Work Text:
Björns Leben verlief ganz anders als er geplant hatte. Was heißt, einen richtigen Plan hatte er eigentlich nie. Aber doch gewisse Vorstellungen. Zum einen war da eine Frau an seiner Seite, und zumindest ein oder zwei Kinder. Ein großes Eigenheim. Ein erfolgreicher Job.
Und all das ist Björns Realität gewesen. Und doch – glücklich ist er damals gewiss nicht gewesen. Seine Ehe mit Katharina war mehr Strapaze als alles andere, zumindest zum Ende hin. Was nicht Katharinas Fehler war. Seiner vermutlich auch nicht. Es ist vielmehr so, dass sie als Partner nicht kompatibel waren. Jetzt, wo sie sich getrennt haben, fand Björn eine tolle Freundin in seiner Noch-Frau. Sie hat immer noch Ansprüche, besonders wenn es um Emily geht, doch denen will Björn gern gerecht werden. Immerhin geht es um Emilys Wohl.
Nein, er findet, dass er jetzt weitaus glücklicher ist. Was nicht einmal an dem Geld liegt, das – dank der Übernahme von zwei verfeindeten Mafiaringen – seine Konten nur so flutet. Es sind vielmehr seine geänderte Lebenseinstellung und die Umstände, die seinen Alltag jetzt ausmachen.
Manch einer würde vielleicht Björns mangelnde Work-Life-Balance kritisieren. Immerhin lebt er in einem Haus mit: seiner Anwaltskanzlei, der Kita, die er übernommen hatte, seinem Angestellten, der besagte Kita leitete und vielleicht sein einziger Vertrauter war, und einem gekidnappten Russen, den sie im Keller untergebracht hatten. Doch Björn findet, dass es dank der von Breitner geteilten Achtsamkeitsübungen gar nicht so schwierig ist, diese Balance zu finden. Denn nur, wenn er an den im Keller zeternden Boris denken wollte, dachte er an den im Keller zeternden Boris. Und das wollte er ziemlich selten.
Und wenn er, wie jetzt, seine Tochter zur Kita bringt, dann bringt er seine Tochter zur Kita.
„Anwalt“, begrüßt ihn Sascha mit einem Nicken, wie er es immer tut, wenn Björn damit an der Reihe ist, Emily zur Kita zu bringen. Was, wenn man es genau betrachtet, etwas absurd ist, weil er und Emily jedes Mal sogar an Saschas Wohnung vorbeigehen. Der ist zu dem Zeitpunkt aber natürlich schon lange im untersten Stockwerk und bereitet die Einrichtung für den Tag vor.
Seiner Tochter streckt Sascha die Faust entgegen. Björn erinnert sich an eine Zeit, in der er immer zurückgeschreckt ist, sobald Sascha auch nur die Faust ballte . Jetzt lächelt er, während Emily ihre kleine Hand gegen Saschas prallen lässt.
Nach der Begrüßungszeremonie stürmt Emily in die Räumlichkeiten – ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Das passiert regelmäßig. Björn versucht es locker zu nehmen. Immerhin wird er für die nächsten Stunden nur 36 Treppenstufen entfernt sein.
„Sascha“, grüßt er jetzt zurück. „Alles gut?“ Was in etwa Code ist für: Muss „Dragan“ irgendwo einschreiten ? Mit seinen neuen Pflichten als Leiter von Wie ein Fisch im Wasser sollte Sascha theoretisch alle Hände voll zu tun haben, sodass er gar nicht genug Zeit hat, sich um andere Angelegenheiten von Dragans Geschäften zu kümmern. Aber er war länger im Spiel als Björn, ist enger verknüpft mit den anderen, also könnte es gut möglich sein, dass er irgendwas mitbekommt.
Sascha nickt. „Alles gut.“ Doch irgendwas an ihm wirkt falsch. Normalerweise ist Sascha der Inbegriff von Gefasst- und (okay, manchmal gespielter) Lockerheit, aber jetzt scheint ihn irgendetwas zu beschäftigen.
Neugierig legt Björn den Kopf schief. Wenn er eines während der letzten Monate gelernt hat, dann ist es, dass man andere nicht zu einer Entscheidung drängen sollte.
„Äh, willst du–“, beginnt Sascha, ehe er sich räuspert. „Hast du Interesse daran, heute Abend mit in die Kleine Kneipe zu kommen?“
Björn hebt eine Augenbraue. „Gibt es einen speziellen Grund?“
Sascha schaut über seine Schulter, um sich zu versichern, dass niemand hinter ihm steht. Oh Gott , also doch eine Mafia-Geschichte. Doch dann überrascht er Björn mit seiner Antwort: „Ich hab‘ Geburtstag.“
„Oh, was?“ Theoretisch sollte Björn das wissen. Aber er war noch nie gut darin, sich Daten zu merken. „Na dann: Alles Gute!“
„ Shhhh !“, hisst Sascha sofort. Er hält sich sogar einen Finger vor den Mund. „Hör auf, sonst werde ich heute mit Rolf Zuckowski -Liedern nur noch so zugeballert.“
„Wirst du das nicht sowieso?“, will Björn wissen. Er dachte, Erzieher hätten mittlerweile eine Superkraft gegen Kinderlieder entwickelt.
