Work Text:
Manchmal fragt sich Björn, ob Peter Egmann eigentlich glücklich in seinem Beruf ist. Er erinnert sich an Gespräche während des Studiums, bei denen sie beide davon gefaselt hatten, die Welt verbessern zu wollen – wenn auch mit zwei unterschiedlichen Zielen vor Augen. Während für Björn festgestanden hatte, als Rechtsanwalt falsch Verdächtigten zu helfen, wollte Peter von Anfang an zur Polizei gehen. Quasi, um Björn erst Mandanten zu verschaffen.
Zwar musste Björn spätestens, seitdem ihm Dragan als Hauptmandant zugewiesen wurde, Abstand von seinem Traum nehmen, für ihn war aber schon vorher klar gewesen, dass auch Peter wahrscheinlich ziemlich desillusioniert sein musste. Während Björn Polizisten schon immer für Idioten gehalten hatte, die sich hinter leeren Worten versteckt hielten, war Peter voll und ganz überzeugt davon gewesen, der nächste James Bond zu werden.
Und während Björn sein Leben mittlerweile so angepasst hatte, dass er tatsächlich die Welt ein Stück weit besser machte – schließlich hatte der Mord an Dragan zum einen den schönen Effekt, dass Dragan nicht mehr lebte, aber auch, dass seine Geschäfte mit so wenig Schaden wie möglich abliefen –, eiert Peter immer noch genau so herum, wie in den Jahren zuvor.
Und dass er herumeiert , zeigt sich eindeutig an der Art, wie er mit dem Verschwinden von Dieter umgeht – und dem Verdacht, dass Björn etwas damit zu tun haben könnte. Immerhin musste Peter den Fall ja auch noch nicht ernst nehmen. Schließlich ist Dieter ein erwachsener Mann, sodass er erst nach Tagen als vermisst gilt. Tage, in denen auch schon die Verwesung einsetzt.
Dass Peter ihm trotzdem jetzt schon auf den Geist geht, zeugt wahrscheinlich von gähnender Leere im Arbeitsalltag eines Kommissars. Oder von einer nervigen, misstrauenden Ehefrau des Opfers.
„Jetzt sag’ schon, Björn“, fordert Peter ihn jetzt auf. „Wo warst du gestern Nacht?“
Wenn Björn jemand anderes wäre, würde er sich vielleicht darüber mokieren, dass sein alter Studienkollege ihn jetzt schon zum dritten Mal innerhalb genauso vieler Jahre indirekt des Mordes bezichtigt. Da er allerdings tatsächlich in diesem Zeitraum an die zehn Menschen umgebracht hat, betont er diesen Umstand lieber nicht zu laut.
Diesmal gibt es aber auch Zeugenaussagen, die ihn durchaus belasten. Und die können nicht so einfach widerlegt werden, wie Katharina es damals tat, als sie darauf aufmerksam machte, wie viel Bier die Soldaten auf der Alm schon intus hatten, als der Kellner tragischerweise in die Tiefe stürzte. Nein, auf kurz oder lang würde Björn vermutlich eine Aussage machen müssen. Aber jetzt gerade kann er es sich zeitlich überhaupt nicht leisten, auf ein Polizeipräsidium geschleppt zu werden.
Also macht Björn das, was er seinen Mandanten immer verboten hat: Er sagt etwas.
„Ich, äh, ich war zuhause“, erklärt er, weil es die einfachste Antwort ist. Wo sonst sollte er die Nacht verbracht haben?
Was Peter entgegnet, kann er sich schon vorher ausmalen. „Und kann das jemand bezeugen?“, will er wissen. Dabei weiß er ganz genau , dass sich Björn und Katharina getrennt haben.
Er weiß aber auch, dass Björn nicht als einziger in dem Haus über der Kita lebt. „Äh, ja klar. Sascha.“
„Sascha? Du meinst– der Leiter des Kindergartens?“ Da Peters Sohn Lukas bis zu den Sommerferien ebenfalls Wie ein Fisch im Wasser besucht hatte, ist er bestens im Bilde über Saschas berufliche Qualitäten – zumindest zum Teil.
Björn zuckt mit den Schultern. „Genau der.“
„Du, äh– du hast die ganze Nacht mit Sascha Ivanov verbracht?“, stellt Peter klar. Seine Augen sind jetzt auf einmal groß, als wäre er übermäßig geschockt von der Antwort. Als Björn nickt, setzt er nach: „Äh, also– nun– Was haben Du und Sascha Ivanov die ganze Nacht gemacht?“
Tatsächlich ist es schon sehr lange her, dass Björn richtige Freunde hatte – ein Nebeneffekt seiner jahrelangen beruflichen Tätigkeit. Wenn er während seiner Jugend oder des Studiums mit Bekannten unterwegs war, hatte das oft viel Alkohol, vielleicht auch mal Cannabis, bedeutet. Beides Dinge, die er einem Polizisten ungern als Alibi angeben würde – besonders, da er mittlerweile ein 45-jähriger Vater ist. Da er aber keine Ahnung hat, was eine plausible Antwort ist, würde er das gerne in Erfahrung bringen.
