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Jinshi und Maomao Kurzgeschichten

Summary:

Die deutschen Versionen aller meiner Fanfics zu den Tagebüchern der Apothekerin.

These are the German versions of all my Apothecary Diaries-fanfics.

The English original versions are here:
https://archiveofourown.org/series/3816475
and
https://archiveofourown.org/series/3879172

Notes:

Bisher hab ich die deutschen Versionen meiner Geschichten ausschließlich auf Fanfiktion.de veröffentlicht und dachte mir, dass ich das vielleicht auch mal hier tun sollte, vielleicht will's ja jemand lesen. :)

Chapter 1: Eine unerwartete Begegnung

Chapter Text

Kurzbeschreibung:

Es war sehr spät und der (wieder mal) überarbeitete Jinshi war endlich unterwegs zu seinem Bett. Aber er hätte niemals geahnt, worauf er unterwegs stoßen würde...

 

 

Ein Gähnen unterdrückend und vor Erschöpfung kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, spazierte Jinshi durch die Korridore seiner Residenz, unterwegs zu seinem Schlafzimmer. Es war bereits ziemlich spät und das nun vollkommen stille Haus war in Dunkelheit getaucht, beleuchtet lediglich von dem schwachen Licht der Kerze, die er in der Hand hielt und die ihm den Weg wies. Er rieb sich die Augen, und ein leichter Schauder durchzog seinen Körper beim Gedanken daran, dass am nächsten Tag zweifellos ein neuer Berg an Papierkram auf ihn warten würde, der nie kleiner zu werden schien.

In seiner Bestrebung, zumindest das Wichtigste vor dem Schlafengehen zu erledigen, hatte er jedes Zeitgefühl verloren, und bevor er sich versehen hatte, war es bereits Nacht. Einfach wundervoll, nicht wahr? Er hatte sich wieder mal überarbeitet, und das obwohl er Maomao doch versprochen hatte, mehr auf seine Gesundheit zu achten und sich genug Erholung zu gönnen. Urgh! Sie würde seinen Zustand sofort bemerken, so viel war sicher. Er konnte fast schon ihr missbilligendes Seufzen hören und sehen, wie sie ihn anstarrte, als sei er eine widerliche Nacktschnecke, die an ihren Füßen vorbeikroch und dabei eine Schleimspur hinterließ. Oder möglicherweise ein Wurm. Jinshi ertappte sich beim Gedanken, dass er eigentlich gar nichts dagegen hatte und sich sogar darauf freute. Ein bisschen. Aber nicht, weil er ein Masochist war, natürlich nicht! Er hatte bloß die ganzen verzückten Blicke satt, die alle anderen Frauen (und auch einige Männer) ihm zuwarfen, ganz überwältigt von seiner Schönheit.

Apropos, Maomao... nun, da er an sie dachte, fiel ihm auf, dass er sie den ganzen Tag kaum zu Gesicht bekommen hatte. War sie wieder mit dem Zusammenmischen von Medizin beschäftigt gewesen oder vielleicht mit Kräutersammeln? Oder hatte seine gnadenlose Zofe Suiren sie etwa unter einem Berg von Aufgaben begraben?

„Sie lässt sie ab und zu wirklich fast zu Tode schuften, was?", murmelte Jinshi mit einem Kichern und bog um die Ecke. Doch da bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick: da war etwas auf dem Boden, an die Wand gelehnt. Er leuchtete mit seiner Kerze darauf und stellte überrascht fest, dass es sich nicht um ein Etwas, sondern um eine Person handelte...

„Maomao!", stieß er aus, auf einem Schlag hellwach werdend, stürmte panisch zu ihr und kniete sich neben sie hin. Die Kerze wäre ihm beinahe aus der zitternden Hand gefallen.

Die junge Frau saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Sofort kam ihm ein fürchterlicher Verdacht, der Gedanke, dass die Angst, die er seit dem ersten Mal, als er erlebt hatte, wie sie Gift konsumierte, mit sich herumtrug, sich nun doch bewahrheitet hatte: die Angst, dass sie sich versehentlich eines Tages eine tödliche Dosis irgendeiner Substanz verabreichen würde. Denn egal wie immun und resistent ihr Körper auch sein mochte, sie war immer noch ein Mensch und Gift war Gift. Eine große Menge davon könnte sogar sie töten.

Im Versuch nachzudenken, was er tun sollte, und ob er sie vielleicht noch retten könnte, wenn er sie zum Erbrechen brachte, nahm er plötzlich die ruhigen Bewegungen ihrer Brust wahr und blickte genauer hin. Dann erstarrte er für einen Augenblick und hielt vorsichtig sein Ohr an ihre Brust: sie atmete, und ihr Herz schlug. Sie war definitiv am Leben.

Bloß im Tiefschlaf.

Er entspannte sich wieder, senkte den Kopf, seufzte und hätte vor Erleichterung beinahe losgelacht, schaffte es jedoch, sich im letzten Moment zu beherrschen.

Auf dem nackten Boden im Korridor schlafen... das brachte wirklich nur Maomao fertig. War sie echt so müde gewesen, dass sie es nicht ins Bett geschafft hatte? Aber um ehrlich zu sein, war er nicht wirklich überrascht, musste er zugeben, denn an ihren ungewöhnlichen Charakter hatte er sich bereits gewöhnt.

Wieder vollkommen ruhig geworden, warf er einen erneuten Blick auf ihr sommersprossiges Gesicht. Also war es auch für sie ein langer und harter Tag gewesen, nicht wahr? Welch Ironie: da tadelte sie ihn wegens Überarbeitens und tat dies dann selbst.

Während sein Blick und seine Gedanken sich in ihren entspannten Gesichtszügen verloren, fuhr er mit seiner großen Hand über ihre Wange und strich mit dem Daumen darüber, unbewusst, jedoch trotzdem vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken. Es war irgendwie seltsam, dass er das nun so frei machen konnte, ohne dass sie zusammenzuckte oder ihm einen Blick zuwarf, von dem einige Zofen bestimmt vor Angst erstarren würden.

Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. So wie sie jetzt aussah, musste er zugeben, dass sie wirklich süß war. Na ja, eigentlich hatte er sie fast von Anfang an bereits süß gefunden, trotz ihres eher unscheinbaren Gesichtes, doch nun, da sie so fest schlief, war sie es mehr denn je.

Sie wirkte so klein und verletztlich... Jinshi musste zugeben, dass ihr zierlicher Körper in ihm den Wunsch erweckte, sie zu beschützen... obwohl sie ihm eigentlich schon mehr als nur ein Mal bewiesen hatte, dass sie weder schwach noch zerbrechlich war und schon gar nicht unterschätzt werden durfte.

Bei der Erinnerung an ihr Kakao-Aphrodisiakum musste Jinshi grinsen. Weder er noch die anderen Anwesenden konnten an dem Tag ihren Ohren trauen, als sie ihnen erzählt hatte, dass sie sich die übriggebliebene Schokolade als Snack zurückgelegt hatte! Gar nicht zu sprechen davon, wie oft sie bereits Dinge konsumiert hatte, die nicht konsumiert werden sollten, und es auch noch zu genießen schien. Zuerst hatte er vermutet, dass sie nicht ganz richtig im Kopf war, aber mit der Zeit begriffen, dass es sich um keine Verrücktheit, sondern einfach um ihren Charakter handelte.

Jawohl, Maomao war wirklich absolut einzigartig, so einzigartig, dass er sich sicher war, bis zu seinem Lebensende keiner anderen Person zu begegnen, die so war wie sie. Und obwohl er sich ein wenig für diesen Gedanken schämte, empfand er eine gewisse Dankbarkeit gegenüber denen, die sie entführt und in den inneren Palast gebracht hatten, denn andernfalls wären sie sich bestimmt nie begegnet.

Er entdeckte einige Kräuter auf ihrem Schoß und stopfte sie in ihre Ärmel, wo sie ganz bestimmt herausgefallen waren (und nein, er hatte nicht den blassesten Schimmer, was das für Kräuter waren, und wollte es auch, ehrlich gesagt, gar nicht wissen). Danach blieb er einfach schweigend neben ihr sitzen und beobachtete sie beim Schlafen, darüber ganz die Zeit vergessend und auch seine eigene Erschöpfung, welche nur darauf wartete, ihn wieder mit voller Kraft anzufallen. Der Anblick war irgendwie hypnotisierend.

Auf einmal nieste sie im Schlaf, ein Geräusch, das die Stille der Nacht durchbrach und ihn beinahe hochschrecken ließ. Erst jetzt merkte er, dass es im Korridor tatsächlich ziemlich kühl war, also wäre es keine so gute Idee, sie dort noch länger schlafen zu lassen, sonst würde sie sich noch erkälten.

Er stellte die Kerze zusammen mit dem Kerzenhalter auf den Boden, stand auf und bückte sich, um Maomao vorsichtig hochzuheben. Dann stand er einige Augenblicke lang da, um sicherzugehen, dass sie immer noch fest schlief, und schritt los in Richtung ihres Zimmers, um sie ins Bett zu bringen, sich unterwegs vorstellend, was für ein Gesicht sie wohl machen würde, sollte sie jetzt, in diesem Moment aufwachen. Die Kerze blieb auf dem Boden zurück, da Jinshi keine freie Hand hatte, um sie mitzunehmen.

Jedoch nicht für lange: kaum war er weg, tauchte auch schon Gaoshun aus einer Ecke auf und hob sie auf, sich fragend, ob sein Herr sich in der Dunkelheit und mit Maomao in den Armen in der Dunkelheit zurechtfinden würde.

Er war ganz zufällig auf diese friedliche Szene gestoßen, als er ebenfalls im Korridor unterwegs gewesen war, und beschloss, sich versteckt zu halten und diese beiden nicht zu stören.

Chapter 2: Eine unerwartete Begegnung 2

Summary:

Jinshi trägt Maomao, die er schlafend im Korridor vorgefunden hat, zu ihrem Zimmer und sinniert dabei über einige Dinge, die sie beide betreffen.

Chapter Text

Jinshis Schritte hallten durch den leeren Korridor seiner in die Dunkelheit der Nacht getauchten Residenz, während er Maomao, welche er schlafend auf dem nackten Boden vorgefunden hatte, auf den Armen trug. Sich immer noch fragend, wieso sie sich ausgerechnet solch einen Ort als Schlafplatz auserkoren hatte.