„Schon, aber häufiger im Winter als im Sommer.“
Daraufhin lacht Björn. Das macht Sinn, schätzt er. Er erinnert sich daran, dass selbst in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist, die Weihnachtsbäckerei nicht wegzudenken war.
„Also, was ist?“, fragt Sascha. „Kommst du mit?“
„Klar.“ Darüber muss Björn nicht einmal nachdenken. Sascha ist schwer in Ordnung, also sollten auch seine Freunde nicht schlimm sein. Und selbst wenn es sich bei denen um Karla und Walter handeln sollte – Dragans Angestellte sind so verkorkst, dass er sie doch irgendwie liebgewonnen hat.
„Cool“, nickt Sascha. „Wir treffen uns da um Sieben.“
„Sollen wir zusammen hingehen?“, schlägt Björn vor. Die Kleine Kneipe liegt nur einige Straßen weiter, also ist es nur ein kurzer Spaziergang. Und da sie beide den gleichen Ausgangspunkt haben…
Aber Sascha schüttelt den Kopf. „Nee, ich muss vorher noch was erledigen. Also, komm dann einfach ‘rum.“
„Okay.“ Obwohl Björn deshalb schon etwas geknickt ist. Er hasst es, allein in eine ungewohnte Situation zu platzen. Und eine Feier mit Menschen, die er nicht kennt, in einer Kneipe, die er nur vom Namen her kennt, ist genau das.
„Gut. Dann seh‘ ich dich heute Abend“, sagt Sascha und nickt noch einmal zum Abschied.
„Ja. Bis nachher“, antwortet Björn und wendet sich ab. Auf dem Weg nach oben in sein Büro überkommt ihn aber ein leises Gefühl der Panik. Er braucht ein Geschenk .
-
Die Kneipe ist gar nicht mal so schlimm, wie Björn befürchtet hatte. Etwas voll – vor allem dafür, dass es ein Dienstagabend ist –, aber dennoch ganz gemütlich. Es hilft definitiv, dass Sascha ihn noch nicht zu irgendeiner Gruppe geschleppt hat, sondern stattdessen auf einen Barhocker neben ihm gesunken ist, sobald Björn sich hingesetzt hatte. Bislang haben sie ein bisschen Smalltalk geführt: Tatsächlich konnte Sascha einem Kinderchor an Geburtstagswünschen entgehen. Wenn das mal kein Erfolg ist.
Apropos… „Oh hey“, sagt Björn, als der Barmann ihm sein zweites Bier gibt. „Ich hab‘ noch ‘was für dich.“
Sascha hebt eine Augenbraue, eine Bewegung, die nur dadurch betont wird, dass er wieder seinen strengen Pferdeschwanz trägt. Es ist, als hätte die Braue dadurch einen schier endlosen Platz, um seine Neugier auszudrücken.
Björn greift in seine Hosentasche und holt die kleine Papiertüte heraus, die er vorhin im Einkaufszentrum bekommen hat. „Bitte nimm es mir nicht krumm, dass es nicht richtig eingepackt ist. Ich bin darin so eine Niete, ich versuch‘ es erst gar nicht mehr“, erklärt er und reicht sie Sascha.
Der nimmt die Tüte an und betrachtet sie so, als könnte er nicht glauben, dass sie wirklich existiert. „Du… hast mir ein Geschenk geholt?“
„Nur eine Kleinigkeit“, sagt Björn beschwichtigend. „Es ist mehr ein Witz als alles andere.“
Sascha runzelt die Stirn. Im nächsten Moment öffnet er die Tüte und holt den kleinen Anstecker hervor, der sich darin befindet. Er dreht ihn im Licht hin und her, um das Glas mit dem Fisch darin genau betrachten zu können.
„Es ist dumm–“
„Es ist niedlich “, erwidert Sascha. „ Fisch im Wasser “, murmelt er, mehr zu sich selbst als zu Björn. Dann öffnet er die Sicherheitsnadel und heftet die Brosche an seine Bomberjacke.
„Du musst das nicht tragen–“, sagt Björn. Aus irgendeinem Grund muss er dem Drang widerstehen, den Anstecker selbst wieder abzunehmen. Als er ihn vorhin durch Zufall im Laden entdeckt hatte, dachte er, es könnte ganz witzig sein. Jetzt kommt er sich ziemlich dumm vor.
„Ich will aber“, sagt Sascha entschieden.
„Ich mein‘, das könnte ein ganz schöner Abturn sein, wenn du ‘ne Frau mit nach Hause nehmen willst oder so“, erklärt Björn und gestikuliert zu den Sitzecken, die mittlerweile mit Grüppchen gefüllt sind.