„Wie verbringen zwei erwachsene Männer denn typischerweise die Nacht zusammen?“, fragt er also ganz wertungsfrei.
Irgendwas an seinen Worten veranlasst Peter aber dazu, seine übergroßen Augen plötzlich abzuwenden. Wohin er sie jetzt dirigieren soll, scheint er nicht zu wissen, deshalb schaut für einen Moment lang von links nach rechts, von oben nach unten, bis er schließlich an seinen Schuhen hängenbleibt. „Oh, ich– äh, ich– ich wusste gar nicht, dass du auf Männer stehst“, stammelt er dann, immer noch, ohne Björn anzusehen.
„Dass ich–“, beginnt Björn ihn zu wiederholen, ehe es Klick macht. Hätte er irgendeinen männlichen Mandanten gefragt, wie er die gesamte Nacht mit einer Frau verbraucht hätte, dann wäre die Antwort vermutlich auf eines hinausgelaufen: Sex. Kein besonders gutes Alibi, aber immerhin etwas. Dass Peter bei zwei Männern auf das Gleiche schließt, ist eigentlich ein Zeugnis dafür, dass er gesellschaftlich vermutlich recht offen eingestellt ist. Auch wenn er nicht wirklich zu wissen scheint, wie er mit gleichgeschlechtlicher Zärtlichkeit umgehen sollte, wenn sie ihm gegenüber angesprochen wird.
Dass Björn keineswegs am gleichen Geschlecht interessiert ist – und schon gar nicht an Sascha –, ist in diesem Moment irrelevant. Er hatte eh vorgehabt, sich etwas mit Sascha auszudenken, falls Peter der Sache weiter nachgehen würde. Jetzt hat der Hauptkommissar ihm schon eine Geschichte serviert, die ihn scheinbar erschüttern würde, aber wohl nicht ganz unvorstellbar ist.
Wie er Sascha mit ins Boot holt, würde er sich noch überlegen müssen. Denn der ist zwar durchaus aufgeschlossen – vor allem bedingt durch die unzähligen Fortbildungen, die er aufgrund seines Berufes besucht –, doch kann Björn nicht einschätzen, wie er damit umgehen würde, wenn ihm plötzlich jemand unterstellen würde, homosexuell zu sein. Erfahrungsgemäß neigen die Einstellungen dazu, abzuweichen, wenn es jemanden persönlich tangiert.
Jetzt gerade ist es aber zumindest eine Erklärung. Eine, die Peter – sofern Björn es richtig deutet – zunächst einmal nicht weiter verfolgen würde, weil er erst einige Annahmen über seinen Studienkollegen richtig sortieren muss. Also sagt er: „Ähm, ja. Das– ist ‘ne recht neue Erkenntnis.“
Peter nickt, was irgendwie ein bisschen dämlich aussieht. „Ja, äh, das freut– Oh, schau, da kommen unsere Kinder“, unterbricht er sich selbst. Er klingt fast ein wenig erlöst, während er spricht.
Und dann ist das Gespräch auch schon vorbei. Während Peter seinen Sohn sachgemäß in den Korb seines Lastenfahrrads hebt, fällt kein weiteres Wort mehr über Tote, Alibis oder Sascha. Stattdessen hebt Peter die Hand zum Abschiedsgruß und radelt davon – als wäre es ein ganz normaler Donnerstag.
Dabei könnte das gar nicht ferner der Realität sein. Immerhin hat Emily gerade ihren ersten richtigen Schultag hinter sich gebracht . Und augenscheinlich kann sie gar nicht abwarten, von dem zu erzählen. Also lässt Björn sie auf dem Heimweg reden, so viel sie nur will – und denkt kaum noch an den Toten in seinem Keller.
Allerdings funktioniert das nur so lange, bis sie an seinem Haus ankommen. Natürlich kann sich Björn jetzt gerade nicht um die Leiche kümmern – nicht nur, weil seine eigene Tochter neben ihm sitzt, sondern weil eine Horde Kinder gerade in der Etage über besagter Leiche ihre Übermittagsbetreuung genießt.