Aber das tat jetzt eigentlich nichts zur Sache. Auf jeden Fall musste er sie jetzt ins Bett bringen, wo sie viel bequemer schlafen und nicht das Risiko eingehen würde, sich eine Erkältung einzufangen oder am nächsten Morgen mit Rücken- oder Nackenschmerzen aufzuwachen. Und sobald das erledigt war, würde er sich auf sein eigenes Zimmer begeben und sich ebenfalls schlafen legen, um sich ausgeruht und mit neuer Kraft an den nächsten Berg an Papierkram zu machen, der ihn auf seinem Schreibtisch erwarten würde (wenn auch gegen seinen Willen). Bei dem Gedanken daran verzog er das Gesicht. Blieb nur noch zu hoffen, dass ihn diese vermaledeiten Papiere wenigstens nicht bis in die Träume verfolgten.

Und genau in diesem Moment und als würde sie spüren, dass seine Laune sich verschlechterte, grummelte Maomao leise im Schlaf. Im fahlen Mondlicht, das durch die Fenster schien, konnte er außerdem erkennen, dass sie missbilligend den Mund verzog. Jinshi erstarrte für einen Augenblick, im Glauben, dass sie doch noch aufgewacht war, und sich auf das gefasst machend, was unweigerlich folgen würde, entspannte sich jedoch rasch, sobald er merkte, dass dies nicht der Fall war.

„Einen unangenehmen Traum hast du da, nicht wahr?", wisperte er und lachte leise. Von ihrem süßen Anblick zog sich sein Herz zusammen. Einen unangenehmen Traum... Na hoffentlich nicht von ihm... obwohl er eigentlich außer sich vor Freude sein würde, sollte sie jetzt tatsächlich von ihm träumen... auch wenn es eine solche Reaktion bei ihr auslöste.

Da er darauf Acht geben musste, in der Dunkelheit mit nichts zusammenzustoßen oder unterwegs zu stolpern, bemerkte er nicht sofort, dass die rechte Hand der jungen Frau, die auf ihrem Bauch lag, während er sie trug, sich zu einer Faust geballt hatte. Ihn überfiel ein plötzliches Bedürfnis, diese kleine Hand zu ergreifen und zu halten, doch leider ging das im Moment nicht, da er ja gerade beide Hände voll hatte.

Etwas ratlos, was er denn tun könnte, um ihren bösen Traum zu verscheuchen, beschloss er schließlich, ihr Gewicht ein wenig zu verlagern und sie etwas enger an sich zu drücken, sodass ihr Kopf bequemer auf seiner Brust ruhte. Und zu seiner Verwunderung und überwältigenden Freude schien dies tatsächlich zu funktionieren, da sich ihre Gesichtszüge wieder entspannten.

Jinshi lächelte zufrieden. Erst jetzt fiel ihm auf, dass dies wahrhaftig das erste Mal war, dass er sie gesund und unverletzt in seinen Armen trug. Zum Glück war die Lage ziemlich ruhig im Moment, sodass er sich erstmal keine Sorgen um ihre Sicherheit machen musste. Na ja, fast, denn die Angst, dass sie sich eines Tages doch versehentlich vergiftete oder ihrem Körper dauerhaften Schaden zufügte, verließ ihn nie, obwohl er bereits längst begriffen hatte, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, sie von gefährlichen Substanzen fernzuhalten. Und überhaupt erteilte er ihr doch selbst Aufträge, welche oft mit besagten Substanzen zu tun hatten. Aber was blieb ihm Anderes übrig, wenn außer dieser scharfsinnigen jungen Frau mit überragenden medizinischen Kenntnissen keiner in der Lage war, all diese Geheimnisse zu lüften?

Doch allein der Gedanke an das, was sie unter dem Verband auf ihrem Arm verbarg, löste bei ihm Schmerzen aus.

So versunken in all diesen Gedanken, erreichte er endlich ihr Zimmer und betrat es, die Tür mit seinem Ellenbogen aufstemmend. Eine kleine Kerze brannte auf dem Tisch, wo sich allerlei seltsame Papiere und ihm unbekannte Sachen stapelten. Lieber nicht daran denken. Er begab sich schnurstracks zu Maomaos Bett und legte sie vorsichtig darauf ab. Dann streifte er ihr die Schuhe ab und zog behutsam die Decke unter ihr weg, um sie damit zuzudecken.

Auftrag ausgeführt. Also war es nun an der Zeit zu gehen, richtig?

Vollkommen richtig, doch aus irgendeinem Grund tat er dies nicht. Stattdessen setzte er sich auf ihr Bett und fing erneut an, sie zu beobachten, genau wie er es vorhin im Korridor getan hatte. Ohne Nachzudenken, was er da eigentlich tat, und wieder mal seine eigene Erschöpfung vergessend.

Ohne sich zu bewegen oder auch nur einen Ton von sich zu geben, sah er Maomao beim Schlafen zu.

Und während die Minuten vergingen, begann ein absurder, jedoch nicht umso weniger heftiger Gedanke in seinem Kopf zu manifestieren:

Der Wunsch, sich neben sie zu legen und sie im Arm haltend einzuschlafen. Einfach so. Ohne sich um ihren Status, ihre Positionen und um nichts und niemanden sonst zu scheren.

Dieser Wunsch war so intensiv, so greifbar, dass er, ohne es zu merken, seine Hand in ihre Richtung ausstreckte. Sie war so nah. Nur noch ein bisschen, ein paar klitzekleine Bewegungen, und er würde bekommen, was er wollte.

Doch dann kam er wieder zu sich und ließ seine Hand sinken.

Nein.

So etwas würde er nicht tun, denn was würde sie sonst von ihm denken? Er wollte weder, dass sie ihn fürchtete, noch von ihr im Schlaf umgebracht werden.

Doch einfach aufzustehen und zu gehen, als sei er nie dort gewesen, fühlte sich auch nicht ganz richtig an. Er seufzte. Obwohl sie sich ganz in der Nähe befand, so sehr, dass er ihre Bewegungen unter der Decke spüren konnte, in dem gleichen Bett liegend, auf dem auch er gerade saß, könnte genauso gut eine dicke Glaswand zwischen ihnen aufgerichtet sein. Eine, die er nicht durchdringen könnte, egal wie sehr er es auch versuchte.

Und weil er auf ihre schlafende Gestalt herabblickte, zog plötzlich ein Schatten der Traurigkeit über Jinshis Gesicht. Er war sich ganz genau bewusst, dass Maomao es nicht mochte, wenn er sie anfasste oder sich zu nah befand, schließlich war er ja nicht blind, doch er konnte einfach nicht anders, obwohl er wusste, dass er mit dem Feuer spielte und dem Risiko, dass er sie ihn endgültig zu hassen beginnen könnte. Noch nie im Leben hatte er ein solches Interesse, eine solche Zuneigung zu einem anderen Menschen verspürt, und dies war nun mal die einzige ihm bekannte Art, es zu zeigen. Ohne seine größte Waffe, sein ungewöhnlich schönes Äußeres, fühlte er sich vollkommen hilflos. Denn was würde schon von ihm übrigbleiben, wenn man diese ganze wunderschöne Fassade entfernte? Gar nichts außer einem unsicheren und vollkommen unerfahrenen Jungen.

Er gab einen erneuten Seufzer von sich und rückte noch etwas näher an sie heran. Was für ein Egoist er doch war, was? Ein Egoist und Masochist. Ein wahrhaftiger Masochist.

„Verzeih mir, Maomao", flüsterte er, bückte sich und gab ihr einen sanften Kuss auf die linke Wange. Dann strich er mit dem Zeigefinger vorsichtig über ihre Hand, die er vorhin so sehr hatte ergreifen wollen, stand auf, pustete die Kerze auf ihrem Tisch aus und verließ schlussendlich ihr Zimmer, jedoch nicht ohne vorher noch einen letzten Blick auf die schlafende junge Frau zu werfen. In der Hoffnung, dass sie seine Zuneigung eines Tages erwiderte. Und solange diese Hoffnung bestand, hatte er nicht vor aufzugeben.

Der Rest der Nacht verlief in vollkommener Stille, und als die Morgensonne schließlich durch das Fenster in Maomaos Zimmer und ihr Gesicht zu scheinen begann, fing sie an, sich zu rühren, murrte leise und öffnete langsam die Augen. Sie brauchte ein paar Augenblicke, um zu sich zu kommen. Puh! Letzte Nacht hatte sie mehrere Stunden lang hochkonzentriert an einem Arzneimittel gearbeitet, und konnte einige Überbleibsel der damaligen Müdigkeit immer noch spüren. Es war immer noch ziemlich früh, also sollte sie vielleicht noch ein wenig schlafen.

Und als sie sich anschickte, genau dies zu tun, weiteten sich urplötzlich ihre Augen, und sie setzte sich auf der Stelle auf. Wieso war sie eigentlich komplett angezogen? War sie letzte Nacht tatsächlich so erschöpft gewesen, dass sie sogar vergessen hatte, sich vor dem Schlafengehen umzuziehen?

Sie runzelte die Stirn, und ihre blauen Augen verfinsterten sich. Moment mal... ehrlich gesagt, konnte sie sich nicht einmal erinnern, überhaupt ins Bett gegangen zu sein...

„Verzeih mir, Maomao."

Ein heftiger eiskalter Schauder lief über ihren Rücken. Also waren diese mit Jinshis Stimme gesagten Worte, welche sie irgendwann im Laufe der Nacht vage vernommen hatte, doch kein Traum gewesen?! Was bitteschön hatte Jinshi denn getan, um es für nötig zu befinden, sich bei ihr zu entschuldigen?

Maomao setzte einen Gesichtsausdruck auf, mit dem man einige der Damen im inneren Palast zum Kreischen bringen könnte, und tastete ihren Körper ab. Nur so, für alle Fälle. Auch wenn sie sich tief in ihrem Inneren bereits sicher war, dass dafür keine Notwendigkeit bestand, da sie nun wusste, dass Jinshi nicht der Typ Mann war, der sich an einer schlafenden oder bewusstlosen Frau vergehen würde. Oder einer, der einer Frau überhaupt ernsthaften Schaden zufügen würde. Immerhin hatte sie nicht vergessen, wie schockiert er ausgesehen hatte, als sie ihm erzählt hatte, weshalb sie sich Sommersprossen ins Gesicht malte. Oder wie erleichert, als er erfahren hatte, dass es keinem einzigen Mann gelungen war, ihr etwas anzutun.

Zugegeben, Jinshi war ein ziemlich aufdringlicher Kerl und eine Klette... und benahm sich wie ein verwöhnter Bengel von Zeit zu Zeit... doch ein schlechter Mensch war er nicht.

Aber sie hätte trotzdem gern gewusst, was er denn nun angestellt hatte.

Vielleicht sollte sie Abführmittel in sein Essen tun. Nur ein klein wenig. Als Warnung, sozusagen.

Maomao blinzelte einige Male und setzte dann wieder ihren gewohnten Gesichtsausdruck auf.

Nein. Lieber nicht. Sie hatte keine Lust auf unnötige Schwierigkeiten.