Wieder runzelt Sascha die Stirn. „Wenn ich eine–“, beginnt er, unterbricht sich aber selbst mit einem kleinen Lachen. „Mann, ich steh‘ nicht mal auf Frauen.“
Daraufhin kann Björn nicht verhindern, dass sich sein Mund öffnet. Das ist definitiv etwas, von dem er keine Ahnung hatte. „Oh! Das ist…“, beginnt er, ohne irgendeinen Plan, wie der Satz enden soll. Am Ende wird es: „Das ist in Ordnung.“
Sascha schnaubt, eher belustigt als wütend, glücklicherweise. „Ich weiß, dass das in Ordnung ist, Anwalt.“
„Ich mein– klar, generell. Aber auch für mich ist das in Ordnung“, versucht Björn sich herauszureden. „Ich wusste einfach nur nicht, dass du–“
„Chill doch mal“, ermahnt Sascha ihn. „Ich hätte auch nicht gedacht, dass du homophob bist. Ich meine, manchmal benimmst du dich wie ein alter weißer Mann–“
„Ich bin nicht alt!“
„Ich sagte, du benimmst dich so“, antwortet Sascha, und diesmal versteckt er sein Grinsen nicht. Es ist merkwürdig, wie schnell sich Björn an diesen Anblick gewöhnt hat. Sascha außerhalb seines üblichen Umfelds – und damit meint er Mafiosi und andere Gewalttäter – zu sehen, ist irgendwie… schön. Immer, wenn Björn ihn in der Kita sieht, wirkt es, als wäre Sascha nur dafür geboren.
„Und… warum sind wir dann in einer normalen Bar?“, will Björn wissen. Immerhin ist es Saschas Geburtstag, dementsprechend würde es nur Sinn ergeben, wenn sich alles nach seinen Vorlieben richten würde.
Irgendwas an seinen Worten lässt Sascha auflachen. Richtig auflachen. Er wirft seinen Kopf in den Nacken und lässt einen lauten, bellenden Ton los. Björn hat das noch nie zuvor gehört. „Nur weil ich auf Männer stehe, heißt das nicht, dass ich in eine Schwulenbar gehen muss “, erklärt Sascha, mit einem Blick, als würde er mit einem Kind reden. „Ich will eh niemanden abschleppen.“
„Nicht?“
Sascha zuckt mit den Schultern. „Nicht mein Ding.“
„Aber… ich meine– feste Beziehungen waren doch bestimmt… schwierig, mit– mit Dragan und allem.“ Selbst Björns Ehe litt unter dem Einfluss von Dragan, und er hatte auf der halbwegs legalen Seite bei allem gestanden. Er kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass man tagsüber jemanden umbringt und abends zu einem Partner ins Bett kriecht. Er hatte den Mord an Dragan immerhin auch erst begangen, als er allein lebte.
Irgendwas an seinen Worten scheint Sascha zu amüsieren. Aber statt das zum Ausdruck zu bringen, schnalzt er mit der Zunge und kippt einen weiteren Shot runter. „Genug davon, Anwalt“, sagt er bestimmt. „Sonst müssen wir noch darüber reden, wieso du es kaum abwarten konntest, deine Scheidungspapiere zu unterschreiben.“
„ Das war eine achtsame Entscheidung“, betont Björn. Und es war die richtige. Ein kleiner Teil von ihm denkt, dass er und Katharina niemals vor den Altar hätten treten dürfen – wobei, dann gäbe es Emily nicht. Dementsprechend war es die richtige Entscheidung gewesen. Zumindest damals. Nur hätte es vermutlich gar nicht so lange andauern sollen.
Sascha schüttelt den Kopf. „Du und deine Achtsamkeit“, meint er, ein leises Kichern in seiner Stimme. Er greift nach Björns Bierglas und führt es an seine Lippen, als wäre es das Normalste überhaupt. „Man sollte meinen, dein Breitner hat dir neue Eier angeklebt, so wie sich das auswirkt.“
Jetzt kann Björn sein eigenes Lachen auch nicht mehr zurückhalten. Sascha hat schon irgendwie recht: Wo er früher nur gekuscht wäre, traut sich Björn jetzt auch mal auf den Tisch zu hauen. Das ist doch etwas Gutes, oder? Immerhin ist er jetzt sowas wie glücklich . Er sieht jetzt Emily regelmäßig. Er und Katharina können sich unterhalten, ohne ausfallend zu werden. Er kann mit Freunden ausgehen – etwas, das er seit der Zeit an der Uni nicht mehr gemacht hat.
Hm, komisch. Wann genau hat er angefangen, in Sascha einen Freund zu sehen? Es würde Sinn machen: Sie leben im gleichen Haus, sehen einander regelmäßig – nicht nur morgens, wenn Björn Emily in der Kita abgibt, sondern hin und wieder auch zu gemeinsamen Mittagsessen – und, streng genommen, ist Sascha der einzige Mensch, dem er aktuell vertrauen kann. Denn Sascha weiß, was Björn getan hat (dem ist er sich sicher) und hat trotzdem entschieden, ihm unzählige Male aus der Patsche zu helfen. Und Sascha hat ihn eingeladen, seinen Geburtstag zu feiern. Das würde bedeuten, dass dieses Gefühl der Freundschaft auf Gegenseitigkeit beruht.
Trotzdem, irgendwas sagt Björn, dass es nicht die Zeit für Sentimentalität ist. Also nimmt er Sascha sein Glas wieder weg und sagt: „Du weißt gar nichts über meine Eier.“
Das schallende Lachen, das daraufhin von Sascha kommt, ist den dummen Spruch auf jeden Fall wert. „Mann, Anwalt“, sagt er, während er immer noch nach Luft ringt, „du bist brilliant.“ Seine Hand findet ihren Weg zu Björns Schulter, wo sie für einen Moment liegen bleibt.