Immerhin gibt ihm das die Gelegenheit mit Sascha zu sprechen. Denn sobald er den Wagen ausgeschaltet hat, öffnet Emily ihren Sicherheitsgurt und fragt: „Darf ich meinen Kita-Freunden meinen Ranzen zeigen?“ So leicht kann es gehen – ganz ohne irgendwelche Ausreden.
„Na klar, mein Schatz“, sagt Björn, während seine Tochter aus dem Wagen klettert. Er reicht ihr ihren Rucksack, unter dessen Gewicht sie aus irgendeinem Grund nicht zusammenbricht. Dabei sieht das Ding so riesig an ihr aus, dass er befürchtet, sie könnte jeden Moment umfallen.
Emily meistert den kurzen Weg in den Kindergarten aber vorbildlich. Auch die paar Sekunden, bis ihnen die Tür geöffnet wird. Björn kann zwar sehen, wie sie den Mund vor Anstrengung zusammenkneift, doch sie macht keine Anstalten nach Hilfe zu fragen.
Die Erzieherin, die schließlich aufmacht, schaut fast schon wissend, als sie Emily erblickt. „Oh, die Grundschülerin!“, jubelt sie mit einer gespielten Aufregung, die wahrscheinlich nur Erwachsene durchschauen können.
Denn Emily strahlt, während sie verkündet: „Ich will meinen Freunden meinen Ranzen zeigen!“
Die Erzieherin lacht und winkt sie herein. Als Björn ebenfalls über die Türschwelle tritt, stoppt sie kurz. Ehe sie etwas sagen kann, erklärt er: „Ich würde gerne zu Sascha. Ist der da?“, was eigentlich eine unnötige Nachfrage ist. Björn weiß besser als jeder andere, wann Sascha außerhalb der Stadt zu tun hat. Was seine offiziellen Arbeitskollegen aber natürlich nicht wissen.
„Zuletzt war er im Garten“, antwortet die Frau. „Gehen Sie doch schon mal in sein Büro, Herr Diemel. Ich schick‘ ihn dann.“
Das lässt sich Björn nicht zweimal sagen. Nach zwei Jahren, in denen er immer wieder auf den Mini-Stühlen in den Gruppen Platz nehmen musste, wirkt Saschas Büro geradezu wie ein Wellness-Urlaub für seinen Rücken. Er war natürlich schon öfter hier drin, aber jedesmal muss er kurz innehalten, um Saschas Geschmack wertzuschätzen. Die Designer-Möbel, die er für seinen Arbeitsplatz ausgesucht hat, wirken edel, sind dabei aber nicht zu aufdringlich. Es setzt jedenfalls ein klares Zeichen dafür, dass hier eher die Eltern und nicht die Kinder willkommen sind.
Er muss nicht lange warten, bis Sascha erscheint. An seinem T-Shirt hängt ein wenig Dreck, auf das Björn statt einer Begrüßung nickt. „Gemüsebeet?“
Sascha folgt seinem Blick und versucht, die restliche Erde abzuklopfen. „Ja, wir pflanzen Grünkohl“, erklärt er. Björn fragt sich kurz, ob das vielleicht vor einiger Zeit noch ein Euphemismus gewesen sein könnte. Doch dann will Sascha wissen: „Was treibt dich hierhin?“
Natürlich kann er sich schon denken, dass es vielleicht einen recht dubiosen Grund hat, wieso er hier aufschlägt. Normalerweise hätte er auch genauso gut Emily hier unten abgeben und hoch in seine Wohnung gehen können. Dass er das nicht getan hat, ist mit Sicherheit ein klares Anzeichen dafür, dass etwas im Busch ist. Deshalb kommt Sascha auch direkt näher, bis er neben Björn an der Kommode lehnt.
„Hast du, äh– einen Plan wegen…“, fängt Sascha an und beugt sich zu ihm herüber, sodass Björn gar nicht verpassen kann, wie seine Augen kurz nach unten schauen. Unseres Problems im Keller , soll das dann wohl bedeuten.
„Nee, leider nicht“, muss Björn zugeben. „Hat aber damit zu tun.“ Auf Saschas fragenden Blick ergänzt er: „Ich hab‘ vielleicht Mist gebaut.“
Und okay, vielleicht verdient er das Schnauben, das ihm Sascha daraufhin schenkt. Wenn man bedenkt, dass er Björn vor wenigen Stunden noch dabei geholfen hat, eine Leiche in ihren Keller zu karren, ist das Wort „vielleicht“ eventuell unangebracht. Er hat definitiv Mist gebaut.
„Peter Egmann hat mich gerade ausgefragt“, erklärt er also weiter.