Und während sie so darüber nachdachte, drehte sie geistesabwesend den Kopf zum sonnigen morgendlichen Himmel draußen vor dem Fenster und berührte unbewusst ihre linke Wange...

...sich eingestehend, dass sie Jinshi doch in gewisser Hinsicht vertraute.

Chapter 3: Eine unerwartete Begegnung für Maomao

Summary:

Eine kleine Geschichte darüber, wie Maomao Jinshi schlafend an seinem Schreibtisch vorfindet.

Chapter Text

Der Tag neigte sich dem Ende zu, und der gräuliche Himmel nahm orange-rote Töne an, als die letzten Sonnenstrahlen sich durch die Wolken bahnten und in Jinshis Schreibstube hineinschienen. Kein einziges Wort zerriss die Stille, während er gebeugt an seinem Schreibtisch saß und sich mit dem bereits gewohnten Berg an Papieren herumplagte. Sein Gehilfe Gaoshun stand dabei wie so oft hinter ihm.

Jinshi sah so umwerfend aus wie immer, wie er da so hochkonzentriert in das vor ihm liegende Dokument vertieft war und seinen Pinsel über das Papier gleiten ließ. Wie eine himmlische Nymphe, die einer Legende entsprungen war…

…eine bleiche Nymphe mit dunklen Augenringen, die so aussah, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Was nicht gerade einer Lüge entsprach.

Eine tiefe Falte zog sich zwischen Gaoshuns Augenbrauen, entstanden durch all die Sorgen, die ihm sein junger Herr bereitete. Er hatte Jinshi wiederholt gewarnt, seine Arbeit nicht liegen zu lassen, es damit jedoch auch nicht zu übertreiben. Doch hörte dieser junge Mann auf ihn? Natürlich nicht. Er weigerte sich, seinen Worten Folge zu leisten, wollte so viel wie möglich erledigen, um danach mehr freie Zeit zu haben. Freie Zeit, um sie in Maomaos Nähe zu verbringen, natürlich. Gaoshun seufzte. Ihm war bereits vor geraumer Zeit aufgefallen, wie sehr sein Herr jedes Mal auflebte, wenn er sich bei dieser jungen Frau befand. Als würde ihre Präsenz allein ihn mit einer Art besonderen Energie erfüllen.

Genau, es bestand kein Zweifel mehr, dass Jinshi ohne sie nicht mehr leben konnte. Bloß wusste Gaoshun nicht, ob das etwas Gutes oder Schlechtes war.

Die letzten Sonnenstrahlen verabschiedeten sich nun, und der Gehilfe zündete die Lampe an.

„Vielleicht solltet Ihr lieber schlafen gehen und morgen weitermachen, mein Herr”, wagte er einen erneuten Versuch. „Wenn Ihr Euch beim Schreiben nicht richtig konzentrieren könnt, riskiert Ihr Fehler.”

„Es geht mir gut”, widersprach Jinshi, ohne auch nur vom Papier aufzuschauen. „Nur ein wenig noch. Ich bin gleich fertig.”

Endlich blickte er zu seinem Geholfen hoch.

„Eigentlich kannst du bereits ins Bett gehen, ich komme schon allein zurecht.”

„Aber, mein Herr…”

Jinshi wedelte mit der Hand, als wolle er ihn wegscheuchen.

„Nun geh schon. Ich mache in ein paar Minuten sowieso Schluss.”

Tja, was blieb dem guten Gaoshun nun Anderes übrig?

„Sehr wohl.”

Er verbeugte sich kurz und verließ den Raum. Nicht ohne zuvor einen letzten besorgten Blick auf seinen Herrn zu werfen. Aber nun gut, dieser war nun mal kein kleines Kind mehr, also sollte es keine Probleme geben.

Als er allein war, legte Jinshi den Pinsel hin, gab etwas zwischen einem Seufzer und einem Gähnen von sich und rieb sich die Augen, im Versuch, seine letzte Kraft zusammenzunehmen, um endlich dieses vermaledeite Papier zu Ende zu bearbeiten. Oh, aber müde war er schon. So schrecklich müde…

***

Die Eingangstür des nun stockdunklen Hauses öffnete sich leise, und ein kleiner Schatten huschte hinein, im Versuch, keine unnötigen Geräusche zu machen.

Nachdem sie sich umgesehen und sichergestellt hatte, dass sie von niemandem gesehen wurde, schloss Maomao die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer, in der Hoffnung, dass keinem ihre Abwesenheit zu solch später Stunde aufgefallen war. Sie hatte nicht die geringste Lust, sich eine Standpauke anzuhören, und Jinshi konnte ganz schön furchteinflößend werden, wenn er wirklich sauer war… von Suiren ganz zu schweigen...

Sie begriff nicht, was das Ganze überhaupt sollte, war sie doch bereits mehrmals nachts nach draußen gegangen, wenn sie nicht schlafen konnte, ohne dass ihr etwas passiert war. Schließlich war das hier nicht das Freudenviertel. Aber irgendwie tendierten die Menschen hier dazu, ihr gegenüber viel zu überfürsorglich zu sein. Keine Ahnung, wieso.

Es war auch nicht so, als hätte sie extra vorgehabt, so spät noch wegzubleiben. Eigentlich war sie bloß rausgegangen, um eine einzige Pflanze zu pflücken, welche sie für eine Arznei benötigte, aber dann hatte sie ganz in der Nähe eine weitere Heilpflanze entdeckt und dann noch eine und noch eine, bis sie vollkommen die Zeit vergaß und erst wieder zur Besinnung kam, als ihr Korb voll und es bereits dunkel war. Tja, beim Kräutersammeln war Maomao eben wie ein Kind in einem Süßwarengeschäft: nie in der Lage, sich im Zaum zu halten.

Ihren Korb auf dem Rücken tragend, schlich sie nun den Korridor entlang, darauf hoffend, dass alle bereits schliefen und sie ohne Zwischenfälle zu ihrem Zimmer gelangte.

Und so wie es aussah, war das Glück heute an ihrer Seite, denn unterwegs begegnete sie tatsächlich niemandem.

Als sie so den dunklen und nur vom Mondschein beleuchteten Korridor passierte, bemerkte sie plötzlich, dass aus einem der Zimmer Licht kam. Lampenlicht. Und das besagte Zimmer war Jinshis Schreibstube.

„Arbeitet er um diese Zeit etwa immer noch?”, fragte sie sich. „Dabei habe ich ihn schon so oft gebeten, mehr auf seine Gesundheit zu achten.”

Ach na ja, er war ein erwachsener Mann, da sollte er sich der Konsequenzen seines Handelns schon selbst bewusst sein. Eine kleine Zurechtweisung würde ihm selbstverständlich nicht schaden, aber die konnte auch bis morgen warten.

Sicher konnte sie das, doch Maomao blieb trotzdem vor der Tür stehen. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Irgendwie war es viel zu still da drin. Kein einziger Laut kam aus dem Raum, als wäre da gar niemand. Vielleicht war Jinshi doch schlafen gegangen, hatte jedoch vergessen, die Lampe zu löschen. So etwas konnte passieren, wenn man müde war.

Maomao beschloss kurz nachzusehen. Nur für alle Fälle.

Sie öffnete behutsam die Tür und spähte hinein. Jawohl. Jinshi hatte sich tatsächlich ins Reich der Träume begeben. Bloß nicht im Bett.

Er saß da am Schreibtisch, mit dem Oberkörper auf der Tischplatte liegend, und schlief tief und fest. Die Apothekerin betrat den Raum und ging auf ihn zu.

„Oje, ich wusste doch, dass so etwas eines Tages passieren würde”, dachte sie und sah ihn an, als sei er ein in einer Regenpfütze ertrunkener armseliger Wurm. Schade nur, dass er dies aktuell nicht genießen konnte.

Ihr Blick wanderte über die ganzen Papiere, die auf dem Tisch gestapelt waren, und ihre Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. Also hatte auch er so seine Last zu tragen, was? Und sie hatte zu Beginn gedacht, er hätte viel zu viel freie Zeit.

„Aber selbst schuld, wenn er sich so überarbeitet. Wieso hängt er jeden Tag in meiner Nähe herum, wenn er doch stattdessen in Ruhe diesen Papierkram erledigen und dann nachts ganz normal schlafen könnte? Nur weil er keine Lust hat?”

Sie verstand diesen Mann einfach nicht. Kein bisschen.

Ein Seufzer von sich gebend, wollte sie bereits die Hand ausstrecken, um ihm das Haar aus dem erschöpften Gesicht zu streichen, hielt jedoch inne, als sie merkte, dass sich an ihren Fingern und unter ihren Nägeln noch Reste von Dreck und Erde befanden. Einen Höhergestellten mit schmutzigen Händen zu berühren, kam selbstverständlich nicht in Frage. Also holte sie ein Taschentuch hervor, wischte sich die Hände sauber und strich endlich seine Haare beiseite, wodurch seine Augenringe nur noch stärker hervorstachen.

„Dann seid Ihr also doch fleißiger als gedacht, vermute ich mal”, bemerkte sie leise. Nun, im Schlaf, wirkte er wie ein ganz gewöhnlicher, erschöpfter junger Mann (von seiner überirdischen Schönheit mal abgesehen, natürlich). 

Aber ganz egal wie erschöpft er auch sein mochte, aufwachen musste er und zwar bald, denn sie konnte ihn wohl schlecht einfach dort die Nacht verbringen lassen, wo er sich eine Erkältung einfangen oder Rückenschmerzen bekommen könnte. Also packte sie ihn an der Schulter und versuchte, ihn wachzurütteln.

Er verzog das Gesicht und grummelte ein wenig, wachte jedoch nicht auf.

Sie begann, ein wenig stärker zu rütteln.

„Urgh… nur noch fünf Minuten”, murmelte er und versank erneut im Tiefschlaf.

Maomao schnaubte. Unfassbar! Selbst im Schlaf benahm er sich wie ein verzogener Bengel.

Nun gut, dann hatte sie eben keine andere Wahl als sich auf die Suche nach Gaoshun zu machen, damit dieser ihr dabei helfen konnte, Jinshi ins Bett zu bringen, denn er war einfach viel zu schwer für sie (und Suiren). Und falls sie den Gehilfen nicht finden sollte, würde sie rasch in ihr Zimmer laufen und eine, ähem, nicht sehr „angenehm” riechende Pflanze holen, welche sie, in ein Tuch gewickelt, hinter ihrem Bett verstaut hielt und ihm nun direkt unter die Nase halten würde. Davon würde er ganz bestimmt aufwachen!

Allein die Vorstellung davon brachte sie zum Grinsen, und sie war bereits kurz davor, den Raum zu verlassen, doch etwas hielt sie zurück: Jinshi hatte angefangen, im Schlaf zu stöhnen.