Björn hatte nicht einmal mitbekommen, wie nah sie beieinander sitzen. Irgendwie ist er auf einmal peinlich berührt – was aber auch Sinn macht. Er ist nie gut darin gewesen, Komplimente zu akzeptieren. Breitner würde wahrscheinlich irgendeinen Grund in seiner Kindheit vermuten, und wahrscheinlich wäre das gar nicht mal so falsch. Wie dem auch sei, jetzt gerade fühlt er, wie seine Wangen warm werden.
„Äh, also– wo sind denn deine anderen Freunde?“, fragt er, statt irgendetwas davon zu thematisieren. Sie müssen bestimmt schon eine Stunde lang hier sein und bislang ist noch niemand auf Sascha zugestürmt und hat ihm einen schönen Geburtstag gewünscht.
Für einen Moment legt sich ein Schatten auf Saschas Gesicht, doch nach einem kurzen Seufzen verschwindet er schon wieder. „Weißt du, mit Freundschaften verhält es sich so ein bisschen wie mit Beziehungen. Ist nicht einfach in dem Geschäft.“
„Oh.“ Das ergibt absolut Sinn. Immerhin kann man Freunden genauso wenig absagen, weil man eben einen Kopf im Eisfach verstauen muss, wie man es einem Partner gegenüber kann. Trotzdem… „Ich dachte, du und Natascha wärt befreundet. Du hattest doch auf ihre Kinder aufgepasst, nicht?“
Erneut schnalzt Sascha mit der Zunge. Er hebt die Augenbraue, als er Björn eindringlich ansieht. „Kannst du dir vorstellen, dass ich vielleicht einfach einen Abend mit dir verbringen wollte?“
Björn kann nicht anders als ihn anzustarren. Klar, er weiß, dass Sascha eine gewisse Sympathie für ihn hegen muss, aber er hatte angenommen, die Einladung in die Bar war einfach so ein Gruppen-Ding. Den Anwalt, der dir einen guten Job besorgt hat und im gleichen Gebäude lebt, als einen von vielen einzuladen, das ist keine große Sache, richtig? Einfach etwas, das man nebenbei sagt. Aber Björn gezielt, als einzigen, einzuladen? Das ist etwas anderes.
Sascha wirkt plötzlich fast ein wenig peinlich berührt. Trotzdem steht er seinen Mann. „Okay?“, will er wissen.
„Ja“, sagt Björn, fast automatisch. „Ja, klar.“ Natürlich können sie auch einfach mal privat abhängen.
Saschas Lächeln… wirkt authentisch. Nicht amüsiert, nicht sarkastisch. Ehrlich. Als ob er sich wirklich darüber freut.
Björn fühlt, wie auch er beginnt, zu lächeln.
„Dann bestell‘ ich uns mal noch ‘ne Runde“, entscheidet Sascha dann und winkt auch schon den Barmann herbei.
„Holst du dir dein eigenes Bier?“, schlägt Björn vor. Das Glas, das jetzt wieder vor ihm steht, ist mittlerweile leer.
Sascha schnaubt. „Ich trink‘ gar kein Bier.“
„Entschuldige? Du hast doch gerade–“
„Um dich zu ärgern“, gibt Sascha zu. Er zwinkert Björn zu, ehe er sich dem Barmann zuwendet, der jetzt bereit ist, ihre Bestellung aufzunehmen.
Während er Saschas Pferdeschwanz ansieht, kann Björn nicht anders als erneut den Kopf zu schütteln. Bis jetzt hatte er gedacht, dass er Sascha ganz gut kennt. Immerhin hatte er Akten über jeden von Dragans Mitarbeitern angelegt, um Verbindungen zu verstehen und zu wissen, wie er für jeden einzelnen von ihnen argumentieren könnte, wenn es doch mal vor Gericht ging. Er kennt Saschas Vita ganz genau. Aber jetzt muss er feststellen, dass das eben nicht alles ist. Obwohl, wer weiß? Vielleicht hätte er auch in diesem Zusammenhang wissen sollen, dass für Sascha ein Mann ein besseres Alibi für eine Nacht abgeben würde als eine Frau.
Er wird aus seinen Gedanken gerissen, als Sascha sich wieder umdreht. „Ich hoffe, du hast Ausdauer, Anwalt.“
„Was–“, setzt Björn an, als auch schon zwei Shotgläser vor ihnen auf den Tresen gehauen werden. Darauf folgt eine Flasche mit klarer Flüssigkeit – Hochprozentiges, so viel ist sicher. Vielleicht sollte er Sascha daran erinnern, dass nur einer von ihnen slawische Wurzeln hat, aber das könnte rassistisch sein, nicht? Obwohl er glaubt, dass Sascha es mit Humor nehmen würde.
Statt irgendetwas davon zu sagen, hält er Sascha sein Glas hin, damit er es füllt.
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Einige Shots später und sie hüpfen von einem Thema zum nächsten. Björn hat tatsächlich mittlerweile den Faden darüber verloren, was sie alles schon abgehakt haben. Er hat Geschichten aus seinem Studium erzählt, während Sascha dagegen hielt, dass er eine Ausbildung gemacht und für einen Drogenboss gearbeitet hat. Natürlich nicht mit so vielen Details – sie sind immerhin umgeben von Fremden –, aber Björn war schon immer gut darin, zwischen den Zeilen zu lesen. Manchmal, so Katharina, erfindet er sogar Sachen hinzu, die da gar nicht sind. Im Gespräch mit Sascha kommt das Gefühl nicht einmal vor.
