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LemonSoda e Girasoli

Summary:

Als es irgendwann klingelt, weiß Adam schon, dass es seine Mutter ist, ohne zu fragen. Er weiß, dass es 21:55 ist, ohne auf seine Armbanduhr zu schauen. Und er weiß, dass Leo genauso wenig will, dass er geht, ohne ein Wort zu sagen.
„Ciao“, sagen Leos lila Lippen.
„Ciao“, sagt Adam, und hat es plötzlich doch ein bisschen eilig, seiner Mutter zu folgen.

 

Die Schürks machen Urlaub. Die Hölzers betreiben einen Ferienhof, der nach den Sonnenblumenfeldern benannt ist, die ihn umgeben. Zwei Wochen Sonne, Limonade und Radfahren. Und zwei Jungs, die sich finden, ohne überhaupt gesucht zu haben.

🌻 🇮🇹 🍋

Notes:

*shoves this summer fic at you on the last day of august*
Für etwas mehr Sonnenschein :)

Ich will nicht sagen, diese ganze Idee beruht auf "Was wenn Leos voller Name einfach Leonardo wäre?", vier Italien-Urlauben zwischen 2001 und 2008 und einer Fic, die ich Mitte der 2000er für ein anderes Fandom geschrieben und nie veröffentlicht habe, aber … doch.

Die ersten zwei Kapitel sind so kurz, dass ich sie beide auf einmal poste, aber da das ganze noch ein WIP ist, werde ich nicht so schnell updaten können. Vergebt mir ❤️

Begleitend zu dieser Fic gibt es eine Spotify Playlist, die ich beim Schreiben hoch und runter höre. Inspiriert von Hits aus dem Sommer 2006, generic Italo Pop, ein bisschen Call Me By Your Name-Soundtrack und eine handvoll Songs, die nur für mich Sinn machen. Enjoy!

Chapter 1: 1. Girasole

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

 

 

1. Girasole | LEO

 

Etwas trifft Leo hart im Gesicht. Er stöhnt. In der Dunkelheit spürt er, wie ein Körper sich auf ihn wirft und ihn niederpinnt. Panik steigt in ihm hoch, aber er kann sich nicht wehren. Er ist wie gelähmt, seine Hände verheddert im dünnen Laken—

Zwei schwache Fäuste trommeln auf seiner Brust.

„Steh auf jetzt, du Penner! Ich hab Hunger“, quengelt Caro und rollt sich von ihm herunter.

Leo schlägt die Augen auf, während seine Schwester seine Fensterläden öffnet.

Es ist alles okay. Niemand greift ihn an. Nicht hier. Nicht mit bösen Absichten.

Er atmet tief durch. Grummelt „komm ja schon“, reibt sich die Augen, und Caro sammelt ihr Couchkissen wieder ein, das sie Leo ins Gesicht gepfeffert hat.

„Hunger“, wiederholt sie noch einmal mit Nachdruck und hüpft aus Leos Zimmer.

 

Es stellt sich heraus, dass Caro heute besonders unruhig ist, weil am Nachmittag zwei neue Familien anreisen – eine aus England und eine aus Saarbrücken.

„Wäre das nicht witzig, wenn das jemand wäre, den wir kennen?“, fragt Caro beim Frühstück, auf das sie so sehnsüchtig gewartet hat. Leo ist immer wieder beeindruckt, wie gut sie morgens drauf ist. Ihre Eltern sind zwar auch keine Morgenmuffel, aber selbst sie freuen sich, von Kaffeegeruch geweckt zu werden, wenn Caro mal wieder Frühstück macht. Höchstwahrscheinlich werden die drei aber auch nicht regelmäßig von Albträumen geplagt und kriegen so einen gesünderen Schlaf.

Leo gähnt. Nicht einmal in den Sommerferien kann er ausschlafen. Irgendwann macht er ganz alleine Urlaub und schläft, wann und wo er will. Auch tagsüber.

Sein Vater setzt seine Lesebrille auf und wirft einen Blick auf die Buchung, die ausgedruckt neben ihm liegt.

„Sagt jemandem der Name Schürk etwas?“

Alle schütteln den Kopf.

„Dann machen wir uns wohl neue Freunde diesen Sommer.“

„Haben die wenigstens Kinder?“, fragt Caro ungeduldig. Im Gegensatz zu Leo ist sie ziemlich extrovertiert und freundet sich so ziemlich mit jedem Urlaubsgast an, der zu ihnen auf den Hof kommt. Dafür hat Leo sie immer etwas beneidet.

„Ein Kind in Leos Alter, glaube ich“, antwortet ihre Mutter, die immer alles auswendig weiß. Sie schaut rüber zu ihm. Er muss ziemlich beschissen aussehen, denn sie streicht ihm über das vom Schlaf zerzauste Haar. „Alles okay, tesoro?“

Leo nickt träge. „Irgendwann mal ausschlafen wäre schön“, sagt er mit einem bösen Blick an Caro. „Kann ich Kaffee?“

Seine Mutter reicht ihm die Kanne. „Kaffee löst auch nicht alles, amore moi.“

„Heute schon“, seufzt Leo. Oder zumindest hofft er das.

 

Zur Fattoria Girasole gehören das Gutshaus, ein Tennisplatz, ein großer Garten, zwei Gewächshäuser, ein Gemüsegarten, zwei Ferienhäuser mit jeweils zwei Wohnungen (eine oben, eine unten), ein Grillplatz mit Tischtennisplatte und Boccia-Bahn, ein Pool, und das Sonnenblumenfeld, nach dem sie benannt ist. Jeden Somme und meistens eine Woche im Winter verbringt Leo hier, seit er denken kann. Er erinnert sich selber kaum an seine Großeltern, die ihrer Tochter Barbara dieses Gut vererbt haben, aber das Haus steckt voller Dinge, die an sie erinnern.

Als Leo nach dem Frühstück vor die Tür tritt, läuft er fast Nando über den Haufen, der mit einer Schubkarre voller Erde an ihm vorbeitrottet. Der alte Mann ist wahrscheinlich schon seit zwei oder drei Stunden am arbeiten.

Ciao, Leonardo“, krächzt er vergnügt und nickt ihm zu.

Buon giorno, vecchio!“, grinst Leo und läuft schnell an ihm vorbei, bevor der Alte ihn noch ausschimpfen kann. Hinter sich hört er trotzdem Nandos Gemecker.

Nando und seine Frau Maria haben schon auf dem Hof gearbeitet, als seine Mutter noch klein war und werden auch bis an ihr Lebensende hier bleiben. Sie wohnen in einem eigenen kleinen Haus auf dem Hof und haben die meiste Zeit des Jahres ihre Ruhe vor den Hölzers. Leos Großeltern hatten hier ihren Hauptwohnsitz und waren gar nicht glücklich, dass ihre Tochter ihre Kinder lieber in Deutschland großziehen wollte. Aber Barbara war nun mal verliebt und so glücklich, dass sie nachgaben. Mit der Bedingung, dass Barbara das Gut übernehmen würde, wenn sie sterben. Und das Versprechen hatte sie dann auch eingehalten.

Sowieso ist die Geschichte der Hölzers wie aus einem Buch: Leos Vater Georg war selbst mit seinen Eltern in den späten Siebzigern zum ersten Mal auf den Hof gekommen, als Gast, und seitdem jedes Jahr, bis sich endlich etwas zwischen ihm und der schönen Tochter der Gastgeberfamilie Porcelli entwickelte. Barbara hatte sich lange geziert, aber konnte irgendwann nicht mehr widerstehen, und der Rest … ist Geschichte. Sie gingen zusammen nach Deutschland, nach Saarbrücken, bekamen zwei Kinder, erzogen sie zweisprachig, die Großeltern starben, der Hof wurde vererbt, und Leos Sommer sind seitdem unheimlich spannend und langweilig zugleich. Er lernte schwimmen im Mittelmeer und Radfahren auf dem Feldweg, durfte den nagelneuen Pool ein paar Jahre später einweihen, half Maria beim Pastamachen, trauerte 2000 mit dem ganzen Ort um Italiens EM-Verlust, überfraß sich jeden Sommer an Gelato und war mit 10 schon Geburtshelfer von fünf Kätzchen, von denen zwei heute immer noch auf dem Hof leben.

Eine von ihnen streicht Leo nun um die Beine. „Hey, Gucci“, begrüßt er sie. Der blöde Name ist natürlich einer neunjährigen Caro verschuldet, die sich damals heftigst mit Leo um die Namensgebung der Babykatzen gestritten hat. Gucci ist geblieben, als Name und in Person. Gucci schnurrt laut und wirft sich vor ihm in den Dreck, rollt sich darin und sprintet dann genauso schnell wieder weg, wie sie gekommen ist, als Leo sich zum Streicheln hinhockt. Er seufzt. Immer das gleiche mit ihr. Aber jetzt steht nichts mehr zwischen ihm und seiner morgendlichen Runde im Pool.

 

Die erste Familie, die nachmittags ankommt, sind die Engländer – vier Erwachsene und zwei Kinder im Grundschulalter. Sie beziehen eine Ferienwohnung in der oberen Etage und Leo schreibt sie als uninteressant ab. Ein Ferienhaus ist bereits bewohnt von einer Familie aus Österreich in der unteren Etage (ebenfalls uninteressant – ein Pärchen mittleren Alters mit erwachsener Tochter, kleinem Enkelkind und großem Hund) und den Gentiles in der oberen. Wie immer. Die Gentiles aus Lucca kommen seit Jahren jeden Sommer und bleiben vier Wochen. Caro und Tati sind im gleichen Alter und treiben sich von früh bis spät zusammen herum, sodass Leo immerhin zwei Drittel seiner Sommerferien etwas Ruhe vor seiner Schwester hat. Nicht dass Tati ein guter Einfluss wäre – sie ist noch extrovertierter als Caro und diejenige, die den Mädels manchmal heimlich irgendwo Zigaretten besorgt. Leo tut so, als würde er das ignorieren – oder zumindest hält er dicht, solange Caro ihren Eltern nicht erzählt, dass Leo 80% der Zeit, wenn er ‚Fußballspielen’ im Ort ist, gar nicht Fußballspielen ist und erst recht nicht im Ort. Er ist in der capanna, von der niemand weiß, wo sie ist, und das ist besser so. Das ist eine Abmachung, die die Geschwister stillschweigend einhalten, wenn sie sich schon sonst selten über irgendwas einig werden können.

Die Schürks aus Saarbrücken kommen etwa zwei Stunden nach den Engländern an und beziehen die letzte leere Wohnung in der unteren Etage des zweiten Hauses. Ein kerniger Typ mit kurzgeschorenen Haaren, eine zierliche Frau und wie angekündigt ein Kind in Leos Alter – gleicher militärischer Haarschnitt wie der Vater, große, blaue Augen und teure Turnschuhe. Das kann in alle Richtungen gehen und Leo hofft das beste. Er hat gar keinen Bock auf Angeber im Pool. Aber ihm ist eine Woche nach Ankunft in der Fattoria schon langweilig und er hätte nichts gegen einen neuen Kumpel einzuwenden. Vielleicht würde er dann wirklich mal Fußballspielen gehen und es wäre nicht mal eine Lüge.

Notes:

Wenn du es bis hierher geschafft hast: Mille grazie e baci baci baci! ❤️

Besten Dank auch an @apaethy fürs Beta lesen und sich mit meinen kläglichen Italienisch-Versuchen auseinandersetzen! ❤️

Chapter 2: 2. Aperitivo

Notes:

Zeit für Adams POV! :)
(Sie werden sich in jedem Kapitel abwechseln)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

2. Aperitivo | ADAM

 

Adam schält sich aus dem Auto. Sein T-Shirt klebt, er hat seit Stunden gefühlt nichts anderes gesehen als Zypressen und Sonnenblumen und das Schweigen seiner Eltern die letzten 10 Stunden war fast so schlimm wie die klassische Musik, die nur von Verkehrsnachrichten unterbrochen wurde. Der Höhenunterschied in der Schweiz hat ihm zu schaffen gemacht, sein MP3-Player ist aus Versehen im Kofferraum gelandet statt auf der Rückbank und nach ein paar Seiten lesen wird ihm im Auto grundsätzlich schlecht. Zum Glück ist er immer wieder weggenickt, durfte sich alle paar Stunden die Füße vertreten und sie sind zeitlich relativ gut durchgekommen.

Hier ist die Luft gut. Es ist zwar warm und Adam bereut etwas, eine lange Jeans angezogen zu haben, aber er weiß, dass er spätestens morgen früh immerhin in den Pool springen darf.

Sein Vater hat extra eine Ferienanlage ausgesucht, in der er seine Ruhe haben und mit Adam trotzdem einen strikten Urlaubs-Trainingsplan einhalten kann. Morgens wird Adam Schwimmtraining im Pool haben, abends Lauf- und Krafttraining auf dem Tennisplatz. Tagsüber wird er, so zumindest der Plan, Freizeit haben, aber Adam traut dem noch nicht so recht. Er wüsste nicht mal wirklich, was er mit dieser ominösen ‚Freizeit’ anstellen sollte. Am Pool relaxen? Sonnenbaden? Mit seiner Mutter Kartenspielen? Das sind Dinge, die ihm fremd sind. Sowas hat er zuletzt vor fünf Jahren gemacht, als sie noch mit Onkel Boris und seiner damaligen Freundin Urlaub gemacht haben. Vielleicht sollte Adam anfangen, italienisch zu lernen, bloß um sich irgendwie zu beschäftigen …

Sein Gedankengang wird jäh unterbrochen, als ein Hund um die Ecke gerannt kommt und ihn fast von den Füßen reißt. Instinktiv knallt Adam ihm die Autotür vor der Nase zu, bevor er auf die Idee kommt, hineinzuspringen. Das wäre das letzte, was seinem ohnehin schon gestressten Vater noch fehlen würde: ein dreckiger Hund im Auto.

Leider ist der Hund unheimlich groß und Adam schaut ihm extra nicht in die Augen, drückt sich ans Auto, als er ihn beschnuppert. Zum Glück wird das Biest schnell wieder von einer Frau, die mit Baby auf dem Arm auf einer Terrasse steht, zurückgepfiffen. Adam atmet langsam wieder aus, atmet die Panik weg, die in ihm aufgestiegen ist. Noch eine Sache, mit der er die nächsten zwei Wochen lernen werden muss, umzugehen.

 

Die Fattoria Girasole wird geführt von einer deutsch-italienischen Familie namens Hölzer. Adam erinnert sich klar daran, dass sein Vater auf diesen Hof angesprungen ist, weil er ‚von deutschen geführt wird’ und deshalb ja gut sein müsse. Adam hat sich das Augenrollen hart verkneifen müssen.

Die Gastgeber laden an diesem Abend zu einem kleinen aperitivo ein – alle vier Ferienwohnungen sind nun belegt und man wird sich in den nächsten zwei Wochen hier öfter über den Weg laufen, also lohnt es sich, dass sich alle ein bisschen kennenlernen.

Es stellt sich heraus, dass die Familie nicht nur deutsch ist, sondern auch noch aus Saarbrücken kommt. Adam wird hellhörig und schaut nun doch einmal neugierig die Kinder der Familie an, nachdem er die anfänglichen Smalltalk-Gespräche ausgeblendet und eine weiße Katze beobachtet hat, die in einem Blumenkübel unter einem Zitronenbäumchen schläft.

Etwas verunsichert – oder gelangweilt, Adam ist sich nicht so sicher – stehen zwei Teenager neben ihren Eltern, beide braunhaarig, das Mädchen sportlich mit warmen braunen Augen, in denen es frech funkelt; der Junge schlaksig mit blauen, nein, grünen, nein, doch blau-grünen Augen, Haare länger als die meisten Jungs in Adams Klasse sie momentan tragen.

Ihre Gastgeber stellen sich als Barbara und Georg Hölzer und ihre Kinder als Carolina und Leonardo vor. Beide stöhnen gespielt auf, maaan, warum denn wieder die vollen Namen, so nennt ihr uns doch nur, wenn es Ärger gibt!!, aber sie lachen kurz darauf wieder.

„Bitte einfach Caro“, sagt das Mädchen mit einem Seitenblick auf ihre Eltern. „Aber den da könnt ihr alle Leonardo nennen!“

Der Junge rollt die Augen und Adam vermutet, dass es hier jeden Sommer das gleiche Programm gibt: die Eltern stellen ihre Kinder mit vollem Namen vor und werden berichtigt.

„Nee, bitte einfach Leo“, sagt er, sehr viel leiser und weniger überzeugt als seine Schwester, und scheint lieber in den Feigenbäumen hinter sich verschwinden zu wollen.

 

Nach der offiziellen Ansprache und Vorstellung der Gastgeberfamilie gibt es Getränke und ein paar Antipasti-Häppchen, die von einer älteren Frau herausgebracht werden, die als Maria vorgestellt wird. Sie und ihr Mann kümmern sich mit um den Hof, vor allem um den landwirtschaftlichen Teil, und um die Instandhaltung des Hofes das Jahr über, wenn die Hölzers nicht hier sind. Die Tomaten kommen direkt hier vom Hof und die Oliven lokal aus dem Ort. Und das schmeckt man auch.

Caro und Leo gesellen sich zu Adam. Mit einem schnellen Blick auf die umliegenden Leuten versteht er auch, warum: Adam ist die einzige Person in ihrem Alter. Dabei haben die zwei sicher besseres zu tun, als sich mit irgendwelchen Feriengästen abzugeben.

Alkohol wird Adam von seinem Vater noch verweigert, obwohl er schon sechzehn ist, aber gegen eine italienische Zitronenlimo hat er nichts einzuwenden. Adam starrt auf seine Dose LemonSoda, die von den Hölzers als total gesund angepriesen wurde, aber das ist sicher kompletter Bullshit. Dafür ist sie viel zu süß. Etwas dankbar ist Adam aber schon. Etwas anderes als Wasser ist immer ein Highlight.

„Die ist nicht wirklich gesund“, flüstert Caro, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Aber dafür ist sie ziemlich geil.“

Adam versucht sich an einem Lächeln. Er ist nicht hauptsächlich hier, um Freunde zu machen, aber er wird sich auch nicht dagegen sträuben. Die Geschwister setzen sich zu ihm, Caro mit einer weitaus offeneren Körperhaltung als Leo.

„Und? Ihr kommt auch aus Saarbrücken?“, fragt Caro gleich.

Adam nickt. Er sieht schon eine lange Fragerunde auf sich zukommen.

„Auf welche Schule gehst du?“

„Luitpold Gymnasium.“

Sofort ändert sich Leos Haltung, er lehnt sich auf seinem Stuhl nach vorne. Caro wirft ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. Zu Adam gewandt, fragt sie weiter: „Und wie ist es da so?“

Adam zuckt mit den Schultern. „Schule halt.“

Leo nickt. „Ich… ich wechsel’ da auch hin nach den Ferien.“ Er scheint nicht sehr begeistert davon zu sein, aber ein Schulwechsel ist sicher nie einfach. Leo muss sicher all seine Freunde zurücklassen.

„Zieht ihr erst nach Saarbrücken oder wieso?“

Leo zupft eine Strähne seiner Haare vor seine Stirn und wickelt sie um seinen Zeigefinger. „Nee, wir wohnen schon immer da.“ Er nimmt einen Schluck von seiner Limo und wirft Caro einen weiteren Blick zu. Die hebt nur eine Augenbraue.

„Also, meine alte Schule hat nicht die LKs angeboten, die ich wollte. Also, bei uns kommt kein Musik-LK zustande zum Beispiel. Oder Philo.“

„Ich wollte auch Philo machen!“, fällt Adam ein. Leos Gesicht hellt sich auf. „Vielleicht kommst du ja in meine Klasse?“

„Wie cool wäre das denn?“, ruft Caro und boxt ihren Bruder in die Schulter. Etwas zu dolle, denn Leo verzieht schmerzhaft das Gesicht.

„Äh, sehr cool, ja.“

„Oh man, aber du lernst dann leider meinen alten Philo-Lehrer nicht mehr kennen, den Gorenflo. Der ist grad in Rente gegangen, der war irgendwie fast 40 Jahre da. Ich hatte den auch in Sport. Der war so cool.“

„Vielleicht wird der Neue ja auch cool?“

Adam zuckt mit den Schultern. „Bestimmt, aber das war schon ein Original.“

Stille breitet sich zwischen ihnen aus. Adam weiß nie, was er über sich erzählen soll. Er will eigentlich gar nicht, dass irgendwer ihn wirklich kennenlernt. Irgendwas über sein Leben erfährt. Über seine Eltern. Über—

„Spielst du Fußball?“

Wieder Caro.

Sport. Darüber kann er reden. Ein universelles Thema.

„Klar.“

„Cool, Leo spielt auch immer mit den anderen Leuten im Ort hier Fußball, wenn wir hier sind. Nä, Leo??“

Leo nickt, wenig überzeugt. Vielleicht ist er einfach kein guter Spieler.

„Nimm Adam doch mit nächstes Mal“, schlägt Caro vor. „Vielleicht gewinnt dein Team dann mal. Bist du gut?“

„Ich bin sogar sehr gut“, grinst Adam. Wenn er etwas kann, dann Sport.

Leo wirft Caro zwar einen bösen Blick zu, aber als er sich an Adam wendet, lächelt er wieder etwas. „Klar, ich nehm dich mit. Wir haben auf jeden Fall noch irgendwo ein Extra-Fahrrad rumstehen.“

Caro lehnt sich zufrieden zurück und nippt an ihrer Limo.

Perché fai sempre così?“, zischt Leo und tritt sie unter dem Tisch sehr auffällig ans Schienbein.

Caro schreit kurz auf.

Perché non hai amici, scemo!“, jammert sie und hält sich das Bein. „Wenn das einen blauen Fleck gibt, ich schwör–“

„Sorry, dass ich deinen Bikini-Body ruiniert hab.“ Leo verdreht die Augen. „Du wirst es überleben.“

Caro boxt ihn wieder in den Oberarm, an die gleiche Stelle.

„Au“, macht Leo. „Willst du unbedingt im Partnerlook rumlaufen?“

„Geteiltes Leid und so!“ Caro setzt ein Fake-Lächeln auf.

Adam beobachtet die zwei still. In Momenten wie diesen hätte er auch gerne einen Bruder oder eine Schwester, um nicht immer nur alleine rumzuhängen. Und natürlich sein Leid zu teilen. Andererseits will er nicht, dass irgendeiner anderen Person das gleiche passiert. Also ist es vielleicht doch besser, dass er ein Einzelkind ist.

Notes:

if you saw me ranting about how much i love lemonsoda a whole year ago no you didn't
Again, mille grazie an @apaethy fürs beta lesen!

Chapter 3: 3. Fallo

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

3. Fallo | LEO

 

Nach zwei Tagen ist Leo so langweilig, dass er beschließt, Adam zum Fußball mitzunehmen. Jedes Mal, wenn er ihn sieht, macht Adam gerade Sport, unter dem strengen Blick seines Vaters, und irgendwie ist Leo jedes Mal beeindruckt und mitleidig zugleich. Ob es Adam Spaß macht, kann er nie so genau erkennen, aber wenn ihn in seinen Sommerferien jemand zum Sport zwingen würde, wäre er nicht gerade begeistert. Da Adam ja aber ein Sport-Ass zu sein scheint, juckt es ihn vielleicht nicht so sehr.

Leo hat genug beobachtet, dass er glaubt, einen Rhythmus herausgefunden zu haben: morgens kommt Adam meistens gerade aus dem Pool, wenn Leo vor dem Frühstück eine Runde drehen will, und abends sieht er ihn schnelle Runden um den Tennisplatz drehen und Liegestützen, Sit-Ups und andere schweißtreibende Übungen machen.

 

Da steht er jetzt also am Platz und schaut Adam beim Training zu. Nur ein bisschen creepy. Adam schaut etwas irritiert und verunsichert herüber, schaut dann zu seinem Vater. Leo winkt, weil er nicht weiß, was er sonst machen soll, und Roland nickt mit dem Kopf in Leos Richtung.

Adam kommt herübergejoggt.

„Hey“, sagt Leo etwas lahm.

„Hey“, sagt Adam, aber irgendwie wirkt es überhaupt nicht lahm. Vielleicht, weil er außer Atem ist und seine Wangen aussehen, als würden sie glühen.

Sie verabreden sich für den nächsten Tag zum Fußball. Roland kommt zu ihrem Planungsgespräch dazu, legt Adam etwas zu grob den Arm auf die Schulter, aber scheint dann zufrieden zu sein, dass es um Fußball geht. Noch mehr Sport für Adam, seinen Athletensohn. Adam scheint eher glücklich zu sein, dass er mal für ein paar Stunden seinen Eltern entfliehen kann.

 

Leo flitzt sofort los und checkt den Fahrradbestand. Sein eigenes Fahrrad steht wie immer zwischen Hauswand und Fahrradschuppen, denn er hat es diesen Sommer schon ein paarmal benutzt. Die Räder von Caro und seinen Eltern stehen in greifbarer Nähe, aber zwei andere Räder stehen weiter hinten.

Nando verspricht ihm, das olle Herrenfahrrad bis zum Mittag wieder auf Vordermann zu bringen und dann geht Leo auf die Suche nach seinen Fußballschuhen. Nicht, dass er bei dem wilden Gebolze wirklich welche bräuchte, aber jeder italienische Teenager hat im tiefen Innersten noch den Wunsch, Fußballprofi zu werden (na ja, Leo nicht – aber das schreibt er mal großzügig seiner deutschen Seite zu). Also tragen alle anderen Jungs welche. Und wenn Leo etwas nicht will, dann noch mehr aufzufallen als er es sowieso schon tut mit seinem schwachen Akzent und seltenen Erscheinen. Es ist gar nicht einfach, sich Freunde zu machen und auch zu behalten, wenn man nur jedem Sommer ein paar Wochen herkommt, während alle anderen sich jeden Tag sehen. Und Leos immer häufigeres Wegbleiben in den letzten Jahren hilft sicher auch nicht.

Aber einmal, wenigstens einmal will er so tun, als hätte er Freunde. Will er einer neuen Bekanntschaft vorgaukeln, er sei beliebt und sportlich. Wird schon schiefgehen.

 

Am nächsten Morgen um 10 rollt Leo aus dem Bett, stolpert zum Pool und läuft prompt Adam über den Haufen, der gerade offenbar sein morgendliches Training abgeschlossen und sein Gesicht im Handtuch vergraben hat, weshalb er auch nichts sieht. Leo ist viel zu verschlafen, um zu checken, was passiert, als er um die Ecke biegt und plötzlich die Fresse voller Frottee hat.

„Fuck, sorry!“, ruft Adam und schlingt das Handtuch stattdessen um seine Schultern. Er schüttelt seine Hände aus, die mit Leos Schulter kollidiert sind.

„Alles okay?“

Leo nickt träge. Er ist wirklich schlaftrunken.

„Wie iss’es Wasser?“, fragt er und blinzelt.

„Ist gut“, sagt Adam. „Macht wach.“ Und er lächelt Leo verschmitzt an. Unwillkürlich muss Leo auch lächeln.

„Sollte es auch besser.“ Er gähnt. „Nando macht dir heute noch ein Fahrrad fit. Dann können wir losfahren. Ich sag Bescheid, okay?“

Bekommt Adam ein Glitzern in den Augen, oder läuft ihm nur das Chlorwasser übers Gesicht? Leo weiß es nicht, aber sein Gegenüber scheint schon sehr viel besser gelaunt zu sein als gestern.

„Klar, cool.“

„Cool.“

Leo lächelt schwach. Der Tropfen Wasser, der vielleicht eben Adams Augen zum Glitzern gebracht hat, bahnt sich seinen Weg über Adams Wange, seinen Kiefer, seinen Hals und rutscht sein Schlüsselbein hinunter.

Leo blinzelt noch einmal. Es ist Zeit für eine Abkühlung. Und dann Frühstück.

 

Adam hat keine Fußballschuhe, aber dafür hat er natürlich gute, teure Laufschuhe, und die werden auf jeden Fall Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Der Weg in den Ort dauert eigentlich nur fünf Minuten mit dem Fahrrad, aber Leo nimmt sich die Zeit, mit Adam durch die wenig befahrenen Straßen zu kurven, einmal über den Marktplatz, ihm seine Lieblings-Eisdiele zu zeigen (als gäbe es mehr als zwei im Ort), und dann fahren sie zum Fußballplatz, der zu einem Spielplatz gehört. Eigentlich ist es nicht mehr als eine dreckige, olle Wiese, aber immerhin hat diese vor drei Jahren mal zwei Tore bekommen, wenn auch ohne Netze.

In den letzten zwei Wochen hat Leo sich genau einmal hier blicken lassen, ziemlich früh in der ersten Woche schon, und umso lauter wird er jetzt begrüßt.

„Leonardo?!?!“, schreit Gio und macht damit alle anderen auf Leo aufmerksam. Er will wirklich nicht, dass die anderen ihr Spiel für ihn unterbrechen, aber es scheint den Jungs ziemlich egal zu sein, ob sie schon ohne ihn gestartet haben.

Oooh, è tornato il tedesco!“ Vincenzo läuft einfach aus seinem Platz im Tor und zu Leo und Adam herüber. „Dove sei stato?“

Leo schmeißt sein Fahrrad neben sich. „Äh, ero andato via …“

Als Leo sich zu Adam umdreht, hält dieser seinen Fahrradlenker immer noch fest, als würde sein Leben davon abhängen.

„Schmeiß einfach hin“, sagt er und lächelt aufmunternd.

Kaum hat Adam das getan, kommt auch schon Gaetano auf sie zugejoggt und wirft Leo mit dem Ball ab. Zum Glück sind seine Reflexe heute nicht komplett beschissen, sodass er das Ding immerhin fängt.

Ciao, Totti … e questo chi è?“, begrüßt Gaetano Leo in seinem Trikot des frischgebackenen Weltmeisters Francesco Totti (eines der drei, die Leo in Rotation trägt) und blickt Adam einmal von oben bis unten an, wobei sein Blick bei den Laufschuhen kleben bleibt. Er pfeift anerkennend.

Leo stellt Adam den Jungs vor und sie sind jetzt genug, um 4 gegen 4 zu spielen. Leo nimmt seinen Platz in der Abwehr ein und sie platzieren Adam als Stürmer, obwohl der aus Bescheidenheit eigentlich darauf besteht, erstmal auf einer anderen Position zu spielen.

Es stellt sich schnell heraus, dass Adam absolut aus falscher Bescheidenheit gehandelt hat, er ist nämlich ein wirklich exzellenter Angreifer. Ein paar junge Italiener in Schnelligkeit und Wendigkeit zu schlagen ist gar nicht so einfach, Leo hat das schon zur Genüge herausfinden dürfen, aber Adam hängt Giovanni die meiste Zeit locker ab.

Das wird den anderen schnell zu langweilig, und nach einem peinlichen 5:1 nach zwanzig Minuten werden Adam und Leo nach kurzer dreisprachiger Diskussion in verschiedene Teams gesteckt. Nicht, dass Leo Adam besser aufhalten könnte als seine Mitspieler, aber er kann es zumindest versuchen. Mit purer Willenskraft vielleicht.

 

Adam ist geschickt, und Leo kann die anderen auf einmal verstehen: ihn auf seinem Weg zum Tor zu behindern, ist gar nicht so einfach. Aber Leos Kampfgeist ist auch geweckt und er ist entschlossen, Adam zu zeigen, dass er andere Qualitäten besitzt, wenn er schon nicht sportlich ist. Eine dieser Qualitäten ist nämlich, ziemlich gut einstecken zu können und sehr gut im Hinfallen zu sein.

Als Adam also auf ihn zugeschossen kommt, wirft Leo sich ihm in den Weg, um ihn zumindest zu bremsen. Etwas verändert sich in Adams Gesicht, er sieht fast etwas ängstlich aus, aber er hat auch seinen Bremsweg unterschätzt und rennt volle Kanne in Leo hinein. Leo kann gerade noch sehen, wie er den Ball verliert, bevor er unsanft in den Dreck geworfen wird, Adam auf ihm, nicht weniger schmerzhaft.

So gut diese Idee auch war, umso schmerzvoller sind die Erinnerungen, die in Leos Kopf auftauchen – sein Kopf auf dem Asphalt, Knöchel in seinem Gesicht, Füße in seiner Magengrube, sein Becken eingeklemmt von Knien. Erinnerungen, die noch frisch sind. Die gerade mal wenige Wochen zurückliegen. Doch Leos Kopf schlägt nicht auf den Boden, sein Gesicht bleibt unversehrt, niemand setzt sich auf ihn. Im Gegenteil: Adam rollt sich von ihm, während die „Fallo! Faaalllooooo!“-Rufe an Leos Ohren dringen und ein stechender Schmerz durch seinen Ellenbogen fährt.

„Alles okay?“, stöhnt Adam, während er sich aufsetzt und seine Schulter reibt, die mit Leos kollidiert ist.

Leo hat nicht mal Zeit, seinen Ellenbogen auch nur anzusehen, da hat Adam ihn schon in der Hand und wischt den Dreck von ihm.

„Ja … äh, passt schon“, stammelt Leo.

„Tut der weh?“, fragt Adam und drückt zu.

Leo zieht vor Schmerz die Luft durch die Zähne, bevor er sich beherrschen kann. Das tut tatsächlich weh. Adam verzieht das Gesicht.

„Okay, das klingt aber nicht so gut.“

„Geht schon, echt“, sagt Leo. Adam hält immer noch seinen Arm. Nicht fest. Hält ihn einfach. „Ich bin schlimmeres gewohnt.“ Er überspielt den Schmerz mit einem Lächeln. Wie immer.

Gaetano hat sie erreicht und schaut Adam streng an. „Okay, but that was a foul!“

„Yea–“, fängt Adam an und lässt Leo sofort los, aber Leo schüttelt den Kopf.

„No, if anything, I fouled him. It’s okay!“ Er schaut Adam an, dessen Augenbrauen sich besorgt zusammengezogen haben. „It’s okay.“

Adams Miene lichtet sich etwas. „Okay.“

Gaetano seufzt. „Okay. Okay, okay. Andiamo, tedeschi!

Adam steht auf und hält Leo seine Hand hin, die linke, damit Leo seinen verletzten Arm nicht benutzen muss. Und irgendwie muss Leo seinen ersten ‚Angeber-im-Pool’-Eindruck von Adam komplett über Bord werfen. Dieser Typ ist einfach total anders, als Leo ihn eingeschätzt hat.

Mit Adams Hilfe steht Leo wieder auf und keiner kriegt einen Freistoß, weil sie sich nicht einigen können, wer hier wen gefoult hat. Adam schießt aber nur noch ein weiteres Tor, weil Leo sich ihm wieder und wieder in den Weg wirft. Solange niemand in ihn reinläuft, ist Leo auch immer noch sehr gut im Hinfallen und Abrollen. Das will gelernt sein, wenn auch aus einem traurigen Grund.

Am Ende schafft Leos Team es dank Adams Widerwillen, Leo noch weiter zu verletzen, auf ein Unentschieden. Sie verbuchen das als vollen Erfolg.

 

Sie fahren als Gruppe zurück in den Ort. Es sind nicht alle mit dem Fahrrad da, deshalb verteilen sich auf diverse Gepäckträger, Luca nimmt Vincenzo auf den Fußrasten von seinem BMX mit, und dann düsen sie zurück, auf ein abschließendes Eis bei Mare Mamma. Mittags, als Leo und Adam zum ersten Mal vorbeigefahren sind, hatten sie noch geschlossen, aber jetzt herrscht hier buntes Treiben. Leo holt sich wie immer Pfirsich und Erdbeer, und Adam, der kein Geld dabei hat, muss regelrecht gezwungen werden, sich trotzdem etwas auszusuchen. Nach einiger Diskussion beschränkt er sich auf eine Kugel Zitrone, zu der Leo heimlich bunte Streusel mitbestellt, weil er kann. Und weil das Leuchten in Adams Augen bei dem Anblick des Eisbechers irgendwas mit Leo macht. Irgendwas, was er sich nicht traut, näher zu begutachten.

Ihre kleine Gruppe setzt sich laut schnatternd auf, an und teilweise in den Brunnen auf dem Marktplatz (Giovanni kühlt gerne seine Füße in dem dreckigen Wasser). In Momenten wie diesen findet Leo es fast schade, dass er nicht mehr so oft Fußball spielen geht wie früher. Aber alleine der Augenblick, in dem Adam ihn zu Boden geworfen hat, hat ihm gezeigt, dass es besser so ist. Die Jungs sind nett zu ihm, aber er weiß kaum etwas über sie. Er hat keinen Teil an ihrem Leben, er kennt ihre Eltern kaum noch, er weiß nichts über ihr Schuljahr, in wen sie verliebt sind, was sie zu Silvester machen, wohin sie in den Urlaub fahren, wann, wie lange, war seit Jahren nicht mehr bei einem von ihnen zuhause, bei den meisten weiß er nicht einmal mehr, ob sie überhaupt Geschwister haben. Dinge, die man von Freunden weiß. Aber sie sind keine Freunde, und das ist auch okay. Sonst müsste Leo sich ihnen ja öffnen, und das kann er einfach nicht.

Adam sitzt neben ihm, isst zufrieden sein Eis und sieht zum ersten Mal, seit Leo ihn kennt (ganze drei Tage), wirklich entspannt aus. Leicht stößt Leo sein Knie an Adams. Der schaut rüber.

„Und, wie isses?“

Adam lächelt ein kleines Lächeln. „Ist gut.“ Dann verschwindet sein Lächeln. „Sorry nochmal wegen dem Foul“, sagt er leise und stupst mit seinem Knie zurück.

„Ey, das war ja wohl meine Entscheidung, den Berg zu spielen. Leider bin ich kein Berg.“

„Sondern?“

„Sondern … mehr so ’ne Bohnenstange.“

Jetzt lacht Adam endlich, oder atmet zumindest durch die Nase aus, was besser ist als gar nichts.

„Ja, okay“, sagt er. „Deine Freunde sind nett.“

„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“

Adam nickt. Leo winkt ihn unnötigerweise noch näher heran, dabei sitzen sie schon nebeneinander. Aber Adam lehnt sich zu ihm.

„Das sind gar nicht meine Freunde“, flüstert Leo ihm ins Ohr. Völlig unnötig, weil die anderen sowieso kein Deutsch können.

Adam zieht wieder die Augenbrauen zusammen, diesmal aus Verwirrung.

„Hä“, macht er leise.

Leo kichert und lehnt sich wieder zurück. „Ich hänge echt nur zum Fußballspielen mit denen rum. Ich kenne die gar nicht so gut.“ Er legt eine Pause ein. Vielleicht sollte er Adam gleich die Erwartung nehmen, ab heute jeden Tag Fußball zu spielen. „Ich komme auch gar nicht so oft mit, wie meine Eltern eigentlich denken.“

Adams Augenbrauen ziehen sich noch weiter zusammen. „Und was machst du sonst?“

„Das wüsstest du wohl gerne.“

Adam schweigt.