„Oh.“
„Ja, genau“, nickt Björn. „Und äh– Ich hab ihm gesagt, dass wir die Nacht zusammen verbracht haben.“
Es ist schon komisch, wie weit Sascha die Augen aufreißen kann. Vermutlich hat er sich schon zusammengereimt, worauf Björn hinaus will, ehe er es überhaupt ausspricht.
„Und… nun, er hat da etwas missverstanden“, fährt Björn dennoch fort. „Scheinbar denkt er jetzt, wir hätten ein Verhältnis.“
Für einen Moment starrt Sascha ihn nur ganz sparsam an. Björn kann nicht wirklich sagen, was da in seinem Kopf vor sich geht. Er sieht, wie sich Saschas Kiefer anspannt und hofft, dass er wenigstens Keine gezimmert bekommt. Doch dann… fängt Sascha einfach an zu lachen.
„Oh mein Gott“, prustet er hervor. „Scheiße, das ist so… witzig.“
Björn zieht eine Augenbraue hoch, während Sascha sich vor Lachen immer noch so sehr schüttelt, dass er schließlich seinen Kopf gegen Björns Schulter lehnen muss. „Schön, dass mein Fauxpas dir zusagt.“
„Komm, so etwas hättest du dir auch denken können“, meint Sascha und hebt den Kopf wieder. Im Hintergrund kann Björn die Klingel hören.
„Weiß nicht, ich hatte nicht gedacht, dass–“, beginnt er, wird dann aber von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.
„Sascha, die Polizei will irgendwas von dir!“ Das ist diesmal eine der jüngeren Erzieherinnen – eine Frau der Sorte, die in Polizisten eher Kriegsverbrecher als Ordnungshüter sieht. Ziemlich unwirsch drückt sie auch schon die Klinke herunter.
Björn zieht scharf die Luft ein – sie hatten sich noch gar keinen Plan ausgeheckt, wie sie die ganze Geschichte, die Peter sich mittlerweile ausgesponnen hatte, drehen sollten. Was macht Peter überhaupt schon hier? Hat er Lukas kurzum zuhause vom Fahrrad geschmissen, um direkt zum Kindergarten umzudrehen? Der Mann hatte ja mal sowas von keine Work-Life-Balance.
Fast in Zeitlupe kann Björn beobachten, wie die Tür aufgeschoben wird. Und dann sieht er plötzlich gar nichts mehr, weil Saschas Gesicht immer näher kommt. Und dann fühlt er plötzlich ein Paar Lippen auf seinen eigenen.
Er braucht einen Moment, bis er wirklich realisiert, dass das Sascha ist, der ihn da küsst. Wenn man das überhaupt Kuss nennen kann – es bleibt dabei, dass sich einfach nur ihre Lippen gegeneinander drücken, und dann zieht sich Sascha auch schon wieder zurück. Nicht, ohne Björn zuzuzwinkern.
Als sie beide den Kopf in Richtung der Tür heben, steht dort tatsächlich Peter Egmann. Mit einem ziemlich verdatterten Gesicht.
„Ah, hallo, Herr Kommissar“, sagt Sascha freundlich. „Womit kann ich Ihnen denn helfen?“ Im nächsten Moment stößt er sich von der Kommode ab und geht auf Peter zu, ohne auch nur eine Sekunde auf seine (oder auch Björns) Schockstarre einzugehen.
„Äh…“ Fast wirkt es so, als würde bei Peter die Platte festhängen. „Ich– ich bräuchte eine Aussage von Ihnen. Für ein kleines Detail.“
Da Sascha mit dem Rücken zu Björn steht, kann er nicht sehen, welchen Gesichtsausdruck er gerade zeigt. Irgendwie scheint der Peter noch mehr zu beunruhigen. „Oh, worum geht es denn?“
„Ich, äh– ein Vermisstenfall.“
„Steht der mit dem Kindergarten in Verbindung?“, will Sascha wissen. Irgendwie schafft er es, wirklich besorgt zu klingen. Björn fragt sich kurz, ob die Uni, an der Sascha seinen Abschluss gemacht hat, auch Theaterkurse gegeben hat. Oder vielleicht ist sowas heutzutage auch Teil der Ausbildung zum Erzieher, damit man die Kinder auch gar nicht verunsichert, wenn man mal seine wahre Reaktion zeigt, wenn sie eine Wand vollmalen.
„Oh, nein– nicht direkt“, stammelt Peter weiter. „Ich muss nur wissen, äh, wo Sie letzte Nacht waren.“
„Ich?“ Wieder klingt Sascha geradezu authentisch pikiert. „Ich war die ganze Nacht in Björns Wohnung“, erklärt er dann ganz gelassen, mit einem Blick zurück zu Björn. Das Grinsen ist wahrscheinlich nicht mal gespielt.