Nein, es ist eher so, dass Sascha immer noch ein Buch ist, das in einer Sprache geschrieben ist, von denen er nur Stücke kennt. Niederländisch, beispielsweise. Da denkt man, es kann gar nicht so anders sein, und hinterher steht man am Ijsselmeer und hat keine Ahnung, worüber das Gegenüber eigentlich spricht. Obwohl der Vergleich irgendwie hinkt. Björn weiß ganz genau, wovon Sascha redet, aber er will noch mehr wissen.
Also fragt er das Erstbeste, das ihm in den Sinn kommt. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“
Sascha, der gerade dabei war, sein Shotglas an seine Lippen zu führen, stoppt. „Was?“
„Das ist das Erste, was du Emily gefragt hast, als ihr euch kennengelernt habt. Und dann hat sie dir auch verraten, dass ich Hellblau mag“, erklärt Björn mit einem Schulterzucken. „Aber ich habe keine Ahnung, welche Farben du magst.“
„Was würde dir das bringen? Ich frag‘ die Kids, damit sie schneller auftauen.“
Björn hebt die Hände. „Vielleicht will ich ja bei uns das Eis brechen.“
Das bringt Sascha zum Lachen. „Anwalt, zwischen uns ist sowas von überhaupt kein Eis–“
Das ist vermutlich richtig. Bei den Dingen, die die beiden zusammen durchgemacht haben, war oftmals keine Zeit für Schüchternheit. Und dann waren da noch die vielen Male, in denen sie sogar nonverbal kommunizieren mussten. Trotzdem… „Ich hab‘ mal gehört, dass Lieblingsfarben eine Menge über den Menschen verraten.“
Diesmal schnaubt Sascha in sein Shotglas. „Wer hat dir das denn gesagt? Dein Breitner?“
„Ich glaub‘, das ist mehr so ein genereller psychologischer Fakt.“
„Und du meinst, wenn ich dir meine Lieblingsfarbe verrate, weißt du alles über mich“, schlussfolgert Sascha.
„Wer weiß.“
„Schön.“ Sascha trinkt endlich seinen verdammten Shot und stellt das Glas zurück auf den Tresen. „Ich mag Anthrazit ganz gerne. Was machst du daraus?“
„Anthra–“, beginnt Björn, muss dann aber den Kopf schütteln. Er schaut Sascha mit großen Augen an. „Wie extravagant bist du denn? Sag‘ doch einfach Grau .“
„Anthrazit ist nicht Grau.“
„Aber sowas von“, kontert Björn.
Sascha schüttelt den Kopf. „Nee, gar nicht.“
„Ja klar, und meine grauen Haare sind einfach nur friedhofsblond“, entscheidet Björn und hebt sein eigenes Glas an.
„Du hast doch gar keine grauen Haare.“
„Das denkst du .“ Tatsächlich ist Björn in dieser Hinsicht scheinbar genetisch gesegnet – während schon einige seiner Kommilitonen während ihrer Examen ergrauten, sind seine Haare auch mit Anfang Vierzig so dunkel wie eh und je.
Auf seine Worte hin wirkt Sascha ganz nachdenklich. Er schaut Björn für einen Moment ganz eindringlich an, bevor er verkündet: „Hm, ich glaub‘, das würd‘ ganz gut aussehen.“
„Du stehst also auf Ältere, verstehe“, nickt Björn. Und dann wird ihm bewusst, was er da überhaupt gesagt hat. Hat er da wirklich gerade impliziert, dass Sascha ihn attraktiv finden würde? Nur weil er sagt, dass etwas potentiell gut aussehen könnte, heißt das doch noch lange nicht–
„Scheinbar.“ Doch Sascha schaut ihn gar nicht an, sondern leert sein Glas und stiert irgendwo in die Menge.
Plötzlich wirkt er ganz kühl. Scheiße , da ist Björn aber mit Anlauf ins Fettnäpfchen gesprungen.
„Wir sollten gleich mal nach Hause“, sagt Sascha als Nächstes, immer noch, ohne ihn anzuschauen.
„Wir sind doch noch gar nicht so lange hier.“
„Ich weiß, du regelst deine eigenen Stunden.“ Wieder ist da so ein leises Seufzen in Saschas Stimme. „Aber ich hab‘ ‘ne Kita zu leiten.“
„Du könntest dich krank melden. Ich wette, dein Boss hätte nichts dagegen.“ Björn hat keine Ahnung, was ihn da reitet, aber fast wie automatisch legt er den Kopf schief. Katharina hat früher immer gesagt, dass man ihm dann nichts abschlagen könnte. Und er will nicht, dass der Abend schon endet. Vor allem nicht mit einem Sascha, der wütend auf ihn ist.
Sascha scheint mehr Sturheit zu besitzen als seine Fast-Ex-Frau. „Wir können ja zuhause noch…“ Aber was genau er meint, sagt er nicht.
Nicht, dass es irgendwas bedeuten würde. Sascha will diese Bar verlassen, soviel ist klar. Und was auch immer ihn dazu bewegt, Björn wird sich nicht wie irgendein Jugendlicher benehmen, der einen Drink nach dem anderen in sich reinkippen will. Darüber ist er schon längst hinaus. Er weiß, wann man eine Bar verlässt.