„Vielleicht erfährst du es ja. Mal gucken.“ Leo grinst und trinkt den mittlerweile flüssigen Pfirsich-Erdbeer-Rest aus seinem Eisbecher.

Mal gucken.

Notes:

Again, grazie an @apaethy fürs beta lesen ❤️

Ich freue mich wahnsinnig über Feedback! Hoffe ihr genießt noch die letzten Sommertage im September ☀️

Chapter 4: 4. Capanna

Notes:

Ich schwöre, mir war nicht klar, wie lange ich wirklich nicht mehr gepostet hab … I'm so sorry!!! Dafür ist dieses Kapitel jetzt etwas länger :)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

4. Capanna | ADAM

 

Die Antwort auf seine Frage bekommt Adam zumindest nicht sofort am nächsten Tag. Was er bekommt, ist aber eine semi-förmliche Einladung zum … Kochen. Barbara Hölzer überrascht sie morgens beim Frühstück, nach Adams Schwimmeinheit, auf der Terrasse. Offenbar gibt es eine lange Tradition auf dem Hof, dass alle Kinder und Jugendlichen von Maria lernen können, wie man Pasta macht. Von einer waschechten italienischen Nonna in die Kunst der Pastaherstellung eingeweiht zu werden, sagt Barbara, ist eine Ehre. Eine Chance, die sich niemand entgehen lassen soll. Vor allem sagt sie es zu Adams Vater, mit eindringlichem Blick, und weniger zu Adam selber. Man sollte Maria wirklich nicht enttäuschen. Und mit aller Aufmerksamkeit auf ihm kann auch Adams Vater nicht so leicht nein sagen. Vielleicht auch, weil es bedeutet, dass er nicht mit Adam zu Abend essen muss. Aber das würde er den Gastgebern ja niemals sagen.

Also wird Adam von seinem abendlichen Training befreit, ausnahmsweise.

 

Am Nachmittag steht er dann mit Leo, Caro, Caros Freundin Tati, und zwei englischen Viertklässlerinnen in der großen Küche des Haupthauses, in dem die Hölzers wohnen.

Maria ist knapp über 80, mit Arthrose in den Händen und aufmerksamen hellblauen Augen. Ihre grauen Haare liegen in einem langen geflochtenen Zopf auf ihrem krummen Rücken und ihr fehlen definitiv ein paar Zähne. Adam liebt sie sofort. Diese Frau hat viel gesehen und erlebt und ist genau die Art Nonna, die Adam aus der Bertolli-Werbung kennt.

Leo sieht heute schon wieder aus wie ein Fußballspieler, er trägt heute ein anderes Trikot, ein älteres vom FC Saarbrücken, und als sie anfangen, schiebt er sich ein dünnes schwarzes Haarband in die Haare. Adam muss es nicht einmal kommentieren, Leo macht es schon von selber.

„Wusstest du, dass Nudelteig richtig schwer wieder aus den Haaren rausgeht, solange er noch klebrig ist?“, fragt er Adam völlig unaufgefordert. „Ein kleiner Fun Fact über Nudeln für dich.“

Adam kann sich ein Lachen nicht verkneifen. „Das Problem werde ich glaube ich eher nicht haben.“

„Oh, wir können es ausprobieren“, bietet Leo angriffslustig an.

„Ich kriege bestimmt noch genug Mehl in die Haare, aber danke fürs Angebot“, lehnt Adam ab. Als Antwort pustet Leo ihm eine Prise Mehl direkt ins Gesicht, sodass er hinter einer kleinen weißen Wolke verschwindet.

„Ey, Ruhe auf den billigen Plätzen!“, ruft Caro. „Flirten könnt ihr auch später noch.“

Adam war noch nie so froh, in einer Mehlwolke zu stehen (nicht, dass ihm das überhaupt schon mal passiert wäre), denn er muss ungefähr so rot geworden sein, wie die Schürze, die Caro ihm zuwirft, als das Mehl sich legt und Adam sie wieder sehen kann. Leo hat dafür nur ein Wort übrig, was Adam nicht versteht aber ziemlich eindeutig als Beleidigung deuten kann. Zumindest dem Klaps nach zu urteilen, den Maria ihm daraufhin gibt.

Sobald es losgeht, übersetzt Caro alle Anweisungen auf Englisch für die kleinen Mädchen, während Leo sie auf Deutsch für Adam übersetzt. Nicht dass das nötig wäre – Adams Englisch reicht locker für diesen Kontext, aber er sagt nichts dergleichen. Dass Leo nur für ihn alles nochmal wiederholt, schmeichelt ihm irgendwie. Es fühlt sich an wie ein Geheimnis, was er nur mit Adam teilt. Aber das ist ja nur Nettigkeit. Leo flirtet ja nicht mit ihm.

Oder?

 

Entgegen Adams Erwartungen machen sie nicht etwa Tagliatelle oder Linguine, sondern Ravioli. Mit frischer Ricotta-Spinat-Füllung, die sie selber mischen und mit frischen Kräutern aus dem Garten abschmecken. Maria kocht derweil eine riesige Menge Tomaten zu einer Sauce ein – das Rezept dafür ist natürlich geheim – und bald duftet die ganze Küche nach Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch. Ausrollen, Füllung setzen, Teig umklappen, schneiden und festdrücken wird zu einer kleinen Challenge zwischen den sechs, die in Zweierteams arbeiten, und unter Marias strengem Blick wird in der Pastamanufaktur den ganzen Nachmittag hart gearbeitet. Und dann gegessen.

Zum Essen gesellen sich auch Leos und Caros Eltern und Nando, Marias Mann und die zweite gute Seele der Fattoria, hinzu.

Am Ende wird Adam nicht genau sagen können, was ihn am meisten überwältigt: das Essen an sich, was er selber mit seinen eigenen Händen zubereitet hat, mit hier angebauten, frischen Zutaten … oder alles drum herum. Das Abendessen hier ist nicht wie das Abendessen zuhause mit seinen Eltern. Verschwiegen. Verkrampfte Fragen seiner Mutter. Einsilbige Antworten von ihm und seinem Vater. Undankbar. Gesund. Nur so lang, wie es sein muss. Wasser für ihn, Wasser und Wein für seine Eltern. So schnell wieder abgeräumt, wie es aufgetischt wurde.

Das hier ist das genaue Gegenteil: Zu zehnt sitzen sie im weitläufigen Garten, auf nicht zusammenpassenden Stühlen; eine Auswahl an Softdrinks, die Adam nicht mal alle kennt, geschweige denn trinken darf; alle reden durcheinander auf mehreren Sprachen, Adam versteht nur die Hälfte; einige verstehen sich gar nicht sprachlich, sondern mit Händen und Füßen; ein umgeworfenes Glas wird halbherzig aufgewischt; Adam wird Rotwein und später als Digestivo ein Grappa angeboten, was er beides dankend ablehnt (Leo trinkt ein halbes Glas Rotwein und verzieht bei jedem Schluck das Gesicht und seine Lippen sind lila und seine Wangen sind rosa und seine Augen sind blau oder grün oder braun oder alles, vielleicht erfährt Adam das auch irgendwann – mal schauen); irgendeine Katze ist unter dem Tisch und läuft ihm immer mal wieder um die Beine; es ist chaotisch und laut und unterhaltsam und lang, nach den Ravioli gibt es Eis und dann Espresso (um 21 Uhr) und Adam wird langsam müde, weil alles so aufregend ist, aber er könnte auch gleichzeitig noch fünf Stunden hier sitzen, wenn der Abend einfach nie aufhört.

Aber die Kinder sind klein und beim Spielen im Garten schon halb eingeschlafen, als ihre Eltern sie abholen, und Tati und Caro sind sonst wohin verschwunden und als es irgendwann klingelt, weiß Adam schon, dass es seine Mutter ist, ohne zu fragen. Er weiß, dass es 21:55 ist, ohne auf seine Armbanduhr zu schauen. Und er weiß, dass Leo genauso wenig will, dass er geht, ohne ein Wort zu sagen.

„Ciao“, sagen Leos lila Lippen.

„Ciao“, sagt Adam, und hat es plötzlich doch ein bisschen eilig, seiner Mutter zu folgen.

 

Seiner Mutter sagt er „Leo und ich gehen morgen wieder Fußballspielen“ – ein Statement, keine Frage. Sie sagt nichts dagegen, im Gegenteil, sie gibt die Info weiter und sagt Adam sogar, dass sie froh ist, dass er so schnell Freunde gefunden hat.

Also trifft er sich mittags wieder mit Leo im Hof, bei den Fahrrädern. Gestern Abend, beim Verabreden, hat Leo noch geheimnisvoll gesagt, Adam solle seine Badehose nicht vergessen. Da wusste Adam, dass sie definitiv nicht Fußballspielen gehen würden.

Und er soll recht behalten, denn Leo hat schon wieder so ein geheimnisvolles Lächeln auf dem Gesicht, als Adam ihm unter die Augen tritt.

Tatsächlich biegt Leo direkt in die andere Richtung ab, als sie die lange Einfahrt der Fattoria verlassen, und Adam folgt ihm eine lange, aber unbefahrene Landstraße entlang, gesäumt von Sonnenblumenfeldern, die sich so weit erstrecken, wie das Auge reicht. Adam versteht, warum der Hof so heißt, wie er heißt. Irgendwann werden aus den Sonnenblumenfeldern Maisfelder, und dann irgendwas anderes. Sie passieren ein paar vereinzelte Bauernhäuser und Leo biegt nach einigen Minuten in einen Feldweg ein. Adam wirft einen Blick auf die Uhr; sie sind noch nicht ganz eine Viertelstunde unterwegs. Leo brettert den Feldweg hinunter, als hinge sein Leben davon ab, und Adam muss sich etwas bemühen, auf dem fremden Fahrrad mit ihm mithalten zu können. Der Feldweg mündet in einem Waldstück, in dem sie irgendwann die Räder schieben müssen, weil die Wege zu schmal werden.

„Aber du hast nicht vor, mich zu entführen, oder?“, fragt Adam vorsichtshalber, aber Leo lacht nur.

„Keine Sorge, das ist alles in deinem besten Interesse. Wir sind jetzt auch da.“

Er duckt sich unter einem tief hängenden Ast hindurch. Adam tut es ihm gleich, und vor ihm erscheint ein See – das letzte, was er hier erwartet hätte. Das Wasser glitzert grünblau unter dem Blätterdach des Waldes, nur an einigen Stellen scheint die Sonne hindurch.

Der See ist groß genug, dass an anderen Stellen am Ufer einige wenige Leute zu sehen sind, aber die sind alle weit weg und leicht zu ignorieren.

„Ich dachte, du würdest vielleicht gerne mal in Ruhe schwimmen gehen“, sagt Leo, während er diversen Kram aus seinem Rucksack holt: eine Decke, zwei Handtücher, zwei Dosen Cherry Cola, irgendwelche Snacks.

Adam weiß gar nicht, was er sagen soll.

„Also, ohne Druck und so“, erklärt Leo weiter.

Adam schluckt.

„Danke.“

„Macht jetzt Sinn mit der Badehose, oder?“

Adam grinst. „Ja, voll. Ich dachte schon, du hast vor, bis zum Meer zu fahren oder so.“

Leo lacht und schüttelt den Kopf. „So ein großer Fan von Fahrradtouren bin ich dann auch nicht. Aber es gibt einen guten Ort, um das Meer zu sehen, den wollte ich dir sowieso zeigen. Irgendwann.“

Dann schmeißt er seinen Rucksack hin, zieht sich das T-Shirt über den Kopf und rennt ohne Vorwarnung direkt in den See hinein. Adam kann gar nicht so schnell gucken, wie er untergetaucht ist. Er hat nicht mal mitbekommen, dass Leo seine Badeshorts die ganze Zeit schon anhatte. Hat er überhaupt eine richtige Hose dabei?

Ein paar Sekunden später taucht Leo wieder auf, an einem völlig anderen Ort, als er vorher unter Wasser gegangen war.

„Wie isses?“, ruft Adam herüber, und Leo streckt beide Daumen in die Luft.

Adam klopft sich innerlich auf die Schulter, dass er seine Badeshorts unter seine Cargoshorts gezogen hat, sonst hätte er sich jetzt überlegen müssen, wie er sich umziehen soll.

Er legt all seine Sachen fein säuberlich auf die Decke und folgt Leo zum Seeufer. Auf der anderen Seite sind zwei oder drei Leute im Wasser, aber sonst ist weit und breit niemand zu sehen oder zu hören.

Das Wasser ist erstaunlich klar, und erfrischend kühl. Vermutlich kommt hier nie so viel Sonne heran, dass es wirklich aufheizen kann, was bei diesen Temperaturen eine willkommene Abkühlung ist. Die kurze Fahrradtour hat Adam schon ganz schön ins Schwitzen gebracht.

Langsam watet er weiter in den See hinein. Leo lässt sich ein paar Meter neben ihm treiben, die Augen geschlossen, und Adam hat das große Bedürfnis, ihn nasszuspritzen. Aber zuerst lässt er sich vorwärts ins Wasser fallen, bis er völlig untergetaucht ist. Ein paar Sekunden Stille.

Als er wieder an die Oberfläche kommt, treibt Leo auf einmal direkt neben ihm. Sie sind genau in einen der kleinen Fleckchen hineingeschwommen, wo die Sonnenstrahlen sich durch die Baumkronen kämpfen und Leo direkt ins Gesicht scheinen. Die Reflektion des Wassers zeichnet Muster auf Leos Haut, die sich stetig verändern. Ohne groß nachzudenken, gibt Adam seinem Drang nach und spritzt etwas Wasser in Leos Richtung. Der schlägt die Augen auf, als hätte er nur darauf gewartet, und schubst sofort einen größeren Schwall Wasser zurück.

Adam ist noch nie ein Teil einer Wasserschlacht gewesen, hat nur andere Kids dabei beobachtet, als er selber Trainingsrunden drehen musste. Also ist er nicht darauf vorbereitet, dass Leo – der seine kleine Schwester vermutlich seit 10 Jahren jeden Sommer mehrmals fast ertränkt hat – sich ohne Vorwarnung auf ihn stürzt. Sie rangeln eine Weile hin und her, Adam zwar stärker, aber dafür auch unerfahren auf diesem Terrain, und es zeichnet sich kein Gewinner in dieser Schlacht ab.

„Gib auf, ey“, verlangt Leo, schon schwer atmend.

„Niemals“, krächzt Adam, als Leos Arm sich um seinen Hals legt, den Ellbogen in seinen Nacken gehakt mit der eindeutigen Absicht, Adam herunterzuziehen. Aber Adam kann nicht nur Laufen, Schwimmen und Fußballspielen, sondern auch Judo, und mit einem gekonnten Griff wirft er Leo von sich ab und ins Wasser.

Das letzte, was er vernimmt, ist ein gegurgeltes stronzo, bevor Leo unter der Oberfläche verschwindet.

Zwei Sekunden verstreichen. Fünf. Der See ist zu dunkel, um Leo klar zu erkennen.

Nach zehn Sekunden ergreift Adam die Panik. Eventuell hat er Leo nicht nur abgeworfen, sondern auch unter Wasser gedrückt. Aber nicht für mehr als eine halbe Sekunde.

Oder?

Hastig taucht Adam unter, öffnet die Augen und sieht Leos verschwommene Silhouette nicht einmal einen Meter von sich entfernt. Adam überkommt alles, was er beim Rettungsschwimmer-Abzeichen gelernt hat, und schnappt sich den Jungen. Leo ist zum Glück bei Bewusstsein, hustet sich die Seele aus dem Leib und schnappt gleichzeitig gierig nach Luft, was in noch mehr Husten resultiert. Es trennen sie nur wenige Meter vom Ufer und Adam bringt sie schnell an Land, wo Leo sich weiterhin seinem Hustenanfall hingibt und eine nicht geringe Menge Seewasser ausspuckt.

„Fuck“, wimmert er. „Ertränkt zu werden war eigentlich nicht mein Plan für diesen Sommer.“

„Gott, das tut mir so leid, Leo“, sagt Adam, was soll er auch sonst sagen, es gibt nichts, was diesen versehentlichen Fast-Mord entschuldigt. „Ich– ich weiß auch nicht, war—“

„Jetzt chill mal“, unterbricht Leo ihn. „Ich bin ja nicht gestorben.“ Er hustet noch einmal. „Das ist übrigens auch deine Schuld.“

„Schuld?!“

„Scherz.“ Leo kann schon wieder grinsen und Scherze machen, nachdem er eben fast gestorben wäre. Adam weiß nicht mehr, was er fühlen soll. „Aber du hast mir schon auch das Leben gerettet. Nachdem du es fast beendet hättest. Also. Eigentlich alles gut.“

Adam kann da nicht wirklich drüber lachen, dafür sind die Schuldgefühle zu groß, aber er zwingt sich zu einem Lächeln. Für Leo.

 

Leo muss dringend etwas trinken, deshalb machen sie es sich mit den Cherry Colas und den Snacks auf der Decke gemütlich.

„Eigentlich hab ich dich hier hingeschleppt, damit du mal entspannen kannst“, sagt Leo, während er ein paar Gummitiere aufeinanderstapelt. „Aber das hat ja nicht so gut geklappt.“

„Äh, nee.“ Adam muss trotzdem lachen. Unentspannter hätte dieser Badeausflug nicht werden können. Aber langsam kommt er runter.

„Okay, wir merken uns also für nächstes Mal: Baden gut, Wasserschlacht schlecht.“

„Nächstes Mal?“

Leo bewirft ihn mit einer matschigen Weintraube, die er gerade aussortiert hat.

„Sorry, aber wenn du dachtest, wir gehen jeden Tag Fußballspielen, muss ich dich leider enttäuschen.“

„Ich bin extrem enttäuscht“, sagt Adam, null enttäuscht.

Leo fährt sich mit der Hand durch die nassen Haare und streicht sie sorgfältig zurück.

„Findest du, ich sollte die Haare lieber so tragen?“

Adam stutzt. Leos dunkle Haare glänzen, wenn ein vereinzelter Sonnenstrahl sie einfängt.

„Ist das cooler?“

Adam denkt an den Leo von gestern mit dem blöden Fußballer-Haarband, an sein Trikot, an die Mehlwolke, an Caros Kommentar übers Flirten, und schluckt.

„Hm. Nee“, sagt er und schaut schnell auf den See. „Find’s normal besser.“

„Warum?“

Adam zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Versuchst du, cool zu sein?“

„Hallo?! Ich bin sehr cool!“, ruft Leo aufgebracht. So richtig ernst meint er es aber nicht.

„Entschuldigung, natürlich, du bist der Coolste. Sieht trotzdem bescheuert aus.“

Grummelnd wuschelt Leo sich durch die Haare, murmelt leise „Du siehst bescheuert aus“, und schüttelt noch einmal seinen Kopf richtig durch, dass die Tropfen nur so fliegen.

„Besser?“, fragt er dann und blinzelt durch sie Haare hindurch, die ihm jetzt in die Augen fallen. Es lässt ihn irgendwie jünger wirken, weniger ernst, und ja, es ist so viel besser, aber Adam kann nicht sagen, warum.

Stattdessen zuckt er wieder mit den Schultern, als sei es ihm eigentlich egal, und sagt ja.

„Was machen wir denn, wenn nicht jeden Tag Fußballspielen?“, fragt Adam schnell, um wieder zum eigentlichen Thema zurückzukommen. Und zwar zu der Tatsache, dass Leo von einem nächsten Mal gesprochen hat.

Leo wirft einen Blick auf seine wasserfeste Casio. „Wir haben auf jeden Fall eine Menge Zeit für noch ein oder zwei Orte, die du kennenlernen solltest.“

„Ist eins davon ein verlassenes Waldstück, in dem du mich zur Strafe aussetzt? Weil dann lieber nicht, danke.“

„Nee, wollte dich eigentlich auf ‘nem Feld aussetzen.“

Adam wirft ihm eine Weintraube ins Gesicht, aber Leo fängt sie gekonnt mit dem Mund auf.

Daraufhin ist die Kabbelei sofort vergessen, denn Adam ist so fasziniert von diesem Skill, dass er Leo fast das komplette Bündel Trauben nacheinander in den Mund wirft.

 

Leo will Adam noch einen anderen Ort zeigen – was für einen, verrät er nicht, lächelt nur verschwörerisch und schiebt sein Fahrrad los, sobald sie alles eingepackt haben. Adam kann ihm nur mit Mühe folgen, noch sind die Wege hier schmal, aber am Feldweg holt er ihn dann mit Leichtigkeit ein. Sie fahren auf einer kleinen Landstraße weiter an Feldern vorbei. Es wird hügeliger, und Adam ist ein bisschen froh, so gut trainiert zu sein. Leo scheint diese Strecke so oft zu fahren, dass er mit Leichtigkeit das Auf und Ab der Hügel mitnimmt.

Irgendwann fahren sie wieder in einen Feldweg hinein, der eher an einen Trampelpfad erinnert. In der Ferne sieht Adam, dass er an einem Waldstück mündet.

„Ich dachte, du willst mich nicht im Wald aussetzen“, ruft Adam, als er Leo hinterherfährt und sie sich immer weiter den Bäumen nähern.

„Nee, aber in einem Feld, hab ich doch gesagt!“ Er dreht sich kurz um, um Adam zuzuzwinkern.

Das ‚Feld’ sind allerdings nur Wildblumenwiesen zu beiden Seiten, ungepflegt und überwuchert, und Adam realisiert, dass der Weg vermutlich nur so gut zu befahren ist, weil Leo hier wochenlang jeden Sommer durchbrettert. Sie rauschen durch das Grün, Weiß und Rot der Blumen – Italienfarben, stellt Adam mit einem Lächeln fest – und Leo wird endlich langsamer, als sie fast das Waldstück erreicht haben.

Direkt am Waldrand kann Adam beim Annähern eine Hütte erkennen, die ziemlich heruntergekommen aussieht. Das Dach hat ein großes Loch, die Fenster sind größtenteils eingeschlagen oder fehlen komplett und statt einer Tür flattert ein oller Vorhang in der leichten Brise.

„Darf ich vorstellen“, sagt Leo und springt vom Fahrrad, als sie vor dem Gebäude halten, „la capanna.“

Adam scheint seine Gesichtszüge nicht gut unter Kontrolle zu haben, denn Leo lacht ihn erstmal aus.

„Guck nicht so, du hast sie noch gar nicht von innen gesehen.“ Er schmeißt sein Fahrrad achtlos in die Wildblumen und Adam tut es ihm nach.

„Hast du die einfach so gefunden?“, fragt Adam und duckt sich unter dem Vorhang hindurch, den Leo ihm aufhält.

Drinnen ist es weitestgehend dunkel. Möbel gibt es keine, bis auf eine alte Küche mit orangen Schränken, die vermutlich in den 70ern eingebaut wurde. In einer Ecke ist eine Decke ausgebreitet, daneben gibt es einen Stapel Bücher und einen Stapel Comics, sorgfältig voneinander getrennt. Eine alte Weinkiste dient als Beistelltisch, auf ihr mehrere Holzstücke, in deren Formen Adam nichts erkennt außer vielleicht moderne Kunst. Staubkörner wirbeln auf, als Leo den Vorhang wieder fallen lässt. Sie tanzen im Licht der Nachmittagssonne, beziehungsweise in dem einen Sonnenstrahl, der durch das Loch im Dach scheint.

„Tatsächlich ja. Ich hab sie von der Landstraße aus gesehen, als ich einmal weiter gefahren bin als bis zum See, einfach weil ich konnte“, erklärt Leo. Er wandert zur Küche hinüber und zieht eine große Flasche stilles Wasser aus einem der alten Schränke. „Ich hab mich aber nie getraut, hinzufahren. Bis ich irgendwann das Loch im Dach gesehen hab, als wir über Weihnachten mal hier waren und mit dem Auto die Strecke gefahren sind. Die Bäume waren tot, da konnte man sie viel besser sehen. Im nächsten Sommer bin ich also hin und seitdem komme ich dauernd her. Hier ist es quasi immer kühl – sogar die Getränke bleiben zumindest lauwarm – und ich hab meine Ruhe vor allen.“

„Weil alle denken, du wärst Fußballspielen“, vervollständigt Adam die Geschichte.

„Genau“, grinst Leo, schmeißt sich auf die Decke und klopft neben sich.

Adam krabbelt neben ihn, sie teilen sich das Wasser, was tatsächlich verhältnismäßig kühl ist, und die restlichen Snacks aus Leos Rucksack.

„Was ist das hier alles?“, fragt Adam und inspiziert eines der Holzstücke auf der Weinkiste, neben die er sich gesetzt hat.

„Oh“, lacht Leo. „Mein kläglicher Versuch, Kunst zu machen.“

Als Adam sich zu ihm umdreht, hat er auf einmal ein Taschenmesser in der Hand. Unwillkürlich weicht Adam abrupt zurück und Leo zuckt selber zusammen.

„Ahh, sorry. Ich schwöre, ich will ich nicht entführen!“ Er schiebt die Klinge sorgfältig zurück in den Griff und schmeißt das Messer zurück in seinen Rucksack. Langsam beruhigt Adams Herzschlag sich, der eben kurz ausgesetzt hat.

„Schade“, murmelt Adam und lässt ein Stück Holz durch seine Finger gleiten, was am ehesten Ähnlichkeit mit einem liegenden Vierbeiner hat. Vielleicht ein Hund, oder eine Katze.

„Schade?!“

„Entführen ist okay, nur Aussetzen wäre nicht so cool“, sagt Adam. Er stellt die Figur wieder zurück und nimmt sich eine flache Scheibe, die offensichtlich direkt aus einem größeren Ast herausgeschnitten wurde.

„Also solange ich hierbleibe, ist alles gut, oder was?“

Aus irgendeinem Grund kann Adam es nicht über sich bringen, Leo anzusehen, deshalb nickt er bloß, und beobachtet die Baumscheibe, als wäre sie der interessanteste Gegenstand der Welt. ‚Hierbleiben’ ist so dahingesagt, aber bei Adam kommt es als etwas viel Größeres an.

Hier bleiben. Mit Adam. Ein Bei-ihm-bleiben. Das Entführen, über das sie permanent scherzen, ist ein Mitnehmen, das Aussetzen ein Zurücklassen, das Hierbleiben ein Zusammenhalten. Für Adam zumindest.

„Mehr als einen Untersetzer kriege ich glaube ich nicht hin“, sagt Leo dann und lässt somit das Gesprächsthema so schnell fallen, wie Adam gehofft hat. Hat Adam durch sein Schweigen die Situation seltsam gemacht? Es fühlt sich so an. Aber Leo weiß irgendwie immer, was er sagen soll.

„Guck mal.“ Leo lehnt sich weit über Adam, um sich einen Stapel Baumscheiben von der Kiste zu schnappen, auf dem ein weiteres undefinierbares Holzstück thront. Beim Anheben wackelt das Stück gewaltig und beide greifen danach, als es abzustürzen droht. Leo lehnt so weit über Adams Beine, dass er beim Versuch, sein Kunstwerk aufzufangen, das Gleichgewicht verliert und prompt auf ihn stürzt. Mit ihm stürzt alles andere und Leos Kopf landet zusammen mit einem Haufen Untersetzer in Adams Schoß, während Adams Hand immerhin das eine Holzstück auffängt, was den ganzen Crash ausgelöst hat. Der Rest seines Körpers ist wie eingefroren.

„Hi“, grinst Leo zu ihm hinauf, macht aber keine Anstalten, sich zu bewegen.

Stattdessen schnappt er sich eine der Scheiben und hält sie Adam unter die Nase. „Hiervon hab ich echt genug. Aber wie du siehst, ist der Rest…“

„… nicht so künstlerisch anspruchsvoll“, beendet Adam seinen Satz. Endlich öffnet er seine Finger und begutachtet das Stück Holz in seiner Hand. Um ehrlich zu sein, könnte es alles sein.

„Hey, es ist moderne Kunst!“

„Du hast grad selber zugegeben, dass es hässlich ist.“

Leo schnappt gespielt aufgebracht nach Luft und fuchtelt mit seinem Zeigefinger anklagend in Adams Gesicht herum. „Du kommst in mein Haus, am Hochzeitstag meiner Tochter, und fängst an, mich zu beleidigen!“

„Kommt nicht wieder vor“, sagt Adam.

„Ja, weil ich dich rausschmeiße. Und dann aussetze!“

„Schaffst du eh nicht.“

„Du bist vielleicht schnell, aber ich kenne mich hier aus!“

Okay, da hat Leo ein gutes Argument gebracht. Herausfordernd sieht er Adam an. Aber Adam ist jetzt in Angriffsstimmung.

„Wenn du deine moderne Kunst so gut verstehst, was ist soll dann das hier darstellen?“ Er hält Leo das Holzstück unter die Nase.

„Das ist ganz offensichtlich … ein Baum“, sagt Leo mit zusammengekniffenen Augen, nachdem er das Stück beäugt hat.

„Natürlich. Und das?“ Adam greift sich eine würfelförmige Figur.

„Würfel.“ Leo setzt sich wieder auf und lehnt sich erneut über Adam, um nacheinander auf die kleinen Kunstwerke zu zeigen, die noch stehen. „Kerze. Mhhmm … Prisma. Stein. Kleiderhaufen inspiriert von meinem Kleiderhaufenstuhl zuhause. Löwe.“

Er zeigt auf die letzte Figur, die Adam für einen Hund gehalten hat.

„Löwe ohne Beine“, sagt Adam.

„Liegender Löwe! Hast du denn gar kein Vorstellungsvermögen?“ Leo bewirft ihn mit dem Holzstück.

„Nein“, sagt Adam trocken.

„Ich setz’ dich echt hier aus, ey“, grummelt Leo.

„Als ob“, sagt Adam, aber sein Magen zieht sich unangenehm zusammen bei dem Gedanken.

„Ich mach’s!“ Leo streckt auffordernd sein Kinn vor und kommt Adam schon gefährlich nah. Sie sitzen sowieso schon so nah beieinander, weil Leo während seiner kunstwissenschaftlichen Analyse immer mehr von Adams persönlichen Raum eingenommen hat. Aber Adam kann es auch nicht über sich bringen, mehr Abstand zu gewinnen.

„Okay, versuch’s doch mal“, sagt Adam bedrohlich leise. „Hast du mich schonmal laufen sehen?“

„Ja. Hast du mich schonmal laufen sehen, wenn ich vor etwas Angst hab?“

Adam schluckt. „Hast du … Angst vor mir?“

Leo schüttelt den Kopf. Wenn es vorhin schwer war, ihm in die Augen zu schauen, weil Adam zu scheu war, dann ist es jetzt fast unmöglich, weil Leo einfach so verdammt nah dran ist. Adams Blick kann nur noch zwischen Leos Augen hin- und herspringen.

„Dann bist du ja auch nicht so schnell, wie du sagst“, sagt Adam. „Ohne Angst.“

Im nächsten Moment verschwindet Leos blaugrüner Blick, denn er springt plötzlich auf und saust durch den Vorhang nach draußen.

„Find’s doch heraus!!“, hört Adam ihn noch rufen, dann ist er verschwunden.

 

Zu Adams Erleichterung ist Leo nicht auf sein Fahrrad gesprungen und hat ihn tatsächlich ausgesetzt, sondern sprintet fröhlich durch die grün-weiß-rote Wildblumenwiese, die ihn fast komplett auffrisst. Adam wusste nicht, dass normale Blumen so hoch wachsen können.

Er läuft los, erst dem Pfad hinterher, den Leo sich geschlagen hat. Dann, als Leo sich umdreht, ihn sieht und einen Zahn zulegt, schlägt Adam eine andere Richtung ein, sprintet in einem Bogen um Leo herum. Dieser ist schnell, keine Frage, aber sein lautes Lachen verrät, dass er immerhin keine Angst hat und deshalb vermutlich auch nicht alles gibt, was seine Beine können. Adam jedoch ist schneller.

Die Blumen wachsen irgendwann weniger dicht, und Adams Schritte wirbeln mittlerweile mehr Erde auf als Blätter, aber er kommt Leo endlich auf die Spur, wenn auch nicht unentdeckt. Leo versucht sein bestes, unkoordinierte Haken zu schlagen, aber es bringt alles nichts: Adam stürzt sich auf ihn, sobald er nah genug dran ist und wirft Leo mit sich zu Boden.

Wie ein Wurm windet Leo sich fast aus seinem Griff, als sie aufprallen; ganz offensichtlich ist das nicht das erste Mal, dass er sich selbst retten muss. Aber Adam hat nicht umsonst Kampfsport gemacht und hält Leo in so einem geschickten Griff fest, dass dieser nicht besonders weit kommt.

„Hab dich“, stößt Adam unter schwerem Atmen hervor und lässt etwas lockerer.

„Hmmphf“, macht Leo, was eine Zustimmung sein könnte, oder auch nicht. Sein Gesicht ist halb in Adams Rippen gedrückt und er atmet mindestens genauso schwer.

„Gibst du auf?“, fragt Adam und lässt noch etwas lockerer.

„Dhettstwolgrgnn“, macht Leo.

„Hmm?“ Adam rollt sich ein bisschen von Leo herunter, damit der wieder sprechen kann.

„Hättest du wohl gerne“, keucht Leo und schiebt Adam seinen Ellbogen in die Rippen.

Okay, das schmerzt gewaltig. Aber Adam lässt es sich nicht anmerken. Leo hat sich irgendwie schon wieder aus seinem Griff gewunden und macht Anstalten, vor ihm zu fliehen, aber Adam bekommt seinen Knöchel zu fassen, Leo tritt ins Leere und stürzt erneut.

Diesmal schafft er es sogar, vor Adam aufzustehen, doch anstatt loszulaufen, schüttelt er Adams Hand ab und schubst ihn zu Boden. Adam landet hart auf der staubtrockenen Erde und hat sofort Leos Knie in den Rippen. Bevor er danach greifen kann, werden seine Hände ebenfalls in die Erde gedrückt und Leo ‚Mehr so ’ne Bohnenstange’ Hölzer sitzt auf ihm, nagelt ihn mit beachtlicher Kraft fest und lässt nicht los. Er hat Dreck auf der Stirn und auf der Wange und eine rote Blüte hat sich in seine Haare verirrt, die ihm jetzt wild ins Gesicht hängen. Adam könnte ihn überwältigen. Ganz bestimmt. Aber irgendwie … will er nicht. Vielleicht will er sich lieber seinem Schicksal hingeben. Das hier ist das Gegenteil von Aussetzen.

Er versucht einmal testweise, seine Hände zu heben, aber nach ein paar Zentimetern drückt Leo wieder zu und presst Adams Handgelenke zurück in die Erde. Dabei gleiten seine Fingerspitzen über Adams Handflächen, ihrer Kampfstellung geschuldet – völlig normal; Adam wurde im Judo und in den paar Schnupperstunden Ringen, die er als Kind hatte, schon oft so überwältigt. Meist von einem erfahreneren, stärkeren Schüler. Keinem wie Leo. Wie kann Adam sich von einem wie Leo überhaupt überwältigen lassen?

„Gibst du auf?“, unterbricht Leo seine rasenden Gedanken, ein Echo von Adams letzter Frage. Und so gerne Adam mit ‚Hättest du wohl gerne’ antworten würde – er kann nicht. Er gibt nämlich gerade auf.

„Vielleicht“, schnauft er.

Leo hat offensichtlich nicht mit dieser Antwort gerechnet, und seine eine Sekunde Überraschung macht Adam sich zu Nutzen: er hat genug gewichtete Sit-Ups gemacht, um auch gegen Leos schwache Ärmchen anzukommen, und sitzt ihm in Nullkommanichts gegenüber.

Beziehungsweise: Leo sitzt immer noch auf ihm drauf und rutscht mit Adams Bewegung regelrecht in seinen Schoß. Das zusätzliche Gewicht hilft nicht, und dass Leo seine Hände immer noch hält, hilft nicht, und dass in seinem Haar immer noch eine Wildblume steckt, hilft nicht, und dass beim näheren Betrachten in der goldenen frühen Abendsonne eine ganze Galaxie an Sommersprossen auf Leos Gesicht sichtbar wird, hilft überhaupt gar nicht. Das alles hilft nicht, dass Adams Gedanken einen Sprint in eine völlig falsche Richtung loslegen.

„Vielleicht auch nicht, hm“, sagt Leo dann, und klatscht im nächsten Moment so laut auf seinen eigenen Oberschenkel, dass Adams Gedankensprint ein jähes Ende findet. Gottseidank.

„Da war ’ne Mücke“, murmelt Leo als Erklärung für den plötzlichen Move, obwohl Adam sich zu 90% sicher ist, dass Leos Augen eben definitiv woanders waren als auf seinen Beinen.

Und wenn es eine blöde Ausrede ist, dann rettet sie die beiden wenigstens aus dieser Situation, denn Leo steht auf.

„Wir wollen nicht hier sein, wenn die Mücken kommen. Andiamo“, sagt er.

Und – es ergibt Sinn, oder?

Natürlich ergibt es Sinn. Adam hat in diesem Urlaub schon einige fiese Mückenstiche abbekommen, und er ist dankbar, verschont zu werden. Und alle wissen, dass Mücken die frühen Abendstunden und verschwitzte Körper am besten finden. Also: fliehen ergibt Sinn.

Das redet Adam sich ein, während er Leo durch das Feld hinterherstapft, zurück zur capanna.

Während Leo scherzt, dass sie wenigstens aussehen, als hätten sie wirklich Fußball gespielt, und sich etwas Dreck von den Knien wischt.

Während sie wieder einpacken und auf die Fahrräder steigen.

Während er Leo schweigend hinterherfährt, den zart pfirsichfarbenen Wolken entgegen, bis die Fattoria vor ihnen auftaucht.

Natürlich ergibt es Sinn.

Notes:

mille grazie @apaethy fürs beta lesen ❤️

Chapter 5: 5. Fumare

Notes:

Ich schreibe eine Sommerfic im tiefsten Winter? It's more likely than you think!
Sorry, dass ich seit Oktober nicht gepostet hab, die Blorbo Rotation™ läuft bekanntlich am Anfang des Jahres immer am stärksten.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

5. Fumare | LEO

 

Leo sagt es Adam nicht, aber als sie auf dem Heimweg an der Fattoria vorbei zu deren Haupteingang radeln, sieht er ein verdächtiges oranges Glühen auf der anderen Seite des eisernen Zauns, der das Grundstück umgibt. Da, hinter den Gewächshäusern, wo niemand einen sieht, tummeln sich nicht die Glühwürmchen. Als er Adam verabschiedet (etwas unbeholfen) und die Fahrräder verstaut hat (etwas zu hastig), macht er sich auf den Weg ans Ende des Grundstücks, vorbei am Grillplatz und der Bocciabahn.

Caro und Tati schrecken auf, als Leo um die Ecke stapft, und Tati macht schon Anstalten, den Rauch mit der Hand wegzuwedeln. Caros Schreck ist aber schnell wieder verflogen, als sie ihren Bruder erkennt.