„Ah, das…“
„Sagte ich auch schon“, übernimmt Björn jetzt. Auch er stößt sich jetzt von der Kommode ab und tritt näher. Als er seine Hand auf Saschas Schulter legt, greift der danach.
Es ist fast lächerlich, wie aufgeregt Peters Augen von ihm, zu den Händen, zu Sascha und wieder zurück flitzen. Er sieht aus, als müssten jeden Moment Schweißperlen aus all seinen Poren heraustreten. „Äh, ja. Das… hast du“, sagt er etwas abwesend.
„Ja dann“, nickt Sascha. „War das alles, oder…?“
„Nein, das– ich meine, ja , das war alles“, beeilt sich Peter zu sagen. Er ist schon halb aus der Tür, ehe ihm einfällt, sich zu verabschieden. „Danke, Herr Ivanov. Björn.“
Und dann verschwindet er.
Björn und Sascha starren eine Weile dahin, wo er eben noch stand.
Bis Sascha schließlich Björns Habd abschüttelt und verkündet: „Idiot.“ Dass er Peter meint, ist ziemlich offensichtlich. „Ich hätte dem ‘nen Scheißdreck erzählen müssen.“ Nach einem Moment schaut er Björn an. „Oder?“
„Stimmt“, nickt Björn. Ein Teil von ihm freut sich, dass scheinbar einiges von den grundlegenden Sachen, die er dem Team eingebläut hat, wenn es um das Thema Polizeiarbeit geht, nachhallt. Vermutlich hilft es auch, dass er Sascha alles davon nochmal erklärt hat, als er ihm kurzfristig die Leitung über den Clan überlassen hat, während er gepilgert ist. „Danke trotzdem.“
„Klar.“ Sascha zuckt mit den Schultern, während er seinen Schreibtisch umrundet.
„Du, äh, weißt schon, dass das vermutlich nur geklappt hat, weil Peter peinlich berührt war, oder?“, will Björn wissen. In Wahrheit würde kein einziger Polizist an eine Beziehung – oder einen One-Night-Stand oder was auch immer – glauben, nur weil sich zwei Menschen vor ihm geküsst haben. Und spätestens sobald einer von Peters Kollegen die Ermittlungen aufgreift, würde dein Alibi in Frage gestellt werden.
Sascha schnaubt. „Ich weiß“, sagt er, „aber es hat uns Zeit verschafft.“
Das ist wahr. Zeit, die sie garantiert gebrauchen können, egal wie viel es sein mag. Trotzdem merkt Björn an: „Was, wenn wir überwacht werden?“
„Warum sollten wir überwacht werden?“
„Wäre nicht das erste Mal.“ Björn zuckt mit den Schultern. Er erinnert sich nur zu gut daran, wie er an dem Wochenende, an dem er Dragan umgebracht hat, observiert wurde. Damals war er nur durch Glück – und Manipulation – mit einem blauen Auge davon gekommen. Und da Lukas nicht mehr im Kindergarten ist, hat er kein Druckmittel mehr, mit dem er Peter gefügig machen könnte.
„Du meinst…“, fängt Sascha an, ohne dass Björn überhaupt eine Ahnung davon hat. Was er angeblich meint. „Wir sollen eine Beziehung vortäuschen?“
Das ist absolut nicht das, was Björn gemeint hat. Tatsächlich hatte er erst gar keinen langfristigen Plan – nicht, wenn er eh nur bis Samstag Zeit hätte, um die Leiche von Dieter verschwinden zu lassen und herauszufinden, wer hinter Breitner her ist. An so etwas wie eine Lösung auf Dauer hatte er gar nicht gedacht. Wobei er sagen muss, dass das vielleicht ein Fehler seinerseits war. Denn je nachdem, wie er Dieter beseitigte, würde er vielleicht noch nicht ganz aus dem Schneider sein. Da würde es doch nur helfen, sein Alibi möglichst glaubhaft zu gestalten, oder?
„Das war mir gar nicht in den Sinn gekommen“, gibt Björn zu. Nicht nur, weil es die Wahrheit ist, sondern weil viele Menschen empfänglicher für einen Plan sind, wenn es ihr eigener ist. „Aber… es wäre vielleicht nicht die dümmste Idee.“
Sascha denkt einen Moment lang darüber nach. Dann seufzt er und fragt: „Dass du mir dafür etwas schuldest, ist dir aber schon klar, oder?“
Das… ist etwas Neues für Björn, um ehrlich zu sein. Er hat sich so daran gewöhnt, dass Sascha einfach da ist und ihm hilft – ganz ohne Fragen zu stellen oder etwas zu verlangen. So wie letzte Nacht, als er sich darauf verlassen konnte, dass Sascha mitten in der Nacht in der Praxis von Herrn Breitner aufschlägt. Vielleicht hätte er damit rechnen sollen, dass auch er irgendwann mal genug hat.