„Na gut“, stimmt er zu. „Sollen wir noch austrinken?“, fragt er und nickt zu der noch halbvollen Flasche Korn.
„Wenn du zahlst, darfst du sie mitnehmen“, sagt Sascha mit einem Achselzucken. Immerhin schaut er Björn nicht an, wie ein Alien, dem man erst noch die Welt erklären muss. Dass er trotz des plötzlichen Stimmungsumschwungs doch nicht genervt ist, beweist er auf eine für ihn typische Art: „Und du solltest zahlen.“
„Was? Wieso ich?“
Sascha zeigt auf sich. „Geburtstagskind.“ Er zeigt auf Björn. „Star-Anwalt.“ Und wieder auf sich selbst. „Armer Kindergärtner.“
„Ich dachte, das heißt jetzt Erzieher .“
„Zahl einfach den Deckel, Diemel.“
Björn greift zwar nach seinem Geldbeutel, allerdings nicht ohne das Gesicht zu verziehen. „Oh nein, nicht Diemel . Du nennst mich nicht Diemel .“
„Das ist dein Name“, merkt Sascha an, während er wieder nach dem Barmann winkt.
„Ja, schon. Aber du nennst mich nicht so. Du sagst immer Anwalt .“
„Soll ich dich Björn nennen?“
„Nein“, antwortet Björn, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Er drückt dem Barmann viel zu viel Geld in die Hand und sagt: „Stimmt so“, bevor er sich wieder Sascha zuwendet, der ihn leicht verdutzt anschaut. „Ich mag es, wenn du mich Anwalt nennst. Bei dir klingt das eher nach ‘nem Kompliment als nach einer Beleidigung.“
Das bringt Sascha wieder zum Lachen. „Na gut, Anwalt . Dann lass uns gehen.“ Mit der einen Hand greift er nach der Flasche, mit der anderen drückt er Björns Schulter, während er sich von seinem Hocker erhebt.
Als er loslässt, vermisst Björn den Kontakt fast direkt. Ja, vielleicht ist es wirklich Zeit fürs Bett, überlegt er. Sascha wartet mit dem Gehen, bis er ebenfalls aufgestanden ist.
Im Laufe des Abends hat es sich abgekühlt. Nicht so sehr, dass Björn bereut, keine Jacke mitgenommen zu haben, aber doch so sehr, dass ihn die frische Luft direkt wieder etwas aufweckt. Zwar darf man in Kneipen mittlerweile nicht mehr rauchen, doch das ändert nichts an der schlechten Luft, wenn sich zu viele Menschen in geschlossenen Räumen zusammentun.
„Alles gut?“, fragt Sascha nach einem Moment. Die Verwirrung muss sichtbar sein auf Björns Gesicht, denn er fügt fast direkt an: „Du hast so schwer geatmet.“
„Oh.“ Manchmal, so kommt es Björn vor, verfällt er sofort in seine Achtsamkeitsübungen. Das ist wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Aber er ist sich ziemlich sicher, dass das jetzt gerade nicht der Fall war. „Es war ziemlich stickig dadrin.“
„Stimmt“, nickt Sascha. „Danke fürs Mitkommen.“
„Danke fürs Einladen.“
„Klar doch“, kommt die Antwort, so locker, als würde es wirklich stimmen. Björn ist da nicht so sicher. Selbst wenn Sascha keine richtigen Freunde haben sollte, ist das noch lange kein Grund, ausgerechnet Björn auszuwählen, um seinen Geburtstag zu feiern.
Björn weiß besser als es zu thematisieren. Es fehlt noch, dass Sascha ihn nicht nur für einen Loser hält, sondern denkt, dass Björn selbst es auch tut. Also konzentriert er sich lieber aufs Gehen – er ist schon ein paar Mal mit Sascha zusammengestoßen, was aber vielleicht auch am Alkohol liegen könnte. Er hat den Überblick darüber verloren, wie viele Shots er getrunken hat.
Trotzdem. Die Stille zwischen ihm und Sascha mag zwar nicht peinlich sein, doch er will sie füllen. Vielleicht, weil er schon in den letzten Stunden so viel über seinen Kumpanen gelernt hat. Dass er Folgendes fragt, ist trotzdem nicht beabsichtigt: „Warum Anthrazit?“
„Hm?“
„Warum magst du Anthrazit?“
Sascha hebt eine Augenbraue. „Warum magst du Hellblau?“
„Ich hab zuerst gefragt“, antwortet Björn. Ehrlich gesagt, hat er keine Ahnung, warum gerade das seine Lieblingsfarbe ist. Aber es ist eine normale Auswahl. Wer so etwas wie Anthrazit antwortet, der hat einen Grund dafür.
„Sehr reif“, merkt Sascha an. Wieder wirkt er irgendwie… kälter. Immer wieder überkommt Björn das Gefühl, dass er nicht weiter bohren sollte, dass Sascha nichts preisgeben will. Aber das macht keinen Sinn. Warum sollte Anthrazit mehr Geheimnisse beinhalten als Ich steh‘ nicht auf Frauen ?