„Bist du jetzt Drogenspürhund oder was?“, grummelt sie und hebt die Zigarette wieder auf, die ihr aus der Hand gefallen ist. Sie ist nicht allzu dreckig, deshalb steckt sie sie gleich wieder zwischen ihre Lippen und zündet sie erneut an.

„Wau“, macht Leo emotionslos. „Ich bin nicht hier, um euch aufzuscheuchen.“

Die Mädels sitzen auf ein paar aufgestapelten Europaletten und Leo lässt sich schwerfällig auf einen umgedrehten Terracotta-Kübel sinken, in dem vor einigen Jahren mal ein Zitronenbaum gewachsen und dann umgetopft worden ist.

„Wofür denn dann?“, fragt Caro.

Tati hält ihm wortlos die offene Packung Zigaretten hin.

„Sei pazza??“ Caro schlägt sie ihr fast aus der Hand, aber Tati zieht sie weg.

Ne ha bisogno“, sagt Tati nur, zieht eine Zigarette aus der Packung und bietet sie Leo erneut an.

Gott, sieht er wirklich so schlimm aus? Braucht er tatsächlich eine?

Zögernd nimmt Leo die Zigarette.

Es ist nicht so, als hätte er noch nie einen Zug genommen, aber er will sich eigentlich nicht verführen lassen. Es ist schlimm genug, dass Caro es heimlich macht.

Andererseits: Leo versucht seit ungefähr einer Stunde, herunterzukommen. Irgendwann muss er seine Gedanken und Gefühle sortieren. Verarbeiten, was da heute zwischen ihm und Adam passiert ist. Abwägen, ob überhaupt irgendetwas passiert ist. Oder ob er sich das nur eingebildet hat. Wenn Adam ihn ein bisschen besser kennen würde, hätte er gemerkt, wie ungewöhnlich still Leo auf dem Heimweg war. Dass ihm keine Witze mehr eingefallen sind, um die Situation aufzulockern.

Die Zigarette ist zwischen seinen Lippen, bevor er es selber merkt, und Tati zündet sie für ihn an.

„Was ist los?“, fragt Caro. Sie sagt es etwas spöttisch, aber Leo erkennt auch eine Spur von Sorge in ihrem Gesicht. Er muss wirklich schlimm aussehen.

„Nix.“ Er zuckt mit den Schultern, nimmt einen Zug, und bekommt prompt einen Hustenanfall. Na gut, das mit dem Rauchen und gleichzeitig Coolsein muss er noch lernen.

Schon der nächste Zug funktioniert viel besser. Und dass seine Schwester und ihre Freundin ihn erstmal auslachen, verkraftet er auch. Sein Kopf ist viel zu voll von anderen Dingen, um sich daran zu stören.

„Wart ihr Fußballspielen?“, fragt Caro. „Oder … Fußballspielen?“

Sie malt mit ihren Fingern unsichtbare Anführungszeichen in die Luft.

„Warum klingt es bei dir wie ein Euphemismus“, grummelt Leo.

Und warum gibt der Gedanke, dass „Fußballspielen“ ein Euphemismus für etwas ganz anderes sein könnte, Leo eine Gänsehaut?

„Was weiß ich, was du immer machst, da in deinem Geheimversteck.“

Caros Augen blitzen angriffslustig. Klar, sie zieht ihn nur auf. Sie ist seine Schwester.

„Wir waren beim See“, gibt Leo nach. „Und?“

„Nix und.“ Sie lehnt sich nach vorne. „Warum wälzt du dich beim See im Dreck?“

Sie deutet mit einem Finger auf sein Gesicht. Leo hat sich eventuell lange nicht mehr im Spiegel angesehen. Vermutlich ist sein Gesicht nicht ganz verschont geblieben bei ihrer Rangelei im Feld.

Auf einmal muss Leo ein paar Züge mehr nehmen, um seine Antwort hinauszuzögern.

„Bin fast ertrunken, danke der Nachfrage“, antwortet er letztendlich. Und das ist nicht mal eine Lüge. Trotzdem kommt es ihm vor, als wäre die Zeit am See schon Wochen her gewesen.

Caro hebt eine Augenbraue. „Dafür scheinst du aber ziemlich fit.“

„Ist schon ein paar Stunden her.“

Leo beschließt gerade, dass diese Unterhaltung schnellstens im Keim erstickt werden sollte, da meldet Tati sich zu Wort.

Stiamo parlando di Adam?

Sie setzt sich auf, als die Geschwister nicken.

Sai se ha una ragazza?

Sie fragt es mit einem so falschen unschuldigen Unterton, dass Leo schlecht wird. Natürlich weiß er nicht, ob Adam eine Freundin hat. Er wirkt nicht wie jemand, der besonders viele Leute an sich ranlässt. Oder dessen Eltern besonders viele Freunde an ihn lassen, wohl eher.

Sì, si chiama Leo“, kichert Caro.

Sei davvero una bambina, wow.“ Leider sitzt Leo zu weit weg, um seiner Schwester gegen das Schienbein zu treten, aber sein Augenrollen sollte unmissverständlich sein.

Non lo so“, sagt er zu Tati, um ihre Frage zu beantworten. Vielleicht ist es ganz gut, dass das Abendlicht schon rötlich ist, denn Leo spürt, wie sein Gesicht heiß wird. Das letzte, was er jetzt braucht, ist noch ein blöder Kommentar von den Mädels.

Seine Zigarette ist mittlerweile auch erstaunlich kurz geworden, also nutzt er den Moment, um sich aus dem Staub zu machen.

Beim Aufstehen kommt ihm aber noch eine Idee.

„Kann ich noch zwei?“ Er deutet auf die Packung Zigaretten.

„Zwei? Kauf dir selber welche.“ Caro zeigt ihm einen Vogel.

„Komm schon.“

„Nee, vergiss es.“ Sie versteckt die Packung hinter dem Rücken.

„Okay“, versucht Leo es nochmal. „Ich kann natürlich auch Mama sagen, da–“

„–jaja, ich kann Mama auch sagen, dass ich dich beim Rauchen erwischt hab.“

„Mit dem Unterschied, dass ich legal welche kaufen könnte, wenn ich wollte. Jetzt gib schon.“

Weder Erpressung noch Recht scheinen Caro zu überzeugen, also greift Leo zu seiner unliebsten Methode: Komplimente und Bitten.

„Du wärst die beste Schwester der Welt, wenn du mir welche geben würdest“, versucht er mit seinem besten Dackelblick. „Biiiiiitte?“

„Abgesehen davon, dass du nur eine Schwester hast und diese, also ich, demnach die beste sein muss …“, sie wirft einen Blick auf Tati, die ihr fast schon die Schachtel aus der Hand reißt, um Leo zu helfen, „wenn ich es nicht tue, macht sie es.“

 

Am Ende bekommt Leo nur eine Zigarette, was besser ist als gar keine, und überlasst Caro zum Dank beim Abendessen sogar das letzte Stück Pizza. Er ist körperlich und mental so fertig, dass er sich direkt nach dem Essen ins Bett verabschiedet und den Tag mit einer langen Dusche von sich wäscht. Sonnencreme, Seewasser, Dreck, Gras, eine einzelne rote Blüte, alles verschwindet zu seinen Füßen im Abfluss. Seine Badehose wäscht er gleich mit. Am Ende dreht Leo das Wasser nochmal komplett auf kalt und bleibt noch ein paar Sekunden unter dem erfrischenden Strahl stehen. Draußen ist es noch längst nicht abgekühlt genug, offene Fenster bringen wenig, und Leo begrüßt die völlige Abwesenheit irgendwelcher Gedanken, die nicht „KALT KALT KALT“ sind.

Leider ist auch die kalte Dusche nicht genug, um Leos Gehirn neu zu sortieren, denn sobald er versucht, eine Seite aus seinem Buch zu lesen, verschwimmen die Buchstaben vor seinen Augen und seine Gedanken kehren sofort zum vergangenen Nachmittag zurück.

Wie Adam ihn erst aus Versehen fast umgebracht und ihm dann sofort das Leben gerettet hat, ihm nicht in die Augen sehen konnte, als Leo nach Komplimenten für seine Frisur gefischt hat. Überhaupt ist Adam nicht so gut darin, Leuten in die Augen zu sehen, was vielleicht besser so ist, denn seine glasklaren blauen Augen machen Leo ganz … sentimental. Vielleicht ist an dem Lied, was seine Mutter seinem Vater manchmal zum Spaß vorsingt, doch was dran. Obwohl in sowohl den Augen von Leo als auch seinem Vater mehr grün versteckt ist. Romantik ist trotzdem nie tot, wenn es nach seinen Eltern geht.

Adam würde ihn wahrscheinlich auslachen, wenn Leo sowas zu ihm sagen würde. Dabei kann er seine Frisur bescheuert, seine Kondition schwach und seine Kunstfertigkeit hässlich nennen – es ist ziemlich klar, dass Adam es nicht so meint. Leo ist es gewohnt, beleidigt zu werden, von Leuten, die es ernst meinen (seine Mitschüler) bis zu Leuten, die es nie wirklich so meinen (Caro). Und auch wenn er ein paar Tage gebraucht hat, um zu lernen, Adam einzuschätzen, scheint er jetzt ganz gut zu wissen, wie er tickt.

Als Leo sich auf den Rücken dreht, sieht er wieder Adams Gesicht über sich, Leos Holzkreation in der Hand. Er muss ganz schön bescheuert ausgesehen haben inmitten der Untersetzer, die er bei seinem Fall um sich verteilt hat. Leo seufzt und dreht sich wieder auf die Seite. Vielleicht sollte er Adam eine eigene Figur schnitzen. Die wirklich nach etwas aussieht. Die nicht hässlich ist.

Vielleicht würde Adam sie auf seine Handfläche stellen und begutachten, vielleicht würde er mit seinem Zeigefinger über jede Einkerbung und jede Rundung streichen, und vielleicht würden seine Mundwinkel langsam nach oben wandern, vielleicht würde er lächeln müssen obwohl er nicht will. Und vielleicht wird Leo gerade völlig verrückt, denn er wollte diesen Sommer einfach nur einen Freund finden und nicht … was auch immer das hier gerade wird.

 

Der nächste Tag fängt ziemlich genauso an wie der davor: Leo und Adam treffen sich mittags nach Leos spätem Frühstück und Adams frühem Training, holen die Fahrräder heraus und düsen in die völlig falsche Richtung. Leo hat präzise ausgewählt, was heute in seinen Rucksack kommt und hofft, nichts Essenzielles vergessen zu haben.

Ihr erster Stopp ist heute nicht am See, sondern ein Stück weiter. Nicht durch den Wald, sondern eine schmale Allee hinunter, gesäumt mit Zypressen, bis Leo einen noch schmaleren Weg einschlägt und Adam einen Trampelpfad hinunterführt. Auch hier müssen sie irgendwann absteigen, weil das Gras zu hoch wird und Radfahren bald nicht mehr gefahrenfrei möglich ist.

Als das Meer sichtbar wird, hört Leo Adam hinter sich laut einatmen. Nah am Wasser sind sie nicht und es sind einige Felder zwischen ihnen, aber es ist, was es ist: das Tyrrhenische Meer.

Leo wirft sein Rad ins hohe Gras und hält das Gesicht in die Sonne, welche hoch über ihnen steht.

„Ich wusste nicht, dass man hier irgendwo das Meer sehen kann“, sagt Adam, als er neben ihn tritt.

„Nicht nur das.“ Leo deutet auf eine Erhebung am Horizont. „Heute ist es klar genug, dass man sogar bis nach Elba gucken kann.“

Adam kneift die Augen zusammen. „Cool.“

„Würde auch lieber näher am Meer wohnen. Aber der See tut’s auch.“

„Ich würde überhaupt gerne irgendwo wohnen, wo man das Meer sehen kann.“

„Ja, das ist zuhause schon ein bisschen schwierig. Ich kann nicht mal die Saar sehen aus meinem Fenster.“

„Ich kann nur Wald sehen.“

Leo dreht sich endlich zu ihm um. Hinter Adams Sonnenbrille ist schwer zu sehen, was er denkt.

„Wohnt ihr im Wald?“

„Nee, aber direkt daneben.“

„Cool.“

Adam seufzt. „Geht so.“

„Gibts da einen See?“

„Ja, aber da würde ich niemals drin schwimmen.“

Leo schaut wieder zurück aufs Wasser.

„Dann lass’ uns ausnutzen, was wir haben, solange wir noch hier sind. Andiamo, Adamo!

Und er springt wieder auf sein Fahrrad.

 

Heute gibt es keine Wasserschlacht. Leo versucht zwar öfter, Adam herauszufordern, aber der ist offensichtlich noch zu traumatisiert von Leos Nahtoderfahrung vom Vortag. Das wird Leo schnell zu doof, deshalb versuchen sie sich an anderen Challenges, z.B. wer die meisten Vorwärtsrollen unter Wasser machen kann oder wer am längsten die Luft anhalten kann. Adam hat einen erstaunlich langen Atem, aber Leo ist schwindelfreier, deshalb trennen sie sich in einem guten Gleichstand.

Danach verteilt Leo den Inhalt seines Rucksacks auf der Decke. Adams Blick fällt sofort auf die einzelne Zigarette.

„Seit wann rauchst du denn?“, fragt er, halb skeptisch, halb neugierig.

Leo hält die Zigarette vor sich, als wäre sie der heilige Gral. „Hab ich Caro abgezockt. Sie wollte mir nicht mal zwei geben. Willst du?“

Adam schaut sie ziemlich lange an, dann schüttelt er irgendwann den Kopf.

„Mein Vater bringt mich um, wenn er irgendwas riecht. Das will ich echt nicht riskieren.“

Leo nickt. „Aber stell dir vor, ich hätte mir das schon gedacht und vorgesorgt?“

„Eine schöne Vorstellung …“ Adam lächelt etwas.

„Musst du dir gar nicht vorstellen.“ Leo guckt auf die Uhr. „Wir können noch ein paar Stunden hierbleiben. Nach dem Rauchen essen wir was.“ Er hält die Packung Sour Cream & Onion-Pringles hoch, die zwischen ihnen liegt. „Den Nachgeschmack kriegst du nie wieder weg, wenn du die weniger als 2 Stunden vorm Schlafengehen isst. Also eine sichere Wahl. Außerdem …“, er fischt eine Packung Mentholkaugummis aus der kleineren, vorderen Tasche seines Rucksacks, „… haben wir auch noch die hier. Und natürlich dein Lieblingsgetränk.“ Er stapelt die vier Dosen LemonSoda, die er aus dem Rucksack geholt hat, vor ihnen auf der Decke.

Adams Blick gleitet über die Hilfsmittel und sein Lächeln wird immer breiter. Dann sieht er zu Leo auf.

„Du hast das wirklich geplant, oder?“

„Klar“, sagt Leo und wirft die Zigarette in die Luft – eigentlich um sie cool wieder aufzufangen, aber sie gleitet ihm durch die Finger und landet auf der Decke. Wirklich cool.

„Okay“, sagt Adam dann. „Du musst aber nachher meinen Atem prüfen. Sonst kannst du mich später von den Fliesen kratzen.“

Er sagt es, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt, und Leo schluckt. Er kann nicht wirklich einschätzen, wozu Adams Vater imstande ist, aber er möchte es auch nicht herausfordern.

„Klar“, sagt Leo wieder, steckt sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündet sie an. Diesmal bekommt er zum Glück keinen Hustenanfall, sondern inhaliert leicht genug, um den Rauch schnell wieder auszustoßen. Dann gibt er die Zigarette an Adam weiter. Kurz berühren sich ihre Finger, doch bevor Adam zugreift, zögert er doch.

„Was, wenn meine Hände danach riechen? Mein Mathelehrer in der Unterstufe hat in den Pausen immer geraucht und wenn er einem irgendwas gezeigt hat auf dem Papier oder so, war man nah genug dran—“

„—Okay, okay. Das geht bestimmt auch ohne Anfassen.“

Leo denkt eine Sekunde nach, aber das erste Bild, was sich vor seinem inneren Auge bildet, ist eine Szene aus irgendeinem französischen Film, den er irgendwann spätabends mal geguckt hat – in dieser inhaliert eine Frau den Rauch direkt aus dem Mund von einem Typen. Leo hat das damals als typisch französisch abgetan – in den Filmen passiert seiner Meinung nach nie etwas außer Rauchen, Rotwein trinken und Sex. Außerdem war es merkwürdig intim gewesen. Als wäre eine Zigarette zu teilen nicht schon intim genug. Der Gedanke, Adam so nah zu sein, zerrt trotzdem an seinen Eingeweiden. Also: diese Option ist aus dem Rennen.

Stattdessen rutscht Leo etwas näher an Adam heran und führt die Zigarette direkt an seine Lippen. Sein Ringfinger stützt sanft Adams Kinn, während dieser langsam einen Zug nimmt.

„Nicht zu tief einatmen“, leitet Leo ihn an. Aber Adam braucht überhaupt keine Anleitung. Seine Augenbrauen ziehen sich konzentriert zusammen, als er den Rauch kurz hält und Leo die Zigarette wieder absetzt. Langsam stößt Adam den Rauch wieder aus. Sein Mundwinkel zuckt kurz nach oben.

Leo hat offenbar den Atem angehalten, während Adam seinen ersten Zug genommen hat. Er atmet tief durch und reißt seinen Blick endlich von Adam los.

„Als ob du noch nie vorher geraucht hättest“, murmelt er und nimmt noch einen Zug. Ihm ist äußerst bewusst, dass der Filter zwischen seinen Lippen eben noch von Adams eingeschlossen war.

„Hab ich nicht!“, beteuert Adam, etwas empört aufgrund dieser Beschuldigung. „Weil ich nicht gehustet hab?“ Er schüttelt den Kopf.

Der Rauch füllt Leos Lungen angenehm und er stößt ihn sanft wieder aus.

„Kannst doch nicht in allem ein Naturtalent sein“, sagt er dann, aber ohne Boshaftigkeit dahinter. Vielleicht ist er wirklich in allem ein Naturtalent.

Diesmal lehnt Adam sich schon herüber, bevor Leo seine Hand komplett nach seinem Gesicht ausgestreckt hat, wie Gucci, wenn Leo mit einer Snackstange für sie auf den Hof kommt. Sein Kinn schiebt sich von alleine auf Leos Ringfinger und als sich beim Ziehen seine Wangen höhlen, spürt Leo die Hitze in sein Gesicht kriechen. Adam bläst ihm den Rauch direkt ins Gesicht und hat dann auch noch die Dreistigkeit, zu lachen, als Leo sich angewidert von ihm wegdreht.

Der Tabak und die Hitze steigen Leo langsam zu Kopf und er nimmt gleich zwei Züge, als er Adam loslässt. Stattdessen schließt er die Augen, um wieder etwas klarer denken zu können.

Er zuckt zusammen, als er plötzlich fremde Finger auf seinen spürt, und lässt fast die Zigarette fallen. Aber Adam tippt nur darauf und lässt dann sofort wieder los.

„Mehr“, sagt er leise, halb fordernd, halb fragend, und als Leo sich traut, ihm ins Gesicht zu schauen, trifft sein Blick auf unschuldige blaue Augen.

„Hoffentlich hab ich dich nicht angefixt“, murmelt Leo, aber er erfüllt Adam seinen Wunsch und beobachtet, wie dessen Augen sich genüsslich schließen und dann langsam wieder öffnen, als der Rauch zwischen seinen Lippen hervortritt. Auch das beobachtet Leo genau. Er will seine Hand gerade wieder wegziehen, da ergreift Adam sie sanft und führt sie für einen weiteren Zug zu seinem Mund. Und wieder sind seine Finger so schnell weg, wie sie gekommen sind. Nur sein Daumen gleitet merklich über Leos Handfläche, als er loslässt. Und am schlimmsten: er scheint das alles überhaupt nicht zu bemerken.

Die Zigarette ist mittlerweile so kurz, dass Leo sie lieber gleich ausdrückt, bevor er sich noch weiter diesem Spiel hingibt. Und Leos Gesicht ist so heiß, dass er dringend in den See springen muss.

Und das macht er auch. Direkt nach dem Ausdrücken springt er auf und läuft wortlos in den See hinein, wo er erstmal so lange untertaucht, wie seine Lungen es mitmachen.

Er schafft ganze 70 Sekunden, bis es so sehr brennt, dass er Luft holen muss und an die Oberfläche kommt.

Adam sitzt noch immer auf der Decke, den Blick aufmerksam auf den See gerichtet – vermutlich, um sich zu vergewissern, dass Leo nicht wieder aus Versehen ertrinkt.

Immerhin scheint ihn die ganze Situation kälter zu lassen als Leo. Vielleicht reagiert er auch völlig über. Wahrscheinlich rangeln alle besten Freunde in verlassenen Feldern und unterstützen einander beim Rauchen. Ganz bestimmt.

Aber Leo reißt sich zusammen. Das wird schon alles.

 

Sie öffnen die Pringles und Leo guckt ganz bestimmt nicht hin, als Adam zuallererst das geschmackgebende Pulver von den Chips leckt, bevor er sie wirklich isst. Sie gönnen sich LemonSoda und Leo findet ein unbearbeitetes Stück Holz in seinem Rucksack, was er gestern noch eingesteckt hat.

Was er auch findet, ist sein mp3-Player.

„Wollen wir Musik hören?“, fragt er. Eigentlich ist Musik- und Filmgeschmack immer eines der ersten Sachen, die er bei neuen Bekanntschaften abfragt. Irgendwie hat es bei Adam bis jetzt jedoch noch keine Rolle gespielt.

Adam nickt.

„Was hörst du so?“

„Ich … hab eigentlich gar keine Musik“, gibt Adam zu. „Im Auto müssen wir immer die Klassiksender hören.“ Er seufzt. „Nicht dass ich Zeit dafür hätte, mich mit Musik zu beschäftigen.“

Gott, muss das ein trauriges Leben sein, ganz ohne Musik. Aber wenigstens kann Leo ihm jetzt seinen eigenen Musikgeschmack aufdrücken.

Leo scrollt durch seine Alben, will Adam nicht die durch die komplette American Idiot-Saga zwingen oder sofort von Muse überwältigt werden, auf Red Hot Chili Peppers hat er grad keinen Bock und Seeed passt irgendwie nicht zur Stimmung. Doch beim Buchstaben S springt ihm noch etwas anderes ins Auge, was viel besser passt.

Leo gibt Adam einen der Ohrstöpsel und legt sich auf die Decke.

„Wenn du was anderes hören willst, sag Bescheid“, sagt er noch, bevor die ersten Töne vom neuen Snow Patrol-Album ertönen, im Wissen, dass Adam niemals Bescheid sagen würde. Aber er nickt und legt sich ebenfalls auf den Rücken.

Während sie den ersten Songs zuhören, schnitzt Leo vorsichtig an seinem Stück Holz herum. Vielleicht wird dieses ja besser. Wenn es nicht zu hässlich wird und tatsächlich nach etwas aussieht, schenkt er es vielleicht Adam.

Es dauert nicht lange, bis die Hitsingle Chasing Cars ertönt. Wenn Adam nicht nur Klassiksender hören würde, wäre ihm dieses Lied definitiv schon begegnet. Auch Leo hat nie sonderlich auf den Text geachtet, aber jetzt hat er nichts besseres zu tun, und … wow.

Er hält unwillkürlich die Luft an und schaut noch konzentrierter auf sein Stück Holz, aber heimlich schielt er doch zu Adam herüber. Der hat die Augen geschlossen und sieht bis auf seine leicht zusammengezogenen Augenbrauen eigentlich ganz friedlich aus. Leo entscheidet, dass er ausatmen darf und versucht sich lieber auf sein Handwerk zu konzentrieren, damit er sich nicht auch noch in den Finger schneidet wie ein Idiot.

Leider passt Liegen und Holzspäne ganz schlecht zusammen, also legt er irgendwann seine Arbeit nieder, bevor er einen Holzsplitter ins Auge bekommt. Adam hat immer noch die Augen geschlossen, als Leo zu ihm herübersieht. Seine Hände liegen entspannt auf seinem Bauch, die Finger verschränkt, und ein paar Wassertropfen glitzern noch auf seiner Haut, wann immer sie kurz von einem Sonnenstrahl eingefangen werden, der sich durchs Blätterdach kämpft. Adam hat innerhalb der letzten Woche ganz schön Farbe bekommen und auf seinen Schultern und an seinem Hals macht sich ein kleiner Sonnenbrand bemerkbar. Leo denkt kurz an den stillen, blassen Jungen, der ihm und Caro an seinem ersten Abend gegenübersaß. Nicht dass er sich in diesen wenigen Tagen besonders viel verändert hätte, aber Leo sieht ihn schon mit anderen Augen als noch an diesem ersten Treffen.

Adam tippt seine Daumen im Takt der Musik aneinander; das einzige Indiz, dass er noch nicht eingeschlafen ist. Leo kann nicht einschätzen, ob ihm die Musik überhaupt gefällt, Adams Gesicht ist völlig neutral. Vielleicht ist er aber auch endlich einmal komplett entspannt. Es sei ihm gegönnt.

Trotzdem fällt Leo noch etwas ein. Er setzt sich auf und findet die Mentholkaugummis unter seinem Rucksack. Leicht berührt er Adam an der Schulter, der zusammenfährt und Leo fragend anschaut. Leo hält ihm ein Kaugummi hin.

„Ohh … danke“, macht Adam leise und steckt es sich in den Mund. Und verzieht sofort das Gesicht, als er draufbeißt.

Leo kann sich ein Lachen nicht verkneifen. „Du wirst es mir später danken.“

Adam nickt gequält und kaut weiter. „Tu ich jetzt schon. Innerlich.“

Er zeigt auf das Stück Holz, was Leo nur halbherzig bearbeitet hat. „Was wird das, wenn es fertig ist?“

Leo zuckt mit den Schultern. „Moderne Kunst. Nach was sieht es denn aus?“

Adam greift sich das Stück und begutachtet es von allen Seiten.

„Könnte alles sein. Egal, was du sagst, ich würde es dir wahrscheinlich glauben.“

„Gut zu wissen“, murmelt Leo. Das Vorhaben, Adam am Ende seines Urlaubs etwas Selbstgemachtes mitzugeben, verfestigt sich immer mehr.

Adam gibt ihm das Stück Holz zurück und Leo schnitzt planlos weiter daran herum, bringt es in eine etwas rundere Form.

 

Als das Album durchgelaufen ist, springen sie zurück ins Wasser und schwimmen noch eine Runde. Nachdem die Pringles und Getränke leer sind, gönnen sie sich noch jeder ein Kaugummi und es geht wieder nach Hause.

Leo ist erschöpft, aber auf eine gute Art. Die Aufregung vom Rauchen verfliegt mit dem Fahrtwind, als sie die Landstraße herunterradeln, und kommt erst zurück, als er Adams Vater auf dem Hof erblickt.

Es ist noch nicht besonders spät: die Sonne fängt jetzt erst an, etwas tiefer zu stehen und die Mücken sind noch nicht einmal rausgekommen. Adams und Leos Väter stehen mit noch zwei Leuten der österreichischen Familie zusammen und unterhalten sich, ein zugegeben seltenes Bild. Die Schürks sind nicht unbedingt die sozialsten Menschen. Automatisch versucht Leo die Situation einzuschätzen und entscheidet, dass alles in Ordnung ist. Hier wird sich wirklich nur unterhalten.

Die Jungs stellen ihre Fahrräder ab und gesellen sich zu der kleinen Gruppe.

Leo entgeht nicht, dass Adams Vater seinen Sohn aufmerksam von oben bis unten mustert. Und offenbar entscheidet, dass alles ist wie immer. Leo weiß nicht, ob die Schweißperlen auf Adams Stirn vom Radfahren oder seiner Nervosität stammen und betet, dass er es als ersteres verkaufen kann.

Es stellt sich heraus, dass ihre Familien gerade einen Ausflug nach Grosseto planen, gleich morgen, um nicht nur die schöne Landschaft zu genießen sondern auch mal ein bisschen Kultur zu erleben. Leo mag Grosseto; es ist nicht so nah dran, dass er besonders oft dort wäre, aber die Hölzers fahren bei jedem Fattoria-Aufenthalt mindestens einmal hin. Und die Aussicht, mit Adam den Tag dort zu verbringen? Leo kann sich gerade nichts Schöneres vorstellen.

Während des Gesprächs schaut Leo immer wieder unauffällig zwischen Adam und seinem Vater hin und her. Roland Schürk scheint immer noch nichts bemerkt zu haben, und Adam scheint genau deshalb ziemlich beruhigt zu sein. Einmal werfen sie sich ein heimliches Lächeln zu und Leo macht sich eine mentale Notiz, dass heimlich Rauchen auf diese Weise sehr gut funktioniert. Sie wird an die stetig länger werdende Liste an Geheimnissen, die Leo und Adam miteinander teilen, angefügt. Leo ist fast berauscht von allem, was in dieser ersten Woche geschehen ist. Morgen ist schon wieder Samstag, und dann ist Adam schon seit einer Woche hier.

Wie ist das passiert?

Notes:

Listening to Chasing Cars while lying next to your crush is something that can actually be so personal …

Anyway, mille grazie fürs Lesen an DICH!
Und ebenfalls an @apaethy fürs Betalesen und Übersetzungshilfe ❤️

Chapter 6: 6. Chiesa

Notes:

[james acaster voice] started making it, had a breakdown, buon appetito
wir ignorieren an dieser stelle einfach, dass ich seit 4 monaten nicht updated hab. aber hey, habt ihr schonmal in einer kirche gelacht und keiner durfte es hören? dann ist dieses kapitel für euch ❤️

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

6. Chiesa | ADAM

 

Adams Training ist am Morgen noch ein bisschen früher als sonst, da der Aufbruch nach Grosseto früh stattfinden soll. Adam kriegt beim Frühstück kaum etwas hinunter vor Aufregung. Er muss zwar eine knappe Stunde mit seinen Eltern im Auto verbringen, aber danach wird er eine neue Stadt zu sehen bekommen. Er liebt die italienische Landschaft, aber wirklich was los ist hier nun mal nicht. Na ja, und Zeit mit den Hölzers verbringt er auch gerne. Sie werden die Gäste heute ein wenig in der Stadt herumführen und haben bestimmt viel zu erzählen.

Mit vier Autos geht es los: die Engländer, die Österreicher und Adams Familie, angeführt von dem Ford Mondeo der Hölzers inklusive Tati, bilden eine kleine Kolonne und machen sich auf knirschendem Kies auf den Weg.

Im Auto versucht zum Glück niemand, die Stille mit unnötigem Smalltalk zu füllen. Adams Mutter sucht zehn Minuten nach einem Klassik-Radiosender, gibt irgendwann auf und bleibt tatsächlich an einem Sender hängen, der aktuellere Musik spielt. Italienische und englische Songs wechseln sich mit Nachrichten und Verkehrsmeldungen ab, und Adams Gedanken driften zum vorigen Tag zurück.

Seine erste Zigarette. Wie selbstverständlich Leo an die starken Kaugummis gedacht hatte. Die langen Stunden im Wasser. Einfach die Augen schließen und Musik genießen können.

Abrupt wird Adam aus seinen Gedanken gerissen, als ein Lied im Auto ertönt, welches er erkennt. Gerade gestern hat er es gehört, richtig zugehört, den Text in sich aufgenommen und absorbiert. Die Gitarrenklänge erfüllen den Innenraum des Autos und Adam muss unwillkürlich lächeln. Ja, denkt er, es gibt wirklich eine Person, die sich einfach mit ihm hinlegt und die Welt vergisst. Und er muss nicht einmal danach fragen. Er wüsste ja nicht einmal, wie.

Er denkt daran, wie schnell Leo aufgesprungen ist, nachdem er die Zigarette ausgedrückt hat; wie er ins Wasser gesprintet ist, als würde sein Leben davon abhängen, und eine geschlagene Minute abgetaucht ist. Adam weiß nicht, ob das irgendwas zu bedeuten hat. Nur, dass er sich ungefähr genauso gefühlt hat. Als müsse er sich abkühlen.

 

Adam wird die ganze Stunde Fahrtzeit in Ruhe gelassen und springt förmlich aus dem Auto, als die Kolonne endlich einen Schattenparkplatz gefunden hat.

Auch Leo scheint dem Auto seiner Familie zu entfliehen und schlendert mit gequältem Gesichtsausdruck auf Adam zu.

„Glaubst du, ich kann auf dem Rückweg bei euch mitfahren? Ich halte unmöglich noch eine Stunde mit den beiden aus“, seufzt er mit einem Kopfnicken zu Caro und Tati.

„Ähm … muss ich fr–“

„Natürlich kannst du bei uns mitfahren“, fällt ihm Adams Mutter ins Wort.

Adam verstummt. Seine Eltern sind nicht gerade bekannt dafür, gerne andere Kinder herumzukutschieren, die nicht ihr eigenes sind. Sie müssen schon explizit danach gefragt werden. Andere Eltern haben Adam schon ein paar Mal von sich aus von irgendwelchen Sporttrainings mitgenommen und zuhause abgesetzt, aber andersrum? Das wäre ja mehr Zeit, die man mit Kindern verbringen muss.

„Sind Sie sicher?“, fragt Leo. „Ich wollte eigentlich nur ein bisschen rumjammern.“ Er lacht etwas verlegen und sieht dann zu Adams Vater herüber. Er ist ein wenig rot, aber das könnte auch von den 28 Grad im Schatten kommen.

„Roland“, sagt Adams Mutter, „wir holen auf dem Rückweg de Leo mit, ja?“

Und weil Adams Vater nichts im Leben liebt außer seine Frau, und die Frage eigentlich eher eine Feststellung war, gibt er den gnädigen Vorzeige-Ehemann und -Vater.

„Natürlich. Gar kein Problem, Leo.“

Adam beschließt, das nicht zu hinterfragen und sich einfach nur zu freuen, keine langweilige Rückfahrt zu haben. Noch eine weitere Stunde, in der er Leo bei sich, um sich, neben sich hat.

 

Der erste Stopp in Grosseto ist die Stadtmauer, auf der sie ein wenig herumschlendern und Georgs kleiner Geschichtsstunde über jegliche Bastionen auf ihrem Weg lauschen. Leo zeigt Adam zwischendurch ein paar Dinge, die man von dort oben sehen kann und dann sind sie auch schon auf dem Weg in irgendeine Kirche, deren Namen Adam sofort vergisst, aber die von außen wirklich schön anzusehen ist. Außen und innen quergestreift, und sehr viel kleiner als sich Adam italienische Kirchen vorgestellt hat.

Caro, Tati und die restlichen Frauen, die für katholische Kirchen ‚zu knapp’ bekleidet sind, werfen sich Tücher und Jacken über, damit ihre Schultern bedeckt sind und die Reisegruppe begibt sich in den angenehm kühlen Dom.

„Komm, ich zeig dir was“, flüstert Leo und zieht Adam förmlich zu einer Seite des Kirchenschiffs, wo sich einige sehr leidend aussehende Statuen befinden. Adam weiß nicht ganz, was er hier sehen soll, aber als er Leo wieder anblickt, hat dieser sein Gesicht haargenau zu dem Ausdruck verzogen, den die erste Figur zeigt. Er weist auf die zweite, Adam guckt hin, und dann zurück zu Leo. Der hat den Ausdruck der zweiten Figur perfektioniert. Sie gehen die komplette Reihe durch und Adam muss sich so sehr zusammenreißen, nicht loszulachen, dass er fast platzt.

Leo läuft schon weiter, schiebt sich in eine der Sitzreihen und klopft auf die Bank neben sich. Adam setzt sich vorsichtig auf das alte, knarzende Holz, und Leo zeigt hoch auf ein Gemälde, was etwas missglückt irgendeinen Typen zeigt. Entweder wurde es schlecht restauriert oder von Anfang an einfach hässlich gemalt.

„Das ist mein Lieblingsbild“, flüstert Leo. „Es gibt mir so viel Kraft …“, er schaut Adam bedeutungsvoll an, „… dass ich nicht so hässlich bin.“

Adam kann nicht anders, das Lachen muss jetzt raus, und er schlägt beide Hände vor den Mund, weil sie als kichernde Teenager sowieso schon empörte Blicke ernten. Leo sieht immer zufrieden aus, wenn einer seiner Witze landet, so viel hat Adam schon gelernt. Meistens senkt er lächelnd den Kopf, bevor er kurz wieder die Person anschaut, der der Witz erzählt wurde, und dann schnell wieder weg. So auch jetzt; sein Blick ist wieder auf das Gemälde gerichtet, und vielleicht gerade weil Leos Aufmerksamkeit woanders liegt, rutscht es Adam einfach heraus: „Im Gegenteil sogar!“

Er bereut es sofort. Aber sein Gehirn schafft es nicht, irgendetwas Schlaues hinterherzuwerfen. Schweigend beobachtet er, wie Leos Augen vom Gemälde rutschen, kurz ins Leere starren, während er verarbeitet, was Adam gesagt hat. Stockend dreht sich sein Kopf, und er schaut Adam überrascht an.

Fuck, Adam muss dringend irgendwas sagen, um das Gesagte abzuschwächen, irgendwas. Aber als er den Mund aufmacht, fragt Leo leise:

„Im Gegenteil?“

Nichts. Es ist nichts in Adams Kopf, was er sagen könnte, denn Leos Reaktion ist ganz anders, als Adam erwartet hat. Er hätte lachen sollen – er hat doch selber einen Witz gemacht. Natürlich muss er Adams Antwort nicht ernst nehmen (obwohl sie ernst gemeint war).

Aber Leo lacht nicht. Schaut Adam nur an, in seinem Gesicht mischen sich Skepsis, Überraschung und Neugier, aber kein Amüsement.

Adam zuckt die Schultern. Es ist weiterhin nichts in seinem Kopf, keine Ausrede, kein Witz. Nur die Feststellung, dass Leo ganz und gar nicht hässlich ist. Sonst würde Adam sich doch nicht dauernd dabei erwischen, ihn wieder angestarrt zu haben, ohne es wirklich zu merken – oder?

„’Türlich“, murmelt er letztendlich und guckt lieber auf seine Knie. „Hast doch ’nen Spiegel.“

Leo schnaubt neben ihm und als Adam sich traut, wieder hinzusehen, lächelt er doch, aber sein Blick ist fest auf seine eigenen Knie gerichtet.

„Na, wenn du das sagst.“

„Dachte, das gibt dir vielleicht noch mehr Kraft.“

Endlich, irgendwas nicht komplett bescheuertes aus Adams Mund. Könnte sogar noch als Witz durchgehen. Und Leo lächelt wirklich noch ein bisschen breiter.

„Noch mehr Kraft und ich kann es mit dir aufnehmen“, sagt er und boxt Adam spielerisch in die Schulter. Adam boxt ihn zurück, extra leicht, aber Leo hält sich trotzdem den Oberarm und zieht scharf die Luft ein.