„Maomao…”

Ihre Augen weiteten sich vor Verwunderung,und sie drehte sich zu ihm um. Ihren Namen aus seinem Munde zu hören, war ein wahrlich seltenes Ereignis. Üblicherweise nannte er sie einfach „du” oder „Apothekerin”, oder wenn er mit anderen von ihr sprach, „das Mädchen”. Also musste es ernst sein.

„Maomao… geh nicht… lass mich nicht allein…”

Hatte er etwa einen Alptraum? Maomao stellte fest, dass sein Körper leicht zitterte. Urgh! Und was nun?

Sie stellte ihren Korb auf den Boden und eilte zu ihm zurück. So wie es aussah, würde ihr Zimmer wohl noch etwas länger auf sie warten müssen. Und seines auf ihn ebenfalls.

Da er so aussah, als würde er sich quälen, hob sie ohne Nachzudenken ihre linke Hand und legte sie auf die seine, welche auf dem Tisch ruhte. Sie fragte sich, weshalb er ausgerechnet sie im Schlaf gerufen hatte und nicht etwa Suiren oder Gaoshun, was ihrer Meinung nach logischer gewesen wäre. Aber vielleicht hatte er einfach nur den Duft ihrer Kräuter vernommen und diesen unbewusst mit ihr in Verbindung gebracht.

Seine Finger rührten sich und schlossen sich fest um ihre kleine Hand.

Maomao sagte nichts dazu. Während sie versuchte, sich zu überlegen, was sie nun tun sollte, begann sie ihm mit ihrer anderen Hand durch sein langes Haar hindurch geistesabwesend und in Kreisbewegungen den Rücken zu reiben. Genau wie ihr Adoptivvater es stets getan hatte, als sie klein gewesen war und nicht gut schlafen konnte. Sie verstand selbst nicht ganz, wieso sie das tat, wenn sie ihn doch eigentlich eher aufwecken statt beruhigen wollte, hörte jedoch trotzdem nicht auf.

Und als sie einen erneuten Blick auf sein Gesicht warf, sah sie, dass er nun lächelte.

Maomao kam der Gedanke, wie gut es doch war, dass sich außer ihnen gerade niemand in diesem Raum befand. Jemand Empfindliches wäre bei dem Anblick bestimmt in Ohnmacht gefallen.

 Doch Maomao war Maomao. Anstatt ins Schwärmen zu geraten, seufzte sie bloß und rieb weiter. Egal was für eine Nervensäge der Kerl auch sein mochte, ein schlechter Mensch war er nicht, und Maomao ebenso wenig. Sie wollte ihn nicht leiden sehen.

Außerdem musste sie zugeben, dass sie dieses Lächeln mochte, weil es ehrlich war und ganz anders als das aufgesetzte, das er in der Gegenwart von anderen trug. Ihr stellte sich die Frage, wie viele außer ihr dieses echte Lächeln wohl überhaupt zu Gesicht bekommen hatten. Nicht mehr als eine Handvoll, vermutete sie.

 Um ehrlich zu sein, war er Maomao so deutlich lieber als sein gewohntes nerviges Ich. Auch wenn sie ihn sehr wohl für einen ziemlich anständigen Herrn hielt: er behandelte sie gut, hörte ihr stets zu, erkundigte sich ab und zu, ob sie etwas benötigte, und besorgte es dann meistens auch, und machte ihr sogar Geschenke (ein Lächeln zeigte sich unbewusst auf ihrem Gesicht, als sie an die seltenen medizinischen Zutaten dachte, die sie von ihm bereits enthalten hatte). Also konnte sie sich eigentlich sehr wohl glücklich schätzen.

Und während sie weiterhin vor sich hingrübelte, spürte sie plötzlich, dass Jinshi sich zu regen begonnen hatte. Also wachte er endlich auf. Maomao fühlte Erleichterung aufsteigen, denn es ersparte ihr so viele Unannehmlichkeiten. Sie nahm die Hand von seinem Rücken, schaffte es jedoch nicht, die andere freizubekommen.

Jinshi murrte leise und öffnete schließlich die Augen. Er schien einen Moment zu benötigen, um zu begreifen, wo er sich überhaupt befand. Ohne den Kopf vom Tisch zu heben, blickte er verschlafen zu ihr auf und murmelte: „Huch? Ich muss wirklich müde sein, wenn ich schon angefangen habe, von ihr zu träumen.”

Und schloss wieder die Augen, bereit, erneut im Reich der Träume zu versinken. Aber Maomao hatte gewiss nicht vor, dies zuzulassen!

Sie war bereits kurz davor, den Mund aufzumachen und etwas zu sagen, als seine Augen sich plötzlich wieder öffneten, und er ungläubig auf seine Hand starrte, die immer noch die ihre hielt. Dann richtete er sich endlich auf, drehte sich um und ließ ihre Hand los, seine stattdessen zu ihrer Wange hebend, als brauche er einen weiteren Beweis, dass dies kein Traum war. Schließlich weiteten sich seine Augen, als er mit den Fingern sanft über ihre Wange strich und ihm klar wurde, dass sie tatsächlich neben ihm stand.

„Du bist ja wirklich hier.”

Doch Maomao ging nicht darauf ein.

„Das habt Ihr nun davon, Eure Exzellenz. Ich habe Euch doch gesagt, dass Ihr mehr auf Eure Gesundheit achten sollt. Und jetzt geht bitte schlafen.”

In ihren Augen stand geschrieben, dass sie kein Nein akzeptieren würde.

Er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht ganz zuordnen konnte, und nahm den Pinsel wieder in die Hand.

„Ähm, Eure Exzellenz?”

„Ja, was ist denn?”

„Was macht Ihr da?”

„Arbeiten.”

Sie runzelte die Stirn und nahm ihm den Pinsel weg.

„Habt Ihr mich nicht gehört? Ihr sollt ins Bett gehen. In Eurem jetzigen Zustand könnt ihr nicht weiterarbeiten.”

„Hey! Ich muss das fertigmachen! Das sind wichtige Papiere!”

„Nicht so wichtig wie Eure Gesundheit, Eure Exzellenz! Die Papiere können auch bis morgen warten.”

Als er merkte, dass sie keinerlei Absicht hegte, ihm den Pinsel wiederzugeben, stand er vom Stuhl auf.

Sie durchbohrten einander mit bösen Blicken, ganz wie zwei streitende Kinder. „Nein, das einzige sture Kind hier ist er”, dachte Maomao. Im Vergleich zu ihm benahm sie sich ganz wie eine verantwortungsvolle Erwachsene. Na ja, meistens jedenfalls. Wenn es nicht um medizinische Zutaten ging.

Aufgrund ihres beträchtlichen Größenunterschiedes, wirkte es eher wie eine Szene aus einem Komödien-Theaterstück, als sie die Arme verschränkte, das Gesicht verzog und ihm direkt in die Augen blickte.

Jedoch konnte Jinshi nicht anders als sich daran zu erinnern, was sie mit Lady Lihuas Zofe angestellt hatte, als die Gemahlin durch das giftige Puder schwer erkrankt war. Tja, seine liebe kleine Apothekerin gehorchte ihm zwar meistens, doch wenn es um Medizin und Gesundheit ging, war mit ihr nicht zu spaßen. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wozu sie fähig war. Und außerdem könnte sie noch Suiren alles erzählen.

 Zu guter Letzt seufzte er und gab endlich auf.

„Ist ja gut, du hast gewonnen.” Doch dann fiel sein Blick auf den mit Kräutern gefüllten Korb an der Tür. „Oh? Was haben wir denn da?”

Er blickte Maomao fragend an und entdeckte nun die Grasflecken auf ihrem Rock. Sein Gesicht zierte nun ein Grinsen.

„Verstehe.”

Maomao erstarrte und alle Farbe wich ihr aus dem Gesicht. Mist! Da wurde sie also doch noch erwischt! Jetzt erwartete sie bestimmt eine gehörige Standpauke!

Doch zu ihrer Überraschung schimpfte Jinshi überhaupt nicht, sondern legte ihr, immer noch grinsend, die Hand auf die Schulter. 

„Du solltest ebenfalls schlafen gehen.’

Maomao verstand. Es bedeutete: „Ich werde Suiren nicht verraten, dass du nachts Kräuter gepflückt hast, wenn du ihr nicht verrätst, dass ich an meinem Schreibtisch eingeschlafen bin.”

Sie konnte nicht anders als zu nicken. Keiner wollte Suiren böse erleben.

Und während sie den Korb wieder auf ihren Rücken hievte, schnappte sich Jinshi die auf seinem Schreibtisch stehende Lampe und verließ den Raum gemeinsam mit Maomao. Sich auf dem Weg zu seinem Zimmer insgeheim fragend, wieso seine Rückenmuskeln sich nicht mehr so steif anfühlten wie zuvor.

Chapter 4: Maomao unterschätzen? Keine gute Idee!

Summary:

Jinshi wusste, dass Maomao gerne Alkohol trank, doch sie konnte ihn unmöglich besser vertragen als er, oder? Oh, wie sehr er sich da irrte!

Chapter Text

Es war ein ziemlich ruhiger Nachmittag in Jinshis Residenz. Aus dem mit Wolken verhangenen Himmel drohten jederzeit Regentropfen zu fallen, und ein wirklich kalter Wind blies direkt in die Schreibstube des Adeligen, bis Maomao sich zum Fenster begab und es schloss, auf dem Rückweg noch ein wenig Kohle ins Kohlenbecken nachlegend. 

Sie war wie so stets mit Putzen beschäftigt, genauer gesagt, mit Staubwischen. Diesmal hatte sie dabei jedoch Gesellschaft: an jenem Tag hatte Jinshi wichtigen Papierkram zu erledigen und saß an seinem Schreibtisch, über dem vor ihm liegenden Dokument brütend.

Die beiden gingen schweigend ihren Angelegenheiten nach, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Nur Jinshis gelegentliches Seufzen durchbrach die Stille. Um ehrlich zu sein, war Maomao dies mehr als recht, sie war eben kein gesprächiger Mensch und wüsste sowieso nicht, worüber sie sich mit ihm hätte unterhalten können.

Als kein Staubkörnchen mehr zu sehen war, hielt sie für einen Moment inne, betrachtete ihr Werk, stellte fest, dass es sauber genug war, und platzierte alles, was sie weggerrückt hatte, um jeden Winkel zu erreichen, wieder zurück. So, fertig! Dann schnappte sie sich ihre Putzutensilien und wollte gehen. Jedoch kam sie nicht weit…

Denn in dem Moment, als sie die Tür öffnete, wurde sie von Jinshis Stimme zurückgehalten.

„Apothekerin.”

Maomao drehte sich zum Schreibtisch um und sah, dass ihr Arbeitgeber sie anblickte.

„Was ist denn, Herr? Benötigt Ihr etwas?”