„Sorry, ich dachte nur– Ich mag es, mehr über dich herauszufinden.“ So viel Ehrlichkeit wollte Björn gar nicht zeigen. Das ist nicht die Art von Sache, die man einfach sagt.
Sascha denkt genau das Gleiche, denn er bleibt nicht nur einfach stehen, sondern sagt auch: „Sowas kannst du nicht einfach sagen , Björn.“
Er hat absolut recht. Und am liebsten würde Björn sich genau hier vergraben. Das kann er aber schlecht zugeben, also sagt er stattdessen: „ Anwalt . Ich hab dir gesagt, du sollst–“
„Fuck“, murmelt Sascha und schüttelt erneut den Kopf. „Du treibst mich in den Wahnsinn“, verkündet er, bevor er wieder anfängt zu gehen. Diesmal weitaus schneller als noch zuvor.
„Warte, was? Was meinst du?“, will Björn wissen, als er ihm nachsetzt.
„Ach, vergiss es.“
„Nein, jetzt bin ich neugierig“, beharrt er. Ohne zu überlegen, greift er nach Saschas Handgelenk, um ihn zu stoppen.
Was auch funktioniert, allerdings ist da direkt diese Spannung in Saschas Körper. Björn muss schlucken – er weiß genau, zu was für Dinge Sascha fähig ist. Ihn einfach so zu berühren, könnte ihn wahrscheinlich den Kopf kosten. Besonders, wenn Sascha aus irgendeinem Grund eh schon aufgebracht ist.
Er lässt so schnell los, als hätte er sich verbrannt.
Sascha starrt auf die Stelle, wo Björn ihn gerade noch angefasst hat. Da ist irgendwas in seinem Blick, doch Björn kann es einfach nicht lesen. Und er will – nein, er muss es wissen.
„Was ist los?“
„Nichts.“
„Du wirkst aber nicht so, als wenn nichts wäre“, hält Björn fest. Eigentlich ist es ein bisschen lächerlich, hier mitten auf der Straße zu stehen und über die Gefühlslage seines Freundes zu diskutieren.
„Weißt du, manchmal–“ Sascha fährt mit einer Hand über seine Haare, die immer noch glatt auf seinem Kopf anliegen. Schon komisch, dass der Zopf in jeder Lebenslage so gut hält. Björn kann sich nicht daran erinnern, jemals auch nur ein loses Haar gesehen zu haben.
Wenn er es nicht besser wüsste, würde er meinen, dass Sascha nervös ist. „Ja?“
„ Manchmal “, Sascha pausiert und atmet tief ein. Ob es zur Beruhigung ist oder um Kraft zu schöpfen, kann Björn nicht sagen. „Manchmal gibst du mir so Vibes–“
„Ich gebe dir was?“
„Deine Ausstrahlung, du alter Mann!“ Und okay, Sascha ist definitiv frustriert. Die Frage ist nur, warum.
Doch mittlerweile fühlt er sich so wohl in Saschas Gegenwart, dass sein Mund manchmal schneller ist als sein Hirn. Deshalb sagt er, ganz unüberlegt: „Ich dachte, du magst ältere Männer.“
„Da!“ Sascha zeigt auf ihn, in einer großen, ausladenden Geste. „Schon wieder!“
„Was denn? Ich hab doch nur–“
„Manchmal weiß ich einfach nicht, ob du zurückflirtest!“ Sascha ist für seine Verhältnisse auf einmal laut, ganz anders als die sonst so gefasste Version seiner selbst. Er wirft die Hände in die Luft, als er an Björn vorbeistiefelt.
Björn, für seinen Teil, braucht einen Moment, bis er realisiert, was Sascha da gerade gesagt hat. Zurück flirtet? Soll das heißen, dass Sascha –?
Doch das kann doch gar nicht sein. Das ist völlig absurd. Sascha kann doch nicht– Warum würde er–
Total überrollt von den vielen Gedanken in seinem Kopf, tut Björn das, was er mittlerweile vielleicht am Besten kann: Atmen. Er nimmt einen tiefen Atemzug, und stößt ihn wieder aus.
Ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Ein.
Ist es wirklich so absurd, dass Sascha ihn vielleicht… ja, was? Attraktiv finden könnte? Björn hat mindestens einen (vierjährigen) Beweis, dass der Gedanke vorkommen könnte. Vor Katharina hat er schon Freundinnen gehabt, hier und da geflirtet – und ist auf Frauen getroffen, die ihn ganz offensichtlich anziehend fanden. Warum sollte das nicht auch bei Männern der Fall sein?
Aus.
Und was, wenn Sascha ihn attraktiv findet? Klar, Sascha hat Blut an den Händen, aber er ist bei weitem nicht der schlimmste Mann, der Interesse an Björn haben könnte. Immerhin ist er kein Stalker. Und soweit er weiß, will er ihn auch nicht tot sehen. Klar, Sascha lebt im gleichen Haus, aber Björn vertraut ihm genug, um zu wissen, dass er nicht nachts in seine Wohnung einbrechen würde, wenn er ihn abblitzen lässt.
Ein.
Will er ihn denn überhaupt abblitzen lassen? Das ist die Frage, die Björn sich stellen sollte. Er ist nicht schwul– soweit er weiß, zumindest. Er würde lügen, wenn er behauptete, dass ihm noch nie aufgefallen ist, wenn ein Mann attraktiv war. Nicht, dass ihm das mal Schlaf geraubt hätte oder so, aber…
Aus.