„Alter“, wimmert er. „Sag nicht, du boxt auch noch …“

„Ich box’ auch noch.“

Leo stöhnt auf. Vor ihnen dreht sich eine alte Frau empört zu ihnen um.

„Fußball, Laufen, Boxen“, zählt Leo an seinen Fingern auf, „sonst noch was?“

Adam lächelt. „Schwimmen. Krafttraining. Judo. Also aktuell. Früher hab ich noch andere Sachen gemacht. Aber neben Schule ist da nicht mehr so viel Zeit für.“
Leo verdreht sichtbar die Augen. „Okay, Sportskanone. Aber jetzt in den Ferien?“
Adam zuckt die Schultern. „Laufen und Schwimmen bin ich ja immer noch ausgesetzt. Und Radfahren.“
Sie lächeln sich verschwörerisch an.
„Und Fußball“, grinst Leo.
„Oh ja. Der Fußball.“
„Dem bist du jeden Tag ausgesetzt.“
„Dem bin ich jeden Tag ausgesetzt. Wie konnte ich das vergessen!“
„Wie konntest du nur!“, ermahnt Leo ihn spielerisch.

Aus der Ferne sieht Adam seinen Vater streng herüber schauen. In der Kirche ist kein Spaß erlaubt, das weiß er. Leos Kichern verstummt, er fängt seinen Blick auf und versteht sofort.

„Komm, wir gehen den Rest angucken.“

 

Vor einem Gemälde einer Frau mit gold glänzender Krone bleiben sie stehen. Adam vermutet stark, dass es Maria darstellt: in Gebetshaltung, umgeben von acht Engeln, zwei von ihnen in die untersten Ecken gequetscht. Leo liest aufmerksam die Infotafel, die komplett auf Italienisch verfasst ist.

„Was steht da?“, fragt Adam leise.

„Naja“, sagt Leo und schaut zu ihm herüber. „Was soll da schon groß stehen? Nella cappella della Madonna delle Grazie, è ospitato il dipinto raffigurante la Vergine Assunta con otto angeli …“ Und Leo fängt an, die Infos herunterzurattern. „… realizzato intorno al 1470 dal pittore Matteo di Giovanni, probabilmente parte centrale di un'originale tavola più ampia. Al dipinto, molto venerato, venne aggiunta nel 1759 la corona della Vergine.

Adam nickt stoisch, als würde er auch nur ein Wort davon verstehen. Leo nickt auch.

„Cool“, sagt Adam. „Und sonst so?“

Leos Lippen verziehen sich zu einem frechen Grinsen. „Alcuni studiosi, tra i quali Monsignor Crispino Valenziano hanno interpretato questa opera come un’icone. Unglaublich, oder?“

„Wow. Das werde ich mir als Anekdote merken. Erzähl mir mehr“, bittet Adam.

Was er nicht sagt: Wow. Erzähl mir alles. Lies mir von mir aus das Telefonbuch auf Italienisch vor, aber hör nicht auf zu reden. Rede mich in den Schlaf. Ich habe eine religiöse Erfahrung in dieser Kirche und es ist allein deine Schuld.

Das alles sagt er nicht, aber muss er auch gar nicht. Leo liest ganz von alleine weiter vor:

In origine la tavola era collocata in una cappella della zona absidale, al di sopra di un altare …“

Die einzelnen Worte verlieren sich in Adams Ohren, und er taucht ab in Leos Redeschwall. Er hat einen deutlichen deutschen Akzent, aber das ist egal. Adam würde ihm stundenlang zuhören. Statt die Informationen weiter herunterzurattern, ist Leo zu seiner besten arte-Geschichtsreportage-Sprecher-Imitation übergegangen. Leos Finger gleitet über die Zeilen, konzentriert auf die Sätze, und Adams Blick gleitet über Leos Gesicht, konzentriert auf seinen Mund.

„… e nel 1709 nella attuale cappella, su un nuovo altare.

Adam versucht sich schnell zu fangen, als Leo seinen Blick vom Text reißt und ihn wieder anblickt.

„Macht komplett Sinn, oder?“

Adam nickt schnell. Seine vorherige Schlagfertigkeit hat sich in Luft aufgelöst. Er räuspert sich.

„Ähm, j— klar. Total.“

Der Stimmungswechsel entgeht Leo nicht. Er mustert Adam halb skeptisch, halb besorgt.

„Alles okay?“

Adam schluckt, und reißt sich endlich zusammen. „Klar. Aber jetzt das ganze nochmal auf Deutsch.“

Leo stöhnt gespielt genervt, aber trägt Adam gerne alles über das Gemälde nochmal auf Deutsch zusammen: wer es wann gemalt hat, wann ein Detail nachträglich hinzugefügt wurde, wo das Gemälde sich früher befunden hat, wann es restauriert wurde. So genau will Adam das alles gar nicht wissen, aber zugeben, dass er nur Interesse an Leos Sprachgewandtheit hat, kann er ebenso wenig. Deshalb hört er brav zu, bedankt sich, und ignoriert gekonnt, dass er soeben eine religiöse Erfahrung in einer katholischen Kirche hatte.

 

Nach dem Kirchenbesuch hat Caro Lust auf Eis und lässt das auch alle wissen, darum lädt Georg Hölzer großzügig alle auf ein Eis ein, die wollen. Adam weiß, dass er unter normalen Umständen niemals eins bekommen hätte. Nicht nur hält sein Vater nichts von Süßkram, er ist auch noch geizig. An Geld fehlt es ihnen absolut nicht, aber das wird alleine in die eigenen Habseligkeiten gesteckt. Das einzige, was Adam davon sieht, sind die teuren Klamotten. Diese können ihm selbst egaler nicht sein, aber seinem Vater ist es wichtig, wie die Leute in der Schule seinen Sohn sehen und wie es auf die Familie abstrahlt. Im Großen und Ganzen vermutet Adam, dass er bei Anderen bekannt ist als sehr sportlich, gut situiert und extrem ehrgeizig. Und so ist es auch, aber nicht aus eigenen Stücken.

Dennoch: Adams Vater lässt ihn mit in die Gelateria gehen, weil ein Anderer zahlt. Vermutlich wird Adam dafür heute Abend mit härterem Training bestraft, aber das ist ihm beim Anblick der Unmengen an Eissorten sowas von egal.

Leo berät Adam tatkräftig, während sich erstmal die kleineren Kinder ihrer Reisegruppe vor der Auslage drängeln. Dann kommt er selber mit einer beachtlichen Menge Pistazieneis auf seiner Waffel getürmt aus dem Laden und grinst wie ein Honigkuchenpferd, als er sich darüber hermacht.

Die Erwachsenen bleiben eher bei Espresso und Eiskaffee.

„Kann ich mal probieren?“, fragt Leo, als Adam schon gedankenverloren zwei Tauben beobachtet, während er sein Zitroneneis isst. Leo hat ihm zu etwas Interessanterem geraten, aber irgendwie hat Adam die Sorte sofort angelacht.

„Ähm … klar.“

Sie haben keine Löffel, realisiert Adam, als er Leo wie automatisch seine Waffel hinhält. Er hat eine Zehntelsekunde Zeit, in Panik zu verfallen, bevor Leos Zunge quer über Adams Eiskugel gleitet. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, treffen sich dabei auch noch ihre Blicke. Adam erstarrt einfach und Leo auch. Für eine halbe Sekunde, dann wendet er sich wieder dem Eis zu, probiert, und löst sich schnell wieder davon.

Er nickt anerkennend. „Gute Wahl!“

Aber seine roten Ohren und bemühtes Interesse an den zwei Tauben im nächsten Moment verraten Adam, dass dieser kleine Moment trotzdem irgendwas in ihm ausgelöst hat. Nur was genau, das vermag Adam nicht zu sagen.

 

„Mamma?“

Si, tesoro?“

Barbara sieht von ihrem Gespräch mit den Österreichern auf, als Leo sie am Ärmel zupft.

„Wir laufen noch ein bisschen rum, okay?“

Leo muss nicht hinzufügen, dass explizit nur die vier Teenager gemeint sind.

Certo.“ Sie schaut auf ihre Armbanduhr. „Bis drei? Wir wollten später noch Richtung Marina.“

„Klaro!“

Leo springt so hastig auf, dass fast sein Stuhl umkippt, und zerrt Adam mit sich. Caro und Tati stehen mit auf und schließen sich ihnen an.

Ein Blick auf die Uhr am duomo verrät Adam, dass sie jetzt fast zwei Stunden Zeit haben und es fühlt sich an wie eine kleine Ewigkeit. Jede Minute, die er von seinen Eltern und vor allem von dem wachen Blick seines Vaters entfernt ist, ist kostbar.

„Leoooooo …“

Nur wenige Meter von ihren Eltern entfernt legt Caro ihren Arm um Leos Schultern. „Ich hab fast kein Geld dabei … Kan–“

„Nein“, sagt Leo. Er weiß offensichtlich, was Caro will, bevor sie ihm überhaupt eine Frage stellen konnte. „Schnorr dir was.“

„Du hast gestern selber eine von uns geschnorrt, komm schoooon“, schmollt Caro jetzt.

„Eigentlich sogar zwei“, sagt Leo so leise, dass nur Adam ihn hören kann.

Ah, die Zigaretten.

„Was?“

„Ach nichts.“ Leos Mundwinkel zuckt ganz kurz nach oben.

Caro schnaubt dramatisch. „Dann frag ich halt … Adam!“

Adam schreckt auf. Er will sich eigentlich gerne aus den geschwisterlichen Streitigkeiten raushalten.

„Hast du Geld dabei?“, fragt Caro ihn.

„Äh, j—“

„Nix da“, sagt Leo bestimmt. „Tati soll welche kaufen oder ihr schnorrt euch welche. Adam, du wirst dieses Geld nie wieder sehen.“

Adam schließt den Mund wieder.

„Ey, du Spielverderber!“ Caro rollt mit den Augen.

„Ach so, das ist ein Spiel für dich?“

Stronzo“, zischt Caro und schnappt sich dann Tati, die ähnlich ahnungslos wie Adam herumsteht und wahrscheinlich nur aus dem Kontext schließt, was hier abgeht.

Die beiden verziehen sich in eine Seitenstraße, während Leo sich kopfschüttelnd in eine andere Richtung in Bewegung setzt.

Sie gehen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Adam mal nachfragt, ob Leo überhaupt ein Ziel hat, aber Leo zuckt nur mit den Schultern.

„Hauptsache weit weg von irgendwelchen Leuten, die mich abziehen wollen“, sagt er und kickt ein Steinchen vor sich her. „Sie findet schon jemanden.“

Der Stein landet vor Adams Füßen und er kickt ihn zurück.

So geht es eine Weile, bis sie an einem Park ankommen, wo sich einige junge Leute aufhalten. Es gibt eine Halfpipe, auf der sich ein paar Skater tummeln und von irgendwo ertönt lauter Hiphop.

Leo und Adam setzen sich auf eine Treppe, auf der auch noch andere Jugendliche sitzen und den Skatern zuschauen.

 

Nach einer Weile setzt sich eine Gruppe Mädchen auf die Treppenstufen unter ihnen, die nach kurzer Zeit eine Schachtel Zigaretten rumgehen lassen.

Eine von ihnen dreht sich zu Leo und Adam um.

Ehi! Hai da accendere?

Ah … no, mi dispiace,“ sagt Leo mit einem bedauernden Blick, und zu Adam: „Ob wir Feuer haben.“

Leos Verneinung scheint dem Mädchen aber nichts auszumachen, denn sie redet weiter mit Leo, während jemand anderes aus der Gruppe weiter nach Feuer herumfragt.

Von der Unterhaltung versteht Adam nichts, aber er beobachtet die beiden still: das Mädchen hat braune Haare, braune Augen, trägt lange Ohrringe und ein knappes Spaghettiträger-Top mit Engelsflügeln drauf. Adam erwischt sich dabei, nach etwas zu suchen, was Leo nicht gefallen könnte. Es ist das erste Mal, dass er Leo mit einem Mädchen reden sieht, das nicht seine Schwester oder ihre beste Freundin ist. Und so sehr er sich auch einredet, dass er es einfach nur unangenehm findet, daneben zu sitzen und kein Wort zu verstehen … es ist nicht die Wahrheit.

Die Wahrheit ist: Adam ist eifersüchtig und er weiß, dass er keinen Grund dazu haben sollte. Sein neuer Kumpel unterhält sich mit einem Mädchen. Das ist alles, was hier passiert. Gott, sie sind nicht einmal richtig befreundet. Seine Urlaubsbekanntschaft unterhält sich mit einem Mädchen.

Seine Urlaubsbekanntschaft gibt dem Mädchen die Hand. Seine Urlaubsbekanntschaft stellt sich vor. Und stellt Adam vor.

Adam taucht aus seinem kleinen emotionalen Deep Dive wieder auf und zwingt sich zu seinem Lächeln.

„Ciao“, sagt er und gibt auch dem Mädchen die Hand. Und noch einem. Mittlerweile haben sich nämlich zwei weitere zu ihnen umgedreht.

„Oh you’re German?“, spricht die Braunhaarige ihn nun an.

„Ähm … yes. I don’t speak Italian“, gibt Adam zu.

„Oh, ohhh, sì, okay, okay!“, tönt es durcheinander und die Mädchen reden nun in einem wilden Mix aus Italienisch und Englisch mit ihnen, was Adam ein wenig überfordert, aber alles besser, als nur stumm da zu sitzen.

Ihnen werden Zigaretten angeboten. Adam starrt etwas zu lange drauf, aber Leo nimmt eine aus der Schachtel. Und starrt ebenfalls darauf. Ihre Blicke treffen sich.

„Es ist zu gefährlich“, sagt Adam leise. „Wir haben keine Kaugummis und–“

„–Hey. Alles gut“, sagt Leo. „Ich weiß.“ Er schaut wieder auf die Zigarette, dann wieder Adam an.

„Morgen können wir wieder“, verspricht er. „Okay? Ich … ich steck die ein.“

„Leo, wo willst du die denn hinpacken …“

Aber Leo hat schon sein Portemonnaie aufgeklappt und zwängt die Zigarette durch eine Gummischlaufe, die wahrscheinlich eigentlich für einen kleinen Stift gedacht ist.

„Das Gute daran, den deutschesten Vater der Welt zu haben“, erklärt er, „ist dass man so praktische Dinge geschenkt bekommt wie ‚Portemonnaie mit Stift’. Schwöre, das hat doch sonst keiner …“

Adam sagt nicht, dass das Konzept des ‚deutschesten Vaters’ nicht für alle Leute Pünktlichkeit, praktisches Denken und Socken in Sandalen bedeutet. Er wird sowieso schon wieder von den Italienerinnen angesprochen. Neben ihm steckt Leo sein Portemonnaie wieder in die Hosentasche, wobei sein nacktes Knie gegen Adams stößt. Und da auch bleibt – denn Leo schiebt seinen Fuß so weit nach rechts, dass dieser direkt neben Adams steht. Adam sagt dazu nichts, ignoriert sein scheiß Herzklopfen und führt brav weiter Smalltalk auf Englisch.

 

Pünktlich um drei schlagen Adam und Leo wieder vor der Gelateria auf, danach geht es zurück zu den Parkplätzen. Auf dem Weg drängt Caro sich von hinten zwischen die Jungs und legt ihnen jeweils einen Arm um die Schulter.

„Kommt ihr beide heute Abend mit?“, fragt sie, mit der Betonung auf beide, als hätten sie und Leo Pläne, von denen Adam allerdings nichts weiß.

„Hä, was ist heute Abend?“

Leo scheint wohl doch genauso ahnungslos zu sein.

Caro stöhnt. „Mann, Leo. Giudici macht doch wieder auf. Es wird richtig geil!“

Sie lässt die beiden wieder los.

„Das ist heute?!“

„Es ist Samstag, Leo. Ja, das ist heute.“ Caro rollt wieder dramatisch mit den Augen. Zu Adam gewandt sagt sie: „Das Restaurant von Lucas und Beas Eltern hatte bestimmt ein Jahr oder so geschlossen und macht jetzt wieder auf. Irgendwas mit Renovierungsproblemen, frag mich nicht. Ist auf jeden Fall ein Event.“

„Luca kennst du“, ergänzt Leo, „vom Fußball. Das Restaurant ist quasi direkt da, wo wir auch Eis gegessen haben.“

Adam nickt. Vermutlich spielt sich das meiste Leben im Ort dort am Marktplatz ab.

„Ähm, ich weiß nicht, ob ich … da hin darf. Ist bestimmt spät, oder?“

„Ja“, sagt Caro.

„Nee“, sagt Leo gleichzeitig, und dann: „Wir können ja früh genug hin.“

„Da ist auch früh schon was los“, verspricht Caro. „Bea hat erzählt, sie haben sich extra ’nen DJ gegönnt, der ausnahmsweise nicht ihr Onkel ist.“

„Geil“, sagt Leo. „Dann hören wir vielleicht mal was aus diesem Jahrtausend!“

„Also, ihr könnt versuchen meine Eltern zu überreden“, sagt Adam ehrlich, „aber ich hab da noch nicht so große Hoffnungen.“

Caro stretcht mit einer großen Geste ihre Hände.

„Das überlass mal mir!“

Notes:

mal wieder mille grazie an @apaethy fürs beta lesen und euch allen für die geduld. jetzt ist wieder sommer, es kann nur besser werden!! 😭☀️

Chapter 7: 7. Festa

Notes:

"Nächstes Mal brauche ich nicht zwei Monate, ich schwöre", she said, you know, like a liar 😭
Ich verspreche am besten gar nichts, was ich nicht halten kann. Es tut mir so leid.
ABER HEY: dafür habe ich diesmal eines meiner Lieblingskapitel mit absolut fantastisch schlechtem Geflirte und etwas, was noch mehr ballert dabei und hoffe, das Fernweh nach italienischen Gassen am Abend kickt danach so richtig.
Enjoy <3

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

7. Festa | LEO

 

Tatsächlich schafft Caro es fast ohne Leos Hilfe, die Schürks zu überreden, Adam mit auf die Party zu lassen. Vielleicht, weil sie ein Mädchen ist, vielleicht, weil Adams Eltern gerne einen Abend alleine verbringen wollen, oder weil sie einfach verhältnismäßig gut gelaunt sind nach einem schönen Ausflug. Die einzige Regel ist, dass Adam um Punkt 22 Uhr spätestens wieder auf der Matte stehen muss, aber das sollte kein Problem sein. Mit dem Fahrrad sind sie in unter 15 Minuten im Ort. Die weiteren ungesagten Regeln sind natürlich kein Alkohol und kein Rauchen, aber das ist den Jungs sowieso klar. Da kommen sie schon irgendwie drum herum.

 

„Hast du dein Handy mit?“, fragt Leos Mutter ihn, als er nach einem frühen Abendessen mit Caro und Adam die Fahrräder holt.

„Ja.“

„Ist dein Akku auch voll?“, fragt Caro in dem gleichen Tonfall, weil sie es selber schon tausendmal gehört hat.

„Jahaa.“ Leo verdreht die Augen.

Adams Eltern stehen etwas abseits, aber sie winken zum Abschied, als ihre Kinder den Hof verlassen und den Kiesweg zum Eingangstor hinaufbrettern.

Sobald sie wieder Asphalt unter den Rädern haben, gibt Leo noch mehr Gas: er ist ungewöhnlich aufgeregt. Es ist nicht so, als würde es nie Partys geben, aber Leo hat noch nie jemand Neues mitgebracht. Und Leo war noch nie mit Adam auf einer Party. Nach geschlagenen 20 Minuten, drei verschiedenen Frisuren und fünf verschiedenen Oberteilen musste er sich beim Fertigmachen eingestehen, dass er sich jedes Mal nur eine einzige Frage stellte: würde das Adam gefallen? In dem Moment wusste Leo zwar, dass Adam vermutlich überhaupt nicht auf irgendein blödes T-Shirt achtet, aber unsicher war er trotzdem. Und um Rat fragen konnte er auch niemanden.

Am Ende zog er einfach blind irgendwas aus dem Haufen frisch gewaschener Wäsche, die seine Mutter am Nachmittag auf seinem Bett gelassen hatte, wuschelte seine Haare durch und zeigte seinem Spiegel den Mittelfinger, bevor er sein Zimmer verließ.

Jetzt bringt der Fahrtwind sein ohnehin zerzaustes Haar noch mehr in Unordnung, aber Caro und Adam lachen hinter ihm und vor ihnen liegt eine wunderbare Rennstrecke. Leo schaltet einen Gang höher, tritt in die Pedale und so jagen sie sich gegenseitig bis in den Ort.

 

Knappe zehn Minuten später fahren sie auch schon vorm Restaurant vor, wo bereits reges Treiben herrscht, obwohl sie relativ früh gekommen sind.

Luca kommt schon auf sie zu gerannt, als Leo gerade ihre Fahrräder zusammenschließt. Caro ist bereits im nächsten Kiosk verschwunden, vermutlich Zigaretten kaufen.

I tedeschi!“, begrüßt er sie und schlägt erst mit Leo und dann mit Adam ein. „Ben arrivati! Volete bere qualcosa?

Certo!“ Leo und Adam folgen Luca zum Restaurant, vor dem ungefähr dreimal so viele Tische stehen wie normalerweise. Weil es immer noch warm und sonnig ist, sitzen die meisten Gäste draußen. Drinnen riecht es noch fast ein bisschen nach frischer Farbe, aber vor allem himmlisch nach Gewürzen, Tomaten und frischem Brot. Es gibt verlockend aussehendes Fingerfood auf einem langen Buffet und Lucas Schwester Bea steht hinter dem Tresen.

Lui è Adam!“, stellt Leo Adam vor und Bea lächelt ihn breit an.
Ciao, Adam!“ Dann wendet sie sich wieder an Leo. „Cosa preferisci bere?

„Was willst du trinken?“, fragt Leo Adam, der etwas verloren hinter ihm steht und Bea schüchtern anlächelt.

„Äh … keine Ahnung. Was trinkst du?“

„Bier.“

„Oh…“ Adam überlegt.

„Ich weiß, kein Alkohol eigentlich, aber … bis wir zurück müssen, ist das vielleicht schon wieder alles ausgeschwitzt.“

Adam nickt. „Ich fang lieber mit Softdrink an, glaub ich.“

„Klar!“ Leo schlägt ihm auf den Rücken. „LemonSoda?“

Adam nickt erleichtert, als ihm die Antwort abgenommen wird.

Bea reicht Adam eine kalt tropfende Dose und Leo ein kleines, frisch gezapftes Bier und sie setzen sich an einen der Tische vor der Tür. Caro und ihre Zigaretten gesellen sich bald zu ihnen, dann Luca und Bea, dann irgendwann Vincenzo, dann Tati und bald sind so viele Leute zu ihnen gestoßen, dass sich ihre Gruppe auf verschiedene Tische, Stühle, Bänke und auch Schöße verteilen muss.

Der DJ, der kein Onkel ist, spielt tatsächlich Hits aus den letzten fünf Jahren, und Leos zweites Bier zieht ihn schon auf die Tanzfläche, beziehungsweise den Rand des Marktplatzes. Adam ist sichtlich überfordert, aber nach langem Überreden in drei verschiedenen Sprachen von Leuten, die Adam teilweise nicht mal kennt, gibt er doch klein bei und lässt sich mitschleifen. Sie lachen über die ersten betrunkenen Erwachsenen, streiten über die Reihenfolge des Macarena, lehren Adam die Choreografie des Ketchup-Songs (über die sich diesmal alle einig sind), fallen sich in die Arme bei jeglichen italienischen Schlager-Songs, die Adam ratlos ausschauen lassen, und irgendwann braucht Leo dringend eine Pause.

Während sie sich mit Adam und Leo an einem Tisch ausruht, verwettet Caro eine Zigarette, dass sie Leo beim Uno-Spielen schlagen kann und verliert. Leo isst Nüsse, bis sie leer sind. Gaetano fällt in den Springbrunnen auf dem Marktplatz. Leo mischt sein Bier mit Adams LemonSoda und es schmeckt absolut fantastisch. Adams Wangen sind rosa vom Tanzen, vom Biermix, vom Lachen. Tati knutscht mit Gios Cousin. Leo merkt zu spät, dass sein Blick direkt von den beiden zu Adam gleitet. Adam scheint ihr gemeinsames LemonBier-Glas extrem interessant zu finden. Leo greift blind nach den Nüssen, die er eine halbe Stunde vorher bereits geleert hat. Vergebens.

Sie gehen eine zweite Runde tanzen, dann fällt Leo die Zigarette ein. Er zieht Adam aus der Menge, schnappt sich die Zigarette, die jemand feierlich auf einem Turm leerer Schnapsgläser drapiert hat, von ihrem Tisch und ein herumliegendes Feuerzeug dazu. So richtig weiß Leo nicht, wo er hinwill, aber eigentlich raucht er ungerne vor Leuten, die seine Eltern kennen. Deshalb überquert er einmal den Marktplatz, Adam auf den Fersen, und bleibt in einer gegenüberliegenden Gasse zwischen zwei Straßenlaternen stehen, wo es am Dunkelsten ist. Hier dringt nur Musik von drüben herüber, vermischt sich mit leisem Radio aus einem offenen Fenster in der Nähe und irgendwo schaut noch jemand Fußball. Aber Menschen sind kaum unterwegs. Alle sind bei Giudici drüben. Es ist nun mal das Event der Woche.

Adam lehnt sich neben ihm an die Wand, als Leo die Zigarette ansteckt und einen ersten Zug nimmt. Er pustet den Rauch in die schwüle Nachtluft und hält Adam die Zigarette hin.

Adam zögert. Seine Finger zucken, aber er greift nicht zu.

„Ich … ich glaub das ist keine gute Idee“, sagt er, fast kleinlaut. „Ist schon krass genug, dass ich überhaupt hier bin.“ Seine Augen wirken noch größer im Dunkeln. Er sieht Leo an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Dabei ist hier kaum Licht.

„Klar“, sagt Leo. Er nimm noch einen Zug und bläst Adam den Rauch ins Gesicht.

„Ey“, macht dieser, aber atmet auch willig ein.

„Wie wärs mit extremen Passivrauchen? Kann ja keiner wissen, wer um dich herum so die Luft verpestet hat heute Abend“, schlägt Leo vor. Ihm fällt auch nichts Besseres ein.

Aber Adam nickt. „Das geht vielleicht.“ Er rutscht ein Stück näher an Leo heran. Leo tut so, als würde er das nicht bemerken, aber er erschaudert trotzdem, egal wie warm es noch draußen ist.

Der dritte Zug landet kaum noch zwischen ihnen. Leo bläst den Rauch direkt in Adams Richtung und – ist er gerade noch ein Stück näher gekommen? Adam atmet tief durch den Mund ein, sobald der Rauch Leos Lippen verlässt. Leo beobachtet, wie er sich sofort auflöst, nicht von einem Windzug fortgetragen wird, in Adams Mund verschwindet. Wieder schießt ihm die Szene aus dem französischen Film in den Kopf, und wie darin die Frau ihrem Geliebten den Rauch fast direkt aus dem Mund genommen hatte, sobald er ihn ausstieß. Leo schluckt, und das tut seiner Kehle gar nicht gut. Nur knapp entgeht er einem Hustenanfall, und muss sich abwenden.

So peinlich es ihm ist – Adam reagiert kaum darauf. Sieht nur erwartungsvoll zwischen Leo und seiner Zigarette hin und her. Und weil Leo ein bisschen egoistisch ist, steckt er sie sich zwischen die Lippen. Adams Augen wandern mit – fixiert auf den glühenden Punkt, und auch auf Leos Mund. Viel zu lange braucht er, um Leo wieder in die Augen zu schauen.

„Was ist?“, fragt er dann.

Ja. Was ist eigentlich? Was tut Leo eigentlich hier? Schleicht sich von einer Party weg mit einem Jungen, den er kaum kennt und dem er trotzdem alles erzählen will. Hat in den letzten drei Tagen mehr geraucht als im letzten Sommer zusammen, nur weil er das Leuchten in diesen blauen Augen sehen will. Teilt sein gut gehütetes Geheimnis mit ihm, um dem Jungen einen Rückzugsort zu bieten, den er fast mehr braucht als Leo selbst.

„Nichts“, murmelt Leo und nimmt schnell noch einen Zug. Und dann noch einen. Bläst ihn etwas unsanfter als vorher in Adams Gesicht, und dieser stockt kurz, atmet jedoch wieder genüsslich ein und schließt die Augen.

Bevor Leo es sich anders überlegen kann, platzt es aus ihm heraus: „Kann ich was ausprobieren?“

„Äh,“ Adam zuckt mit den Schultern. „Klar. Was?“

„Hab ich … hab ich mal in nem Film gesehen“, stellt Leo klar. Und dann, als müsste er sich erklären und täte das alles zu Adams Wohl: „Ballert vielleicht noch mehr.“

Adam lächelt schief. „Klar.“

„Okay“, sagt Leo und schnippt die Asche, die sich am Ende der Zigarette gesammelt hat, auf den Boden. Sie neigt sich schon dem Ende zu, dabei haben sie gar nicht so viele Züge genommen.

„Muss ich irgendwas dafür machen?“, fragt Adam hilfsbereit. Die Neugier steht ihm ins Gesicht geschrieben.

„Ja“, sagt Leo. „Mund auf. Und einatmen. Du weißt dann schon, wann.“

Adam nickt.

Leo löst seine Schulter von der Hauswand für einen festeren Stand. Das war seine scheiß Idee, er muss sie jetzt auch durchziehen, und dabei so professionell bleiben wie möglich. Adam tut es ihm gleich, ohne zu wissen warum. Aber jetzt stehen sie sich gegenüber.

Leo schluckt. Zieht tief an der Zigarette und geht noch einen kleinen Schritt auf Adam zu, ehe er sanft dessen Kinn greift, sein Daumen nur Millimeter entfernt von Adams Unterlippe, und seinen Mund zum Öffnen bringt. Er bringt es nicht über sich, Adam in die Augen zu schauen, sondern konzentriert sich darauf, den Rauch in Adams Mund zu befördern, ohne dem Drang nachzugeben, ihn zu küssen. Leo weiß, wie dünn das Eis ist, auf das er sich hier begibt, und er wird sich nicht seine einzigen Monate Sicherheit zerstören, indem er etwas Dummes tut und einbricht. Der Sommer ist nicht für Kälte da.

Leo spürt, wie Adam inhaliert und lässt sein Kinn los, bevor er selber eine ganze Ladung Rauch ins Gesicht bekommt. Adams Augen sind geschlossen und er öffnet sie erst wieder, als er ausatmet. Da hat Leo bereits einen sicheren Abstand zwischen sie gebracht.

Adam blinzelt langsam und sein Mundwinkel zuckt nach oben. „Ballert noch mehr.“

Leo schnaubt und fühlt, wie eine offenbar unbegründete Angst von ihm abfällt. Nicht komplett, aber genug, dass er normal atmen kann. Es ist alles gut. Es wird alles gut bleiben, solange er sich so unter Kontrolle hat wie gerade eben.

Er drückt die Zigarette am nächsten Mülleimer aus und wirft einen Blick auf die Uhr, um sich zu beruhigen. Es ist noch keine Zeit, zu gehen. Leo dreht sich auf dem Absatz um und kehrt zur Party zurück, ohne zu checken, ob Adam ihm hinterherkommt.

 

Während die Eltern von Leos Freunden zu einer Eros-Ramazotti-Ballade tanzen, sitzen Leo und Adam am Rand der Tanzfläche und teilen sich das letzte Glas Panna Cotta, was noch übrig ist. Auch das ist für Adam eine Premiere. Selbst im Dunkeln leuchten seine Augen, wenn sein Dessert hin- und herwackelt und ihm fast vom Löffel fällt.

Leo fischt eine Beere vom Boden des Schälchens, als sich zwei Mädchen zu ihnen setzen, die Leo vom Sehen kennt. Genau wie heute Nachmittag werden sie nach Feuer gefragt, mit dem Unterschied dass Leo diesmal tatsächlich welches hat.

Sei un amico di Giovanni, vero?“, fragt das Mädchen, was sich als Giulia vorstellt. Leo hat sie bestimmt schonmal im Ort herumlaufen sehen. Aber offenbar kennt sie Giovanni. Das andere Mädchen, Laura, kennt er überhaupt nicht.

Sie plaudern ein bisschen, halb auf englisch, halb auf italienisch, und müssen die Zigaretten ablehnen, die ihnen angeboten werden. Leo kann nicht umhin, Adam verschwörerisch zuzulächeln und Adam grinst zurück. Sie müssen nicht mal darüber reden, warum sie sich eben noch weggeschlichen haben.

„So … do you have girlfriends?“, fragt Laura irgendwann geradeheraus und Leo ist froh, gerade sein Dessert heruntergeschluckt und Adam das Glas weitergereicht zu haben.

Oh Gott. In jedem anderen Sommer hätte Leo diese Gelegenheit beim Schopfe gepackt und ausgenutzt, so offensichtlich angeflirtet zu werden. Im Initiieren ist er eher schlecht, aber Bälle zurückspielen kann er. Oder … konnte er zumindest sonst immer.

„Äh, no“, sagt er nervös und Adam schüttelt einfach den Kopf.
Unter Adams auffällig unauffälligem Blick ist es für Leo nicht leicht, überhaupt irgendwas Intelligentes zu antworten. Egal auf welcher Sprache. Ein ‚No’ versteht Adam immerhin immer. Zwar machen die Mädels sich die Mühe, ein paar englische Worte mit ihm zu wechseln, aber gerade Giulias Aufmerksamkeit liegt definitiv auf Leo. Adam macht auch nicht besondere Anstalten, das Gespräch aufrecht zu erhalten, genau wie am Nachmittag, und schenkt dem Rest der Panna Cotta mehr Aufmerksamkeit als den Mädchen direkt vor seiner Nase.

Questa è la tua chance“, sagt Laura leise zu Giulia, die sie daraufhin spielerhaft schlägt.

Zitta!“, jammert sie, aber wirft Leo ein schüchternes Lächeln zu.

Leo ist so nervös, dass er nichts tun kann, als gequält zurückzulächeln. Aber als die ersten Töne von Hips Don’t Lie ertönen, springen Giulia und Laura auf und rennen laut jubelnd auf die Tanzfläche. Leo merkt, wie ihm ein Stein vom Herzen fällt. Warum nur war es eben auf einmal so schwer, auf irgendeine Art zurückzuflirten?

Er fängt Adams Blick auf und will am liebsten im Erdboden versinken, denn Adam trägt das breiteste Grinsen, als wüsste er irgendein Geheimnis. (Vielleicht ist das Geheimnis, dass Leo absolut grottig im Flirten ist.)

„Pass auf, was du sagst, ey“, grummelt Leo.

„Ich hab kein Wort verstanden“, sagt Adam und stellt das leere Dessertschälchen neben sich auf den Bordstein. „Aber ich bin ziemlich gut in Körpersprache lesen.“ Er schüttelt den Kopf und grinst noch breiter. „Das war nix, Leo.“

Die Wahrheit – ‚Das sollte auch nix werden’ – verkneift sich Leo. Stattdessen saugt er den seltenen Anblick eines über beide Ohren lächelnden Adam in sich auf, und zuckt mit den Schultern.

„Mach’s doch besser!“

Adam hebt eine Augenbraue. „Ohne Worte oder wie?“

„Wahre Liebe braucht keine Worte, Adam“, sagt Leo weise.

„Whoa, ich wusste nicht dass es hier um die Eine Große Liebe geht, entschuldige bitte!“, entrüstet sich Adam. „Sind deine Flirt-Fertigkeiten deshalb gleich null?“

Leos Kinnlade klappt herunter. „Null?? Wie kannst du sowas nur sagen!“ Er vergräbt dramatisch den Kopf in den Händen.

„Ich mach’ nur Spaß“, sagt Adam, und er klingt plötzlich ernst. Als Leo aufsieht, ist auch Adams Lächeln fast verschwunden.

„Hey,“ sagt Leo und legt seine Hand auf Adams Arm. „Ich doch auch.“ Dann fällt sein Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es ist bereits viertel vor 10.

„Oh scheiße“, sagt er. „Wir sollten los.“

 

Nachdem Leo drinnen und draußen nach Caro gesucht hat, erfährt er, dass sie und Tati schon vor einer halben Stunde nach Hause aufgebrochen sind, weil es Tati gar nicht gut ging. Lucas Oma wickelt ihm noch ein Stück Focaccia in Alufolie ein, nach dem er gar nicht gefragt hat, und er klemmt es auf Adams Gepäckträger, wo es auf seinem Kapuzenpulli thront.

Dann machen sie sich auf den Rückweg, lassen die laute Musik hinter sich. Durch die in gelbes Straßenlicht getauchten Gassen, begleitet vom Geräusch der Reifen auf Kopfsteinpflaster und Grillen an den Bäumen. Die Luft ist noch schwül, aber der Fahrtwind macht Leos Kopf wundervoll frei.

Nachts lässt es sich wunderbar die Straße herunterbrettern. Auf der Landstraße müssen sie eigentlich nur noch geradeaus. Doch genau da passiert es: es gibt einen lauten Knall und Adam schlingert heftig auf dem Rad, kann gerade so noch auf einem Fuß landen, und Leo macht eine Vollbremsung.

„Fuck“, macht Adam und sieht an seinem alten Fahrrad herab: der Vorderreifen ist komplett platt.

„Fuck“, macht auch Leo und fährt im großen Bogen zurück zu Adam, den er in der einen Sekunde bereits einige Meter hinter sich gelassen hat.

„Ist nicht so schlimm, das kann Nando morgen direkt reparieren“, sagt er, denn Adam sieht wirklich extrem bestürzt aus. „Dann schieben wir halt jetzt.“

Adams Finger klammern sich fest um den Lenker. „Wie lange brauchen wir denn zu Fuß?“ Sein Blick wandert zu seiner Armbanduhr, und er rennt fast los.

Leos Uhr bestätigt ihm seine Sorge: es ist bereits sieben Minuten vor zehn. Unter normalen Umständen wären sie bei ihrem Vollgastempo locker um 22 Uhr zurück an der Fattoria gewesen. Aber zu Fuß? Das dauert länger.

„Wir können deins auch hier stehen lassen und, äh, du setzt dich auf den Lenker?“

Adam beäugt misstrauisch Leos Mountainbike. „Bist du schonmal zu zweit auf dem Ding gefahren?“

„Äh … nein. Aber probieren können wir es trotzdem!“

Sie probieren es. Leo schafft etwa einen Meter, bevor er kläglich umfällt und Adam vom Lenker springen muss. Auch mit getauschten Rollen funktioniert es nicht. Auch nicht, wenn einer von ihnen auf der Stange sitzt. Und einen Gepäckträger hat Leo nicht.

Adam wirkt von Minute zu Minute verzweifelter, also zückt Leo sein Handy, wählt die Nummer seiner Mutter und versucht, mit Adams schnellen Schritten mitzuhalten, während sie ihre Fahrräder wieder die Landstraße entlang schieben.