Jinshi bückte sich und holte eine ziemlich große Kürbisflasche unter dem Tisch hervor, welche er ihr präsentierte. So wie er sie hielt, musste sie voll sein. Sein typisches nymphengleiches Lächeln zierte seine Lippen.

„Ich habe heute diesen Likör erhalten und möchte gerne vor dem Schlafengehen ein Glas davon trinken. Aber zuerst muss er auf Gift getestet werden. Na, was sagst du?”

„Was soll ich schon sagen?”, dachte sie. „Er weiß doch ganz genau, dass ich keine andere Wahl habe, als einzuwilligen.”

Aber dann fiel schließlich der Groschen, und ihre Augen begannen zu strahlen. Alkohol! Er bat sie, Alkohol vorzukosten! Endlich bekäme sie nach einer solch langen Zeit die Möglichkeit, einen Schluck zu trinken! Oh, welch Freude! Hoffentlich war es ein trockener, wie sie es mochte (oder noch besser: tatsächlich mit Gift versetzt. Das wäre dann wirklich ein Traum!).

„Sehr wohl, Eure Exzellenz!”

Sie musste ihre Mundwinkel unter Kontrolle halten, um ihn nicht offen anzulächeln.

„Wunderbar. Dann sehen wir uns später in meinen Gemächern.”

***

Einige Zeit nach dem Abendmahl tauchte Maomao schließlich vor Jinshis Gemächern auf. Sie hatte gute Laune und konnte das warme, brennende Gefühl, das die Flüssigkeit in ihrer Kehle hinterlassen würde, fast schon spüren. Auch wenn sie eigentlich nur zum Vorkosten und nicht zum Trinken hergerufen worden war. Aber immerhin besser als nichts.

Jinshi zog sich gerade mit Suirens Hilfe um und drehte sich zu Maomao, als er diese eintreten hörte. Dann schickte er Suiren fort. Maomao runzelte leicht die Stirn, sagte jedoch nichts dazu.

Die Flasche stand bereits mit zwei Bechern und einigen Knabberartikeln auf dem Tisch.

Jinshi setzte sich hin und bedeutete Maomao mit einer Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen. Sie tat wie geheißen und kam nicht umhin zu bemerken, dass er verdächtig fröhlich war. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er musste irgendwas ausgeheckt haben.

Und ihr Bauchgefühl enttäuschte sie auch diesmal nicht, denn Jinshi schenkte ihr höchstpersönlich ein und sah sie dann erwartungsvoll an, mit einem Grinsen auf den Lippen. Zu ihrer Überraschung hatte er ihr den Becher bis zum Rand gefüllt.

Sie hob sich diesen an die Nase und roch am Alkohol, dem jungen Mann dabei misstrauische Blicke zuwerfend, als sei er eine zerdrückte Kakerlake. Ihre Augen sagten mehr als tausend Worte.

Und Jinshi schien die Gedankengänge dahinter begriffen zu haben, denn er hörte auf zu grinsen.

„Nein, ich habe da NICHTS absichtlich reingetan!”, rief er beleidigt aus. „Für wen hältst du mich eigentlich?!”

Dann wendete er den Blick ab und schmollte wie ein kleiner Junge.

„Es ist bloß so, dass es ein ziemlich kräftiger Trunk sein soll, wie mir gesagt wurde”, beschloss er endlich zu erklären. „Ich weiß ja, dass du Alkohol magst, und wurde neugierig, wie du diesen hier wohl verträgst. Du bist zwar robuster als du aussiehst, aber… gegen mich kommst du wohl eher nicht an.”

Ach, so war das also. Feststellend, dass da wirklich kein ungewöhnlicher Geruch war, entspannte Maomao sich wieder und setzte ihren gewohnten Gesichtsausdruck auf.

„Eure Exzellenz?”

Er sah ihr wieder ins Gesicht und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass ihre Lippen sich zu einem kleinen Grinsen verzogen hatten. Ihm wurde etwas unwohl zu Mute.

„Ja?”

„Das war ein großer Fehler.”

Neugierig war er also geworden, was? Lust bekommen, ein kleines Experiment durchzuführen und ihre Standfestigkeit zu testen, hm? Nun, Maomao würde schon dafür sorgen, dass er es bereute.

Vielleicht tat er das ja jetzt schon, denn sie merkte, wie er angesichts ihrer Worte schluckte.

Nachdem sie eine kleine Menge des Getränks gekostet und verkündet hatte, dass man es bedenkenlos trinken konnte (schließlich konnte sie ja trotz allem nicht ihre Aufgabe als Vorkosterin vergessen), nahm sie den ersten großen Schluck. Jinshi tat es ihr nach.

Die Wetten wurden platziert und das Trinkgelage begann.

***

Einige Zeit später war die Flasche bereits mehr als zur Hälfte geleert.

Maomao schlürfte so gelassen aus ihrem Becher, als würde sie bloß Tee trinken. Lediglich die leichte Röte in ihrem Gesicht verriet, dass sie tatsächlich Alkohol konsumierte. Jinshi wurde nicht getäuscht: es handelte sich wirklich um einen ziemlich kräftigen Tropfen, der kein bisschen süß war und so richtig in der Kehle brannte. Genau wie Maomao es mochte. Sie war hochzufrieden und genoss es in vollen Zügen.

Und Jinshi? Na ja, der nicht so wirklich: er war mittlerweile knallrot, sichtlich betrunken und hatte Schwierigkeiten, aufrecht zu sitzen. Inzwischen sollte er gemerkt haben, dass er verloren hatte, doch trank trotzdem seinen vierten Becher. Bloß in ganz kleinen Schlucken.

Währenddessen bewältigte Maomao ihren fünften und schenkte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, ein sechstes Mal ein.

„Meine Güte! Bist du ein Fass ohne Boden oder wie?!”, keuchte er, ungläubig auf die kleingewachsene, zierlich aussehende Frau vor sich starrend.

Maomao warf ihm einen kurzen Blick zu, stand schweigend auf, schnappte sich die mit Wasser gefüllte Teekanne neben Jinshis Bett und trottete zu ihm rüber. Dann legte sie die Hand auf seinen Hinterkopf und half ihm beim Trinken. Er protestierte nicht.

„Ich denke, Ihr habt genug für heute, Eure Exzellenz.”

Und als wolle sie diese Worte noch unterstreichen, stellte sie die Teekanne auf den Tisch und nahm sich Jinshis halbvollen Becher, um ihn mit einem einzigen großen Schluck zu leeren.

Danach machte sie sich auf in Richtung Tür. Zwar schwankte sie ein wenig beim Gehen, schien aber sonst vollkommen wohlauf zu sein.

„Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, Herr.”

Jinshi barg den Kopf in den Händen. Ihm war schwindelig und er konnte sich kaum konzentrieren.

„Hm? Wo willst du hin?”, brachte er heraus.

Sie drehte sich um.

„Ich gehe kurz ein Mittel gegen Alkoholnachwirkungen vorbereiten, denn das werdet Ihr morgen sicher brauchen. Habt ein wenig Geduld, ich bin gleich wieder da.”

Dann grinste sie ihn kurz an und verließ den Raum.

Chapter 5: Addicted to you

Summary:

Maomao war eine Frau, die Gift liebte, doch sie ahnte nicht, dass auch Jinshi einem speziellen Gift sehr zugetan war. Einem solch süßen und wunderbaren, dass man es als eine Droge betrachten könnte. Und dieses Gift war sie selbst. (Die Inspiration für diesen Text war das Lied „Addicted to you” von Avicii.)

Notes:

Link zum Lied:
https://www.youtube.com/watch?v=_u6ZzvYXCH4&pp=ygUWYXZpY2lpIGFkZGljdGVkIHRvIHlvdQ%3D%3D

Die Geschichte spielt zu der Zeit, nachdem Maomao in die Jaderesidenz zurückgekehrt war (beginnend ab Kapitel 35 des Manga/Band 3 der Light Novel).

Chapter Text

Es war früher Nachmittag. Warme Sonnenstrahlen schienen vom wolkenlosen Himmel herab und auf Jinshi, der seelenruhig durch den Garten der Jaderesidenz spazierte. Er hatte gerade Gemahlin Gyokuyou besucht und dachte nun, dass er sich einen kleinen Spaziergang erlauben konnte, um zu verschnaufen und den Kopf ein wenig frei zu bekommen, bevor er zu seiner nächsten Pflicht eilen musste. Denn er war in der Tat ein ziemlich vielbeschäftigter Mann. Manchmal mehr als ihm lieb war.

Irgendwann blieb er stehen, um einige schöne Blumen zu bewundern, sah sich verstohlen um und, als er sicher war, dass er tatsächlich ganz allein war (Gaoshun befand sich momentan nicht bei ihm), wischte er sich sein ewiges himmlisches Lächeln vom Gesicht, ließ die Schultern sinken und gestattete sich den Luxus zu gähnen und sich ein wenig zu strecken. Welchen Sinn hatte es nämlich, sein perfektes Image als wunderschöner Eunuch aufrechtzuerhalten, wenn keiner hinsah?

Tja, aber es gab da auch eine Person, die sich niemals vom besagten Image hatte täuschen lassen, ganz egal, wieviel Mühe er sich auch gab…

An Maomao denkend, führte er seinen Spaziergang fort. Zwar war er schon ein wenig enttäuscht, sie vorhin nicht in der Jaderesidenz angetroffen zu haben, wusste jedoch, dass sie auch ihre eigenen Pflichten hatte, da ließ sich eben nichts machen. Aber…er konnte auch nichts gegen die leichte Traurigkeit anstellen, die ihn trotz dieses Wissens plagte. Jedoch wusste er wenigstens, dass sie im Inneren Palast war und dort auch bleiben würde. Dass sie seine persönliche Dienerin war, auch wenn er sie derzeit kurz an Gyokuyou „verliehen” hatte. Was für eine Erleichterung. Er musste keine Angst mehr haben, sie nie wiederzusehen, so wie damals, als er sie nach dem Vorfall mit der Oberzofe der ehemaligen Gemahlin Ah-Duo entlassen hatte. Weil er sie falsch verstanden und gedacht hatte, dass es ihr Wunsch sei, nach Hause ins Freudenviertel zurückzukehren.

Bei der Erinnerung verzog er das Gesicht und kniff die Augen zusammen.

Oh, welch Qual das gewesen war! Wie sehr er da gelitten hatte! Mehr als je zuvor in seinem Leben. So etwas wollte er nie wieder durchmachen müssen.

