheit geschleudert.

„Das ist das zweite Mal, dass ich mir mit einem Kollegen das Bett teilen muss.”

„Du hast mit Olga in einem Bett geschlafen?”, nuschelte Vincent, der Verstand schon halb am Schlafen, aber scheinbar noch wach genug, um eins und eins zusammen zu zählen. 

„Ja.”

Ein Lachen schüttelte Vincents Körper unter den Decken. 

„Die Geschichte musst du mir morgen erzählen. Da bin ich ja gespannt, wie das zustande gekommen ist.”

Adams Mundwinkel zuckten, doch noch bevor ihm eine Antwort darauf einfiel, fielen Vincents Augen ganz zu und mit einem tiefen Atemzug war er eingeschlafen. 

 


 

Erst als der Wecker auf Adams Handy sie um viertel vor sieben beide aus dem Schlaf riss, stellte er überhaupt erst fest, dass er geschlafen hatte. Eine Menge sogar - fünf Stunden am Stück, wenn er sich richtig an das letzte Mal erinnerte, dass er auf sein Handy gesehen hatte. Natürlich fühlte er sich genauso gerädert wie sonst, doch das Gefühl war schnell vergessen, als er die Augen aufschlug und in den dicken Mopp aus wuscheligen Haaren von Vincent schaute, unter dem nach einigem Murren auch Vincents Augen auftauchten. 

Er sah besser aus. Nicht mehr so blass und seine Augen waren nicht von tiefen Schatten unterlaufen. Nur sehr klein und müde - und sie weiteten sich erschrocken als er Adam erkannte. Innerhalb von einer Sekunde konnte er beobachten, wie sich Vincents Gedankengänge auf seiner Stirn spiegelten, sah zu wie sich Verwirrung zu Erinnerung und schließlich Erkenntnis wandelte.

Bevor Adam etwas sagen konnte, versuchte Vincent sich aufzurichten. Der hatte sich allerdings letzte Nacht so erfolgreich in seine Decken eingewickelt, dass er mit einem leisen „Uff” mit dem Hintern auf dem Boden landete.

„Einen guten Morgen”, murmelte Adam zurück, rieb sich über die Augen und setzte sich auf, um über die Bettkante nach Vincent zu schauen, während er sich das Lachen verkniff. Vincent hingegen sah überhaupt nicht so aus als sei ihm gerade zu lachen zumute. 

„‘Tschuldige”, sagte er. „Ich wusste nicht… ich dachte nicht… - ich hatte eigentlich nicht vor, hier zu schlafen, wirklich. Ich war nur so müde und wollte kurz die Augen zumachen…”

Adam bekam ein aufmunterndes Lächeln zustande. 

„Hey, alles in Ordnung. Erinnerst du dich noch daran, dass ich dir von Olga erzählt habe? Ist nicht das erstes Mal.”

Vincents Augenbrauen zogen sich zusammen, er schien nachzudenken und nach kurzer Zeit zu finden, nach was er gesucht hatte. 

„Oh”, sagte er, schaffte es endlich sich mit Ruhe aus den Decken zu schälen und fuhr sich durch die Haare, stemmte sich langsam hoch. Es schien ihm allerdings noch immer unangenehm zu sein, denn er sah überall hin, nur nicht in Adams Gesicht. 

„Mietwagen?”, half Adam ihm aus und Vincent nickte überschwänglich. 

Gegen halb acht saßen sie im Wagen in Richtung Slubice und Adam war mehr als dankbar als Vincent das Radio aufdrehte und danach entweder so tat als würde er schlafen oder wirklich wieder einnickte. Er wusste nämlich auch nicht, was er sagen sollte. Selbst die eigentlich ziemlich witzige Geschichte zwischen Olga und ihm und dem viel zu kleinen Bett wollte nicht über seine Lippen kommen. Vielleicht aus dem Grund, dass er sich davor fürchtete Vincent könnte mehr Fragen stellen - und leider hatte sich der Adam damals wie ein Arschloch verhalten. Darüber, dass er sich über Olga und ihre Tochter beschwert hatte, wollte er Vincent nichts erzählen; schon gar nicht an dem Morgen nachdem Vincent von ihm getrunken hatte, obwohl er einen Tag zuvor noch über die moralische Verantwortlichkeit gesprochen hatte.

Es würde nur dazu führen, dass sich Vincent noch mehr unnötige Gedanken machte.

Nach den Vollmondnächten hatten sie immer einen Tag, den Adam krankgeschrieben zuhause verbrachte und an dem sie sich nicht sahen und sich ihre Worte genau zurechtlegen konnten. Nun fühlte sich alles zu direkt an und Adams Finger fuhren nicht zum ersten Mal unwillkürlich über die Stelle an seinem Hals, wo Vincent ihn gebissen hatte. 