Also nickt Björn. „Klar. Was willst du denn haben?“
„Eine Harley Davidson“, kommt direkt. Entweder hegt er schon länger den Wunsch, endlich mal etwas für seine Gefallen einzufordern, oder er will das Ding wirklich haben.
Das kann Björn einrichten. Er hat zwar keine Ahnung, wie teuer Motorräder sind, aber selbst wenn er seine Abfindung von der Kanzlei nicht hätte: Dragan hat Geld genug. Davon etwas für Sascha abzuzwacken, macht eigentlich nur Sinn. „Geht klar“, erklärt er deswegen.
Wenn Sascha davon überrascht ist, zeigt er das nicht. „Cool“, meint er stattdessen. „Dann sollten wir heute Abend essen gehen.“
„Was? Wieso?“
„Wenn wir miteinander ausgehen“, erklärt Sascha langsam, „dann sollten wir auch ausgehen .“
„Hm“, macht Björn. Einerseits könnte das natürlich so wirken, als wenn sie unbedingt etwas beweisen wollten (was ja auch der Fall ist). Andererseits hat Sascha recht: Menschen in einer Beziehung gehen in der Regel auch gemeinsam Essen. „Ja, dann.“
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Und so kommt es, dass Björn und Sascha an diesem Abend in einem schicken vietnamesischen Restaurant landen. Es ist edel eingerichtet, mit asiatischen Details, aber nicht so viel, dass es als Kitsch oder kulturelle Aneignung durchgehen könnte. Wobei sich Björn fragt, wie das funktionieren könnte – augenscheinlich sind die Inhaber des Geschäfts ebenfalls Vietnamesen. Doch so hatte Sascha es formuliert, als er das Ziel für ihren Abend vorgeschlagen hat, also wird da wohl etwas dran sein.
Dass man ihn für einen Rassisten halten könnte, ist also nicht sehr wahrscheinlich, trotzdem fühlt sich Björn… unwohl, während er Sascha gegenüber sitzt. Obwohl „unwohl“ nicht das treffende Wort ist und es schon gar nicht an Sascha liegt. Selbst, als er noch für Dragan gearbeitet hat, hatte Björn ihn eher als eine beruhigende Präsenz wahrgenommen als eine Bedrohung. Na gut, außer er war gerade aktiv dabei, jemandem die Zähne einzuschlagen.
Nein, vielleicht trifft es „nervös“ schon eher. Björn rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, kann nicht aufhören, mit der Serviette zu spielen, während sie auf ihr Essen warten, und trinkt viel zu viel. Zwar bislang nur Wasser, aber wie die Nemo-Gruppe von Wie ein Fisch im Wasser erst vor einem halben Jahr gelernt hat, sollte man davon auch nicht literweise auf einmal herunterkippen.
Das scheint irgendwann auch Sascha aufzufallen. Nach einer Weile legt er seine Hand auf Björns, um ihn davon abzuhalten, die Serviette auseinander zu rupfen. „Entspann’ dich doch mal”, fordert er ihn auf.
Das wäre vermutlich in der Tat hilfreich für ihren Plan. Würde jemand ihm abkaufen, dass er eine Beziehung mit Sascha führte, wenn ihm die Anspannung ins Gesicht geschrieben steht? Allerdings könnte er ja immer noch behaupten, dass es ihr erstes Date war. Björn kann sich vorstellen, dass es eine Sache ist, seine neu entdeckte Anziehung für Männer hinter geschlossenen Türen auszuleben, aber eine andere das Ganze in die Öffentlichkeit zu verlegen. Und wenn jemand fragen sollte, warum das ausgerechnet jetzt passieren sollte, nachdem ein Polizist von ihrem Verhältnis weiß, kann Björn den Spieß immer noch umdrehen und sagen, dass genau das der Grund ist. Das Outing gegenüber seinem alten Freund könnte ja einen Stein ins Rollen gebracht haben.
Aber Sascha muss er ja nichts vormachen. Und der genießt schon seit geraumer Zeit eine spezielle Einsicht in Björns Gefühlslage. Also gibt er zu: „Sorry, mein letztes Date ist eine Weile her.“ Und wenn er daran zurückdenkt, wie seine letzten Rendezvous mit Katharina abgelaufen sind, sollten sie vielleicht nicht der Standard sein. Sie sind immer mal wieder ausgegangen, allerdings mehr aus Pflichtgefühl als wirklichen Verlangen, und – wie zu erwarten bei Katharina – die Gespräche bestanden mehr aus Anklagen als alles andere.