Leos Mutter nimmt ab, lässt sich die Lage erklären und dass sie es niemals in den nächsten fünf Minuten schaffen, zuhause zu sein, und verspricht, den Schürks Bescheid zu sagen, dass es später wird.

Als er auflegt, ist Leo schon weitaus weniger besorgt. Ihre Eltern wissen Bescheid, seine kleine Schwester ist sogar schon vor ihm zuhause, und das Fahrrad kriegen sie auch irgendwie wieder hin.

Adam geht weiterhin schnellen Schrittes neben ihm, und Leo muss sich anstrengen, mitzuhalten. Er ist nun mal kein Läufer. Adams Augenbrauen sind zusammengezogen, sein Blick stoisch nach vorn gerichtet und seine Knöchel stehen weiß hervor, wo er den Lenker umklammert. Er sieht aus, als würde er jeden Moment entweder losheulen oder -rennen.

„Hey, Adam …“ Leo versucht, seinen Blick zu fangen. „Ich kann nicht die ganze Strecke rennen …“

„Sorry“, presst Adam hervor und verlangsamt seine Schritte etwas, damit Leo mithalten kann. Er sieht ihn allerdings immer noch nicht an.

„Ist … alles okay?“

Adam atmet laut durch die Nase aus, der Anflug eines verzweifelten Lachens, oder vielleicht nur ein verächtliches Schnauben. Leo wird nicht so richtig daraus schlau.

„Blöde Frage“, murmelt er.

„Ich bin erst einmal zu spät nach Hause gekommen“, sagt Adam dann. „Und es war nicht mal meine Schuld—“

„—das hier auch nicht!“, unterbricht Leo ihn. „Das Fahrrad ist einfach schrottig.“

„Ich weiß …“ Adam seufzt. „Heißt nicht, dass ich nicht trotzdem die Schuld dafür bekommen werde. Letztes Mal war—“ Er bricht ab, schluckt. „—war nicht so cool.“

Leo stolpert über ein Schlagloch, weil sein Blick weiterhin an Adam klebt. Er scheint hin- und hergerissen zu sein, ob er noch weiter darüber reden möchte. Aber Leo wird ihn bestimmt nicht dazu zwingen.

Adam seufzt wieder, lässt den Blick über die Felder schweifen, dann über die Straße, und dann zu Leo. Als ihre Blicke sich treffen, scheint Adam einen Entschluss zu fassen, und erzählt:

„Ich bin 20 Minuten später vom Fußballtraining nach Hause gekommen, weil der Bus im Stau stand. Hatte kein Handy. Wenn ich eins gehabt hätte, hätte ich wenigstens Bescheid sagen können. Hab ich meinen Eltern auch gesagt. Aber mein Vater denkt, ich stelle sonst was an, wenn ich eins hätte. Keine Ahnung. Auf jeden Fall haben wir dann am nächsten Tag so früh mit dem trainieren angefangen, dass ich kein Frühstück essen konnte. Noch vor der Schule. Dann hat er mich so knapp zur Schule gefahren, dass zeitlich auch kein Essen mehr drin war. Ich hatte so einen Hunger … seitdem versuche ich immer, einen früheren Bus zu kriegen.“

Adam schaut auf seinen Lenker. Gott. Leo will ihn in den Arm nehmen, irgendwas, aber er traut sich nicht. Und sowieso ist das im Gehen eher umständlich.

„Das tut mir leid“, sagt er. „Und im Auto essen ging auch nicht?“

Adam lacht sarkastisch auf. „Im heiligen Mercedes? Never. Und außerdem … wäre die Strafe dann ja verkürzt worden.“

Leo zieht scharf die Luft ein. Als jemand, der eher schnäkisch beim Essen ist und gerne mal was liegen lässt, ist, fühlt er sich auf einmal richtig schlecht.

„Glaubst du, dass es morgen wieder so sein könnte?“, fragt er zaghaft.

Adam zuckt mit den Achseln und sieht Leo verzweifelt an.

„Keine Ahnung. Ja, kann sein. Vielleicht.“

Leo nickt. Dann schüttelt er den Kopf. „Das lass’ ich aber nicht zu. Ich denk’ mir was aus.“

Adam lacht ein kurzes, humorloses Lachen. „Was willst du schon machen?“

„Mir fällt schon was ein. Ich bring’ dir was vorbei oder so.“

Adam lächelt ein wenig, aber jetzt aufrichtig. Es erreicht nicht seine Augen.

„Hast du ein Helfersyndrom oder so?“

„Vielleicht …“ Leo beobachtet eine Maus, die vor ihnen die Landstraße überquert. „Vielleicht helf’ ich gerne Leuten, damit sie nicht so … so hilflos sind. Wie ich.“

„Was meinst du?“

Die Maus verschwindet im Gras und Leo spürt, dass Adam ihn jetzt beobachtet.

„Ich hab doch erzählt, dass ich nach den Ferien die Schule wechsle.“

„Zu mir!“

„Zu dir.“ Leo muss jetzt doch unwillkürlich lächeln. Er hat komplett vergessen, dass Adam und er auf die selbe Schule gehen werden – vielleicht sogar in die selbe Klasse.

„Aber … nicht wegen den LKs. Auch wenn ich auf meiner alten Schule wirklich kein Philo machen kann … also wenn du Philo wählst, mache ich das vielleicht auch.“

Adams Gesicht hellt sich auf. „Ja, auf jeden!“

„Aber. Also, das mit den LKs erzähle ich nur allen, damit sie nicht weiter fragen. Eigentlich muss ich einfach nur ganz dringend von dieser Schule und den Leuten weg.“

„Warum?“, fragt Adam stumpf.

Leo schluckt. Sein Herz klopft irgendwie schneller gerade, und wärmer ist es auch geworden. Oder so fühlt es sich zumindest an. Er kann Adam nicht weiter anschauen, sondern betrachtet lieber seinen eigenen Lenker.

„Ich wurde einfach jeden Tag so fertiggemacht. Für nichts. Weißt du, wie Asphalt schmeckt?“

Adam schweigt. Er hört zu.

„Und nicht nur körperlich, auch … dieser Psychoterror einfach. Kann ich noch irgendwas im Unterricht sagen, oder werde ich durch irgendeinen dummen Spruch unterbrochen? Versuche ich überhaupt, irgendwelche neuen Klamotten zur Schule zu tragen, oder ist das Risiko zu groß, dass sie sofort Blutflecken kriegen? Wie halte ich das alles von meiner Familie fern, damit sie sich nicht so große Sorgen machen?“

Jetzt sprudelt es nur so aus Leo heraus. Er wollte Adam nicht auch noch damit belasten, aber jetzt wo er einmal angefangen hat, kann er nicht mehr aufhören. Alle in seiner alten Klasse können sich denken, dass das Mobbing der Auslöser für den Schulwechsel ist, aber die jucken ihn jetzt nicht mehr. Ab dem nächsten Schuljahr muss er hoffentlich erst einmal keinen von denen wiedersehen.

„… und von den Lehrern hat auch niemand wirklich geholfen“, schließt er seinen Monolog. „Also, ja, vielleicht hab ich ein Helfersyndrom. Weil ich Hilflosigkeit kenne.“

Adam hat die ganze Zeit still zugehört, und als Leo nichts mehr zu sagen hat, bleibt er plötzlich stehen, stellt sein Fahrrad ab und fällt Leo um den Hals. Überrumpelt, und mit einer Hand noch an seinem Fahrrad, schlingt Leo dennoch seinen anderen Arm instinktiv um Adams Mitte. Sein Herz klopft ihm bis zum Hals, und Adam riecht nach Schweiß und Mückenspray, aber es ist egal, weil Leo genauso riecht (und wahrscheinlich ein bisschen nach Rauch).

Nach einigen langen Sekunden spricht Adam wieder.

„Ich bring’ die um“, sagt er. Leise, aber bestimmt.

„Musst du nicht. Hoffe, die zerfleischen sich jetzt gegenseitig.“

„Ich will aber“, murmelt Adam. „Das wird dir nie wieder passieren.“

„Danke. Aber das kannst du nicht vorhersagen.“

„Doch.“

Adam löst sich von Leo und sieht ihm fest in die Augen.

Doch“, wiederholt er. „Das lass’ ich nicht zu, kapiert? An unserer Schule haben die Leute Angst vor mir. Wenn dich da nur einer anfässt—“

„—warte, warte. Die haben Angst vor dir?“ Angst? Vor Adam?

Adam zuckt mit den Schultern. „Naja, vielleicht auch ein bisschen vor meinem Vater. Aber … alle wissen, dass ich viel Sport mache. Kampfsport vor allem. Ich, ähh, ich rede nicht so viel mit Leuten. Und vielleicht hab ich auch eine relativ kurze Zündschnur.“

Leo muss fast lachen. Dieser stille, traurige Junge, der nichts falsch machen will und sich nicht traut, irgendwelche Worte mit Fremden zu wechseln, der Angst vor Zigaretten hat und sie trotzdem so sehr will, der so viel nicht kennt und mit Leo umgeht, als fürchtet er, ihn zu verletzen. Vor dem haben seine Mitschüler Angst?

„Vergib mir, wenn ich mir das schwer vorstellen kann“, sagt er.

Adam lässt ein winziges Lächeln blicken. „Mein Schul-Ich und mein privates Ich sind nicht die gleiche Person, glaube ich.“

„Besser hätte ich es nicht sagen können“, stimmt Leo zu. „Also … schützen wir uns jetzt gegenseitig?“

Adam denkt kurz nach, dann wird sein Lächeln breiter und er bringt das olle Fahrrad wieder in Bewegung.

„Genau. Wir schützen uns gegenseitig.“

 

Bald haben sie wieder den altbekannten knirschenden Kies unter den Füßen, lassen das große Tor hinter sich und nähern sich langsam der Fattoria.

Ein Blick auf seine Casio sagt Leo, dass es bereits 20 Minuten nach zehn ist und er sich immer noch nichts hat einfallen lassen, was Adams Frühstücksdilemma angeht. Da Adam wieder einen Zahn zugelegt hat, jetzt, wo sie ihre letzte Etappe zurücklegen, fällt Leos Blick auf dessen Gepäckträger.

„Warte mal kurz“, sagt er, und als Adam stehen bleibt, deutet er auf das Päckchen Alufolie.

„Gib mal die Focaccia. Und zieh’ deinen Hoodie an.“

Adam schaut ihn kurz fragend an, aber tut wie ihm geheißen und zieht sich den Kapuzenpullover über.

Das Stück Focaccia ist etwas kleiner als Leos Hand und sollte perfekt passen. Leo geht einen Schritt auf Adam zu und schiebt das Päckchen in die Vordertasche seines Hoodies. Als Leos Hand in seine Tasche wandert, wird Adam ganz still und sieht ihn aus großen Augen an.

„Versprich mir, dass das heute noch dein Mitternachtssnack wird. Beschütze es mit deinem Leben oder so.“

Adam blinzelt langsam und nickt.

„Du hast ja ein eigenes Zimmer, oder?“

Adam nickt wieder.

„Okay, pass’ auf. Wann ist bei euch normalerweise Frühstück und wann Training angesagt?“

Adam zögert. „Frühstück um halb acht, Training um neun.“

Leo verzieht das Gesicht. Vor neun würde ihn in den Ferien eigentlich niemand aus dem Bett kriegen. Aber einige Dinge sind wichtiger als Ausschlafen.

„Alles klar“, sagt Leo, und tätschelt noch einmal Adams Hoodietasche, als würde es Glück bringen. „Wenn’s morgen früh an deinem Fenster klopft, bin ich das.“

„Okay …“, sagt Adam stumpf. Er scheint nicht komplett verstanden zu haben, was Leo vorhat, aber hält ihn auch nicht von irgendwas ab.

Sie setzen sich wieder in Bewegung und schieben ihre Fahrräder letztendlich auf den Hof, wo sie von ihren Eltern, in verschiedenen Stadien der Sorge, in Empfang genommen werden. Leos Mutter ist sichtlich entspannt – wenn Leo alleine gewesen wäre, hätte er vermutlich auch bis 12 bleiben können – aber Adams Eltern nicht. Energisch und mit wenigen Worten der Begrüßung schnappt Roland Schürk sich seinen Sohn und bugsiert ihn in die Ferienwohnung. Adam dreht sich noch einmal zu Leo um und schenkt ihm ein Lächeln. Adams Mutter bedankt sich immerhin kurz bei Leo, dass er angerufen und Bescheid gesagt hat. Dann folgt sie den anderen ins Haus.

„Na, tesoro, wie war der Abend?“

Leos Mutter breitet ihren Arm aus und Leo schlingt auch seinen um ihre Taille.

„Viel zu kurz“, murmelt Leo.

Sie gibt ihm einen Kuss auf den Kopf und falls sie einen gewissen Geruch nach Rauch wahrnimmt, sagt sie zumindest nichts dazu.

„Das kannst du mir ja beim Frühstück nochmal ausführlich erzählen“, schlägt sie vor, als die beiden Arm in Arm zurück ins Haus gehen.

Notes:

As always, danke @apaethy fürs wunderbare Betalesen, ohne sie hätte Leo definitiv Salzstangen gegessen statt Nüsse. SEHR DEUTSCH. Danke dafür 🤪

Und danke an DICH fürs Lesen und warten, bis ich aus meinem Loch krieche wie so ein Murmeltier. Baci <3

Chapter 8: 8. Fulmine

Notes:

Ich wollte diesen Shit eigentlich im Sommer (AKA August) fertig haben, but here we are … immerhin ist es draußen basically noch Sommer, haha

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

8. Fulmine | ADAM

 

Adam steht senkrecht im Bett, als er ein schwaches Klopfen vernimmt. Er hat ohnehin einen sehr leichten Schlaf, aber heute Nacht hat er zusätzlich auch kaum ein Auge zugetan. Zu viele Gedanken an Leo sind ihm im Kopf herumgeschwirrt, allen voran: Was hat Leo für Pläne bezüglich Adams Frühstück?

Das Stück Focaccia konnte Adam zum Glück unbemerkt in sein Zimmer schmuggeln und kurz vorm Zubettgehen essen. Die Alufolie knüllte er in einen festen Ball zusammen und stopfte ihn in irgendeine Seitentasche seines Rucksacks. Dass das morgendliche Training auf acht vorgezogen wurde, hatte er sich schon gedacht, aber es hatte trotzdem geschmerzt. Das bedeutete auch, was Adam schon befürchtet hatte: kein Frühstück.

 

Aber jetzt klopft es, zweimal, und dann nochmal zwei Sekunden später, und beim dritten Mal öffnet Adam, so leise wie es nur irgendwie geht, die Fensterläden. Und da steht Leo, im sanften Licht der Morgensonne, barfuß, in einem grauen Hoodie mit Kapuze auf dem Kopf, und grinst ihn an.

Adam ist vor nicht einmal einer Minute aufgewacht, aber er muss zurück lächeln, es ist ansteckend.

„Wie spät ist es?“, flüstert Adam und Leo legt erst theatralisch einen Finger auf die Lippen, und hält dann sieben Finger in die Luft. Dann greift er in die vordere Tasche seines Hoodies und zieht zwei große Pfirsiche hervor, die er Adam feierlich überreicht.

Buon appetito“, flüstert er und zwinkert Adam zu, bevor er schnellen Schrittes die Hauswand entlang läuft und erst weiter vom Haus entfernt auf den knirschenden Kies wechselt.

Buon appetito“, wiederholt Adam leise zu sich selbst und schaut auf das Obst in seinen Händen. Die Pfirsiche sind groß und schwer und angewärmt von Leos Händen. Und sie riechen köstlich.

An Schlaf ist jetzt sowieso nicht mehr zu denken, also macht Adam sich am offenen Fenster über den ersten Pfirsich her. Er war noch nie so froh, dass das Schlafzimmer seiner Eltern auf der anderen Seite des Hauses liegt und somit auch ihr Fenster zur Westseite hinausgeht.

Adam hält sein Gesicht in die Morgensonne und ein Taschentuch unter seinen tropfenden Pfirsich, bedacht darauf, keine Spuren zu hinterlassen. Ob es den Umständen geschuldet ist, weiß er nicht, aber Adam hat in seinem Leben noch nie so einen guten Pfirsich gegessen – oder überhaupt so gutes Obst. Die Erdbeeren, die Wassermelonen, die Weintrauben – einfach alles schmeckt hier hundertmal besser als zuhause. In Nullkommanix hält er nur noch den Kern in der Hand, wickelt ihn in das Taschentuch und stopft beides zum Alufolienball in seinen Rucksack.

 

Den zweiten Pfirsich hebt er sich auf. Versteckt ihn gut, zieht sich seine Badehose an, tritt seinen Eltern unter die Augen und schwimmt seine Bahnen durch den Pool. Schaltet den Kopf aus, keine Gedanken, nur blau. Hellblaue Fliesen, azurblauer Himmel. Ein anderer Blauton als Leos Augen.

Mutwillig verdrängt Adam diesen Gedanken wieder, um sich auf seine Zeit zu konzentrieren. Heute muss er besonders reinhauen, damit ihm sein Vater überhaupt jemals wieder irgendetwas erlaubt in diesem Urlaub.

Er ist schnell heute, trotz des Schlafmangels. Dafür hat er übermäßig viel Adrenalin nach diesem geheimen Besuch am Morgen. Sein Hunger hält sich in Grenzen, und er will endlich das Training hinter sich haben, und das alles pusht ihn zu seiner Bestzeit der ganzen letzten Woche.

Gottseidank stellt seinen Vater das zufrieden.

Heute trifft er Leo nicht am Pool, dafür ist das Training zu früh. Vor neun, hat Leo irgendwann mal gesagt, kriegt ihn in den Ferien niemand aus dem Bett.

Auf dem Weg zurück zum Haus wirft Adam einen neugierigen Blick zum Gutshaus der Hölzers. Dort regt sich auch noch nicht viel, nur Nando ist schon auf dem Hof zugange. Adams Herz macht einen kleinen Hüpfer, als er sieht, dass der alte Mann dabei ist, das Fahrrad zu reparieren. Ob sie heute einfach wieder abhauen und den ganzen Tag wegbleiben können? Adam kann sich nichts Schöneres vorstellen.

Den zweiten Pfirsich nimmt Adam mit in die Dusche. Hier kann er nach Belieben kleckern, das Wasser übertönt jegliche Essensgeräusche und den Kern pfeffert er mit aller Kraft durchs offene Fenster direkt ins Sonnenblumenfeld, was nur wenige Meter neben dem Haus beginnt.

In den letzten Tagen hat Adam sich definitiv einen Sonnenbrand im Nacken, auf den Schultern und im Gesicht zugezogen. Er lässt angenehm kaltes Wasser drüberlaufen und steht noch einige Zeit unter dem Strahl, um sich abzukühlen.

Seine Gedanken wandern wieder einmal zu gestern Abend, als hätte er nicht schon die ganze Nacht darüber nachgedacht. Als hätte er sich nicht hin- und hergewälzt, ohne, dass es etwas gebracht hat. Wenn er die Augen schließt, sieht er Leo vor sich, im schwachen gelben Schein der Straßenlaternen, die viel zu weit weg von ihnen sind. Leo, der näher kommt. Mehr als einmal ertappt Adam sich sogar dabei, wie seine Finger zu seinem eigenen Kinn wandern und es halten, wie Leo es gehalten hat. Sein Zeigefinger an der Unterseite, der Daumen knapp unter der Unterlippe. So sanft und gleichzeitig auch bestimmt. Und Adam denkt wieder an den einen Moment, wo der Rauch in seinem Mund landete und er dachte, für eine halbe Sekunde, jetzt würde Leo ihn küssen, und sie würden sich den Rauch teilen, und die Welt würde kurz stehen bleiben.

Aber Leo hat ihn nicht geküsst und die Welt ist nicht stehen geblieben und stattdessen hat Adam genau das gesagt, was Leo hören wollte und Nichts. Ist. Passiert.

Vielleicht ist es besser so. Vielleicht sollte Adam ein guter Junge sein und sich Leo aus dem Kopf schlagen. Als guten Freund sehen, na klar, aber mehr? Er wird ohne Grund schon schlecht genug behandelt, aber mit Grund? Er will sich gar nicht ausmalen, was dann bei ihnen zuhause abgeht.

Aber das hier ist nicht zuhause. Das hier ist eine eigene Welt, in der es jemanden gibt, der ihm zuhört, sich um ihn kümmert, ihm neue Orte und Dinge zeigt, und der genauso vor etwas flüchtet wie Adam selbst. Wenn die Schule wieder losgeht, wird das alles nicht mehr so sein.

Adam stößt ein frustriertes Stöhnen aus und dreht das Wasser ab.

Da es immer noch früh ist, spielt Adam in der jetzt schon drückenden Hitze mit seiner Mutter ein paar Runden Uno auf der Terrasse und liest dann aus Langeweile ein Italienisch-Wörterbuch, das er im Bücherregal im Wohnzimmer findet. Aus dem Augenwinkel beobachtet er Nando, bis dieser mit der Fahrradreparatur fertig ist.

„Geht ihr heute wieder Fußballspielen?“, fragt seine Mutter irgendwann und schaut ihn zwischen ihrem Sonnenhut und Sonnenbrille hindurch an.

„Wenn ich darf?“, antwortet Adam, fragend, aber auch bittend. Kurz hat er gar nicht daran gedacht, dass ein Leo-Verbot überhaupt eine Option ist. Gott, genauso gut könnte Adam sich umbringen.

Aber das muss er gar nicht.

„Natürlich darfst du“, sagt sie nur und schaut wieder in die Seiten des dritten Krimis, den sie in dieser Woche schon angefangen hat. „Du weißt ja, wann Training ist. Kannst ja etwas früher losfahren. Es soll später vielleicht auch noch gewittern.“

Ihre Augen wandern in Richtung des Fahrrads, was etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt auf dem Hof neben Leos steht. Sie muss es nicht laut sagen: um sechs bist du wieder hier. Ob zu Fuß oder nicht.

„Danke, Mama“, sagt Adam leise. Sie schiebt nur den Teller Weintrauben, den sie sich teilen, näher zu ihm.

 

Leo erscheint um 12 in seiner Haustür (nicht dass Adam seit einer halben Stunde alle fünf Sekunden hinüber schaut). Nachdem er sich frisch eingecremt und umgezogen hat, sitzt Adam unter seinem Sonnenschirm, sofort bereit zur Abfahrt. Leo ist im Gespräch mit Maria, die ihm eine große Tupperdose in die Hand drückt, und er schiebt sich hastig eine Sonnenbrille in die Haare, bevor er sie annimmt. Dann fällt sein Blick auf die Fahrräder, dann direkt zum Haus, vor dem Adam sitzt und so tut, als würde er lesen. Adams Eltern sind am Pool, das Haus zwischen ihnen, und Leo sprintet regelrecht auf ihn zu, bevor er sich auf den Plastikstuhl ihm gegenüber fallen lässt.

„Na?“, begrüßt Adam ihn.

„Na.“

„Gut geschlafen?“

Leo grinst. „Die zweite Runde war sehr viel besser, danke. Und du?“

„Hatte ein sehr gutes Frühstück, danke.“

„Hauptsach gudd gess“, sagt Leo.

„Ja … und Bestzeit geschwommen“, sagt Adam, ein wenig stolz.

„Wow, okay, und das alles ohne Schlaf. Kipp’ mir gleich aber nicht vom Rad. Du musst die gute Ware transportieren.“ Leo klopft vielsagend auf die Tupperdose.

„Was ist da drin?“

Leo zuckt die Schultern. „Vermutlich so viel Wassermelone, wie reinpasst. Zusätzlich zu den cornetti, die sie mir vorher noch in den Rucksack gestopft hat. Du weißt schon, weil ich soooo viele Freunde hab … die ich definitiv heute alle sehen werde.“

Adam versteht. Verhungern werden sie wohl nicht. Alleine beim Gedanken an Wassermelone und cornetto läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. So langsam könnte er auch schon wieder etwas snacken, so als zweites Frühstück.

 

Während Adam hinter Leo in seinem azurblauen Cannavaro-Trikot hinterher fegt, beobachtet er den Himmel: es ist sonnig mit vereinzelten Wolken, aber es weht kaum ein Lüftchen und die Hitze liegt tief auf den ruhigen Feldern. Die Sonnenblumen stehen still nebeneinander wie eine Garde, als sie vorbei düsen, und trotz des Fahrtwinds schwitzt Adam ziemlich, als sie bei Leos Hütte ankommen.

Wahrscheinlich hat seine Mutter recht und es gewittert heute Abend noch. Insgeheim wünscht er sich, dass er so um sein spätes Training auf dem Tennisplatz herumkommt.

Wenigstens im Schatten der Bäume ist es aushaltbar, und in der capanna sowieso. Adam stellt sein Fahrrad diesmal fein säuberlich neben die Hütte, da er Angst hat, wieder irgendetwas kaputt zu machen. Heute muss er wirklich pünktlich wieder bei der Fattoria sein.

Drinnen ist es herrlich kühl und Leo wirft seinen Rucksack in Richtung der Decke, auf die gerade jetzt der einzelne Sonnenstrahl durch das Loch im Dach fällt. Er wirbelt eine Staubwolke auf, die Adam niesen und die einzelnen Körner im Sonnenlicht tanzen lässt.

Leo lacht ihn aus und beginnt, seinen Rucksack auszupacken: LemonSodas, sein Messer, eine Papiertüte, Batterien, ein paar Servietten.

Adam inhaliert sein cornetto in gefühlt zwei Sekunden, während Leo sich seins für später aufhebt. Die Batterien fummelt Leo in ein kleines Radio, das er aus einem Schrank in der alten Küche holt. Nach einem kurzen Kampf mit Antenne und Sendersuche dudeln Italo-Schlager aus dem Gerät und Leo dreht zufrieden die Lautstärke runter, bis die Musik nur noch Hintergrundmusik ist.

Sie essen die Wassermelone, die in handliche Viertelscheiben geschnitten ist, direkt über der Dose, um nicht alles vollzutropfen. Der Saft läuft an Adams Fingern und Leos Kinn hinunter. Adam leckt das ab, was er darf, aber nicht das, was er will. Denn so groß die Dose auch ist, die zwischen ihnen steht: gegenüber voneinander, im Schneidersitz sitzend, stoßen ihre Knie aneinander; manchmal greifen sie gleichzeitig nach dem nächsten Stück, dann berühren sich ihre Hände und Leo lässt Adam den Vortritt; wenn Adam beim Essen aufsieht, kann er die Sommersprossen auf Leos braungebrannter Nase zählen. Die Nähe macht Adam so sehr zu schaffen, dass er froh ist, als Leo irgendwann theatralisch stöhnt und verkündet: „Ich kann nicht mehr.“

Adam kann noch, zumindest ein Stück mehr – und die Dose ist immer noch nicht leer – und beobachtet Leo dabei, wie er seine Serviette mit dem Wasser aus dem Küchenschrank tränkt und seine Hände damit säubert. Adam macht es ihm nach, als er sein vorerst letztes Stück verdrückt hat. Dann lässt er sich nach hinten auf die Decke fallen. Jetzt nach dem Radfahren und dem Essen überkommt ihn auf einmal die Müdigkeit. Die Sonne fällt ihm hier so ziemlich genau ins Gesicht und ist in diesem kühlen Häuschen nicht nervig, sondern angenehm.

Leo schließt die Tupperdose und schiebt sie aus dem Weg, bevor er sich neben Adam legt. Neben Adam stapeln sich Leos Bücher und sein Blick schweift über die Buchrücken. Ein paar sind italienisch, die meisten deutsch, aber Adam kennt nur wenige der Titel.

„Was liest du gerade?“, fragt er und nimmt das oberste in die Hand. Der Einband ist übersät mit Buchstaben und auf einer grünen Fläche steht Tintenblut.

„Ja, genau das da“, sagt Leo. „Willst du auch was lesen? Ich hab n—“

„—Boah nee, lass’ mal“, unterbricht Adam ihn. „Kannst mir ja was vorlesen.“ Er reicht Leo das Buch. „Ich kann kaum die Augen offenhalten, geschweige denn Wörter aufnehmen.“ Er gähnt.

„Kann ich machen“, sagt Leo mit mehr Begeisterung in der Stimme, als Adam erwartet hat. „Ich hab in der 6. Klasse mal den Vorlesewettbewerb gewonnen.“

Adam lacht auf. „Echt jetzt?!“

Als er zu Leo herüber schaut, scheint dieser es allerdings wirklich ernst zu meinen. Er lächelt zwar, aber nicht so, als hätte er gerade einen Witz gemacht.

„Okay, Vorlesekönig, dann mach mal. Aber nimm es mir nicht übel, wenn ich vielleicht einschlafe.“

„Dann wird das deine Gute-Mittagsschlaf-Geschichte.“ Leo klappt das Buch im ersten Drittel auf und fängt an, vorzulesen.

Adam hat nicht wirklich eine Ahnung, worum es geht, aber es ist auch egal: mit der Sonne im Gesicht, dem Magen gefüllt, der Musik im Hintergrund und Leos Stimme im Ohr ist er im Nullkommanichts sowieso eingeschlafen.

 

Das erste, was Adam spürt, als er langsam wieder aufwacht, ist die Abwesenheit der angenehmen Wärme auf seinem Körper. Er öffnet die Augen und sieht, dass die Sonne verschwunden ist. Neben ihm liegt Leo auf dem Bauch und schnitzt liebevoll ein Stück Holz zu einem eiförmigen Kunstwerk. Aus dem Radio dringt jetzt Gequassel – Nachrichten oder Verkehrsinfo vielleicht. Leo scheint sein cornetto gegessen zu haben, denn die Papiertüte liegt zusammengeknüllt neben der Decke. Er schreckt zusammen, als Adam sich streckt und rutscht fast mit dem Messer ab.

„Sorry“, murmelt Adam. „Wie spät isses?“

Leo wirft einen Blick auf seine Casio. „Kurz nach drei.“

„Was?! Du hast mich fast drei Stunden schlafen lassen??“

Leo zuckt mit den Schultern, aber er sieht plötzlich besorgt aus. „Ich— ich dachte, du brauchst es bestimmt. Wieso, musst du heute früher weg?“ Seine Augen werden groß.

Schnell schüttelt Adam den Kopf. Bis sechs war es ja noch etwas hin. „Nee, es ist nur … ist dir nicht langweilig gewesen?“

Leo lacht. „Du unterschätzt meine Fähigkeit, mich alleine zu beschäftigen. Du weißt ja, ich hab doch keine Freunde.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Leo einen abschätzigen Kommentar über sich selber macht und Adam gefällt das ganz und gar nicht. Er rollt sich vom Rücken auf die Seite und stützt sich auf seinen Ellenbogen.

„Du hast mich“, sagt er fest und zwingt sich, Leo in die Augen zu schauen. Durch die neue Position sind sie sich auf einmal ganz nah. Leo hält seinem Blick erst stand, dann wandern seine Augen über Adams Nase zu seinem Mund. Dann schaut er doch schnell wieder weg.

„Du hast doch geschlafen“, sagt Leo, obwohl es darum jetzt gar nicht mehr wirklich geht.

Dann grummelt Adams Magen und Leo holt die Wassermelone aus dem Küchenschrank, wo es immer etwas kühler ist. Sie essen sie noch in der Küchenzeile stehend und Adam schaut aus dem Fenster. Von blauem Himmel ist keine Spur mehr, über den Feldern hängen mittlerweile graue Wolken, aber warm und windstill ist es immer noch.

„Soll noch gewittern“, sagt Leo. Er schaut ebenfalls auf das Feld, durch das sie letztes Mal gelaufen sind. Adam wüsste so gerne, was in seinem Kopf jetzt gerade vor sich geht. Ob er auch gerade daran denkt, wie Adam ihm hinterhergejagt und ihn überwältigt hat, nur um von Leos Geschicklichkeit regelrecht umgehauen zu werden? Wie Leo ihn festgenagelt hat, Dreck im Gesicht, Blumen in den Haaren, und wie Leos Fingerspitzen über seine Handflächen gestrichen sind? Gott, das ist erst drei Tage her, aber für Adam fühlt es sich an wie mehrere Wochen. Hier vergeht die Zeit so langsam wie im Traum. Im Traum könnte Adam sich jetzt einfach hinüber lehnen, Leo selbstbewusst die Melone aus der Hand nehmen, seine Hand in Leos dunklen Haare schieben und ihn küssen, einfach so. Aber das hier ist kein Traum, egal wie langsam die Zeit vergeht, und Adam macht gar nichts, außer Leos nasse Serviette zu akzeptieren und sich den klebrigen Fruchtsaft von den Händen zu wischen. Wenigstens hatte er so einen Traum nicht während seines dreistündigen Nickerchens. Dann hätte er nicht dafür garantieren können, sich zurückzuhalten, als sie auf Leos Decke gelegen haben.

„Hast du Bock auf Uno?“, reißt Leo ihn aus seinen Gedanken. Er sitzt bereits auf der Decke. Adam hat sich unnötig lange mit dem Händesäubern beschäftigt, damit er seine Gedanken wieder auf die Reihe kriegt.

„Äh, klar.“

Sie spielen eine Runde nach der anderen, streiten sich über die Regeln aber nicht wirklich, gewinnen abwechselnd, und nach etwa sechs Runden schüttelt Leo den Kopf.

„Wie können wir eigentlich genau gleich gut sein?“

„Glück. Magie. Schicksal. Schummeln. Such dir eins aus.“

In dem Moment tut sich etwas aus Richtung der Tür: der Vorhang weht heftig zur Seite und schlägt an die Wand neben dem Eingang.

Leo und Adam zucken beide ein wenig zusammen. Mehr passiert allerdings nicht.

Leo starrt weiterhin den Eingang an und scheint über etwas nachzudenken.

„Meine Mutter hat morgen Geburtstag“, sagt er dann. „Ich hab schon ein Geschenk für sie, aber sie freut sich auch immer mega über Blumen.“

Adam sagt nichts, denn er hat keine Ahnung, worauf Leo hinauswill, bis dieser aufsteht und seinen Kopf durch den Vorhang nach draußen steckt.

„Findest du, ich sollte ihr noch einen Strauß machen?“, fragt Leo dann, als sein Kopf wieder erscheint.

Adam zuckt mit den Schultern. Er hat genau null Ahnung von Blumen. Bei ihm zuhause stehen ausschließlich Grünpflanzen und die einzigen Blumen, die im Garten wachsen, sind Rosenbüsche. Der Rest sind Hecken, zutiefst gepflegter Rasen und der ein oder andere Baum.

„Ich mach’s einfach. Hilfst du mir? Vielleicht schaffen wir es dann vor dem Regen noch nach Hause. Es ist schon ganz schön windig geworden.“

Adam steht auf und hilft Leo, zusammenzupacken: Die leeren Dosen passen in die große Tupperdose, diese wiederum passt mittlerweile in Leos Rucksack, weil sie die cornetti aufgegessen haben, und ein paar von Leos Schnitzereien lässt er in die kleine, vordere Tasche fallen. Jetzt fehlt nur noch der Strauß.

 

Leo begutachtet die Auswahl an Wildblumen mit einem fast professionellen Blick. Nur das Beste für Barbara. Er entscheidet sich zuerst für rote, dann für weiße, dann findet er an der Außenwand der Hütte noch ein paar Blaue.

„Ich bin mir so sicher, dass ich auch schon mal Gelbe hier irgendwo gesehen hab“, murmelt er und Adam lässt seinen Blick schweifen. Näher am Waldrand sieht er etwas gelbes, „Ich schau mal da hinten“, und lässt Leo mit den Anfängen seines Straußes zurück.

Tatsächlich findet er langstielige gelbe Blumen mit kleinen Köpfen, von denen er ein paar Exemplare zu Leo zurückbringt. Der hat währenddessen noch ein paar grüne Blätter hinzugefügt, ‚zum Auflockern’, und ist begeistert von Adams Fund. Dass Leos Augen wegen etwas so kleinem so glänzen können, macht Adam so sehr zu schaffen. Wenn eine kleine Geste ihm so viel bedeutet, was passiert dann bei einer größeren?

Leo stapft ins Feld hinein auf der Suche nach weiteren Farben, Adam ihm auf den Fersen, und gemeinsam finden sie orange: große Köpfe, von denen Leo prompt einen einzelnen in der Hand hält, als er versucht, die Blume in den Strauß zu stecken.

„Oh nein“, sagt er und steckt sich die Blume hinters Ohr. Zwei Sekunden später fegt ein Windstoß sie wieder in die Luft.

„Oh nein“, sagt Adam und fängt sie auf. Steckt sie Leo ohne nachzudenken wieder hinters Ohr. Erfährt einen heftigen Ausfall seines Gehirns, als vor ihm gleichzeitig ein Leo mit orangener Blume im Haar zu ihm aufschaut, als auch ein Leo von vor drei Tagen mit roter Blüte im Haar auf ihn herabschaut. Fährt fast komplett herunter, als er realisiert, dass seine Finger immer noch in Leos Haaren sind und löst sich vorsichtig, aber schnell von ihm.

Leos Ohren und Wangen sind so rot und Adam ist so abgelenkt, dass er den nächsten Windstoß, der die Blume erneut aus Leos Haaren weht, einfach ignoriert. Sie haben sich nicht besonders verausgabt. Es ist zwar warm, sogar drückend, aber der Wind ist kühl. Angenehm, eigentlich. Es gibt nicht viele Gründe, warum Leo so rot werden sollte. Außer …

„Oh, da ist noch pink“, sagt Leo schwach, seine Augen auf irgendwas hinter Adam gerichtet, und drückt ihm den Strauß in die Hand. Leo läuft an ihm vorbei, mehrere dutzend Meter, und gibt Adam somit Zeit, seine scheiß Gedanken auf die Reihe zu bekommen. Schon wieder.

Eigentlich sind seine Gedanken gar nicht so kompliziert: Leo ist der erste Mensch, der ihn versteht, und wenn er ihn nicht versteht, dann versucht er es wenigstens, und sonst hört er ihm wenigstens zu. Auch wenn Adam gar nicht viel sagt, Leo begreift trotzdem irgendwie, was er loswerden will. Er drängt Adam zu nichts, er bringt ihn nur zu etwas: aus seiner Schale heraus. Klopft sie sanft ab, bis sie bricht und einen kleinen Einblick in Adams Wesen gibt. Adam würde jedem, der fragt, erzählen, dass er gerne alleine ist und niemanden braucht, niemanden will, aber das ist einfach eine Lüge. Er braucht einen Freund und er will Leo, als das und als noch viel mehr.

Leo, dessen blaues Trikot aus den pinken Blüten hervorsticht, ein bunter Kontrast zum dunkelgrauen Himmel. Leo, der wieder auf ihn zukommt, ein paar pinke Blumen in der Hand, Haare vom Wind zerzaust.

„Hey“, sagt er.

„Hey“, sagt Adam.