Er hat schon öfter gedacht, dass irgendwas Besonderes an Sascha ist. Das gepflegte Auftreten, trotz aller Umstände, und dieses leicht Verruchte, das er ausstrahlt. Und dann ist da noch die Tatsache, dass er Björn neckt, was schon immer der Weg zu seinem Herzen war–
Ein.
Tatsächlich scheint diese Situation gar nicht so verzwackt zu sein, wie er ursprünglich dachte. Nein, ganz im Gegenteil.
Aus.
Björn öffnet die Augen und sieht Sascha in noch nicht allzu weiter Ferne. Es ist immer wieder faszinierend, wie lang eine Achtsamkeitsübung zu dauern scheint, obwohl es nichtmal einen Moment anhält. Ein Teil von ihm hatte befürchtet, dass Sascha schon längst in seiner Wohnung verschwunden ist. Stattdessen müsste er Björn sogar hören können.
„Sascha! Warte!“, ruft er also, und setzt ihm nach. Ein Glück ist Sascha noch nicht zu weit weg, sonst würde Björn vermutlich auf dem halben Weg kollabieren. Er ist schon viel zu lange nicht mehr gejoggt.
Falls Sascha ihn gehört hat, lässt er sich das nicht anmerken. Er wartet ganz entschieden nicht auf Björn, sondern geht stur weiter.
Am Ende greift Björn wieder nach seinem Handgelenk. „Sasch–“
Auf einmal fährt Sascha zu ihm herum. „Schon gut, Anwalt, ich bin ein Idiot–“
„Nein, Gott, ich bin der Idiot, ich–“ Okay, für das kurze Stück ist Björn definitiv zu sehr außer Atem. Vielleicht sollte er doch wieder anfangen, Sport zu machen. (Oder mit dem Pilgern anfangen. Soweit er sich entsinnen kann, bestimmt man da sein eigenes Tempo, oder? Dann könnte er erst eine Ausdauer aufbauen.) Falls irgendjemand fragt, wird er es auf die Nervosität schieben.
„Björn, schon okay“, sagt Sascha, jetzt mit einem kleinen – und diesmal erkennt Björn, dass es traurig ist – Lächeln. „Ich bin schon groß, ich komm‘ damit–“
Doch weiter kommt er nicht, denn Björn drückt schon seine Lippen auf Saschas. Zuerst ist es, als würde er eine Statue küssen – Schockstarre. Einen Moment später scheint Sascha allerdings zu realisieren, was passiert. Sein Mund öffnet sich leicht, vermutlich aus Überraschung, aber als Björn die Gelegenheit nutzt und seine Zunge über Saschas Unterlippe gleiten lässt, hört er ihn leise stöhnen. Er hebt seine freie Hand – die andere hält immer noch Saschas Handgelenk fest – und führt sie an seinen Hinterkopf, in der Hoffnung, ihn noch näher an sich ziehen zu können.
Sascha zu küssen… ist unerwartet. Nicht nur, weil ihm der Gedanke bis vor wenigen Minuten nicht einmal gekommen war. Es ist nicht so, dass er sich überhaupt jemals vorgestellt hätte, wie es wäre, einen Mann zu küssen, aber er ist sich ziemlich sicher, dass das hier eine Überraschung ist. Weil es tatsächlich gar nicht mal so anders ist als eine Frau zu küssen. Sascha schmeckt nach dem Korn, den sie sich geteilt haben, und sein Bart reibt gegen Björns Kinn, aber sonst… Es ist gut .
Besonders ab dem Moment, in dem Sascha die Führung übernimmt. Er schüttelt Björns Hand von seiner, damit er beide Hände auf Björns Hüften platzieren kann, um ihn näher an sich zu ziehen. Währenddessen verlieren ihre Lippen nicht einmal den Kontakt. Björn hört sich selbst aufstöhnen, als Sascha in seine Lippe beißt, und dann wimmern, als er schließlich von ihm ablässt.
„Das…“, haucht Björn.
„Du…“, kommt von Sascha, fast genauso atemlos wie er.
Das bringt diesmal Björn zum Lachen. Er kann sein Herz praktisch in seiner Kehle fühlen, wie es hämmert und springt, und es macht ihm nichts aus, dass Sascha es wahrscheinlich auch kann, so nah, wie sie immer noch stehen. Er lässt seine Hand Saschas Schläfe entlanggleiten und dann auf seinem Wangenknochen ruhen.
Sascha hat schöne Wangen.
Komisch, dass ihm das noch nie zuvor aufgefallen ist.
Björn grinst immer noch, als er fragt: „Also, zu dir oder zu mi– Aua !“
Sascha hat ihn einfach in die Seite geboxt. Fassungslos sieht er an sich hinab, wo Saschas Hände wieder auf seinen Hüften liegen, als wäre nichts gewesen.
„Wir leben im selben Haus“, erinnert Sascha ihn, als wenn das notwendig wäre. Er versucht, neutral zu klingen, aber Björn ist sich ziemlich sicher, dass er ebenfalls zumindest etwas aufgeregt ist.
Also umfasst er auch Saschas andere Wange mit seiner freien Hand und zieht ihn erneut an sich. „Weißt du, das macht die Sache einfacher.“