„Du warst doch mit Laura aus“, überlegt Sascha, ganz wertungsfrei, und lehnt sich wieder zurück. Auch wenn er genauso gut wie Björn weiß, dass das Ganze mehr Ablenkung war – was wiederum der Grund ist, warum seine Affäre mit der Ärztin nicht lange gedauert hat. Björn hat es nicht bereut, sie von ihrem nervigen Bruder erlöst zu haben, wohl aber, wie er sie dafür instrumentalisieren musste.
„Das war bei mir zuhause“, merkt Björn an. Da war es ganz egal, wie er sich verhalten hat: Die einzigen, die es kümmerte, sind Laura, er und sein inneres Kind gewesen. Jetzt müssen er und Sascha zusehen, dass sie auch außen wie ein Paar wirken. Und auch bezüglich des Dates mit Laura sollte er vielleicht noch einmal betonen, dass auch das nur gespielt gewesen war – ganz gleich, wie der Abend tatsächlich endete. Also erklärt er: „Ich hatte da eh die ganze Zeit nur an dich gedacht.“
Sascha, der gerade einen Schluck von seinem Wein genommen hat, verschluckt sich prompt daran. Björn ist kurz davor, aufzustehen und ihm auf den Rücken zu klopfen, als der Hustenanfall endlich aufhört. Sascha räuspert sich noch einmal, ehe er hervorquält: „Du hast– äh, was ?“
„Ich hab‘ mir vorgestellt, was du mit Kurts Firma anstellst“, sagt Björn und zuckt mit den Schultern. Sascha muss ja nicht wissen, dass sein inneres Kind eine Ablenkung gebraucht hat. Er mag zwar ziemlich aufgeschlossen gegenüber Björns Achtsamkeits-Coaching sein, aber vermutlich mag auch dieses Verständnis ein Ende finden, wenn Björn von scheinbaren Selbstgesprächen berichtet.
Vielleicht würde dieses Detail ihm aber auch helfen, denn aus irgendeinem Grund starrt Sascha ihn mit offenem Mund an. Nicht mit diesem abschätzenden Blick, den er ihm sonst immer schenkt, wenn Björn etwas nicht ganz Nachvollziehbares sagt, sondern fast, als wenn er geschockt wäre.
„Wir hatten ja… einen Zeitplan“, versucht Björn sich noch einmal zu erklären.
Einen Moment später fängt sich Sascha auch wieder. „An den du dich – streng genommen – gar nicht so krass halten musstest“, stellt er fest.
Allerdings ist das nicht ganz richtig. Björn hätte zum Beispiel nicht die ganze Nacht mit Laura verbringen können. „Kurt musste aber irgendwann mit dem Babysitten aufhören.“
Sascha hebt die Hände in einer Art Abwehrbewegung. Da das eindeutig bedeutet, dass Björn diese Diskussion gewonnen hat, kann er nicht anders als zu grinsen. Er lehnt sich über den Tisch und schnappt sich eine Frühlingsrolle von Saschas Teller. Der lässt ihn kommentarlos gewähren.
Für einige Zeit sitzen sie einfach nur da, essen und plaudern. Es ist ganz anders als sonst, wenn sie beide an den Officer-Meetings teilnehmen. Björn hat sich angewöhnt, Dragans Mitarbeiter immer wieder zu einem Essen einzuladen – und hat damit vermutlich alle Einschüchterungstaktiken, die Dragan in ihnen verankert hat, über Bord geworfen. Trotzdem funktioniert das Geschäft; vielleicht sogar besser als je zuvor, jetzt wo Björn wirklich alles unter einen legalen Deckmantel hüllen kann. Und auch wenn die Stimmung bei diesen Meetings immer recht ausgelassen ist, fühlt es sich nie so… locker an.
Sascha und er reden nicht über Drogen oder Morde, sondern stattdessen über die Arbeit im Kindergarten, über Emily, und nicht zuletzt über das Motorrad, das sich der Bulgare wünscht. Björn muss sagen, er kann sich Sascha gut auf so einer Maschine vorstellen. Er selbst war immer mehr der Auto-Typ, mehr Funktion als Aussehen, und dachte immer, spätestens der Wunsch nach einem Motorrad würde seine Midlife-Crisis endgültig einleiten. Sascha sieht hingegen aus, als wäre er wieder ein Teenager, so sehr strahlen seine Augen, während er von den Einzelteilen berichtet, die genau dieses überteuerte Fahrzeug für ihn unverzichtbar machen.