„Wie findest du die?“

„Gut.“

Sie sehen sich an. Adam könnte wieder Sommersprossen zählen, wenn er sich selber lassen würde.

„Gibst du mir den Strauß?“, fragt Leo und legt den Kopf schief.

„Nö“, entscheidet Adam und hält den Strauß hinter seinen Rücken.

Leo lacht ein bisschen. „Okay. Dann hole ich ihn mir wohl.“

Er greift hinter Adams Rücken, aber Adam dreht seine Schulter von ihm weg. Leo zieht seine Hand zurück.

„Hey!“

Er versucht es auf der anderen Seite, aber Adam hält den Strauß außer Reichweite.

„Was soll das denn?“, lacht Leo, und er schlägt jetzt von beiden Seiten zu: beide Arme an Adams Seiten, und für maximale Reichweite nach vorne drückt er seine Wange an Adams Schulter.

Er ist so nah. Er ist so nah, dass seine Haare Adams Nase kitzeln und er Leos Sonnencreme riechen kann. So nah, dass sein Atem Adams T-Shirt erwärmt.

Adam versucht zu atmen.

Leos Hände greifen den Strauß, weil Adam unaufmerksam ist. Leos Hände umschließen Adams, und Adam lässt den Strauß los. Er fällt zu Boden. Leo hält weiter seine Hände.

Adam versucht zu atmen.

Leo drückt statt seiner Wange seine Stirn an Adams Schulter. Stützt sich daran ab. Richtet sich auf.

Adam versucht zu atmen.

Leo ist so nah, dass Adam sehen kann, wo seine Augen blau sind, wo grün und wo braun. Adam will so gerne eintauchen und nie wieder hochkommen. Aber er kann nicht mehr fokussieren. Leo ist zu nah, neigt seinen Kopf. Und schließt seine Augen.

Adam versucht zu atmen. Atmet ein.

Und dann atmet er gar nicht mehr, weil Leos Lippen sich gegen seine drücken. Warm und trocken, klebrig und noch ein bisschen süß von der Wassermelone. Als wäre es das einfachste der Welt. Und vielleicht … vielleicht ist es das sogar? Adam schließt auch die Augen, und als Leos Lippen sich von seinen lösen, fängt er sie wieder ein. Leo drückt seine Hände, und Adam drückt zurück. Adams Herz klopft ihm bis zum Hals, aber sein Kopf ist leergefegt: da ist nur Leos Mund auf seinem, sanft und bestimmt, wie sein Griff an Adams Kinn gestern Abend. Leo öffnet seine Lippen leicht, als Adam seine Unterlippe küsst, und Adam spürt ihn lächeln. Dann spürt er ihn ausatmen, warm unter Adams Nase, und dann spürt etwas Nasses auf seiner Wange. Und noch etwas auf seiner Stirn.

Und dann hört er das Donnergrollen, viel zu nah.

Der nächste Tropfen trifft ihn direkt auf den Kopf, und legt einen Schalter in Adams Gehirn um: er steht mutterseelenallein in einem Wildblumenfeld und küsst einen Jungen, den er seit einer Woche kennt, und keiner weiß wo sie sind, und es gewittert.

Adam versucht zu atmen. Aber es geht nicht.

Wo sein Herz eben noch aufgeregt klopfte, rast es jetzt. Wo Adam eben noch Sorge hatte, hat er jetzt Panik. Wo seine Hände eben noch Leos hielten, zittern sie jetzt. Wo sein Gehirn eben noch im Ruhezustand war, hat es jetzt einen Kurzschluss.

Oh Gott. Oh Gott. Ohhhhh GOTT.

Leo lächelt nicht mehr, schaut ihn nur verwirrt und etwas verletzt an, und Adam kann sich das unmöglich nur eine Sekunde länger angucken. Er kann nicht länger hier sein. Aber sagen kann er auch nichts.

Adam lässt Leo stehen und den Blumenstrauß zu seinen Füßen liegen und rennt.

Rennt durch das Feld, nimmt Leo nur peripher hinter sich wahr, wie er irgendetwas hinter ihm herruft. Es tröpfelt nicht mehr, es regnet richtig. Nasse Blumenstängel klatschen gegen seine Schienbeine, aber er rennt weiter: bis zu den Fahrrädern, wo Leo ihn schon fast eingeholt hat, aber Adam wartet nicht; er muss weg.

Leo ruft seinen Namen, aber es wird schnell von einem weiteren Donnergrollen verschluckt, und als Adam den Feldweg hinunter strampelt, durchbricht in der Ferne ein Blitz den dunkelgrauen Himmel.

Adam biegt scharf ab, fegt die Landstraße herunter, und erst jetzt merkt er, dass er weint. Sein Gesicht ist sowieso nass, sein T-Shirt schnell durchtränkt, aber durch den Tränenschleier sieht er die Straße kaum noch. Auch das ist egal. Adam rast weiter, so schnell wie sein Puls, und ist nur dankbar für die einfache Route. Er atmet unregelmäßig, von der Anstrengung und vom Weinen, aber er kann nicht aufgeben. Er braucht 2–3 Werktage, um sich zu fassen. Er weiß, dass er diese nicht bekommen wird. Aber vielleicht 2–3 Minuten in seinem Zimmer, um in sein Kissen zu beißen.

Mit dem nächsten Donnergrollen lässt Adam den Schrei heraus, der sich seit zehn Minuten in ihm aufbaut. Ein Schrei der Verzweiflung, der Frustration, der Angst. Kein Schrei nach Hilfe. Die einzige Person, die ihm helfen könnte, ist irgendwo hinter ihm. Adam dreht sich nicht um, aber er weiß es. Leo ruft nicht mehr nach ihm, aber er ist da. Und Adam tritt weiter in die Pedale, ignoriert den Regen, der ihm ins Gesicht peitscht, und der Blitz, der links von ihm durch den Himmel zieht.

Die Fattoria Girasole erscheint endlich am rechten Straßenrand, Adam legt noch einen Zahn zu und schlittert auf den Kiesweg zu, legt sich fast auf die Nase, aber springt im letzten Moment vom Rad. Seinen Heulanfall muss er jetzt kurz unterdrücken, bis er in sein scheiß Kissen beißen kann, und er stellt das Fahrrad brav vorm Haus der Hölzers ab. Hinter sich hört er schon das vertraute Geräusch von Leos Mountainbike-Reifen auf dem Kiesweg. Als er zu seiner Ferienwohnung rennt, wirft er noch einen letzten Blick in Richtung Einfahrt, durch die Leo gefahren kommt, mit hochrotem Kopf, klitschnassen Haaren und seinem Rucksack auf. Von dem Blumenstrauß ist keine Spur zu sehen.

Adam reißt die Haustür auf und stolpert hinein.

Notes:

As always, mille grazie an @apaethy fürs Betalesen ❤️

Chapter 9: 9. Pioggia

Notes:

Und immer, wenn ich denke "diesmal hab ich gar nicht so lange für ein Update gebraucht", sind schon wieder zwei Wochen rum. Aber hey, wenigstens keine zwei Monate amiright?

Diesmal müssen wir leider ein bisschen Drama durchstehen, es tut mir ganz und gar leid!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

9. Pioggia | LEO

 

Leo würde sein gesamtes Taschengeld dafür geben, 3–10 Werktage unter seiner Bettdecke zu verbringen und die Fensterläden überhaupt niemals mehr zu öffnen, aber seine Mutter wird nur einmal 50 und deshalb steht er um 7 Uhr morgens in der Küche und hilft Maria beim Backen und versucht, nicht in den scheiß Teig zu heulen. Der Klumpen in seinem Hals fühlt sich so groß an wie der, den er gerade in den Händen hält, und vielleicht knetet und schlägt er ebenjenen ein bisschen zu enthusiastisch.

Ehi!“, tadelt Maria ihn. „Stai attento al tavolo!“

Scusa“, murmelt Leo und lässt den Teig minimal sanfter auf die Tischplatte fallen als vorher.

Er ist nicht einmal müde, nur erschöpft. Was drei Stunden weinen und nichts zu Abend essen eben mit einem machen. Dabei hat er im Anschluss knapp elf Stunden geschlafen.

Und trotzdem ist er erschöpft.

Andererseits: wenn er sich heute so viel wie möglich mit anderen Dingen beschäftigt und bloß nicht zulässt, dass ihm langweilig wird, dann denkt er vielleicht gar nicht an Adam.

So kommt er zunächst gut durch den Tag: beim Geburtstagsfrühstück hört er zu, was Caro gestern gemacht hat, dann hilft er Maria beim Kuchen backen und Wäsche sortieren und dann kommen seine Großeltern zu Besuch. Spätestens ab dem Zeitpunkt ist er sowieso zu sehr damit beschäftigt, sich die immer gleichen Geschichten aus der Kindheit seiner Mutter anzuhören, Hörgeräte einzustellen, und mit seinem Opa das große Kreuzworträtsel aus der Zeitung vom Wochenende zu machen. Und währenddessen schaut er bestimmt nicht durch die Fenster in den Regen, der seit gestern Nachmittag unaufhörlich herunterkommt. Zwischendurch hat es sogar einmal gehagelt. Eigentlich sollte heute groß gefeiert werden. Stattdessen hat seine Mutter die Feierlichkeiten kurzerhand auf zwei Tage später verlegt, als die Wettervorhersage mit einem sehr ungemütlichen Start in die Woche drohte. Darum sind heute nur seine Großeltern da, und die wirklich große Party steigt am Mittwoch.

Nur einmal denkt Leo kurz an gestern, gleich morgens, als sein Vater mit einem großen, nassen Blumenstrauß durch die Tür kommt, den er offenbar in einem anderen Gebäude gelagert hat und durch den Regen tragen musste. Leos Mutter ist schon ein sehr neugieriger Mensch und es würde vermutlich keinen Raum im Haus geben, wo sie ihn nicht gefunden hätte. Das sanfte Rosa der Blumen erinnert Leo an Adams Wangen und das Orange an die Blüte, die dieser in Leos Haare gesteckt hat. Als seine Mutter bei dem Anblick zu Strahlen anfängt und seine Eltern sich liebevoll küssen, wendet Leo sich ab. Als wäre es nicht schlimm genug, zu sehen, wie seine Eltern rummachen, muss er jetzt auch noch diese bescheuerte Parallele ziehen.

Und das ist auch sein einziger Ausrutscher. Zumindest bis abends.

 

Als seine Großeltern wieder gegangen sind, die Küche sauber ist, Leos Vater auf dem Sofa eingeschlafen ist und Caro wie gebannt vor irgendeinem Star Wars-Film sitzt, kommt Leos Mutter in die Küche. Eigentlich wollte Leo sich nur etwas zu trinken holen, aber jetzt steht er seit geraumer Zeit vor dem offenen Kühlschrank und starrt die LemonSoda-Dosen an, als müssten sie schon von selbst herausspringen und in seiner Hand landen. Die blöde Zitrone starrt zurück.

„Suchst du was Bestimmtes?“, reißt ihn eine Stimme aus seinem Starr-Duell und er greift sich stattdessen die Flasche Wasser aus der Tür. Eigentlich könnte er auch einfach ins Bett gehen, dann muss er gar nicht denken.

„Nee“, murmelt Leo und schenkt sich Wasser in sein Glas.

„Ist alles okay, tesoro?“

Leo zuckt die Schultern und trinkt, um irgendwas zu tun. Er kann sich selber einreden, dass alles okay ist, aber nie, niemals seiner Mutter. Er schluckt und lässt sich auf einen Küchenstuhl sinken.

„Was soll sein?“, fragt er. Er hat sich doch so angestrengt heute, keinen Gedanken zuzulassen. So sehr, dass er jetzt einfach nur noch erschöpft ist.

Seine Mutter schweigt, aber als er sie ansieht, hat sie nur eine Augenbraue gehoben.

„Naja, als Nonna vorhin gefragt hat, wer alles zur Feier kommt, habe ich gesagt, dass ich alle hier ins Haus und in den Garten einladen will, auch alle Urlaubsgäste.“

Leo schaut wieder in sein Glas. Natürlich hat sie das gesehen.

„Und du sahst alles andere als begeistert aus“, bestätigt sie seine Vermutung.

Leo sagt gar nichts. Leugnen kann er es sowieso nicht mehr, und angelogen hat er seine Mutter in der letzten Woche auch schon genug.

„Ist bei dir und Adam alles in Ordnung?“

Leo zuckt wieder die Schultern, fokussiert lieber den Obstkorb mit den scheiß Zitronen drin.

„Habt ihr euch gestritten?“

Die scheiß Zitronen verschwimmen langsam vor seinen Augen und er spürt, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildet. Aber er schüttelt den Kopf.

„Schlimmer“, flüstert er.

„……… geprügelt?“

Ein kurzer, bitterer Lacher entfährt Leo, aber er schüttelt wieder den Kopf.

„Sch— schlimmer.“ Jetzt rollt die erste heiße Träne über seine Wange, und als seine Mutter sie behutsam wegwischt, bricht es alles aus ihm heraus. Alles, was sich in den letzten 24 Stunden angesammelt hat, was sein Schlaf von ihm abgehalten hat und er den gesamten Tag nicht zugelassen hat. Die Tränen kommen und kommen und seine Mutter ist da, drückt ihn an sich und lässt Leo ihre Bluse vollheulen. Und immer, wenn er denkt, es geht wieder, ist da Adams angsterfülltes Gesicht und das Donnergrollen und sein hektischer Umriss im dichten Regen auf der Landstraße.

Nach ein paar Minuten löst Leo sich langsam wieder von seiner Mutter, aber aus dem Augenwinkel sieht er den Blumenstrauß und fängt direkt wieder an zu weinen. Es hört niemals auf.

Schweigend füllt seine Mutter sein Wasser wieder auf und schiebt es ihm hin. Dann reißt sie ein Blatt von der Küchenrolle auf der Arbeitsplatte neben ihnen und hält es ihm auch hin. Sie hat selber Tränen in den Augen, weil sie einfach zu verdammt empathisch ist. Man sollte meinen, sie hat ihre Kinder in den letzten sechzehn Jahren schon genug weinen gesehen.

„Ich hab vielleicht nicht so ein großes Vorstellungsvermögen“, sagt sie dann. „Aber was ist denn schlimmer als sich zu prügeln?“

Leo weiß nicht, ob er lachen oder weiter weinen soll. Er entscheidet sich für letzteres und nimmt seiner Mutter das Küchenpapier aus der Hand. Unglaublich, wie viel Tränen sein Körper überhaupt produzieren kann.

„Wir ha-haben“, stottert er, unterbrochen von Schluchzern, „u-uns …“

Leo atmet ein.

„Geküsst“, flüstert er, und starrt die Zitronen im Obstkorb wieder an, als könnten sie ihm sagen, ob das die richtige Entscheidung war.

„Oh“, sagt seine Mutter.

Leo trinkt sein Wasser und putzt sich die Nase, weil er darauf auch keine Antwort mehr hat.

„Und dann?“

Leo atmet tief durch und schaut sie endlich an. Im Gesicht seiner Mutter stehen tausend Fragezeichen. Allen voran vermutlich die Frage, warum so etwas vermeintlich Schönes ihren Sohn so sehr zur Verzweiflung bringt.

„Dann hat es plötzlich gewittert und er ist auf einmal komplett panisch geworden und … und dann ist er abgehauen.“

Sie nickt und wischt ihm nochmals die Tränen aus dem Gesicht, denn es kommen schon wieder neue.

„Und seitdem habt ihr euch nicht mehr gesehen…?“

„Wann denn“, murmelt Leo. „Ich war echt beschäftigt heute.“

„Ja“, seufzt seine Mutter, „oder etwas hat dich eher beschäftigt.“

Leo vergräbt sein Gesicht in den Händen.

„Und … also. Du bist dir sicher, dass er … das auch wollte?“

„Was?“

„Na, den Kuss.“

Leo stöhnt auf. Er könnte jetzt echt Schöneres tun, als mit seiner Mutter über all das zu reden. Aber dann denkt er an Adam, und kann sich nicht vorstellen, dass dieser irgendwen hat, bei dem er sich auszuheulen kann. Und er weiß, wie viel Glück er mit seinen Eltern hat.

„Ja, schon“, sagt er dann. Und denkt daran, wie Adam ihn zurückgeküsst und seine Hände gedrückt hat, als wäre es das Einfachste der Welt. Und jetzt … jetzt ist es das Schwierigste der Welt. Leo wüsste nicht mal, was er zu Adam sagen sollte.

Er nickt noch einmal, als müsste er sich selbst bestätigen.

„Okay … dann war er vielleicht einfach überfordert. Oder er hat Angst vor Gewittern.“

Daran hat Leo noch gar nicht gedacht. Vielleicht kann er sich an diesen Gedanken klammern.

Leo zuckt mit den Schultern und seufzt tief. Als wäre er nicht schon erschöpft genug, hat ihn sein Heulanfall nochmal zusätzlich ausgelaugt.

„Man kann nicht die ganze Zeit alles richtig machen“, sagt seine Mutter. „Manchmal denken wir auch, wir hätten Mist gebaut, auch wenn es gar nicht so ist. Und leider ist die einzige Möglichkeit, um das rauszufinden, miteinander zu reden.“

Leo schnieft, reißt sich noch ein Stück Küchenpapier ab und putzt sich die Nase.

„Ich sehe euch beide vielleicht nicht so oft, aber sogar ich merke, dass Adam sich viel weiter geöffnet hat. Am ersten Abend hat er kaum ein Wort gesagt. Vorhin habe ich mit Gianna telefoniert und sie hat erzählt, wie viel Spaß er gestern auf dem Fest hatte.“

Natürlich hat Lucas Mutter seiner alles erzählt. Na gut, bestimmt nicht alles. Auch, wenn Caro ihren Zigarettenkonsum nicht gerade versteckt hat. Leo hingegen kann nur hoffen, dass Adam und er wirklich außerhalb der Sichtweite aller waren.

„So eine Freundschaft … oder was auch immer es ist, vielleicht wisst ihr das selber nicht so genau … das ist etwas Besonderes.“

Sie streicht ihm durchs Haar und Leo schluckt den Kloß in seinem Hals tapfer wieder herunter.

„Ich hab dich hier seit Jahren nicht so fröhlich erlebt. Ja, schon glücklicher als zuhause, aber jetzt ist es noch mal was anderes. Ich glaube … vielleicht braucht ihr euch gegenseitig. Und wenn du nach den Ferien auf die neue Schule gehst, dann ist da schon jemand, den du kennst. Jemand, der deine besten Seiten kennt und Zeit mit dir verbringen möchte und dich mag.“

Jemand, der ihn mag.

Leo nickt stumm, denn er weiß: wenn er jetzt den Mund aufmacht, wird er schon wieder weinen statt zu sprechen.

„Ich werde dich zu nichts zwingen“, sagt seine Mutter, „aber wenn sich die Gelegenheit ergibt, mit ihm zu reden … cogli l'attimo, hm? Ich weiß, du kannst das.“

Da ist sie aber die einzige, denkt Leo. Bevor seine Mutter noch mehr carpe diems raushauen kann, steht er lieber auf. Er ist komplett Matsch, Körper und Seele, und will sich nur noch in Ruhe in den Schlaf weinen. Vielleicht macht er das jetzt wieder jeden Tag, wie vor den Ferien.

„Vielleicht“, sagt er, weil er partout nichts versprechen kann, aber auch nicht lügen will. „Ich geh’ ins Bett.“

Buona notte, tesoro.

„Nacht“, murmelt Leo und verschwindet in den dunklen Flur.

 

In seinem Zimmer fällt Leos Blick auf eine kleine Ansammlung an Holzstücken, die auf seinem Schreibtisch liegt. Am Vorabend hatte er noch hektisch allen Inhalt aus seinem nassen Rucksack geholt und achtlos in seinem Zimmer verteilt. Das rundeste, oder eher eierförmigste Stück lacht ihn an. Er hatte es die letzte Woche über immer wieder zur Hand genommen und versucht, die Rundungen schöner hinzubekommen. Und auf einmal weiß er, was er zu tun hat.

 


 

ADAM

 

Den ganzen restlichen Sonntag denkt Adam an Leo. Training ist aufgrund des Wetters radikal gekürzt und nach drinnen verlegt. Abends darf Adam mit seinen Eltern einen Film schauen, aber er passt überhaupt nicht auf. Einschlafen ist eine einzige Qual.

Den ganzen verregneten Montag denkt Adam an Leo. Wenn er aufwacht. Beim Frühstück. In der Stunde ohne Schwimmtraining, die sein Vater ihm heute gnädigerweise erlässt. Bei jedem Blick aus dem Fenster in den Hof, wo die durchnässten Fahrräder stehen. Während seiner verkürzten Trainingssession am Abend auf der Terrasse (sein Vater steht im Türrahmen, Adam im Regen). In der Dusche danach. Beim kläglichen Versuch, einzuschlafen. Einmal, nachmittags, denkt er, Leo kurz im Fenster im Obergeschoss zu sehen. Er weiß nicht genau, wo Leos Zimmer ist. Vielleicht war es auch nur ein Schatten. Vielleicht fängt er auch an, Dinge zu halluzinieren. Vielleicht hat er jetzt schon Entzugserscheinungen.

Den ganzen sonnigen Dienstag denkt Adam an Leo. Leos Sommersprossen und seine ruhige Stimme, mit der er Adam in den Mittagsschlaf gelesen hat. Leos Hände in Adams und Leos Lippen auf seinen und diese eine Sekunde, nachdem er sich von Adam gelöst und bevor Adam Reißaus genommen hat. Diese Sekunde, in der Leo das seligste Lächeln der Welt im Gesicht hatte, bevor er die Augen geöffnet und Adams blanke Panik gesehen hat.

Ausnahmsweise ist er dankbar, dass er sich im Auto generell nicht mit seinen Eltern unterhalten und nur den Arien aus dem italienischen Klassiksender lauschen muss. So kann er die zwei Stunden Fahrt nach Florenz damit verbringen, die vorbeiziehende Landschaft zu beobachten und bei jedem Feld (es sind sehr viele) an Leo zu denken.

Sie besuchen den Dom und Adam denkt an das italienische Info-Schild, was Leo ihm in Grosseto vorgelesen hatte. Sie schauen von der Ponte Vecchio auf den Arno und Adam denkt an Leos Sprung in den See, nachdem sie zum ersten Mal zusammen geraucht hatten. Sie stehen vor der Bronzekopie des David auf der Piazza Della Signoria, weil keiner bei dem Wetter in ein Museum will, und Adam denkt daran, wie viel Arbeit in einem Kunstwerk steckt, und an Leos Holzkreationen. Sie sitzen in einem Restaurant und Adam starrt seine LemonSoda an und dann den Rotwein seiner Eltern und denkt an Leos lila Lippen von vor einer Woche (und als ob das schon eine Woche her ist! Es fühlt sich an wie Monate).

Und Gott. Adam kann es niemandem sagen. Er kann mit niemandem darüber reden, dass er einen Jungen geküsst hat, den er mag, nach nur einer Woche, in einem scheiß Wildblumenfeld, und ihn dann an Ort und Stelle im Regen stehen gelassen hat.

 

Ein Mal, ein einziges Mal fragt seine Mutter nach. Direkt, nachdem sie auf dem Hof der fattoria geparkt haben und Adams Vater die Einkäufe ins Haus bringt, die sie auf dem Rückweg noch geholt haben (zu niemandes Überraschung hat Adam in der Obstabteilung bei den Wassermelonen, beim Anblick des Sonderpostens mit Fußbällen, und beim Passieren der Auslage mit frischen Focaccia-Stücken an Leo gedacht).

„Adam“, sagt sie und schließt das Auto ab, „es war dir nicht zu langweilig heute, oder?“

Wenn Adam irgendwas von den wunderschönen Sehenswürdigkeiten heute wirklich aufgenommen hätte, hätte er vielleicht etwas gesagt. … Nein, hätte er vermutlich nicht. Aber gedacht.
„Wir hätten ja eigentlich de Leo mitnehmen können heute. Wenn er Lust gehabt hätt’“, redet sie weiter, als hätte Adam irgendeine kohärente Antwort gegeben.

„…… ja. Vielleicht.“ Vielleicht lässt sie das Thema ja wieder schnell fallen.

„Es Barbara wollte eigentlich gestern groß Geburtstag feiern.“ Sie gehen sehr langsam nebeneinander über den Hof. „Und hat auch alle Urlauber hier eingeladen.“

Das macht Adam stutzig. Ist er so mit seinen Gedanken an Leo beschäftigt gewesen, dass er einen Besuch von Barbara verpasst hatte?

„Sie haben es jetzt aber auf morgen verschoben. Ich hab’ noch de Georg gefragt, was es Barbara gerne mag. In diesem einen Feinkostladen, wo wir ganz am Anfang waren, gibt es besondere Kekse, die es wohl nur in Florenz gibt. Und so oft sind sie nicht da. Also bringen wir die morgen mit.“

Dass seine Mutter sich für andere Erwachsene so viele Gedanken über ein Geschenk macht, ist nichts neues. Adam würde sich nur wünschen, dass sie diese Geste auch mal auf ihn ausweitet. Aber jetzt gerade verfängt sich sein Gedankengang in einem ganz anderen Netz. Abgesehen davon, dass er scheinbar einen Barbara- und einen Georg-Besuch verpasst hat.

Wir?“

„Ei, ich geh’ ja nicht alleine dahin. Das machen wir schon alle zusammen.“ Sie mustert ihn etwas argwöhnisch. Und dann, die Frage, auf die Adam nur gewartet hat: „Habt ihr euch gestritten? Du und de Leo?“

„Nein“, sagt Adam etwas zu schnell. „Äh, gestern war ja Geburtstag“, fügt er dann hinzu. „Und heute Ausflug halt.“ Er zuckt zur Unterstreichung nochmal mit den Schultern.

„Ach so“, sagt seine Mutter. „Dann eben morgen.“ Und das ist keine Frage, sondern ein Fakt.

Dass Adam so gar keine Lust hat, zu den Hölzers zu gehen, und sich von nun an jede Minute das Schlimmste ausmalen muss, was dort passieren könnte, behält er für sich. Wie eigentlich so ziemlich alles.

 

Adam absolviert noch ein abendliches Training auf dem Tennisplatz, heute im Trockenen, denkt an Leo, und steht dann unter der Dusche, und denkt an Leo, bis er das Wasser kalt drehen muss, weil er sonst vielleicht implodiert. Es ist kaum auszuhalten.
Einerseits will Adam Leo sofort, am besten jede Sekunde an jedem Tag sehen, aber andererseits hat er eine höllische Angst, von ihm abgewiesen zu werden. Vielleicht ist morgen sowieso das letzte Mal, dass er Leo zu Gesicht bekommt. Vielleicht aber wird Leo sich ganz normal verhalten, wenn andere Leute dabei sind, und nur nicht mit ihm alleine sein wollen.

Vielleicht geht Adam auch einfach spontan in Flammen auf, wenn er Leo wiedersieht. Dann muss er sich wenigstens nicht überlegen, was er sagen soll. Was soll er denn schon sagen?
„Hallo Leo, sorry fürs überstürzte Abhauen, ich hab Panik bekommen und dachte, wortlos den Sprint meines Lebens hinzulegen wäre die richtige Lösung. Küss mich bitte nochmal, aber vielleicht laufe ich dann einfach wieder weg“?
Adam lacht bitter seine verschwommene Reflexion im beschlagenen Spiegel an. Ja. Das fände Leo bestimmt ganz toll.
„Hallo Leo, ich habe 48 Stunden lang an nichts anderes gedacht als an dich und deshalb muss ich dich jetzt leider auch 48 Stunden lang küssen, am besten bis wir abreisen. Nein, ich brauche keinen Schlaf, warum fragst du?“
Auch eine grandiose Idee. Diesmal sogar komplett ohne Entschuldigung. Auch das wird Leo begeistern.

Adam seufzt. Er musste vieles erleiden in seinem Leben, aber das allererste Mal sein Herz gebrochen bekommen wird vielleicht das Schlimmste von allem sein.

Notes:

Danke an @apaethy fürs Betalesen <3

Chapter 10: 10. Tiramisù

Notes:

[blümchen voice] ich bin wieder hiiieeer bei dir euch!! hat mal wieder nur über nen monat gedauert! aber ihr kennt es ja schon von mir …
aufmerksame leser*innen haben vielleicht bemerkt, dass ich endlich verrate, wieviele kapitel es überhaupt geben wird. hiernach nämlich noch zwei! ob die 12 ein richtiges kapitel wird oder nur ein epilog, weiß ich selber noch nicht so genau. eventuell wird es auch wieder doppelt so lang, wie ich eigentlich vorhatte. wäre nicht das erste mal 🤪
aber jetzt viel spaß beim lesen, meine lieben tifosi. ich verspreche, heute wird es sehr süß ❤️

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

10. Tiramisù | LEO

 

Leo erwacht mit einem schmerzenden Knie. Sein dünnes Laken, das er als Bettdecke benutzt, liegt auf dem Boden, komplett weggestrampelt in seinem Schlaf. Seine Casio zeigt 11:20 Uhr. Leo stöhnt. Gut, wenn ihn bis jetzt noch niemand zum Aufstehen gezwungen hat, wird das auch nicht mehr passieren. Vielleicht hatte seine Mutter immer noch Mitleid mit ihm. Gestern morgen— naja, was heißt morgen … gestern Mittag ist Leo weit nach 12 aufgewacht und durfte von einer sehr neugierigen Caro erfahren, dass ihre Mutter alle gebeten hatte, ihn nicht zu wecken. Leos Blick fällt auf seinen Nachttisch und den Grund für sein spätes Erwachen gestern: das Holzstück, an dem er bis tief in die Nacht gearbeitet hat. Seitdem liegt es dort. Es ist eigentlich fast fertig. Eigentlich muss es nur noch abgeschliffen und angemalt werden.

Mit einem Seufzen drückt Leo seinen Daumen auf sein schmerzendes Knie, als würde das den blauen Fleck nicht noch schlimmer machen. Er schließt die Augen wieder und lauscht den vormittäglichen Geräuschen, die das alte Haus zu ihm hochträgt. Töpfe- und Pfannengeklapper aus der Küche, Gwen Stefani aus Caros Zimmer, die Waschmaschine, die Dusche. Von weiter weg ertönt Vogelgezwitscher, Grillenzirpen, Kindergeschrei, Hundegebell, das Planschen von irgendwem im Pool, knirschender Kies unter den Schuhen von jemandem, der draußen vorbeigeht.

Und Leo denkt an Adam. Die Schürks sind gestern wohl in Florenz gewesen. Das hat Leos Vater erzählt, als er seinen Sohn am Frühstückstisch gefunden hat, den alle anderen bereits verlassen hatten. Maria war quasi gerade dabei, ihm den Tisch unter der Nase abzuräumen und Leo musste aufpassen, dass alles, was er noch essen wollte, auch stehen blieb. Leo hatte irgendetwas zwischen einem Nicken und einem Schulterzucken von sich gegeben, und damit das Gespräch beendet. Er hat keinen Zweifel daran, dass seine Mutter seinem Vater irgendeine Erklärung aufgetischt hat, warum Leo und Adam sich seit zwei Tagen nicht gesehen haben. Nicht unbedingt die Wahrheit. Aber so tun, als wäre nichts, ist auch nicht ihr Stil.

Leo hatte dann ein Stündchen im Pool verbracht, dort mit Caro für ihr Rettungsschwimmer-Abzeichen trainiert und hatte dann mit einem relativ großen schlechten Gewissen eine SMS an Gaetano geschrieben:

- Partitina di calcio oggi?

- Siiiiiiii arrivo subitoooooooo : D

Leo hatte also nach einer ganzen Woche ein paar Stunden Fußball mit den Jungs gespielt. Auf dem Weg dahin hatte es sich fast angefühlt wie immer, aber sobald er ankam, wurde er nach Adam gefragt. Es war leicht gewesen, den Tagesausflug nach Florenz vorzuschieben, aber dann hatte Vincenzo die Augen verdreht und ihn daran erinnert, dass sie Leo seit einer Woche außer zur Party nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten. Und darauf wusste Leo auch keine Antwort. Beziehungsweise, er wusste genau, dass er nur hergekommen war, um sich abzulenken und nicht an Adam zu denken. Und das klappte dann auch ganz gut, sobald ihn niemand mehr nach dem anderen Jungen fragte.

 

Jetzt hat Leo also einen nervigen blauen Fleck am Knie und einen weniger nervigen am Schienbein und schält sich unter Stöhnen aus dem Bett. Er hat sowas von keinen Bock auf den Tag, und erst recht nicht auf den Abend, aber er kann sich auch nicht von seiner Angst lähmen lassen. Es sind mal wieder alle Hände zur Partyvorbereitung gebraucht.

Und Leo tut sein Bestes: er rührt, er würzt, er stellt Stühle und Tische auf, er dekoriert ein bisschen, er stellt kalt, er liefert sich einen weiteren Starrwettbewerb mit den LemonSoda-Dosen im Getränkekühlschrank, er holt Marsala aus dem Keller, er wechselt Teelichter. Er schaut viel zu oft zur Tür, hört mit einem halben Ohr immer zu, wenn jemand die Haustür öffnet. Dabei sind die Gäste offiziell erst gegen sieben zu erwarten.

„Was ist eigentlich los bei dir?“, fragt Caro leicht angepisst, als Leo zum dritten Mal etwas fallen lässt, weil es an der Tür klingelt.

„Nichts“, zischt Leo.

„Jaa, genau“, zischt Caro zurück, aber sie fragt nicht weiter nach.

Stattdessen schlurft Leo zu seiner Mutter, nachdem auch er die frisch angekommenen Gäste (seine Tanten und Onkels jeglichen Grades) begrüßt hat.

Mamma?“

Si, tesoro?“

Seine Mutter streicht ihm durch die Haare, was er eigentlich meistens ätzend findet, aber heute lässt er es zu.

„Ist es okay, wenn ich nach oben gehe?“

Sie runzelt die Stirn, aber Leo scheint so elend auszusehen, wie er sich fühlt. Es ist mittlerweile kurz vor sieben und allein der Gedanke daran, dass vielleicht gleich Adam durch diese Tür treten könnte, dreht ihm den Magen um.

„Geht es dir nicht gut?“

Leo schüttelt den Kopf. Ein Blick in das besorgte Gesicht seiner Mutter reicht, dass ihm fast die Tränen in die Augen steigen. Um sich vor Dingen zu drücken, hat Leo schon öfters die Krankheits-Karte gespielt, aber das hier ist etwas anderes. Und seine Mutter scheint es zu spüren.

Sie seufzt. „Na gut. Aber etwas essen musst du, tesoro.“

Leo nickt, ohne die Absicht zu haben, dem wirklich nachzugehen. Gerade kann er gar nicht ans Essen denken.

 

In seinem Zimmer angekommen, starrt ihn sein fast fertiges Schnitzwerk auf seinem Nachttisch an. Seufzend macht er sich auf die Suche nach den Acrylfarben, die er irgendwann für ein Geburtstagsprojekt für seine Mutter mit Caro zusammen besorgt hatte. Als er fündig wird, stellt Leo seine Musik laut genug an, dass sie die Musik von unten übertönt – und auch das ständige Türklingeln, was ihn immer noch nervös macht.

Aber es stört ihn niemand. Vor dem Anmalen muss das gute Stück noch abgeschliffen werden, und das regelmäßige Kratzen des Schleifpapiers beruhigt Leo bald vollends. Er murmelt textsicher die vollen 57 Minuten von American Idiot mit, bis es pünktlich zum Ende des Albums dann doch an der Tür klopft. Leo hat so gar keinen Bock auf Caro, die ihn sicherlich zum Essen holen soll, und wirft sein fertig abgeschliffenes Kunstwerk in seine Schreibtischschublade.

„Ja?“, grummelt er, aber nichts tut sich. Stattdessen klopft es wieder, diesmal zaghafter.

Leo stöhnt genervt, aber steht auch auf.

„Komm doch rein!“, mault er, als er die Tür öffnet, aber vor der Tür steht nicht Caro, und auch nicht seine Mutter, sondern Adam.

Leos Herz setzt einen Schlag aus. Adam, mit zwei Tellern Tiramisù in den Händen, ist der Grund für das zaghafte Klopfen.

„Ähm“, sagt er. „Deine Mutter hat gesagt, du musst was essen.“

„Dessert?“, fragt Leo dümmlich.

Adam zuckt die Schultern und hält Leo schüchtern einen der Teller hin. „Sie hat gesagt, wenn irgendwas dich rauslockt, dann … das hier.“

Seinem Blick nach zu urteilen, ist sich Adam nicht mal sicher, was genau ‚das hier’ überhaupt ist, und oh … OH!

„Magst du Kaffee?“, platzt es aus Leo heraus.

„Jetzt noch??“

Leo muss jetzt doch lachen. „Äh, so allgemein.“

Adam zuckt die Schultern. „Ich darf eigentlich keinen.“

„Ja dann“, sagt Leo. „Lass mal wieder was Verbotenes machen.“

Er nimmt einen Teller an sich, macht einen großen Schritt zur Seite und gestikuliert vage, um Adam hereinzubitten. Und offensichtlich haben sein Hirn und sein Mund entschlossen, heute wild zwischen sehr dumm und sehr selbstbewusst (oder beides gleichzeitig?) zu schwanken.

Adam macht einen zögerlichen Schritt ins Zimmer und Leo schließt die Tür hinter ihm, dann kehrt er an seinen Schreibtisch zurück.

„Also“, sagt er, und zeigt mit seinem Löffel auf sein Stück Tiramisù. „Da ist Espresso drin. Wenn du keinen Kaffee magst, ist es vielleicht nicht das Richtige für dich.“

Adam steht immer noch etwas verloren vor der Tür herum.

„Setz dich“, seufzt Leo. Adam tut wie ihm geheißen und setzt sich vorsichtig auf Leos Bettkante.

Adam ist in Leos Schlafzimmer und Adam sitzt auf Leos Bett und— das Dessert ist jetzt viel wichtiger!

„Aber wenn du keine Meinung zu Kaffee hast, dann kann ja nichts schiefgehen. Buon appetito.“

Adam beäugt das Stück auf seinem Löffel neugierig, als könnte er nur anhand von dessen Aussehen herausfinden, wie es schmeckt, aber probiert es dann doch. Eine Reihe an Emotionen zeichnet sich auf seinem Gesicht ab, einige gut, einige nicht so gut, aber dann sieht er doch ganz zufrieden aus.

Er nickt anerkennend. „Verstehe. Das würde mich auch aus jeder Höhle locken.“

Leo sieht ihn empört an. „Hast du mein Zimmer gerade eine Höhle genannt??“

Adam zuckt zusammen. „Äh, n—“

„Ich mach’ nur Spaß“, sagt Leo schnell, bevor Adam sich noch ernsthafte Gedanken darüber machen kann. „Laut meiner Mutter riecht es hier zumindest öfter nach Höhlenmensch.“

Das bringt Adam wenigstens zum Lachen, und er macht sich weiter über sein Tiramisù her, während er seinen Blick durch Leos Zimmer schweifen lässt.