Jedoch hatte diese Zeit ihm auch dabei geholfen, etwas zu begreifen: die Tatsache, wie sehr er diese junge Apothekerin brauchte. Welch Ironie, dass er dies erst so richtig verstanden hatte, nachdem sie bereits weg war! Sie nicht an seiner Seite zu wissen, hatte ihm dermaßen zugesetzt, dass er weder richtig essen noch schlafen konnte und sich in eine armselige Kreatur verwandelt hatte, die bloß deprimiert und niedergeschlagen dasitzen konnte, sie so schrecklich vermissend, dass sogar das Atmen schwer fiel. Als ob diese starke, fast schon unerträgliche Sehnsucht zu einer riesigen Hand geworden war, die ihm die Brust zudrückte.

Es war schlimmer als in seiner Kindheit, als man ihm seine Lieblingsspielzeuge weggenommen hatte. Ha, aber selbstverständlich! Immerhin war Maomao kein Spielzeug! Und im Gegensatz zu dem, was er anfangs gedacht hatte, war sie es auch nie gewesen.

Eine wirklich fürchterliche Zeit. Gut, dass es vorbei war.

Immer noch darüber sinnierend, sah er vom Boden auf und blieb urplötzlich stehen, die Augen weit aufreißend. Es war so, als hätten die Götter Mitleid mit ihm gehabt, denn da war sie: seine geliebte kleine Apothekerin saß nur etwa hundert Schritte von ihm entfernt auf einer Bank und las ein Buch. Offensichtlich genoss sie ihre Lektüre, denn ihre Augen strahlten vor Freude und eine leichte Röte lag auf ihren Wangen. Diesen Gesichtsausdruck kannte er, denn er hatte ihn schon mehrfach bei anderen Palastdamen gesehen, während diese diesen Roman lasen, der gerade im Inneren Palast seine Runden machte.

Aber Maomao würde doch nie…!

Jinshi kam neugierig näher, bis er den Titel erkennen konnte:

„150 Arten von Giftpflanzen und ihre Anwendung in der Medizin”.

Er lachte leise in sich hinein, denn sowas in der Art hatte er bereits erwartet. Natürlich. DAS ist die Art von Literatur, die Maomao erfreute, und nicht irgendein Liebesroman. Sie musste es vom Hofarzt des Inneren Palastes ausgeliehen haben.

Da sie nicht aufblickte, musste sie dieses Buch so sehr in seinen Bann gezogen haben, dass ihr seine Präsenz überhaupt nicht aufgefallen war. Jinshi schmollte ein wenig. Was würde er dafür geben, dass sie ihn so ansah wie sie Gift und medizinische Zutaten anblickte! Zwar genoss er es schon, von ihr angestarrt zu werden, als sei er ein Insekt oder so etwas in der Art (na gut, vielleicht war er doch ein wenig masochistisch veranlagt), aber ihre strahlenden Augen auf sich zu haben, wäre nochmal ganz was Anderes. Seine größte Errungenschaft in der Hinsicht war, sie mit seltenen medizinischen Zutaten Freudensprünge machen zu lassen… (Urgh, wie sollte er diesen Bezoar vergessen, den er ihr noch schuldete. Wegen dieses Dings die Wunde an ihrem Bein zu ignorieren… seine Kopfnuss war wohlverdient gewesen. Aber immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet, da war der Bezoar vielleicht doch ein ziemlich niedriger Preis im Vergleich dazu).

Ihre Reaktionen auf seine Geschenke hatten sein Herz höher schlagen lassen, doch die Erinnerung daran hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, denn er wusste genau, dass es seine Geschenke waren, die sie glücklich machten, nicht er selbst. Jeder hätte ihr dieses Zeug geben können, und es hätte keinen Unterschied gemacht… das tat weh.

Als er spürte, dass düstere Gedanken sich erneut in seinem Verstand einnisten wollten, setzte er sich leise neben Maomao, um sie für eine Weile zu beobachten und sich wieder zu beruhigen.

Genau. Sich beruhigen, indem er ausgerechnet diejenige beobachtete, die der Grund für jene schmerzvollen Gefühle war.

Jinshi lächelte. Was für eine höchst ungewöhnliche Dame sie doch war mit einer einzigartigen Persönlichkeit. Eine Tatsache, die er gleichzeitig hasste und liebte. Noch nie war er gezwungen gewesen, sich so viel (oder überhaupt) Mühe zu geben, um eine Frau zu erobern. Welch Ironie, dass es ebenso das allererste Mal war, dass er es tatsächlich mit einer Ernst meinte!

Aber wieso? Wieso tat er sich das überhaupt an? Wieso strengte er sich so an, wenn er doch praktisch fast jede andere Frau haben könnte, die er nur wollte?

Genau das war es ja. Er wollte gar keine andere. Keinen Palast voller Gemahlinnen wie der Kaiser, sondern nur sie allein. Das war ein weiterer Fakt, der ihm klargeworden war, nachdem er sie aus dem Freudenviertel zurückgeholt hatte. Sie bloß als Dienerin zu haben, war ihm nicht mehr genug.

Sie war die einzige Frau, die er sah, die einzige, mit der er sich seine Zukunft vorstellen konnte. Es war so, als ob sie ihn hypnotisiert hätte. Wie ein süßes, aber auch starkes Gift, das auf seine Sinne herabtropfte und sie betäubte und lähmte. Oder eine Droge, nach der er so süchtig geworden war, dass ihm nichts mehr helfen konnte.

Aber was machte sie überhaupt so besonders in seinen Augen? Nicht nur seltsam, wie viele andere sie sahen, sondern besonders? Nun, Tatsache war, dass keiner ihn jemals so behandelt hatte, wie sie es tat. Niemals. Und er liebte es.

Zu Beginn hatte er geglaubt, dass sie trotz ihrer Haltung ihm gegenüber, tief in ihrem Inneren bloß eine gewöhnliche Frau war, so wie all die anderen auch, und früher oder später seinem Charme erliegen würde. Sein ungewöhnlich gutes Aussehen war immerhin seine größte Waffe, die ihn bisher noch nie im Stich gelassen hatte, denn Menschen waren doch eh alle gleich, so schnell geblendet von einem schönen Äußeren. Oder zumindest hatte er das gedacht. Bei ihr war er dabei jedoch auf Granit gestoßen. Sie hatte ihn mit ihrem Charakter allein komplett entwaffnet und ließ ihn in die Realität herabstürzen, aber auch echte Gefühle für sie entwickeln. Und kaum hatte er sich versehen, hatte diese kleine, hilflos aussehende Frau seine gesamte Welt bis ins Innerste erschüttert, wie eine mächtige Welle, die ihn von Kopf bis Fuß durchnässt und in seinen Organismus eingedrungen war, wie eine Droge, die er nie wieder loswerden würde.

Jawohl, er hatte gedacht, sie mit der Zeit ändern zu können, doch stattdessen hatte sie ihn verändert. Oder nein, das war es nicht ganz: eher hatte sie Teile seiner Persönlichkeit freigelegt, die bereits da gewesen waren, tief verborgen in seinem Inneren, und sie an die Oberfläche gezogen, ihre Intensität noch hundertfach verstärkend. Aber welche Teile waren das eigentlich? Eher gute oder schlechte? Um ehrlich zu sein, wusste er das selbst nicht so recht. Vielleicht war es ja beides. Ja, es musste beides sein: einerseits ließ ihre kleine, zierliche Gestalt sein Herz vor Niedlichkeit dahinschmelzen und erweckte in ihm das Bedürfnis, sie zu beschützen, und dazu noch eine solche Zärtlichkeit, von der er nicht einmal geahnt hatte, dass er sie überhaupt besaß. Am liebsten hätte er sie in seinen Armen gehalten und den ganzen Tag umarmt und geküsst, wenn er nur könnte! Sie mit Zuneigung überschüttet!

Aber andererseits… machte sie ihn ab und zu schier wahnsinnig und so unglaublich wütend, dass er sie am liebsten an eine Wand gedrückt und seine Gefühle herausgeschrien hätte, damit sie und alle anderen es hören konnten. Sich um nichts mehr scherend. Sie festhaltend, damit sie nicht weglaufen konnte. Ihre Entscheidung, seine Avancen zu ignorieren und so zu tun, als würde sie diese nicht sehen (denn er konnte einfach nicht glauben, dass sie tatsächlich so blind war), brachte ihm eine Frustration, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er, der verwöhnte Prinz, der es gewohnt war, das zu bekommen, was er wollte.

Vielleicht war das Ganze ja das, was man „wahre Liebe” nannte, Jinshi wusste es nicht. Woher denn auch, wenn er in einem „Garten aus Frauen” aufgewachsen war, einem Umfeld, wo Liebe nicht den geringsten Wert besaß? Doch trotzdem spürte er tief in seinem Inneren, dass es in seinem Fall genau das sein musste, diese Gefühle waren einfach zu intensiv, um als etwas anderes betrachtet zu werden.

Denn Maomao hielt sein Herz in einem eisernen Griff. Ob sie es wollte oder nicht, ob sie sich dessen bewusst war oder nicht — sie tat es, ohne jeden Zweifel. Ein Schauder lief sein Rückgrat herab, als ihm erneut klar wurde, dass sie zu den ganz wenigen Personen gehörte, die wirklich jede Seite von ihm zu Gesicht bekommen hatten, nicht nur die des wunderschönen Eunuchen. Maomao hatte ihn glücklich, traurig, besorgt, zornig, kindisch, albern, eifersüchtig, erschöpft und verletzlich erlebt. Hatte alles gesehen. Hatte ihm jede einzelne seiner sorgfältig hergestellten Masken eine nach der anderen vom Gesicht gerissen und sie gnadenlos zerstampft, den wahren Jinshi dahinter enthüllend. An ihrer Seite konnte er es sich endlich erlauben, Schwäche zu zeigen. Aufzuhören, eine himmlische Nymphe zu sein und zu einem gewöhnlichen Menschen zu werden.

Und obwohl sie oft ahnungslos (um nicht zu sagen, schwer von Begriff) wirkte, wenn es um Gefühle ging, und trotz ihres meistens neutralen Gesichtsausdrucks, musste er zugeben, dass er sich in ihren wunderschönen blauen Augen verlor. Manchmal, wenn sie diese auf seine richtete, bekam er den Eindruck, als würde sie ihn durchbohren und direkt in seine Seele blicken. Als ob er nichts vor ihr verbergen könne. Und obwohl dies, zugegeben, ein ziemlich beängstigendes Gefühl war, war es auch wahnsinnig faszinierend. Als ob sie ihn zur gleichen Zeit verstand und nicht verstand.

Genau deshalb war sie so besonders für ihn. Der Grund, wieso ein Leben ohne sie unvorstellbar und unerträglich geworden war. Und der Grund, weshalb er so entschlossen war, sie nie wieder gehen zu lassen.

Bei diesem Gedanken biss er die Zähne zusammen.