Er fühlte sich noch immer verdächtig ruhig, nach allem was passiert war, und nahm sich im gleichen Moment vor, Vincent niemals zu sagen, dass er es jeden Moment wieder tun würde. Von dem Stigma, das er fühlen sollte, war jedenfalls noch immer nichts zu spüren. Nur eine tiefe Zufriedenheit und das gelegentliche Bild von Vincent auf seinem Schoß. Aber das waren andere Gedanken, die ihn dazu brachten das Radio etwas lauter zu drehen, um sie auszublenden.

Stattdessen weckte er Vincent auf als sie die ersten Vororte von Slubice erreichten und hielt an einem Supermarkt, aus dem Vincent mit einem breiten Lächeln und einer Tüte wieder erschien. Scheinbar hatte er die kurze Zeit genutzt, um seine eigenen Gedanken zu ordnen.

„Das ist für mich”, sagte er als er sich wieder auf den Beifahrersitz fallen gelassen hatte und zog eine Flasche aus der Tasche. Irgendein Ersatzprodukt in einer farbenfrohen Verpackung. 

„Und das ist für dich.” Vincent drückte ihm einen dampfenden, heißen Becher Kaffee in die Hand. 

„Aw, du kennst mich zu gut”, stichelte Adam, versuchte das Wasser testen und grinste ihn breit dabei an. 

„Ich will nur, dass wir auf den letzten Metern keinen weiteren Unfall bauen”, stichelte Vincent zurück und erwidert das Grinsen ohne zu zögern. 

Ein Gewicht, von dem Adam nicht einmal wusste, dass es da war, fiel mit einem Mal von ihm ab und er stieß ein schnaubendes Lachen aus.

„Als wäre das erste Mal mein Fehler gewesen.” 

Kopfschüttelnd startete er den Motor und nur eine Viertelstunde später standen sie endlich wieder auf der Wache als wären sie niemals weg gewesen.

Adam übernahm die Aufgabe, Pawlak von den bevorstehenden Kosten zu unterrichten und ein ziemlich anstrengendes Gespräch später fand er Vincent bei Wiktor, mit dem er sich leise über den Fall unterhielt.

„Wieder zurück in der Zivilisation?”, grinste Wiktor ihn an als er zu ihnen trat. Scheinbar hatte Vincent ihm schon von ihrer ungeplanten Übernachtung erzählt. 

„Ja, zum Glück. - Hat Vincent dich auf den neuesten Stand gebracht, was den Fall angeht?” 

Adam wurde mit einem Mal klar, dass sie die letzte Viertelstunde Fahrt nur damit verbracht haben, sich gegenseitig auf den Arm zu nehmen, aber nie darüber gesprochen hatten, was und wie viel sie den anderen erzählen wollten.

Wiktor schien von dem abrupten Themenwechsel nicht überrascht, nickte in Richtung seines PCs und Adam sah, dass er bereits mehrere Fenster auf dem Bildschirm offen hatte, die alle verschiedenen Hinweisen nachgingen. Nur zu gern tat Adam so als würde er sich in die Analyse der Bilder stürzen, wenn es sie alle davon abhielt, über die letzte Nacht zu reden.

„Adam”, riss Wiktor ihn nach einigen Momenten aus seinen Gedanken und er sah verwirrt zu ihm. Wiktor räusperte sich, griff sich an den Kragen seines Hemds und zupfte daran. „Du hast da was.”

Adam brauchte eine quälend lange Sekunde, bis ihm klar wurde, was Wiktor meinte. Dann bekam er die Hand allerdings gar nicht schnell genug zu seinem eigenen Hemdkragen, um ihn in die Höhe zu ziehen und gerade zu richten. 

Nun war er es, der sich räusperte und gab bestimmt kein überzeugendes Bild dabei ab, wie er sich scheinbar nebensächlich wieder den Bildschirmen zuwandte als sei es das Interessanteste, das er gerade zu sehen bekäme. 

„Wir hatten ein paar zusätzliche Probleme. Oder, naja, ich hatte Probleme”, hörte er, wie Vincent Wiktor leise und mit einer deutlichen Verlegenheit in der Stimme aufklärte. 

Wiktors aufmerksamer Blick huschte von der nun verdeckten Bissstelle an Adams Hals zu der Flasche in Vincents Hand, dann breitete sich ein wissendes Grinsen auf seinem Gesicht aus. 

Gerade als sich sein Mund öffnete, hielt Adam jedoch eine Hand hoch und fiel ihm ins Wort.

„Sag einfach nichts. Gar nichts. Wir vergessen alle, was wir gesehen haben und sprechen nie wieder davon.”

Wiktor schmunzelte, nickte aber schließlich. Genau wie Vincent, der mit leicht geröteten Wangen aus dem Fenster starrte. Adam selbst wusste, dass er das nicht vergessen würde. Wollte. Erinnerte sich an Vincents Körper neben seinem. Und endlich fiel ihm das Wort ein, das er so lange gesucht hatte. 

Sicher. 

Ob nun in der Vollmondnacht oder schlafend im Bett neben Vincent. 

Er fühlte sich sicher.