Björn lässt ihn reden, macht hier und da einen Kommentar, für den Sascha ihn als Boomer bezeichnet, und genießt den Abend. Am Ende zahlt er auch ganz selbstverständlich – einfach, weil er es bei einer richtigen Verabredung genauso gemacht hätte.
Was vermutlich genauso logisch erscheinen sollte, ihn aber trotzdem kurz innehalten lässt, ist die Tatsache, dass Sascha nach seiner Hand greift, sobald sie draußen sind. Und nicht nur kurz – so, als würde er ihn aufhalten wollen oder so. Ganz natürlich verschränkt Sascha seine Finger mit Björns.
Scheinbar muss seine kurzfristige Verwunderung sichtbar sein, denn Sascha erklärt ohne Umschweife: „Wir sind ein Paar , schon vergessen?“
Was natürlich Sinn macht. Trotzdem war es Björn gar nicht eingefallen, irgendwelchen körperlichen Kontakt zu initiieren. Dabei sollte er spätestens seit seinem Tantra-Besuch wissen, wie einfach es für manche Menschen scheinbar ist, ihre bisexuellen Anteile auszuleben. Er versteht immer noch nicht, wovon Günther da eigentlich gefaselt hat.
Jedenfalls scheint es für Sascha absolut kein Problem darzustellen. Für Björn natürlich auch nicht – er bekommt nicht einmal Flashbacks zu der schaurigen Erfahrung, Dieter mit Öl eingerieben zu haben, was aber auch daran liegen könnte, dass sich Saschas Haut ganz anders anfühlt. Zum Glück.
„Danke, dass du das machst“, erklärt er, fast als wäre es eine Nebensache.
„Klar doch. Wozu hat man Freunde?“, antwortet Sascha kurzum mit einem Schulterzucken. „Außerdem darfst du halt auch nicht im Knast landen, Mann.“
Er klingt dabei fast so, als meinte er das eher aus Zuneigung als aus einem der anderen Gründe, die Björn spontan einfallen. Er durfte nicht ins Gefängnis gehen, weil er a) insgeheim der Kopf hinter Dragans Geschäften war und dessen Ableben schnell auffallen würde, wenn er zu lange weg war, b) es sich dann ganz schnell abschreiben könnte, seine Tochter jemals wieder zu sehen (auch wenn Katharina erst vor wenigen Monaten selbst einen Mord behangen hatte, allerdings wusste von dem ja niemand außer ihm), c) im Knast vermutlich so windelweich geprügelt werden würde, dass es ein Wunder wäre, wenn er es überlebte. Bei Sascha klingt es aber schlichtweg so, als wenn er nicht will , dass Björn festgenommen wird.
„Danke“, sagt der deshalb nochmal. Irgendwie klingt seine Stimme in seinen Ohren belegt. Björn schluckt einmal, ehe er hinzufügt: „Ich bin froh, dass wir Freunde sind.“
Eigentlich liegt ihm nichts ferner, als gegenüber irgendeinem von Dragans Mitarbeitern den Sentimentalen zu geben. Aber tatsächlich ist Sascha mehr Freund als Kollege oder Mandant – auch wenn Björn sehr lange gebraucht hat, um sich das einzugestehen. Aber es ist die Wahrheit: Da ist zum einen die Tatsache, dass Sascha neben Katharina der einzige Mensch ist, der von seinen Sitzungen mit Herrn Breitner weiß. Und dass Sascha der einzige Mensch ist, der mit absoluter Sicherheit weiß, dass Dragan tot ist – und dass Björn dafür verantwortlich ist. Und statt ihn dafür ans Messer zu liefern, hilft er ihm dabei, die Tat (und weitere) zu vertuschen.
Es ist, wie Björn sich gestern Nacht schon gedacht hat: Echte Freunde sind diejenigen, die man um 3 Uhr nachts anrufen kann, um eine Leiche verschwinden zu lassen, ohne dass sie Fragen stellen.
Für einen Moment sagt Sascha nichts, aber dann hebt er seinen Ellenbogen, um Björn einen Seitenhieb zu verpassen. „Das sagst du nur, damit ich dich nochmal abknutsche, stimmt‘s?“, sagt er mit einem Lachen in der Stimme, das Björn aber nichts unterstellen will.
Der kann nicht anders als mitzulachen. „Aber nur, wenn wir dann auch auf deinem Motorrad durchbrennen.“
„Das war doch eh der Plan“, gibt Sascha ohne zu überlegen zurück. Er grunzt leicht, während er spricht, was Björn wiederum zum Lachen bringt.