Nein, er hatte nicht vor, sie aufzugeben. Nicht diejenige, die einen solchen Einfluss auf ihn hatte. Nicht diejenige, die sein wahres Ich kannte. Nicht diejenige, die sein Leben gerettet hatte. Auf keinen Fall.

Seine Hände lockernd, die unbewusst seine Kleidung gepackt hatten, stieß Jinshi letztendlich einen Seufzer aus und senkte den Kopf, seine Überlegungen verlassend und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehrend. Es war Zeit aufzustehen. So gern er auch wollte, konnte er nicht für immer dort sitzen bleiben. Die Arbeit wartete gnadenlos auf ihn.

Er warf einen erneuten Blick auf Maomao und stellte leicht gereizt fest, dass sie immer noch gänzlich in dieses Buch vertieft war und überhaupt nicht merkte, dass er direkt neben ihr saß. Dies ließ ihn wieder schmollen, doch dann erschien ein böses Grinsen auf seinen Lippen. Oh, das wird sie ihm büßen!

Und so hob er einen seiner Arme direkt hinter Maomao und schlang ihn ganz plötzlich um ihre Schultern, die junge Frau an seinen Körper pressend. Sie erschrak und begann dann ganz wie ein Kätzchen zu fauchen, sobald sie gemerkt hatte, dass er das war. (Vergeblich) versuchend, sich zu befreien, blickte sie zu ihm auf, als sei er eine nervige Stubenfliege, die sie am liebsten mit ihrem Buch plattmachen wollte, es aber nicht tat, weil das Buch viel zu wertvoll dafür war.

Er lachte leise und legte sein Kinn auf ihren Kopf, sie noch enger an sich drückend. Irgendwann gab sie schließlich auf, entspannte sich, seufzte resigniert und akzeptierte endlich die Umarmung, ihre Arme leicht um seine Taille schlingend. Er errötete ein wenig.

Chapter 6: Die Honigszene: ein alternatives Ende

Summary:

Wie hätte Maomao wohl die Honigszene gehandhabt, wäre Gyokuyou ihr nicht zur Rettung gekommen? Like a boss, natürlich!

Chapter Text

Maomao schluckte schwer. Sie stand mit dem Rücken zur Wand, während die klebrigen, in Honig getauchten Finger der „himmlischen Nymphe” („Von wegen himmlisch”, dachte sie. „Der ist bloß ein ganz gewöhnlicher Perversling, mehr nicht.”) sich unaufhaltsam ihrem Gesicht näherten, wie eine tödliche Waffe, kreiert, um ihre Würde zu zerstören. Aber leider keine giftige, was das Ganze ein wenig erträglicher gemacht hätte…

Es gab keinen Ausweg. Sie konnte nirgendwohin fliehen. Jinshi ragte über ihr mit einem kindischen Grinsen auf den Lippen, entschlossen, sie zu erniedrigen, ihr seine Finger in den Mund zu stecken und sich diese von ihr sauberlecken zu lassen. Allein der Gedanke, wie sehr er es genießen musste, sie so in die Ecke gedrängt zu wissen, war mehr als nur widerlich. Und dieser Nichtsnutz Gaoshun starrte immer noch aus dem Fenster, so tuend, als könne er den Vorfall weder sehen noch hören. Maomao funkelte ihn so böse an wie sie nur konnte, um ihn zumindest erschaudern zu lassen, doch zu ihrem Leidwesen war er nicht so schreckhaft wie gewisse Palastdamen. Und so schwor sie sich, dass seine nächste Mahlzeit unangenehme Folgen in Form eines Abführmittels mit sich bringen würde.

Außer Gaoshun war sonst keiner da, der sie retten könnte. Nun gut, dann musste sie sich eben selbst retten. Die Zähne zusammenbeißend, dachte sie angestrengt nach, was sie nun tun sollte, und plötzlich kam ihr eine Idee. Es war ganz einfach: sie würde ihm genau das geben, was er wollte! Nicht mehr und nicht weniger.

Das war es! Sie würde ihm eine Lektion erteilen, ihm alles mit gleicher Münze heimzahlen, selbst wenn sie später dafür bestraft werden sollte! Der Kerl hatte es selbst so gewollt! 

Ein Ausdruck der Verwirrung erschien auf Jinshis Gesicht und seine Hand verharrte regungslos in der Luft, bloß zehn oder fünfzehn Zentimeter von ihren Lippen entfernt, als ihm auffiel, dass sie ihn nicht mehr ansah, als sei er ein Stück Dreck, das sie unter ihrer Schuhsohle gefunden hatte. Nein, stattdessen blickte sie ihm nun direkt in die Augen, ihre Lippen zu einem bösartigen Grinsen verzogen. Dies löste ein seltsames Gefühl in ihm aus, ein ungewohntes, jedoch auch nicht gerade unangenehmes Kribbeln im Bauch.

„Apothekerin? Was hast du d-” Doch sein Satz endete mit einem erstickten Schrei, als sie ihn plötzlich beim Handgelenk packte und es mit ihren schlanken Fingern fest umschloss.

Der Honig auf seinen Fingern drohte auf Maomaos Arm und auf den Boden zu tropfen. Natürlich hätte Jinshi sich mit Leichtigkeit befreien können, schließlich war er deutlich stärker als sie, doch aus irgendeinem Grund konnte er es nicht. Nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Muskel zu rühren, konnte er nichts anderes tun, als sie wie hypnotisiert anzustarren. Und sich zu fragen, was wohl als Nächstes passieren würde.

Sie sagte kein Wort. Stattdessen wurde ihr Griff nur noch fester, und seine Augen weiteten sich ungläubig, als sie begann, seine Hand langsam an ihren immer noch grinsenden Mund heranzuführen, ohne dabei die Augen von ihm abzuwenden.

Nein! Das konnte doch nicht wahr sein!

„Warte! Was machst du da?” Leichte Panik schwang in seiner Stimme mit, wie sie mit Befriedigung feststellte.

„Was meint Ihr, Eure Exzellenz? Ich befolge bloß Eure Befehle. Ihr wollt doch, dass ich den Honig von Euren Fingern ablecke, nicht wahr? Dann werde ich das tun.”

Ihr Ton war gelassen, jedoch auch leicht spöttisch. Er konnte seinen Ohren nicht trauen. Das konnte doch nicht wirklich geschehen!

„Will ich nicht! Hör auf! Das war bloß ein Scherz! Ich wollte dich nur ein wenig necken! Ich hätte nie gedacht, dass du es ernst nehmen würdest!”

Gaoshun blickte nun ebenfalls fassungslos in ihre Richtung, drehte den Kopf jedoch rasch wieder zum Fenster zurück, immer noch im Versuch, so zu tun, als sei nichts. Als würde es ihn nichts angehen. Möglicherweise war auch er der Meinung, dass sein junger Herr das Ganze durchaus verdient hatte.

Schweiß tropfte Jinshis Stirn herab, und sie konnte seinen beschleunigten Puls fühlen. Endlich musste er begriffen haben, dass der in die Ecke gedrängte nun er selbst war.

„Ein Scherz? Also wirklich, Eure Exzellenz, es ist nicht nett, so mit einer jungen, unverheirateten Frau herumzuspielen. Es könnte ihr ernsthaft Angst einjagen oder sie sogar traumatisieren, wisst Ihr?”

Maomao hatte nicht vor, Gnade walten zu lassen. Um ehrlich zu sein, genoss sie es sogar ziemlich, ihm seine Spielchen heimzuzahlen. Mehr als sie gedacht hätte. Aber vielleicht übertrieb sie es doch ein wenig mit dem Quälen, da er nun so aussah, als würde er jeden Moment seine Seele aushauchen, und er war bleich wie ein Laken. Als wäre alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen.

„Also dann, bringen wir es hinter uns”, dachte sie.

Und so begann sie, mit der Zunge über seine zitternden Finger zu fahren, den Honig bis zum letzten Tropfen ableckend und hoffend, dass es ihr gelungen war, dabei möglichst nicht ihre Würde zu verlieren. Um ehrlich zu sein, war das Ganze eigentlich nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte. Und außerdem war da noch ein feiner, angenehmer Geruch, der von Jinshis Körper und ihr zusammen mit dem süßen Honigaroma in die empfindliche Nase stieg. Bestimmt etwas, womit seine Kleidung parfümiert worden war.

Als sie fertig war, blickte Maomao erneut auf und stellte fest, dass Jinshi nun knallrot war und so wirkte, als stünde er kurz vor einem Herzanfall. Heftig zitternd, starrte er sie mit offenem Mund an, seine Augen weit aufgerissen und die Pupillen verengt. Als sei er gelähmt von einem Monster, das ihn gleich auffressen würde.

Maomao schnaubte leise. Was für ein Dramatiker! Aber gut, vielleicht würde er es sich nun zwei Mal überlegen, bevor er erneut solche Sachen abzog.

Sie ließ sein Handgelenk los, und da er immer noch keinerlei Bewegung machte (außer Atmen und Blinzeln), zuckte sie bloß die Achseln und machte sich auf Richtung Tür.

„Wenn das alles war, dann ziehe ich mich hiermit zurück, ich habe auch noch andere Pflichten. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, Herr.”

Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass Gaoshun endlich aufgehört hatte, „den Vögeln zu lauschen”, und nun auf seinen Herrn zueilte, sich erkundigend, ob dieser in Ordnung war. Offensichtlich nicht, doch Maomao war sich sicher, dass er nach einiger Zeit darüber hinweg kommen würde. Da es dazu gekommen war, war sowieso seine eigene Schuld, und sie glaubte auch, dass es ihm durchaus nicht schaden würde, wenigstens einmal für sein Handeln die Konsequenzen tragen zu müssen.

Sie betrat den Korridor, einige noch verbleibende Honigreste von ihren Lippen leckend und „Ich wünschte wirklich, es wäre Eisenwurz-Honig gewesen…” vor sich hinmurmelnd. Als Allererstes würde sie sich den Mund ausspülen gehen, denn auch wenn Jinshis Hände im Gegensatz zu denen eines Farmers oder einfachen Mannes frei von Schmutz waren, wusste sie trotzdem nicht, wann er sie zuletzt gewaschen hatte.

Und Jinshi? Tja, man musste wohl nicht extra erwähnen, dass er die darauffolgende Nacht nicht viel Schlaf abbekommen hatte.

Chapter 7: Die Honigszene: ein alternatives Ende - Jinshis Perspektive

Summary:

Einer meiner Leser der englischen Version hat den Wunsch geäußert, die letzte aus Jinshis Perspektive zu lesen. Mir gefiel die Idee, und da ist sie nun, die andere Version dieses alternativen Endes!

Chapter Text

„Ein intelligentes Mädchen wie du verdient eine Belohnung.”