Und vielleicht … vielleicht ist das alles gar nicht so schlimm. Vielleicht können sie einfach Freunde sein und so tun, als wäre nie etwas passiert. Vielleicht streichen sie jenen Gewittersonntag einfach aus ihren Gedächtnissen. Zumindest bis zu dem Moment zwischen den Blumen.

„Das Essen ist übrigens sehr gut“, sagt Adam dann, „nicht nur das Dessert.“

„Ist denn überhaupt schon Zeit dafür?“

Adam schaut ihn verschwörerisch an. „Eigentlich nicht“, flüstert er. „Aber deine Mutter hat eine Ausnahme gemacht. Eigentlich wollte sie es erst ein bisschen später rausholen.“

Leo überkommt ein heftiges Gefühl der Liebe für seine Mutter, das natürlich immer da ist, aber nie im Vordergrund. Er hat ihr wirklich mehr zu verdanken, als er manchmal merkt.

„Das Geburtstagskind darf alles“, sagt er und Adam nickt verständnisvoll.

„Dein Cousin hat mich gefragt, ob ich rauche“, sagt er dann.

„Daniele??“

Adam zuckt mit den Schultern. „Ja, vielleicht?“

Leo verschluckt sich fast. „Naja, Francesco wird es nicht sein, der ist sechs oder so. Aber Daniele wollte bestimmt nur Feuer haben. Und was hast du gesagt?“

„… No?“

Und Adam sieht dabei so unüberzeugt und verloren aus, dass Leo sich lieber wieder auf sein Tiramisù konzentriert, was schon wieder fast leer ist.

„Also hast du ihn angelogen.“

„Hey!“, sagt Adam empört, aber so richtig kann er ja auch nicht widersprechen. Wenn er dürfte, würde Adam vermutlich Kette rauchen. Oder erkennen, dass Dinge, die erlaubt sind, gar nicht mal so interessant sind.

Es tut so gut, mit Adam zu lachen. Leo möchte sich in diesem Gefühl suhlen. Und noch so viele andere Dinge, aber er gibt sich vorerst damit zufrieden, Adams Fuß wie zufällig mit seinem zu streifen und zu schauen, wie er reagiert. Adam zuckt kurz zusammen, aber er zieht seinen Fuß nicht weg.

„Geht es dir eigentlich besser jetzt?“, fragt er stattdessen.

Ach ja. Leo ist ja offiziell am Dahinsiechen. Oder was auch immer seine Mutter Adam erzählt hat.

„Viel besser“, grinst Leo.

Adam grinst auch um seinen Löffel Tiramisù herum. Wissend.

„Ist Kaffee eine gute Medizin?“

„Und Kekse.“

„Ah ja.“

„Und Marsala.“ Als Adam fragend schaut, erklärt Leo: „Der Wein.“

„Da … ist Wein drin?“

Leo gluckst. „Nur ein bisschen. Hey, im späten Mittelalter haben sie Kranken immer Wein gegeben! Das ist alles nur zu unserem Besten.“ Er nickt noch mal bekräftigend, da Adam immer noch nicht überzeugt scheint. „Das ist so eine geringe Menge, das tut dir nichts. Und riecht auch nicht. Da tut der Espresso schon wesentlich mehr.“

Er zwinkert etwas unbeholfen und widersteht dem Drang, Adam besänftigend das Knie zu tätscheln. Stattdessen streift er noch einmal Adams Fuß mit seinem, diesmal weniger zufällig. Diesmal zuckt Adam nicht zusammen, sondern drückt seinen dagegen, in die Berührung hinein.

Er sieht auf einmal gar nicht mehr so relaxed aus wie eben gerade noch. Seine Hände klammern sich an seinen leeren Teller, aber Leo sieht sie trotzdem zittern. Sanft, aber bestimmt nimmt er Adam den Teller ab und stapelt ihn mit seinem auf den Schreibtisch.

„Der Alkoholgehalt ist wirklich sehr gering, wenn d–“, versucht Leo es noch mal, aber Adam schüttelt den Kopf.

„Das ist es gar nicht.“ Er steckt seine Hände zwischen seine Oberschenkel, entweder um sie zu beruhigen, oder um sie vor Leo zu verstecken. Beides klappt so semi-gut.

Leos Herz schlägt schon wieder wie verrückt, aber er muss jetzt mutig für sie beide zusammen sein, also rutscht er von seinem Schreibtischstuhl rüber zu Adam auf die Bettkante. Vielleicht ist das alles leichter, wenn sie sich nicht direkt anschauen müssen.

Er räuspert sich. „Was … was ist es dann?“ Er hat so eine Ahnung, aber bei Adam weiß man nie, welche seiner Ängste sich gerade in den Vordergrund drängelt.

Adam starrt weiter ins Leere, als könnte er die Mücken, die sich gegen Leos Fliegengitter am offenen Fenster drängeln, mit seinem Blick töten.

„Du bist immer noch nett zu mir“, sagt er dann, so leise, dass Leo es fast nicht versteht.

Leos Herz rutscht irgendwo in seine Magengrube.

„J— N… natürlich“, stammelt er.

„Obwohl ich einfach abgehauen bin.“

„Ja?“, versucht Leo es weiter.

„Und dich stehen gelassen hab.“

„Weil …?“

„Weil ich … Angst hatte.“ Adam schluckt.

„Vor …?“

Adam hadert mit der Antwort, dann schaut er Leo endlich an.

Und der bietet ihm einen Ausweg: „… dem Gewitter?“

Adam öffnet den Mund, hinter seinen Augen rattert es sichtlich, und er nickt, aber er atmet tief ein und aus seinem Mund kommt: „Nein.“ Und das Nicken wird zu einem Kopfschütteln. Und der Kopf sinkt in seine Hände und seine Ellbogen sinken auf seine Knie und er drückt seine Handballen auf die Augen.

Für einen Moment denkt Leo, Adam fängt an zu weinen, aber richtet sich doch wieder auf.

„Vor allem irgendwie“, sagt er dann zu Leos Fliegengitter.

„Auch …“, Leo schluckt beim Gedanken daran, was seine Mutter zu ihm gesagt hatte. Ob Adam das überhaupt wollte. „… vor mir?“

Adams Kopf schnellt herum und er schaut Leo geradezu entsetzt an.

„Nein!“ Er schüttelt vehement den Kopf zur Unterstreichung. „Niemals vor dir.“

Leos Herz klettert langsam wieder zurück hinauf an seinen rechtmäßigen Platz, aber nervös ist er trotzdem noch. Langsam zieht er ein Bein aufs Bett, um Adam besser angucken zu können.

„Nicht vor dem Gewitter und nicht vor mir“, zählt Leo auf. „Also doch nicht vor allem.“

Das lockt ein kleines Lächeln hervor, aber Adam sieht ihn schon wieder nicht an. Jetzt schaut er lieber auf die Matratze zwischen ihnen.

„Es war einfach alles ein bisschen viel. Es war ja nicht mal besonders unerwartet …“, erklärt er. „… oder?“

Leo grinst. „Nee. Nicht wirklich.“

„Ich glaube, der Donner hat mich nur in die Wirklichkeit zurückgeholt. Und gezeigt, dass ich nicht träume.“

„Es war einfach traumhaft“, sagt Leo. „Du hast so Recht.“

Ja, dummer Humor zu unpassenden Zeiten ist vielleicht Leos größte Schwäche. Neben Adam. Aber dieser lacht tatsächlich darüber. Und wenn Leo es schafft, die Stimmung noch weiter zu lockern, dann ist vielleicht doch alles gar nicht so schlimm.

„War es schon.“ Leo kann quasi beobachten, wie eine Röte Adams Gesicht hochkriecht und seine Ohren erreicht. Und er will— er will alles. Aber er kann Adam nie wieder so überrumpeln wie am Sonntag.

Leo schluckt und spricht endlich das Schwierigste aus, ohne sich irgendwas zurechtgelegt zu haben (auch wenn er es in den letzten drei Tagen fünfhundertmal in seinem Kopf durchgespielt hat): „Tut mir leid, dass ich … wenn ich dich überrumpelt hab … ich hätte ja auch fragen können. Ob du das überhaupt willst. Oder ob es ein schlechter Zeitpunkt ist. Oder ob—“

„—Aber ich wollte ja“, unterbricht Adam ihn, nicht unhöflich, aber dringend. „Das wusste ich in dem Moment nur noch nicht so genau.“

„Und … jetzt …?“

Adam hebt endlich den Kopf. Leos Herz ist kurz davor, sich in den Tod zu stürzen.

„Jetzt schon.“ Adam lächelt das kleinste Lächeln der Welt und er legt tollkühn seine Hand auf Leos, die sich nervös in den Saum seiner Jeans-Shorts gekrallt hat.

„H-hast du keine Angst mehr?“

Adam zuckt minimal mit den Schultern. „Doch. Aber nicht vor dir. Höchstens … höchstens vor meinen Gefühlen für dich, aber … da können wir ja einfach Konfrontationstherapie machen.“

Leo prustet los. Adam ist wirklich genauso bescheuert wie er, und es ist absolut perfekt, und Leo war noch nie so scheiße doll verliebt, oder überhaupt ein bisschen, und wenn er nicht gleich sofort seine Arme um Adam schlingen kann, stirbt er vielleicht.

„Ja“, sagt Leo, als er sich langsam wieder beruhigt. „Ja, können wir sehr gerne, am besten sofort.“ Und etwas ernster fügt er hinzu: „Bitte.“

Adams winziges Lächeln ist immer breiter geworden, und endlich sitzt da dieser wirklich seltene, aufrichtig glückliche Adam vor ihm, der Leos Hand von seiner Hose löst, um sie zu halten. Der Leo entgegen kommt, bis Leo seinen Atem spüren kann, bitterer Kaffee, und dann seine Lippen, süße Mascarpone. Diesmal ist Leo derjenige, der zurückküssen darf, und er hält sich so sehr zurück, denn wenn es nach ihm ginge, würden sie schon längst eng umschlungen auf dem Bett liegen. Aber für Adam lässt er sich Zeit. Und Adam vertieft den Kuss, zieht Leos Unterlippe zwischen seine, und Leo keucht kurz auf, bevor er sich allem hingibt. Seine freie Hand findet ihren Weg an Adams Wange, seine Fingerspitzen erreichen das kurze, weiche Haar in dessen Nacken. Er darf endlich seine Finger hindurchfahren und macht es auch mit Genuss, während sein Daumen über Adams Wangenknochen streicht. Adam scheint ein wenig in die Berührung hineinzuschmelzen, und er neigt seinen Kopf zur anderen Seite, Leos Hand entgegen. Leo Herz droht, nun endgültig seinem Brustkorb zu entspringen, so wild ist es am schlagen. Adam zupft an Leos Shirt, lässt seine Hand über Leos Rücken fahren, aber so richtig bekommen sie nicht die Nähe, die Leo gerne hätte. Schweren Herzens löst er sich kurz von Adam, vielleicht auch, um zu checken, wie es um ihn steht.

Adams Pupillen sind groß im schwachen Licht der Schreibtischlampe, seine Wangen sind gerötet und er sieht ein wenig durch den Wind aus, aber mehr verwirrt von der plötzlichen Trennung.

„Alles okay?“

Adam nickt.

„Kein Traum, okay?“, versichert Leo ihm.

Adam grinst. „Trotzdem traumhaft!“

Leo würde so gerne in sein Kissen beißen, weil er nicht weiß wohin mit so vielen Gefühlen, aber er zügelt sich. Sein Gehirn hat wirklich einen Orden verdient für die Arbeit, die es hier gegen seinen Körper leistet. Trotzdem nähert er sich seinem Kissen, und zwar indem er übers Bett krabbelt und sich auf die Seite legt. Adam beobachtet ihn, aber gesellt sich erst dazu, als Leo auf den Platz neben sich klopft. Und so gerne Leo stundenlang liegen und Adams Gesicht anstarren könnte, umso mehr braucht er seine Nähe. Er legt seine Hand wieder an Adams Wange und zieht ihn sanft zu sich. Sofort rutscht Adam noch näher, bis sie sich endlich von Kopf bis Fuß berühren, Leo fast Adams Herzschlag spüren kann, und er seinen Arm um Adam schlingen kann, damit er nie wieder gehen kann. Aber Adam will gar nicht gehen. Seine Hände streichen sanft durch Leos Haar und über seinen Nacken. Als Adam erneut Leos Unterlippe zwischen seine nimmt und seine Zunge darüberfährt, ist es endgültig aus mit Leo. Er könnte den Rest seines Lebens hier mit Adam auf dem Bett liegen und wäre der glücklichste Mensch der Welt. Adam vertieft den Kuss, diesmal richtig, und es raubt ihnen beiden fast den Atem. Adam schmeckt nach Espresso, nach Mascarpone, nach Biskuit, ein winziges bisschen nach LemonSoda, und Leo möchte sich hineinlegen wie in eine Deckenhöhle und nie wieder herauskommen. Als hätte er seine Gedanken gelesen, schlingt Adam fest beide Arme um Leo und drückt ihn an sich, bis ihnen diesmal wirklich der Atem fehlt. Leo löst sich zuerst, aber er legt seine Stirn an Adams, um durchzuatmen.

„Können wir für immer hier bleiben?“, flüstert Adam in die Stille hinein.

„Wir können bestimmt noch 36 Stunden hier bleiben“, flüstert Leo zurück.

Adam seufzt tief, aber Leo spürt ihn nicken. „Okay.“

Schweren Herzens löst Leo sich etwas, um Adam richtig anzusehen. Streicht ihm über die Wange, weil er das jetzt endlich einfach darf.

„Hey.“

Adam sieht ihn an. „Wir haben uns länger als 36 Stunden nicht gesehen“, sagt er, nur minimal quengelig. Und okay, er hat auch Recht.

„Das müssen wir aber fast nie wieder“, versichert Leo ihm. „Also, sobald ich wieder zuhause bin.“

„Okay.“

„Vielleicht komme ich in deine Klasse.“

„Kannst du dir das aussuchen?“

Leo zuckt die Schultern. „Bis vor anderthalb Wochen wollte ich nicht mal in irgendeine Klasse. Aber vielleicht kann ich mir was wünschen?“

Adam nickt. „Wenn dir irgendjemand dumm kommt, sag Bescheid. Ich regel’ das.“

„Okay, mein Held“, kichert Leo. „Hast du einen Ruf weg?“

„Ja“, sagt Adam bestimmt, und Leo glaubt ihm sofort. Vielleicht ist Adam wirklich das Beste, was ihm je passiert ist.

„Cool“, murmelt Leo und küsst Adam erneut. Weil er will und weil er kann und weil er darf. Und weil Adam keine Angst vor ihm hat und weil Adam Gefühle für ihn hat und weil Adam ihn beschützt und weil Adams Arme warm und schwer um ihn liegen und sich seine kurzen Haare so gut unter Leos Händen anfühlen. Leo wirft ein Bein über Adams Hüfte, um ihn noch ein bisschen näher zu sich zu ziehen, und Adam lässt ihn, obwohl sowieso kaum noch ein Blatt Papier zwischen sie passt.

Und so verbringen sie die nächste Stunde, eng umschlungen auf Leos Bett nach all dieser Zeit, wechselnd zwischen sanften, fast scheuen Küssen, wilderem, atemlosen Rummachen, nach dem sie erst einmal Luft tanken müssen, und leisem Wortwechsel. Leo malt mit seinem Finger Kreise entlang Adams Wirbelsäule und Adam wickelt eine Strähne von Leos Haaren um seinen Finger. Leo beißt sich mental 500 Mal auf die Zunge, um nicht irgendwas Dummes, Voreiliges zu sagen. Adam beißt Leo fünf Mal auf die Zunge, aber nur ganz leicht im Spaß, und nur, um Leo das Lachen vom Mund zu küssen.

 

Das zweite Klopfen an diesem Abend ist wirklich Caro, und als sie nach ungefähr zwei Sekunden die Tür aufreißt, sitzt Leo auf dem Bett und Adam sehr selbstverständlich am Schreibtisch.

Etwas zu lange schaut sie die beiden schweigend an, und scheint dann zu entscheiden, dass Leo heute ausnahmsweise keinen dummen Spruch gebrauchen kann.

„Mama rastet aus, wenn du nicht gleich was Richtiges isst“, sagt sie nur. „Ich weiß auch nicht, was das mit mir zu tun hat. Aber ihr lasst euch besser unten blicken.“

Mit einem weiteren theatralischen Augenrollen dreht sie wieder um und lässt die Tür offen stehen.

Leo, der aus Versehen die Luft angehalten hat, stößt sie jetzt mit einem hysterischen Lachen aus, in das Adam mit einstimmt, aber dann springt er auf und zieht Leo mit sich. Bis zum Treppenabsatz, dann entzieht Adam sich Leos Griff.

„Ich—“

„—Ich weiß“, sagt Leo, auch wenn Adam das eh weiß, und streicht ihm noch ein letztes Mal über die Wange, bevor sie die Treppe hinuntergehen, um dem Rest der Partygäste unter die Augen zu treten.

Notes:

süß oder süß? 👉 👈

mille grazie & baci an @apaethy fürs betalesen once again ❤️

Chapter 11: 11. Regalo

Notes:

Es ist wirklich da: das letzte Kapitel! Hat ja nur 1,5 Jahre gedauert … aber damit wären die 40k geknackt. Danke an alle, die bis hierher gelesen haben, und Frohe Weihnachten :)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

11. Regalo | ADAM

 

Adam bricht schon wieder seinen Schwimm-Rekord. Beeindruckt schaut sein Vater auf die Stoppuhr und schlägt ihm wohlwollend auf den Rücken, als Adam sein Gesicht im Handtuch vergräbt. Eigentlich bringt es ihm nicht einmal etwas, aber eine Stimme in seinem Kopf bläut ihm weiterhin ein, dass er, je schneller er mit dem Training durch ist, umso schneller Leo wiedersieht.

Aber das ist Bullshit. Leo sieht er wie abgemacht um zehn auf dem Parkplatz. Trotzdem pusht Adam sich heute extra, ein bisschen wie am Tag, als Leo ihm die Pfirsiche vorbeigebracht hat. Beim Gedanken daran muss Adam grinsen. Eigentlich muss er sowieso die ganze Zeit grinsen, wenn er an Leo denkt. Und da er sonst nie so drauf ist, muss er sich im Angesicht seiner Eltern schon ziemlich zusammenreißen.

 

Gestern Abend hat Leo dann doch noch was gegessen, was nicht nur Tiramisù war (dessen Weingehalt Adam übrigens wirklich nicht gespürt hat), und sie haben noch ausgiebig mit Leos und Caros Cousins und Cousinen abgehängt. Immer darauf bedacht, sich nicht zu lange zu auffällig anzusehen. Caros Kommentare haben sie gekonnt ignoriert, aber sie waren sowieso eher lieb gemeint. Soviel kann Adam mittlerweile doch herauslesen, auch wenn sie sich noch nicht so gut kennen.

Diesmal sind sie sogar etwas länger geblieben, bis halb zwölf, und zum Abschied hat Adam aus Panik ein sehr männliches Handschlag-Umarmungs-Hybrid initiiert, das nur dadurch abgesoftet wurde, dass er dabei mit seinen Fingerspitzen über Leos Handrücken fuhr. Leo hat ihn dafür ein bisschen ausgelacht, und das war nur fair.

Und dann hat Adams Mutter Leo aus dem Nichts zu ihrem Ausflug nach Livorno eingeladen, obwohl Adam das letzte Mal, als sie es direkt nach Florenz angebracht hatte, ja alles andere als begeistert gewesen war. Aber jetzt ist sowieso alles anders.

 

Also duscht Adam jetzt noch ausgiebiger als sonst und überlegt vielleicht doch dreimal, was er anzieht, auch wenn seine Auswahl sowieso nicht so groß ist. Den Rest seiner zwangsweise Leo-losen Zeit zwingt er sich, zu packen. Damit er die letzten kostbaren 24 Stunden, die ihm in Italien noch bleiben, mit Leo verbringen kann. Natürlich ist er lange vor zehn fertig und beschäftigt sich damit, die Katzen im Hof zu streicheln, bis seine Eltern und Leo auch bereit zur Abfahrt sind. Gucci lässt sich ausgiebig kraulen und die andere, Porcini, schläft an ihrem Lieblingsort: einem riesigen Pflanztopf – direkt unter einem kleinen Zitronenbaum. Adam beschließt, sie nicht zu stören und beschäftigt sich weiter mit Gucci. Zu Adams großer Überraschung lässt sie sich sogar am Bauch streicheln. Nicht, dass er viel Erfahrung mit Katzen hätte, aber die meisten, die er kennengelernt hat, waren davon nicht so begeistert gewesen.

Das Geräusch von Schuhen auf Kies reißt ihn aus seiner Streicheleinheit. Leo schlendert auf ihn zu, langsam genug, dass Adam sich Zeit nehmen kann, ihn zu beobachten. Mehr kann er gerade sowieso nicht tun. Beobachten, wie Leos Grinsen breiter und seine Augen sanfter werden. Wie er sich auf die Lippe beißt, und das ist gar nicht gut, weil das würde Adam gerne stattdessen machen.

„Hey“, sagt Leo, als er bei Adam ankommt, und hockt sich zu ihm, nah genug, dass sie Schulter an Schulter sitzen.

„Hey“, sagt Adam.

„Und hey“, sagt Leo zu Gucci und lässt seine Hand über ihr weiches Fell gleiten. Sie sitzen mit dem Rücken zum Ferienhaus der Schürks, also ist Adam einmal in seinem Leben waghalsig und legt seine Hand auf Leos. Der sieht ihn nicht an, aber er lächelt immer noch sehr breit. Gucci beschwert sich kurz, als ihre Hände zu lange still liegen, und Leo krault sie pflichtbewusst weiter. Adams Hand bleibt trotzdem auf seiner liegen, bis er die Haustür hinter sich hört. Dann nimmt er wieder seine Hände zu sich und steht auf.

 

Nach Livorno fährt man etwa eine Stunde, und Adam hat es noch nie so sehr in den Fingern gekribbelt, Leo auf irgendeine Weise zu berühren. Ausnahmsweise läuft kein Klassik-Radiosender, sondern einer, der aktuellere Songs spielt. Adam hört nur mit halbem Ohr zu, aber er bemerkt genau, wie Leo auf einmal zusammenzuckt und als er herüber schaut, sind Leos Augen groß und er scheint sich zu verkneifen, etwas zu sagen. Die Aufregung steht ihm aber ins Gesicht geschrieben. Das Lied kommt Adam vage bekannt vor, aber er kann es nicht wirklich zuordnen. Fragend schaut er Leo an. Der öffnet den Mund, schließt ihn dann wieder und blickt zu Adams Eltern rüber.

„Der Song ist auf meinem mp3-Player“, sagt er dann vielsagend.

Und ja, Adam erinnert sich. Das Lied war auf dem Album, das Leo für sie am See angemacht hat. Als Adam ein bisschen entspannen konnte, während Leo an seinem Stück Holz geschnitzt hat. Nachdem sie das erste mal zusammen geraucht haben. Es fühlt sich an, als wäre es schon eine Ewigkeit her, aber es war so ziemlich genau vor einer Woche.

„Stimmt“, sagt Adam, um irgendwas Unverfängliches zu sagen. „Scheint ja ein Hit zu sein.“

„Ja“, sagt Leo, und sein Blick verrät, dass er auch gerade an jenen Tag gedacht hat.

Leo zeigt immer wieder aus dem Fenster, um Adam und seinen Eltern dieses oder jenes zu zeigen und ein paar Fakten über die Gegend zu erzählen. Als sie ein Stück an der Küste entlangfahren, lehnt Leo sich weit über den Mittelsitz zu Adam hinüber, um irgendeine besondere Badestelle zwischen den Klippen zu zeigen. Adam kann seinen Atem spüren, und auch die Hand, die sich heimlich auf seine legt, verdeckt vom Fahrersitz. Leo hält sich an seinem Oberschenkel fest, während sie aus dem Fenster schauen, und es sind ein paar wunderschöne Sekunden.

„Leo, kannst du dich bitte wieder hinsetzen?“, drängt Adams Vater dann; netter, als Adam es ihm jemals zugetraut hätte. „Das ist mir zu gefährlich mit den Kurven.“

Adam verkneift sich einen Kommentar über die Serpentinen in der Schweiz, die sein Vater mit Leichtigkeit gefahren ist. Er hält Leos kleinen Finger für einen Moment fest, während Leo sich entschuldigt, dann lässt er los. Als Leo sich wieder richtig hinsetzt, umspielt aber ein kleines Grinsen seine Lippen. Darauf kann Adam nur mit einem wohlwollenden Augenrollen antworten.

 

Sie parken irgendwo in der Nähe des Fährhafens und besichtigen eine alte Festung. Von dort ist die Aussicht über das Wasser herrlich, und Adam könnte nicht glücklicher sein, diesen Ausflug zusammen mit Leo zu bestreiten. Wenn Leo an irgendeiner Infotafel stehenbleibt und sie ihm mit einem verschmitzten Lächeln auf italienisch vorliest, nur um Adams Reaktion zu testen, geht ihm das Herz auf.

„Du musst aufhören damit“, flüstert er ihm zu, als sie später durch einen Park gehen und Leo ihm Informationen zu einer Statue vorliest.

„Oder was?“, flüstert Leo zurück. Angestrengt schaut Adam die Statue an, um sich nicht in Leos Blick zu verlieren.

„Oder ich muss Maßnahmen ergreifen“, sagt er.

Leo kichert. „Oh nein, da hab ich aber Angst.“ Er stößt seine Schulter gegen Adams und verbleibt da und Adam widersteht tapfer dem Drang, Leos Hand zu nehmen.

Warum muss nur immer alles so schwer sein?

Warum kann er nicht einfach Leos Hand nehmen und mit ihm durch den Park gehen und sich mit ihm auf eine Bank setzen, wie das Pärchen dahinten und es wäre allen egal?

Warum kann er nicht mit Leo auf der Rückbank des Autos kuscheln, ohne Angst vor der Reaktion seiner Eltern zu haben?

Warum gibt es nur zwei oder drei Orte auf der Welt, wo er sich sicher mit Leo fühlt und sich seinem Willen hingeben kann?

„Alles okay?“, fragt Leo und schiebt ihn sanft zurück auf die Mitte des Weges, damit sie weitergehen können und seine Eltern nicht im Park verlieren. Auch, wenn Adam das eigentlich gerne tun würde.

Adam schnaubt genervt. „Ich will so viel und darf einfach nichts.“ Niedergeschlagen schaut er auf seine Schuhe beim Gehen.

Leo seufzt neben ihm, und sein kleiner Finger schlingt sich für zwei Sekunden um Adams. Ein kleines, unauffälliges Zeichen der Unterstützung, und es bedeutet Adam trotzdem die Welt.

 

Sie besichtigen noch eine Kirche, schlendern über das schwarz-weiße Schachbrett der Terrazza Mascagni, schauen sich im Yachthafen die Boote an und landen irgendwann in einem Fischrestaurant. Zwischen Vorspeise und Hauptgang geht Leo die Toilette aufsuchen und Adam folgt ihm mit der Ausrede, dass die Toiletten immer so schlecht ausgeschildert seien. Auf einer Seite stimmt es sogar, denn Leo muss einen Kellner fragen, als sie keine Schilder sehen, aber andererseits kann Adam auch keine Sekunde länger mit seinen Eltern am Tisch sitzen, während Leo permanent unterm Tisch mit seiner Schuhspitze gegen Adams drückt.

Kaum sind sie alleine im Flur, der zu den Toiletten führt, greift Adam sich Leos Hände und hält sie hinter ihm zusammen.

„Ich glaub, ich muss Maßnahmen ergreifen“, sagt er leise in Leos Ohr. Der windet sich etwas in Adams Griff, aber nicht genug.

„Verhaftest du mich jetzt oder was“, grinst Leo.

„Vielleicht“, sagt Adam und schiebt Leo vor sich her bis vor die Tür zur Herrentoilette. Hier fällt ihnen auf, dass es offenbar nur einen Raum dahinter gibt, denn es ist besetzt.

„Nicht verhaftet?“, fragt Leo mit dem unschuldigsten Blick der Welt.

„Die Maßnahme ist, dass ich mich vordrängel’“, entscheidet Adam und lässt Leo los, als der Wasserhahn ertönt und wenig später ein älterer Mann aus der Tür tritt. Adam hört Leo noch lachen, als die Tür wieder hinter sich abschließt.

Als er dann aber selber die Toilette wieder verlässt, steht Leo immer noch alleine im Flur und hebt spielerisch die Hände.

„Ich hab nichts getan, Herr Polizist“, beteuert er.

„Na gut“, sagt Adam und tritt näher an ihn heran. Leo hat schon die Klinke in der Hand, aber er lässt sie sofort los, als Adam ihn mit einer ungeahnten Sicherheit gegen die Tür drückt.

„Einmal lasse ich es durchgehen, okay?“

„Okay“, haucht Leo und sein Blick liegt schon auf Adams Lippen.

Bevor Adam aber die letzten Zentimeter überbrücken kann, öffnet sich die Tür zum Hauptraum des Restaurants und Adam wirbelt herum. Ein kleines Mädchen schaut sie mit großen Augen an und debattiert offensichtlich innerlich, ob sie lieber schnell umkehren sollte. Seufzend lässt Adam von Leo ab und lächelt dem Mädchen aufmunternd zu.

„Kein Füßeln mehr“, raunt er Leo dann zu und lässt ihn und das Kind im Flur stehen.

 

Sie füßeln nicht mehr, aber auf dem Weg zurück zum Auto stößt Leo ihn permanent beim Gehen an. Adam macht mit, aber mehr halbherzig.

„Ihr habt aber immer noch viel Energie“, bemerkt seine Mutter. „Nicht, dass ihr mir gleich im Auto die Sitzbank auseinandernehmt.“

Dass er nichts lieber täte, als mit Leo eine Sitzbank auseinanderzunehmen, schluckt Adam tapfer herunter.

„Wir können ein Wettrennen zum Auto machen“, sagt Leo. „Danach bin ich auf jeden Fall fertig.“

Er sieht Adam herausfordernd an. Dass sie beide gleich schnell sind, haben sie ja bereits festgestellt, aber Adams Kampfgeist ist trotzdem geweckt.

„Roland, gib’ ihnen doch noch den Autoschlüssel mit. Dann können sie schon mal lüften. Das Auto stand den ganzen Tag in der Sonne.“

Ohne Widerworte holt sein Vater den Schlüssel aus seiner Tasche, aber nicht, ohne Adam mit einem Blick anzusehen, der ihm verspricht: es werden unschöne Dinge passieren, sollte diesem Schlüssel irgendwas zustoßen. Tapfer nimmt Adam ihn an sich, und dann ruft Leo auch schon „Los!“ und prescht nach vorne. Adam ist sich nicht mal sicher, ob er genau weiß, wo das Auto steht, aber er rennt Leo einfach hinterher. Einholen kann er ihn immer noch kurz vorm Ziel.

Sie laufen bestimmt 200 Meter auf der erhöhten Straße weiter, links von ihnen der Hafen, bevor Leo auf einmal abbiegt und eine Treppe herunterläuft, die zum Wasser hinunter führt. Adam muss sich selbst abfangen, damit er nicht zu weit läuft, und nimmt zwei Stufen auf einmal. Leo sprintet aufs Hafenbecken zu, als würde sein Leben davon abhängen. Erinnerungen an den Tag, als Leo im Feld vor ihm weggelaufen ist, steigen in Adam hoch und er muss lächeln. Heute könnte Leo ihn überwältigen und Adam würde es zulassen – einfach nur, damit er ihm nah sein kann. Auf dem Parkplatz stehen nicht mehr viele Autos, und sie hatten einen Platz fast direkt am Wasser gefunden. Jetzt ist der einzige Wagen, der sie vormittags noch vom Wasser getrennt hat, auch weg, und Adam legt einen Zahn zu, um Leo einzuholen.

In der gleichen Sekunde schlagen sowohl Adams als auch Leos Hand nebeneinander auf die Heckscheibe des Mercedes. Und sie nehmen sie sogleich wieder weg, denn das Auto ist ekelhaft warm.

„Okay, lüften“, sagt Adam, schließt auf und öffnet dann alle Türen. Leo verschnauft auf dem Boden auf dem freien Parkplatz auf der Wasserseite.

„Das war eine scheiß Idee“, jammert er und Adam kramt aus dem Fußraum der Rückbank eine Flasche Wasser hervor.

„Das war deine Idee“, erinnert Adam ihn und setzt sich neben Leo auf den warmen Asphalt. Seine Eltern und die Straße sieht er von hier nicht; eigentlich sieht man sowieso nur ein paar Boote in diesem kleinen Ausläufer des Hafens, und sonst nur das Meer unter der tief stehenden Sonne.

Leo trinkt mit gierigen Schlucken und seufzt tief, als er die Flasche weiterreicht.

„Geht wieder?“, fragt Adam amüsiert und trinkt auch einen Schluck. Ihm haben die paar hundert Meter nicht so zu schaffen gemacht – natürlich nicht.

Was ihm aber zu schaffen macht, ist der Blick, mit dem Leo ihn anschaut. Er nickt zwar, aber er ist trotzdem noch durstig – nur nicht nach Wasser. Adams Gesicht wird heiß. Aber bevor er es sich anders überlegen kann, hat er sich schon zu Leo gedreht und ihm eine Hand in den Nacken gelegt. Einen Moment lang sehen sie sich noch an, dann treffen Adams Lippen endlich auf Leos, mehr oder weniger 24 Stunden nach ihrem zweiten ersten Kuss. Adam hält sich an Leos Knie fest, und Leo hält mit beiden Händen liebevoll Adams Gesicht, während er ihn küsst. Seine Daumen streichen über Adams heiße Wangen, und dieser ist so erfüllt von Liebe und Verlangen, dass er platzen könnte. Aber auch das lässt ihn nicht vergessen, dass sie gerade nicht in der sicheren Umgebung von Leos Schlafzimmer sind, sondern halbwegs öffentlich. Adams aufsteigende Panik geht auch an Leo nicht vorüber: er löst sich mit besorgtem Blick von ihm und nickt dann im stummen Verständnis.

Schweren Herzens steht Adam auf und sieht auch schon seine Eltern über den Parkplatz auf sie zu kommen. Es ist eigentlich unmöglich, dass sie irgendwas gesehen haben könnten, aber Adam entspannt sich trotzdem erst ein bisschen, als sie wieder alle vier im Auto sitzen und alles normal scheint. Leo kann Adams Eltern sogar davon überzeugen, dass Adam danach noch mit zu ihm kommt, um einen Film zu schauen. Vielleicht sogar bis elf diesmal? Wenn Adam schon gepackt hat? Ja, Adam hat schon gepackt – heute morgen direkt. Sie schlagen erfolgreich elf raus. Adam würde hundertmal lieber Leos Hand halten als ihm nur ein High Five zu geben, aber er nimmt, was er kriegt, während seine Eltern dabei sind.

 

Je näher sie der Fattoria Girasole kommen, desto aufgeregter wird Adam. Für abendliches Training ist es zu dunkel, da der Tennisplatz nicht zufällig mit Flutlichtern ausgestattet ist, und Leos Argument, dass Adam heute ja schon ganz schön viel gelaufen ist, zieht auf wundersame Weise auch bei seinem Vater. Adam ist das nur recht. Seine Zeit allein mit Leo ist sowieso schon knapp bemessen, und er möchte alles aus ihrem letzten Abend zusammen rausholen.

Fast ein bisschen zu schnell springen er und Leo aus dem Auto, sobald der Motor aus ist, und rennen fast in Leos Mutter rein, die in dem Moment aus der Haustür kommt.

„Adam bleibt bis elf!“, ruft Leo als Begrüßung und zieht Adam am Handgelenk ins Haus. „Wir— gucken einen Film!“ Barbara sieht nicht überzeugt von dieser kleinen Wortpause aus, aber sie hält die Jungs auch nicht auf, als sie die Treppe hinauf sprinten. Adam muss jetzt einfach annehmen, dass seine Eltern das gleich Leos Mutter gegenüber bestätigen.

Zwei Stunden sind kaum lang genug für einen Film, Leo hat nicht einmal einen Fernseher in seinem Zimmer, aber diese Löcher in der Ausrede ignoriert Adam gerne. Viel wichtiger ist, dass Leo ihn in sein dunkles Zimmer schiebt und abschließt. Ein fahler Lichtstrahl der Lampen im Hof fällt auf Leos Gesicht, als Adam ihn zu sich dreht und sanft mit dem Rücken gegen die Tür drückt.

„Warte“, flüstert Leo und kramt ein Taschentuch aus seiner Hosentasche. Er spuckt sein Airwaves-Kaugummi, das sie auf der Rückfahrt beide noch eingeworfen hatten, hinein und hält es Adam hin. Adam schnaubt amüsiert, aber er spuckt sein Kaugummi ebenfalls ins Tuch.
„Vielen Dank“, grinst Leo, knüllt das Taschentuch zusammen und wirft es in die grobe Richtung seines Papierkorbs. Seine Augen glitzern jetzt voller Aufregung, er zieht Adam näher zu sich heran und greift sanft dessen Kinn. Sein Daumen ist nur Millimeter entfernt von Adams Unterlippe, und Leo bringt seinen Mund leicht zum Öffnen. Genau wie auf der Party, nur ohne Zigarette. Statt Rauch einzuatmen, treffen Adams Lippen auf Leos. Endlich. Endlich kann er etwas abschalten und sich hingeben. Liebevoll streicht er Leo das Haar aus dem Gesicht und lässt seine Fingerspitzen hindurch gleiten. Leos Hände treffen sich auf Adams Rücken und fahren zunächst beruhigend darüber, aber dann schlingt Leo die Arme enger um ihn, sodass Adam nichts übrig bleibt, als sich gegen ihn zu pressen. Leo atmet zufrieden aus und dann überrascht ein, als Adams Zunge erst seine Unterlippe anstupst und dann in Leos Mund vordringt. Adam fängt die Reste seines Airwaves-Atems ein, während seine Hände zu Leos Gesicht wandern. Seine Daumen streichen über Leos Wangen, seine Finger im Nacken über die feinen Haare. Er hat keine Ahnung, was er überhaupt tut, aber es scheint alles irgendwie genau das Richtige für Leo zu sein. Manchmal seufzt er glücklich zwischendurch, manchmal ziehen sich seine Lippen leicht zurück, und Adam spürt, dass er lächelt. Sie vertiefen den Kuss weiter, Adam an Leo gepresst, Leo an die Tür gepresst, bis die Luft knapp wird. Adam hat noch nicht gelernt, gleichzeitig ans Atmen zu denken. Aber diesmal ist es nicht so schlimm. Ihm bleibt die Luft weg, aber auf gute Art und Weise. Nicht wegen aufkommender Panik. Er gibt Leo noch einen sanften Kuss und bringt ein paar Zentimeter Abstand zwischen sie. Atmet tief ein und langsam wieder aus. Lehnt die Stirn vorsichtig gegen Leos, der es ihm nachmacht.

„Das wollte ich schon den ganzen Tag machen“, flüstert Leo in die Stille hinein.

„Hast du doch“, erinnert Adam ihn.

„Ja, aber … nicht so sorgenfrei.“

Adam muss lächeln. „Ich auch“, verrät er, und hebt seinen Kopf, um Leo in die Augen zu schauen. Sie sind sich so nah, dass er sich nicht mal auf beide gleichzeitig fokussieren kann. Liebevoll fährt er durch Leos Haare. Leo schmiegt seinen Kopf in Adams Hand, als dessen Daumen über seinen Wangenknochen fährt.

„Ich will noch nicht gehen“, sagt Adam, und alleine der Gedanke daran, das alles hier morgen früh zurückzulassen, lässt einen ekligen Klumpen in seinem Hals hochsteigen. Tapfer schluckt er ihn wieder herunter.

„Ich will auch nicht, dass du gehst“, versichert Leo ihm. Er schlingt die Arme um Adams Hals und lässt Adam ihn an sich drücken, so fest er kann. Und das ist sehr fest. Aber Leo scheint es nichts auszumachen. Seine Hand streicht beruhigend durch Adams kurzes Haar und Adam vergräbt seine Nase in Leos T-Shirt. Leo beginnt langsam, sein Gewicht vom einen auf den anderen Fuß zu verlagern. Bevor Adam es richtig registriert, wiegt Leo sie sanft hin und her, und sie tanzen langsam und eng umschlungen zum Grillenzirpen vorm Fenster. Jetzt muss Adam doch ein bisschen lachen. Er hebt seinen Kopf und sieht in Leos Blick nichts als Zuneigung.

Voreilige Worte wollen aus ihm heraus, aber er kämpft schnell genug gegen sie an, um nichts absolut Dummes zu sagen. Leo schneidet ihm sowieso jegliches Wort ab, indem er ihn wieder küsst. Aber nur einmal, denn sein Blick fällt offenbar auf etwas, was sich hinter Adam befindet.

„Ich hab noch was für dich“, sagt er dann, aber bevor Adam sich umdrehen kann, um zu sehen, was es ist, schneidet Leo ihm den Weg ab.

„Du musst die Augen zumachen“, entscheidet er, aber drückt Adam sanft, aber bestimmt auf die Kante seines Bettes. Dann knipst er seine Schreibtischlampe an. „Und Hand auf.“

Adam schließt verwirrt die Augen, öffnet eine Hand und hält sie Leo hin. Etwas kleines, kühles berührt seine Handfläche.

„Okay, Augen auf“, befiehlt Leo.

In Adams Hand liegt eine perfekte kleine Zitrone, gerade so lang wie sein kleiner Finger, glatt, leuchtend gelb, und glänzend im warmen Licht der kleinen Schreibtischlampe. Adam tippt mit dem Fingernagel dagegen. Sie ist aus Holz. Beim näheren Hinsehen ist sie natürlich nicht perfekt: die Farbe ist ein bisschen ungleichmäßig aufgetragen und sammelt sich am unteren Ende, sie hat ein paar Beulen und riecht verdächtig nach Nagellack, aber sie ist für ihn, also ist sie perfekt.

„Hast—“, Adam schluckt, „hast du die gemacht?“

Leo nickt. Er steht etwas unschlüssig vor seinem Schreibtisch herum.

„Für mich??“

Leo nickt wieder. „Irgendwie … hat sich das so ergeben.“

Wieder kämpft Adam gegen ein paar dumme, voreilige Worte an. Was sich stattdessen herausschleicht, sind ein paar Tränen, die Adam nicht schnell genug in den Griff bekommt. Er rollt die Zitrone über seine Handfläche und hofft, dass Leo das alles nicht bemerkt, aber Leo ist Leo, natürlich bemerkt er es.

„Hey“, sagt er und setzt sich schnell neben Adam. „Weinst du etwa?“

Adam schüttelt den Kopf, während sichtbar weitere Tränen über seine Wangen rollen.

„Oh nein“, sagt Leo und wischt sie liebevoll weg. „Bitte sag, dass das Freudentränen sind.“

Adam lacht kurz auf, aber er nickt auch.

„Okay, das ist gut.“ Er schnappt sich eine Packung Taschentücher vom Nachttisch und hält Adam eins hin.

Gott, das ist so peinlich. Adam putzt sich die Nase und trocknet seine Augen, dann atmet er tief durch. Beim Anblick der kleinen Zitrone in seiner Hand fängt er fast schon wieder an, zu weinen.

„Du musst sie nicht behalten“, sagt Leo. „Ich weiß, sie ist nicht so hübsch, aber ich dachte, sie passt zu dir …“ Er versucht, danach zu greifen, aber Adam schließt schützend seine Hand um sie und hält sie weit weg von Leo.

„Natürlich behalte ich sie!“

„Okay …“

„Sie ist perfekt“, flüstert Adam und schaut sie sich noch einmal an. Perfekt für ihn zumindest.

Er seufzt. „Es hat mir nur noch nie jemand was einfach so geschenkt.“

„Echt nicht?“

Adam sieht zu Leo rüber, der fast empört aussieht. Er schüttelt den Kopf.

„Nicht ohne Anlass.“

„Wenn du einen Anlass brauchst, dann ist es halt zum Abschied“, überlegt Leo. „Aber eigentlich ist das ja gar kein richtiger Abschied. Deshalb eigentlich auch kein Anlass.“

„Warum fühlt es sich dann wie ein Abschied an?“

Die Worte sind raus, bevor Adam sie zurückhalten kann. Es ist unfair, aber Adam kann nicht umhin, dem anhaltenden Glück zu misstrauen. Warum sollte ihm jetzt auf einmal etwas Gutes passieren, einfach so, ohne Grund?

Leos Hand umschließt Adams freie. „Tut es das wirklich?“, fragt er. „Glaubst du, dass ich auf magische Weise in den nächsten drei Wochen irgendeinen anderen Typen kennenlerne und mit dem genau das Gleiche mache? Glaub mir, ich hab hier in den letzten 16 Jahren niemanden gefunden, der auch nur annähernd mit dir mithalten kann. Okay?“

Adam zuckt mit den Schultern. „Ja, okay.“

Leo dreht Adams Gesicht zu sich und zwingt ihn somit, sein Gegenüber anzusehen.

„Ich weiß nicht, wie ich dir das klarmachen soll, aber du kannst davon ausgehen, dass es mir jeden Tag, den du nicht hier bist, absolut miserabel gehen wird. Weil du nicht bei mir bist. Okay? Und weil ich nichts zu tun haben werde, kann ich dir jede Woche eine Postkarte schicken. Und wenn ich könnte, würde ich jeden Abend 3 Stunden mit dir telefonieren, aber … ins Ausland ist das nicht so einfach. Und ein Handy hast du ja auch nicht.“ Leo unterbricht seinen Monolog für einen Geistesblitz, zumindest steht das in seinem Gesicht geschrieben. „Hast du … eine E-Mail-Adresse?“

Adam schüttelt den Kopf. „Ich hab einen Computer in meinem Zimmer, aber der ist nur für Schulzwecke. Der hat zwar Internet, aber nur, wenn meine Eltern das extra dafür anstellen. Und bestimmt sind sowieso fast alle Seiten gesperrt.“

Leo überlegt eine Weile, während er mit Adams Hand spielt, und hat dann noch eine Idee.

„Was, wenn wir dir hier eine E-Mail einrichten, und du gehst in die Bibliothek oder so, um darauf zuzugreifen? Vielleicht brauchst du nicht mal einen Bibliotheksausweis.“

„Hab ich sowieso. Meine Ferien sind normalerweise sehr langweilig.“

„Also bist du öfter da?“

„Eventuell mehrmals die Woche. Aber mir ist es nie in den Sinn gekommen, die Computer da zu benutzen. Ich hab ja einen.“

Leo strahlt jetzt. „Na also! Ich schreibe dir jeden Tag eine E-Mail. Versprochen. Bis du genervt bist, und dann schreibe ich zwei!“ Und er meint es ernst. Er hält Adams Hand und meint es ernst.

„Ich könnte niemals genervt sein“, verspricht Adam. Und besiegelt es mit einem Kuss.

 

Vielleicht fällt ihnen das mit der E-Mail auch erst eine halbe Stunde später wieder ein, als eine Tür auf dem Flur ein bisschen zu laut zuschlägt und sie auseinander schrecken. Vielleicht liegen sie seit geraumer Zeit wieder auf Leos Bett, genauso wie gestern Abend, eng genug, dass kein Blatt Papier mehr zwischen sie passt. Vielleicht hat Leo ein Bein um Adam geschlungen und vielleicht haben sie schon sehr lange nichts mehr gesagt. Vielleicht denkt Adam seit zehn Minuten daran, wie einfach es wäre, Leo auf den Rücken zu drehen und wie Leo unter ihm aussehen würde und ob er es mag, an seinem Hals—

Zumindest schlägt die Tür zu und Adam kriegt einen halben Herzinfarkt und Leo fängt an, wie bescheuert zu kichern und beruhigt sich erst wieder, als Adam sich aufsetzt.

„Du hast da was verloren“, sagt Leo und drückt ihm die Zitrone in die Hand.

„Danke“, sagt er und streicht andächtig darüber. „Hast du die eigentlich mit Nagellack angemalt?“

„Ja, weil ich zufällig Nagellack in der Farbe rumfliegen hab“, sagt Leo, aber vor Sarkasmus nur so triefend. „Nein, ich hab aber Caros Klarlack geklaut für die oberste Schicht. Und lüfte seit 24 Stunden durchgehend.“

Adam lächelt und steckt die Zitrone vorsichtig in seine Hosentasche.

„Also, E-Mail?“

 

Um Adam eine E-Mailadresse einzurichten, müssen sie erstmal ins Gästezimmer. Gottseidank steht der Computer nicht im Wohnzimmer, also haben sie zumindest ein bisschen ihre Ruhe. Hier haben Leo und Caro schon so manchen langweiligen Wintertag mit Sims 2 spielen verbracht, und jetzt tippt Leo www.web.de in die Browserleiste ein. Ihnen schlagen 500 Pop-Ups entgegen, aber Leo ignoriert sie und klickt auf der Seite herum, bis ein Fenster erscheint, wo man einen neuen Account erstellen kann.

„So“, sagt Leo und dreht sich zu Adam. „Was soll deine Adresse sein?“

Adam zuckt mit den Schultern. „Äh, mein Name?“

Geflissentlich tippt adamschuerk in die Leiste, hinter der ‚@web.de’ prangt. Er sagt nichts dazu, aber irgendwie hat Adam das Gefühl, dass das nicht die richtige Antwort war.

„Warte, sollte ich was anderes nehmen?“

Jetzt ist Leo an der Reihe, mit den Schultern zu zucken. „Nö, kannst du schon machen.“

„Aber …?“

Leos Blick bleibt auf dem blinkenden Cursor haften. „Nichts aber. Du kannst auch kreativer werden. Und falls du aus Versehen vergisst, dich irgendwo auszuloggen, kann unsere intime Brieffreundschaft auch nicht auf dich zurückverfolgt werden!“

Er sagt es mit einem Lachen, aber eigentlich ist es ein aufrichtig gemeinter Rat, das merkt Adam sofort. Und ja, es ergibt Sinn.

„Okay, also nicht voller Name. Was nimmt man denn sonst? Wie ist denn deine?“

Leo schweigt betreten. „Ich hab die schon bisschen länger“, gibt er zu.

„Keine Ausreden. Ich sehe es ja eh bald“, sagt Adam. „Also?“

Leo seufzt. „leonedilegno90.“

Adam hebt eine Augenbraue. Er kann kein Italienisch, also weiß er nicht, was daran peinlich sein soll. „Was heißt das?“

Leo seufzt. „Einfach mein Name auf Italienisch. Mehr oder weniger. Aber jetzt du!“, versucht er, abzulenken. Adam nimmt sich vor, das irgendwann mal nachzuschauen.

„Naja, das kann ich ja schlecht auch machen.“ Sein Blick fällt allerdings auf die Zitrone, die er momentan versucht, auf ihrer Spitze auf dem Tisch kreiseln zu lassen (mit nicht so guten Ergebnissen).

„Irgendwas mit Zitrone?“

 

Nach bestimmt 15 Minuten brainstormen blinkt der Cursor hinter limona_dam und Leo lacht sich kaputt, Adam findet es ein bisschen bescheuert, aber wenigstens kann man so nicht sofort seinen Namen erkennen.

„Ja, mach einfach“, sagt Limonaden-Adam und ist kurz vorm Schreien, als als nächstes sein Passwort gefragt wird.

„Nimm einfach was, was du dir gut merken kannst“, schlägt Leo vor. „Und nicht ‚passwort’, das verbiete ich.“

Adam lacht. „Hatte ich nicht vor.“

Leo schiebt ihm die Tastatur zu und schaut demonstrativ weg, als Adam mehrere Sekunden auf die Tasten starrt, und letztendlich ein neunstelliges Passwort eintippt.

„Da fehlt noch eine Zahl“, sagt Leo mit Blick auf den Bildschirm und die Regeln für ein sicheres Passwort, die dort aufgezeigt sind.

Adam stöhnt auf und tippt noch faul eine 2006 hinter sein Passwort. Dieses Jahr wird er ja wohl so schnell nicht vergessen.

Leo scheint zufrieden und drückt auf einen Button.

„So. Erstellt.“

Adam ist angehalten, sein Passwort erneut einzugeben und tippt geflissentlich alles ein, was er sich eben ausgedacht hat. Er hat sogar schon eine erste E-Mail, aber die ist nur von web.de selber, um ihn willkommen zu heißen.

„Du kannst mir ja eine Test-Mail schreiben“, sagt Leo und führt Adams Hand mitsamt Maus zum Button „Neue E-Mail“. Zusammen klicken sie darauf. Dann gibt Adam Leos E-Mailadresse falsch ein. Woher soll er auch wissen, wie legno geschrieben wird?

„Nicht hingucken!“, befielt er Leo, als er dann im Textfenster ist, und Leo hält sich demonstrativ die Augen zu.

Adam denkt nicht lange nach und schreibt herunter, was ihm gerade in den Sinn kommt. Irgendwann piepst Leos Casio.

„In zehn Minuten musst du los“, verkündet er und Adams Finger verharren jäh über der Tastatur.

„Du hast einen Wecker gestellt?!“

Leo schaut ihn durch seine Finger hindurch an. „Natürlich. Ich will dich doch nicht an deinem letzten Abend in Schwierigkeiten bringen.“

Adams Herz macht einen olympischen Hochsprung in seiner Brust und holt bestimmt Gold, und er kämpft schon wieder gegen ein unüberlegtes Liebesgeständnis an, was er vielleicht gar nicht so meint. Stattdessen küsst er Leos Handrücken über seinem Gesicht und schreibt den Satz zu Ende, fügt noch eine ganze Zeile <3s hinzu und schickt die E-Mail ab.

„Okay, dann mal gucken, ob sie angekommen ist“, sagt Leo und will Adam die Maus abnehmen, aber Adam hält sie fest.

„Kannst du das machen, wenn ich weg bin?“ Adam klickt auf das kleine ‚Ausloggen’ in der Ecke des Fensters, und ihm springen wieder 50 Pop-Ups und Anzeigen entgegen. „Ich will nicht, dass du sie liest, wenn ich dabei bin.“

Leos Gesicht wandelt sich von einem verständnislosen Stirnrunzeln zu einem hoffnungsvollen Lächeln.

„Natürlich“, haucht er.

„Kannst mir ja morgen sagen, was du davon hältst.“

„Okay.“

Leo ist sichtlich neugierig auf den Inhalt von Adams erster E-Mail, aber er hält sich tapfer zurück, steht auf und hält Adam die Hand hin.

„Noch fünf Minuten nach oben?“

 

Adam lässt sich nicht zweimal bitten. Sie jagen sich gegenseitig die Treppe hoch und weil er schwach ist, küsst Adam Leo, bevor die Tür richtig geschlossen ist. Aber es ist egal, weil diesmal Leo ihn gegen die Tür drückt, von Kopf bis Fuß, und ihn küsst, als wäre Adam eine Oase und Leo seit zwei Wochen in der Wüste unterwegs. Gut, dass Adam schon vor Stunden seinen Hoodie abgelegt hat, sonst wäre ihm jetzt ziemlich heiß. Leos Hände schleichen sich um seine Taille und er zieht Adam noch ein unmögliches Stück weiter an sich heran. Die Dringlichkeit in seinem Verhalten ist spürbar: jeder Kuss verzweifelt, jedes Streichen seiner Hand zitternd, jeder Griff um Adams Körperteile besitzergreifend. Es dauert nicht lange, bis Leo stattdessen sein Gesicht in Adams Schulterbeuge vergräbt. Ein feuchter Kuss auf Adams Hals verwandelt sich in nasse Flecken auf Adams schwarzem T-Shirt, und Adam hält Leo so fest er kann, so lange er kann. Ihm ist seit geraumer Zeit zum Weinen zumute, und einen Grund dazu hatte er ja heute Abend auch schon. Jetzt aber sind es definitiv keine Freudentränen, die Leo vergießt. Adam schlingt einen Arm fest um ihn und streicht Leo mit der anderen Hand beruhigend durch die Haare.

„Ich will auch nicht gehen“, flüstert er in den Raum hinein, und merkt, sie vor knapp zwei Stunden ganz genauso hier standen und er ganz genau das selbe gesagt hat. Nur dass Leo ihn gehalten hat und nicht andersrum. Dass er nicht will, dass Adam geht, muss Leo nicht mehr aussprechen.

Leo seufzt zitternd, aber allmählich kommen keine Tränen mehr hinterher. Als er langsam seinen Kopf hebt, legt Adam zärtlich seine Hände an Leos Wangen und wischt die letzten Tränen weg, die noch nicht getrocknet sind.

„Drei Wochen, okay? Wir haben noch genug schreckliche Schulzeit zusammen, zusammen durchzustehen, aber es sind noch drei Wochen Ferien, in denen du noch Spaß haben kannst, bevor die Oberstufe anfängt.“

Leo nickt traurig. „Es wird aber so langweilig sein ohne dich.“

„Du kannst mir jeden Abend eine E-Mail schreiben, wie schlimm dein Tag ohne mich war, okay?“

„Okay“, flüstert Leo. Er sieht so unglücklich aus, dass Adam fast auch losheult, aber er reißt sich zusammen.

„Und Postkarten. Schreib mir mal was Unverfängliches.“

Das bringt Leo wenigstens ein bisschen zum Lachen. Leider piepst seine Casio in dem Moment schon wieder. Adam kann 22:55 auf dem Display lesen und sie seufzen tief unisono.

Leo schaltet das Licht an, damit sie nicht auf die Idee kommen, noch zu überziehen.

„Hast du alles?“

Adam holt demonstrativ die Zitrone aus seiner Hosentasche. Das einzige, was er braucht.

„Achso, und mein Hoodie.“

Sie greifen gleichzeitig nach dem Kapuzenpullover, der auf dem Bett liegt.

„Kann ich … den behalten?“

Adams Herz nimmt schon wieder Anlauf für einen Höhenflug, der gold wert ist, aber Leo fügt hinzu: „Nur heute Nacht. Wenn du ihn hier ‚vergisst’, dann kannst du morgen nochmal kurz mit hochkommen.“ Leo malt Anführungszeichen in die Luft und lässt dabei den Hoodie los. Adam wirft ihn zurück aufs Bett.

„Du hast so gute Ideen“, raunt Adam und zieht Leo noch ein letztes Mal an diesem Abend zu sich heran und küsst ihn sanft. Einmal. Dann geht er schweren Herzens auf Abstand. Leo seufzt noch einmal tief, dann tritt er den Weg nach unten an.

Dort treffen sie auf Leos Mutter, die einen bedeutenden Blick auf ihre Armbanduhr wirft.

„Deutsche Pünktlichkeit“, murmelt sie beeindruckt. Zu Adam sagt sie: „Wann fahrt ihr morgen wieder ab?“

„Ähm, so um halb zehn glaube ich.“

Sie nickt. „Wir sehen uns dann.“

Adam nickt auch. Leo ist auf der letzten Treppenstufe stehengeblieben, als würde er sich nicht in den Flur trauen. Er sieht vollends unzufrieden aus, also umarmt Adam ihn noch einmal. Leo ist jetzt größer als er und legt sein Kinn für einen kurzen Moment auf Adams Kopf ab. Und Adam kämpft so sehr mit dem Bedürfnis, ihn einfach nicht mehr loszulassen. Aber er muss.

Leos Uhr piepst ein letztes Mal, und Adam weiß, dass ihm unter einer Minute bleibt, den Weg vom Gutshaus zu seiner Ferienwohnung zurückzulegen.

„Okay, bis morgen“, sagt er schnell, löst sich von Leo und schlüpft in seine Schuhe, bevor er es sich anders überlegen kann. Und genauso schnell ist er auch aus der Tür.

Um Punkt 23 Uhr tritt er in die Küche, wo seine Eltern sitzen, sagt kurz hallo, gute Nacht, und entschwindet ins Bett, die Zitrone in der Hosentasche, seine Hand fest um sie geschlossen.

Notes:

The End…? Ach Quatsch. Zum Jahres- und allgemeinen Abschluss gibt es natürlich noch einen Epilog. Stay tuned! 👀

Chapter 12: 12. Partenza

Notes:

Der versprochene Epilog!
An dieser Stelle fetten Dank an alle, die dieses Baby gelesen, gekudot und kommentiert haben oder sonst irgendwie Feedback gegeben. Ihr seid die MVPs 🥰

Außerdem danke natürlich an @apaethy fürs beta lesen, italienisch korrigieren, hot takes haben, kulturellen Kontext geben und allgemeine Weiterbildung. Mille grazie ❤️✨

Besonderen Dank auch an den Rehe-Discord für die unzähligen 'SLAY'-Reaktionen auf jeden Snippet am WIP Wednesday. Motivation ist alles!! 🚀

An dieser Stelle außerdem nochmal ein Mini Plug für die Playlist, die diese Fanfic begleitet, und die ich in den letzten 2.5 Jahren aufgrund ihrer Länge von nur knackigen 2 Stunden so oft gehört hab, bis sie mir zu den Ohren wieder rauskam:
🍋 Lemonsoda e Girasole 🍋

Chapter Text

12. Partenza | LEO

 

Sobald Adam aus der Tür ist, kehrt Leo ins Gästezimmer zum Computer zurück. Er weiß, dass seine Mutter ihm wissend hinterher schaut, aber Bock auf einen Kommentar, so lieb er auch gemeint ist, hat er jetzt gerade nicht.

Er atmet tief durch und loggt sich ein. Neben dem E-Mail Icon befindet sich eine kleine 3. Zwei Spam-Mails und eine von [email protected] mit dem Betreff ‚Post für dich’.

Obwohl es nur eine kurze Nachricht sein kann, fängt Leos Herz wie wild an zu klopfen, als er auf die E-Mail klickt.

 

Ciao Leo,

es fühlt sich komisch an, etwas an dich zu schreiben, während du neben mir
sitzt, aber du wolltest es ja so. Ich hatte noch nie eine Brieffreundschaft!
Du darfst dich jetzt als etwas ganz Besonderes fühlen (naja, bist du sowieso).
Wir haben nicht mehr viel Zeit miteinander, aber ich finde, wir machen gerade
das Beste draus. Jede Sekunde mit dir ist kostbar. Ich kann nicht glauben,
dass wir uns ab morgen nicht mehr sehen … Bitte versprich mir, dass du mir
jede noch so langweilige Sache, die in den nächsten drei Wochen passiert,
haarklein schilderst, OK?
Ich vermisse dich jetzt schon, dabei sitzt du genau neben mir.
Danke für alles, was du mir gezeigt hast und für jeden Moment, den ich mit dir
verbringen durfte. Ich kann es gar nicht erwarten, deine erste E-Mail zu lesen.

Bis bald,

Adam

<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3

 

Leo starrt eine geschlagene Minute auf die 25 Herzen, die Adam ihm hinterlassen hat.

Jede Sekunde mit ihm ist kostbar. Adam vermisst ihn jetzt schon. Er dankt Leo für jeden Moment, den er mit ihm verbringen durfte. Harmlos genug ohne Kontext, aber Leo weiß es besser. Weiß, was vor und nach dieser E-Mail passiert ist. Und sogar mittendrin, als Adam seinen Handrücken geküsst hat.

Adam ist noch nicht einmal abgereist, und Leos Herz schmerzt jetzt schon.

Er liest die E-Mail noch 5–7 Mal und entscheidet dann, sie morgen zu beantworten. Vorher wird Adam sowieso keine Bibliothek aufsuchen.

Sorgfältig loggt er sich wieder aus, legt den Computer schlafen und schleppt sich nach oben in sein Zimmer.

Ohne überhaupt das Licht anzumachen, krabbelt er ins Bett. Auf dem weißen Laken liegt Adams schwarzer Hoodie im Mondschein und starrt ihn an. Behutsam greift Leo danach und bevor er sich zurückhalten oder zu lange darüber nachdenken kann, vergräbt er das Gesicht darin. Natürlich riecht der Stoff nach Adam, und Leo atmet tief ein. Er lässt sich zurück aufs Kissen fallen, was im Übrigen auch noch ein bisschen nach Adam riecht, und kuschelt den Hoodie fest an sich. In einem letzten wachen Moment denkt er noch daran, einen Wecker zu stellen, um Adams Abfahrt nicht zu verpassen, und fällt dann in einen erstaunlich tiefen Schlaf.

 

Als der Wecker klingelt, steht Leo quasi senkrecht im Bett. Zusätzlich zur Geräuschkulisse belästigt ihn auch noch helles Morgenlicht, weil er vergessen hat, die Fensterläden zu schließen. Er seufzt tief und vergräbt das Gesicht wieder in Adams Hoodie. Geträumt hat er fast gar nicht. Allgemein hat er lange keinen Albtraum mehr gehabt. Interessant.

Leo reizt die fünf Minuten, die er sich selber bis zum Aufstehen gibt, bis zur letzten Sekunde aus und schleppt sich dann ins Bad. Er hat gestern Nacht so ziemlich alles vernachlässigt, also gönnt er sich jetzt erstmal eine gründliche Dusche, wäscht seine Haare, putzt seine Zähne, starrt sich so lange im Spiegel an, bis er alles hasst, was er sieht, und zieht sich dann an.

 

Er ist am Frühstückstisch, bevor Caro überhaupt aus ihrem Zimmer gekrochen kommt, und teilt sich schweigend mit seinem Vater die Zeitung. Immer wieder huscht sein Blick nach draußen zu den Autos, aber aus der Ferienwohnung der Schürks kommt nur Adams Mutter, um den Tisch vor der Tür leerzuräumen. Leo fängt gerade an, daran zu zweifeln, dass Adam heute morgen überhaupt noch ein Schwimmtraining absolvieren muss, aber dann kommt er mit seinem Vater um die Ecke des Hauses, tropfnass und mit Handtuch um die Schultern geschlungen.

Leo muss sich so sehr zusammenreißen, um nicht aufzuspringen, hinauszusprinten und ihm um den Hals zu fallen. Stattdessen erlaubt er sich, die Schürks weiter zu beobachten. Adam trocknet sich vor dem Haus noch einmal etwas gründlicher ab, bevor er reingeht, und Roland beginnt, die ersten Taschen ins Auto zu tragen.

Und jetzt – jetzt wird es erst real für Leo. In einer knappen halben Stunde setzt Adam sich ins Auto, fährt zurück nach Saarbrücken, und Leo bleibt alleine hier. Irgendeine andere Familie wird für ein paar Wochen in diese Wohnung ziehen, und Leo wird es nicht interessieren. Leo wird sich damit zufriedengeben müssen, Adam sehnsüchtige E-Mails zu schreiben. Und vielleicht eine Postkarte. Oder drei.

Leos Mutter kommt in die Küche und folgt sofort Leos Blick nach draußen, wo Adams Vater weiter das Auto belädt.

„Hast du gut geschlafen, tesoro?“, fragt sie und küsst erst Leo auf den Kopf, dann seinen Vater auf die Stirn.

„Ja“, sagt Leo, „erstaunlicherweise“, und beißt in sein Nutellabrötchen.

 

Lange hält er es aber nicht aus. Adam erscheint ganze zehn Minuten später frisch geduscht mit einem Koffer in der Hand, und Leo stürzt den Rest seines Kaffees hinunter, bevor er in den Flur sprintet. Kurz hält er noch inne, um sich zu sammeln, und öffnet dann die Haustür wie ein normaler Mensch, der nicht kurz davor ist, Adam in die Arme zu springen. Ja, ganz normal ist er.

Roland Schürk hat das Auto nicht etwa näher an die Wohnung geparkt, wie jeder andere es tun würde, um das Gepäck einfacher zu beladen. Ob er einfach nur Adam quälen will oder sich selbst irgendwas beweisen, stellt Leo vor ein Rätsel, aber die beiden und auch Adams Mutter legen unnötig lange Wege zwischen Gebäude und Parkplatz zurück.

Als Adam Leo vor der Haustür entdeckt, lässt er fast seinen Koffer fallen, aber fängt sich (und ihn) noch in letzter Sekunde.

„Morgen!“, ruft er und läuft dann extra schnell zum Auto, um den Koffer loszuwerden.

Ganz der gut erzogene Gastgeber sagt Leo allen guten Morgen und bietet Heide an, die Gepäckstücke zum Auto zu bringen, während Roland mit allen Taschen Tetris im Kofferraum spielt. Leo und Adam bringen mit vereinten Kräften alles Gepäck zum Wagen, bis die Wohnung ausgeräumt ist und auch seine Eltern zum Verabschieden aus dem Haus kommen.

„Hat alles reingepasst?“, fragt sein Vater und nickt beeindruckt beim Anblick des perfekt bis in die kleinste Ecke ausgefüllten Kofferraums, wo nichts mehr hinein passt, aber auch alles drin steckt, was muss.

„Auch nichts vergessen?“

„Mein Hoodie!“, sagt Adam, und es ist unmöglich zu sagen, ob es ihm wirklich gerade erst wieder eingefallen ist, oder ob er die ganze Zeit nur darauf gewartet hat. Leo hat es tatsächlich vergessen, aber er stellt sich auch gerne komplett unwissend.

„Ist der etwa noch in meinem Zimmer?“, fragt er gespielt ahnungslos. „Hab ich ja gar nicht gesehen …“

„Ich geh’ nochmal nachgucken“, kündigt Adam an und er huscht mit Leo im Schlepptau ins Haus und die Treppe hoch. Leos Herz schlägt schneller, je näher sie seinem Zimmer kommen, und er schließt schnell die Tür hinter ihnen, als sie drin sind.

Dann sieht Adam ihn zum ersten Mal an diesem Tag richtig an.

„Hi“, sagt Leo atemlos.

„Ich muss dir auch noch was geben“, sagt Adam und zieht Leo an seinen Gürtelschlaufen zu sich heran.

„Was denn?“

Adam umfasst sanft Leos Gesicht und gibt ihm einen Kuss. Okay, das hätte Leo kommen sehen können.

„Du bist so blöd“, flüstert Leo, denn sie sind sich immer noch ganz nah.

„Du auch“, antwortet Adam genauso leise, aber es ist ebenfalls keine Härte dahinter. Er zieht Leo in eine feste Umarmung.

„Ich hab die E-Mail gelesen“, sagt Leo über Adams Schulter.

Adam schweigt.

„Ich vermisse dich auch.“

Adam nickt.

„Ich antworte dir heute noch.“

Adam drückt ihn noch ein wenig fester an sich. Leos Blick fällt auf den schwarzen Hoodie in seinem ungemachten Bett. Und einen weiteren, der über der Lehne seines Schreibtischstuhls hängt.

„Ich hab entweder die dümmste oder die beste Idee aller Zeiten“, sagt er und löst sich, wenn auch etwas unwillig, von Adam.

„Ist das meiner?“, fragt dieser und zeigt auf das Kleidungsstück, was halb unter Leos Laken versteckt ist.

„Eigentlich ja“, sagt Leo und greift sich den anderen Hoodie vom Stuhl. Den hat er definitiv in der letzten Woche mehrmals getragen. Die Zugbänder sind etwas ausgefranster als die von Adams und ist ein bisschen kleiner. Aber das hinterfragt ja keiner. Leo drückt ihn Adam in den Arm. Der nimmt ihn an sich, sieht ihn kurz fragend an, und presst dann seine Nase in den Stoff. Als sein Gesicht wieder auftaucht, grinst er.

„Beste Idee“, bestätigt er.

Leos Eingeweide machen wieder komplizierte olympische Verrenkungen und er beschließt, dass das alles den Abschied ein bisschen einfacher machen wird. Er hat hier wirklich sein Bestes getan, um so viel von sich wie möglich Adam mitzugeben.

„Die anderen warten“, sagt Adam dann mit einem Blick aus dem Fenster, als könnte er irgendwen dort draußen sehen und nicht nur Sonnenblumenfelder, so weit das Auge reicht.

Leo nickt und zieht Adam noch ein letztes Mal zu sich, um ihn noch ein letztes Mal zu küssen und dieses Gefühl für die nächsten drei Wochen aufzutanken, so gut es geht. Fährt noch ein letztes Mal mit den Fingern durch seine kurzen, weichen Haare und über seinen warmen Nacken. Nimmt ein letztes Mal den kleinen Seufzer in seinem Mund auf. Drückt ein letztes Mal seine Stirn an Adams, um die gleiche Luft zu atmen wie er. Legt ein letztes Mal seine Hand in Adams und verschränkt ihre Finger zusammen. Greift ein letztes Mal nach Adams Kinn, Daumen unter der Unterlippe, und legt einen letzten Kuss hinein statt eine Ladung Secondhand-Rauch.

Adam seufzt so tief, dass es Leo in der Seele wehtut, aber er muss jetzt stark sein.

Und dieser starke Leo tritt einen Schritt zurück und lässt Adam die Tür öffnen.

Dieser starke Leo nickt, als Adam, den schwarzen Hoodie an sich gepresst, ihn fragend am Treppenabsatz anschaut.

Dieser starke Leo folgt Adam nach unten, macht einen Abstecher in die Küche, nimmt eine Dose LemonSoda aus dem Kühlschrank, drückt sie seinem Freund in die Hand und erlaubt ihm endlich, das Haus zu verlassen.

Dieser starke Leo bemüht sich um ein Lächeln, sagt den Gästen auf Wiedersehen (denn sie werden sich wiedersehen, aber sowas von!) und beobachtet mit seinen Eltern und Caro, wie Adam auf den Rücksitz klettert. Er winkt, bis das Auto vom Parkplatz fährt und auf dem Kiesweg immer kleiner wird. Bis er Adams aus dem Fenster winkenden Umriss nicht mehr erkennen kann zwischen den Bäumen.

Mit dem letzten Fitzelchen Stärke und Würde, das er aufbringen kann, schleppt er sich wortlos zurück nach oben in sein Zimmer, schließt die Tür, und krabbelt zurück ins Bett, wo Adams Hoodie auf ihn wartet. Das vorerst Einzige, was ihn durch die nächsten drei Wochen bringen wird.

 


 

Leo schreibt in seine E-Mail:

 

ciaooOoO adam,

es ist mitten in der nacht also bist du hoffentlich schon zuhause
angekommen und ruhst dich aus. ich kann nich schlafen. überraschung!!!
ich vermisse dich :’(
dein hoodie leistet mir gute gesellschaft. wenn das so weitergeht riecht
der morgen schon nich mehr nach dir sondern nach MIR. vllt doch dümmste
Idee aller zeiten. nächstes mal hätte ich dann gerne fünf getragene hoodies
von dir, grazie.
ich vermisse dich :’(
ich fürchte morgen muss ich mich mit den Jungs treffen –.– gar kein bock ey…
ich wünschte du wärst dabei. du dürftest mich sogar foulen, mir egal…
ich vermisse dich :’(
okay caro war schon 5x im raum um zu fragen ob ich jetzt endlich nen film mit ihr
schau, also muss ich wohl. sorryyy ich verspreche die nächste email wird länger!!!
ich vermisse dich :’( hab ich glaub ich noch nich gesagt oder? lol^^

freu mich auf deine nächste mail!!! nur noch ähhh 22 tage oder so bis wir uns
wiedersehen!! vllt mache ich einen offiziellen countdown auf.

bis bald!! ciaaaaoooooooOOoOOoo

<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3<3

(immer einmal mehr als du hehehe)

 


 

Leo schreibt auf seine Postkarte von Elba:

 

Hallo Adam,

hoffentlich seid ihr gut zuhause angekommen!
Viele Grüße von der Insel Elba.
Ich glaube, es würde dir hier auch gefallen.
Vielleicht kommt ihr ja nächstes Jahr nochmal wieder,
dann würde ich einen Besuch auf jeden Fall empfehlen.
Es gibt so viele schöne Buchten und richtig gute Meeresfrüchte.

Liebe Grüße an deine Eltern von meinen Eltern und
wir sehen uns ja bald in der Schule wieder.
Genieß noch die letzten Tage, bevor es wieder losgeht :)

Leo

 


 

Leo bekommt noch zehn E-Mails zurück mit einem immer länger werdenden Rattenschwanz an Herzen am Ende. Er schreibt Adam jeden Tag, die langweiligsten Sachen, aber er baut eine Routine und einen Countdown auf. Adam schreibt ihm nicht jeden Tag, aber jede E-Mail trieft vor Sehnsucht und Langeweile und Angst, doch irgendwie erwischt zu werden. Leo versucht sein Bestes, Adam diese Angst zu nehmen, aber von so weit weg kann er nicht viel tun.

 

Und genau 22 Tage später ist das erste, was Leo am Samstag Vormittag tut, Adam anzurufen. Die Festnetznummer hat Adam ihm in E-Mail Nummer 6 gegeben, und Leo hat nur nicht schon gestern angerufen, weil sie kurz vor Mitternacht in Saarbrücken angekommen sind und das eine unmenschliche Uhrzeit gewesen wäre. Zumindest laut Leos Mutter.

Also sitzt er knapp zwölf Stunden später mit dem mobilen Festnetztelefon in seinem Zimmer und wählt mit etwas zittrigen Fingern die Nummer von Familie Schürk. Er weiß nicht einmal, ob irgendwer zuhause ist, oder was Adam gerade macht.

Aber Heide nimmt ab, und Adam ist zuhause, und er kommt ans Telefon, und Leos Herz schlägt ihm bis zum Hals.

„Ciao Leo“, sagt Adam.

„Ciao Adam“, sagt Leo. „Hast du heute was vor?“

 

 

 

🌻 ❤️ 🍋 FINE 🍋 ❤️ 🌻