Und da war Jinshi nun dabei, Maomao besagte Belohnung zu „geben”. Oder anders gesagt: er stand vor ihr mit einem Grinsen auf den Lippen und klebrigem Honig auf den Fingern, welche er auf ihr Gesicht zubewegte, so tuend, als wolle er sie von ihr abgeleckt haben.

So tuend, genau. Natürlich meinte er es nicht ernst, schließlich war er nicht wie diese Mistkerle, die Frauen quälten und erniedrigten, um sich mächtig zu fühlen. Kein bisschen. Aber wieso hatte er dann beschlossen, so mit ihr herumzuspielen?

Nun, zunächst einmal wusste er mittlerweile, dass sie bei Weitem nicht so schreckhaft war wie andere Palastdamen, von denen einige an ihrer Stelle jetzt bestimmt schon in Ohnmacht gesunken wären. Sonst hätte er dies gar nicht erst getan. Und dann war da noch sein Wunsch, mal auszutesten, wie weit er überhaupt mit ihr gehen konnte. Auszuprobieren, was nötig war, um ihre für gewöhnlich gefasste Haltung zu durchbrechen, diese zuckersüße junge Frau dazu zu bringen, echte Emotionen zu zeigen, und damit meinte er nicht ihre Freudentänze wegen irgendwelcher Heilpflanzen. Und so wie sie ihren Rücken gegen die Wand gepresst hielt, spürte er, dass er seinem Ziel bereits ganz nahe war. Nur noch ein kleines bisschen.

Aber das war auch noch nicht alles. Da war noch ein weiterer Grund. Einer, den er nicht so wirklich zugeben wollte, der aber auch nicht zu leugnen war: ihm war aufgefallen, dass sie begonnen hatte, sich an seine Präsenz zu gewöhnen, und nicht mehr schauderte, wenn er sie berührte. Das machte ihn natürlich überglücklich und aufrichtig dankbar, doch…

…er vermisste ihre Blicke.

Jawohl, das tat er. Er vermisste es, von ihr angestarrt zu werden, als sei er ein Insekt, eine Nacktschnecke, ein Stück Abfall!

Na gut, vielleicht stimmte doch etwas nicht mit ihm…

Aber wie auch immer. Nachdem er von ihr bekommen hätte, was er wollte, würde er seine Finger selbst ablecken, sich bei ihr entschuldigen, ihr über den Kopf streichen und sie gehen lassen (allein der Gedanke daran, wie sie ihn DANACH ansehen würde, ließ ihn wohlig schaudern). Er nahm an, dass Maomao kein nachtragender Mensch war, also war er sich ziemlich sicher, dass sie ihn nicht wegen eines Scherzes hassen würde, aber selbst wenn, könnte er ihr immer noch eine Flasche Alkohol oder eine Heilpflanze schenken, um sie diesen kleinen Vorfall vergessen zu lassen.

Und so fuhr er sein Spielchen fort, so tuend, als meine er es ernst.

Hielt dann aber ganz plötzlich inne und blickte sie verwirrt an, denn da war etwas in ihrem Gesicht, was er nie zu sehen erwartet hätte: ein böses Grinsen. Und nicht nur das, auch ihr Blick war nun direkt auf seine Augen gerichtet, direkt in sie hineinstarrend, ohne auch nur eine Spur von Zweifel oder Scheu. Selbstbewusst und entschlossen. Kein bisschen eingeschüchtert.

Dies löste ein seltsames Gefühl in ihm aus, ein ungewohntes, jedoch auch nicht gerade unangenehmes Kribbeln im Bauch.

„Apothekerin? Was hast du d-”

Doch er schaffte es nicht, diesen Satz zu beenden. Ein erstickter Schrei entfuhr seinen Lippen und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er spürte, wie sie ihn aus heiterem Himmel beim Handgelenk packte und es mit ihren schlanken Fingern fest umschloss.

Der Honig auf seinen Fingern drohte auf Maomaos Arm und auf den Boden zu tropfen. Natürlich hätte Jinshi sich mit Leichtigkeit befreien können, schließlich war er deutlich stärker als sie, doch aus irgendeinem Grund konnte er es nicht. Nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Muskel zu rühren, konnte er nichts anderes tun, als sie wie hypnotisiert anzustarren. Und sich zu fragen, was wohl als Nächstes passieren würde.

Er war vollkommen baff, hatte keinen blassen Schimmer, was da vor sich ging. Was hatte sie bloß vor?

Maomao blieb still, begann dann aber plötzlich, seine Hand langsam an ihren immer noch grinsenden Mund heranzuführen, ohne dabei die Augen von ihm abzuwenden. Nun fing er an zu begreifen und starrte sie ungläubig und mit weit aufgerissenen Augen an.

Nein! Das konnte doch nicht wahr sein!

Er begann schneller zu atmen und spürte, wie seine Eingeweide sich vor Panik zusammenzogen, als würde die tödlichste Kreatur der Welt vor ihm stehen und als hätte sein letztes Stündlein geschlagen.

 Sie konnte es nicht ernst meinen!

„Warte! Was machst du da?”

„Was meint Ihr, Eure Exzellenz? Ich befolge bloß Eure Befehle. Ihr wollt doch, dass ich den Honig von Euren Fingern ablecke, nicht wahr? Dann werde ich das tun.”

Sie meinte es ernst!!!

Nein, nein, nein! Er musste es falsch verstanden haben, seine Ohren hatten ihn getäuscht. Sie konnte nicht einfach so behauptet haben, dass sie tatsächlich seine Finger ablecken würde! Hatte sie denn überhaupt keinen Anstand?!

„Will ich nicht! Hör auf! Das war bloß ein Scherz! Ich wollte dich nur ein wenig necken! Ich hätte nie gedacht, dass du es ernst nehmen würdest!”

Schweiß begann, Jinshis Stirn herabzutropfen. Sein Herz klopfte so heftig, als wäre es kurz davor, aus seiner Brust herausspringen, was sie bestimmt ebenfalls spüren konnte, so fest wie sie sein Handgelenk hielt. Daraufhin wurde ihm eine Sache klar: nun war sie diejenige, die die Zügel in der Hand hielt, und würde ihn ganz sicher nicht so schnell gehen lassen. Es gab keinen Ausweg. Er konnte nirgendwohin fliehen!

Er war so perplex, dass er weder wusste, was er denken noch was er tun sollte. Das war zu viel, viel zu viel für ihn! Keine Ahnung, wie lange er dies noch durchhalten würde!

„Ein Scherz? Also wirklich, Eure Exzellenz, es ist nicht nett, so mit einer jungen, unverheirateten Frau herumzuspielen. Es könnte ihr ernsthaft Angst einjagen oder sie sogar traumatisieren, wisst Ihr?”

Traumatisieren? Aktuell war sie diejenige, die ihn traumatisierte! Allein von der Vorstellung, dass sie wirklich vorhatte, sich seine Finger in den Mund zu stecken, bekam er weiche Knie und hätte beinahe den Honigtopf fallen gelassen, den er in seiner anderen Hand hielt. Nun war er bleich wie ein Laken und zitterte wie Espenlaub.

Jinshi hatte von solchen Dingen nicht einmal zu träumen gewagt, und nun passierte es tatsächlich!

Die Zeit um ihn herum war stehengeblieben. Das Einzige, was er sah, war, wie sie seine Hand zu ihrem Mund zog. Mehr nicht.

Und als sie dann begann, mit ihrer Zunge über seine zitternden Finger zu fahren und den Honig abzulecken, hatte er das Gefühl, gleich den Verstand zu verlieren. Er atmete schwer und ihm war so heiß, als wäre er in einer Wüste unter einer sengenden Sonne.

Eine sengende Sonne namens Maomao, die gerade dabei war, ihn bei lebendigem Leibe zu verbrennen.

Endlich nahm sie seine nun mit Speichel bedeckten Finger aus ihrem Mund und blickte erneut zu ihm hoch.

Er starrte sie immer noch an, ohne auch nur einen Muskel zu rühren, sein Gehirn außerstande, all die Gedanken und Gefühle, alles, was gerade geschehen war, zu verarbeiten.

Daraufhin runzelte Maomao die Stirn und schnaubte leise. Dann ließ sie ihn los, zuckte die Achseln und ging.

Doch er merkte dies kaum, da er immer noch regungslos auf die Stelle starrte, wo sie eben noch gestanden war, und immer noch ihren festen Griff um sein Handgelenk und ihre warme, feuchte Zunge auf seinen Fingern spüren konnte, als seien sie in seine Haut eingebrannt.

Sonst war da nichts. Sein Verstand war komplett leergefegt. Als sei er in eine Art Nirvana fortgeflogen.

Er brauchte mehrere Stunden, um sich zu erinnern, wer er überhaupt war, und um sich wieder bewegen zu können.

Chapter 8: Schlaflosigkeit

Summary:

Jinshi sitzt in seinen Gemächern und quält sich durch eine schlaflose Nacht. Jedoch ahnt er nicht, dass die richtige Medizin bereits auf dem Weg zu ihm ist.

Chapter Text

So gut wie kein Geräusch durchbrach die Stille, welche die Gebäude des Kaiserhofes umhüllte. Die Äste der Bäume schaukelten sanft in der kühlen Brise und der helle runde Mond schien vom sternenbesprenkelten schwarzen Himmel herab.

Es war eine wahrhaft schöne Nacht. Friedlich und ruhig.

Jedoch leider nicht für jeden.

Jinshi saß still und leise in seinen Gemächern am geschlossenen Fenster und betrachtete geistesabwesend den Mond, dabei ab und zu einen Schluck aus dem Weinglas in seiner Hand nehmend. Sein außergewöhnlich schönes und in sanftes Mondlicht getauchtes Gesicht war schmerzverzerrt, die hinreißenden Augen erfüllt von Kummer und Müdigkeit und die fein geformten Lippen bar jeder Spur des umwerfenden Lächelns, das er für gewöhnlich in Gegenwart von anderen aufsetzte.

Jene Lippen zuckten leicht, als ob der Wein plötzlich bitter geworden sei, und ließen einen trägen Seufzer entweichen.

Seine dunklen Augenringe zeugten von einer Erschöpfung, die nicht mit Worten beschrieben werden konnte. Was auch, ehrlich gesagt, nicht allzu überraschend war, wenn man bedachte, wie viel er so gut wie jeden Tag zu tun hatte.

Warum in aller Welt saß er also dort herum und verschwendete kostbare Schlafenszeit, anstatt im Bett zu liegen und sich zu erholen?

Ganz einfach. Er konnte keine Ruhe finden. Ganz egal wie sehr er es auch versuchte, es stellte sich kein Schlaf ein.

Jinshi wurde von unangenehmen Gedanken geplagt. Sorgenvollen, quälenden Gedanken, die er am Tag, wenn er mit anderen Dingen beschäftigt war, meistens zu unterdrücken schaffte, doch welche mit voller Wucht zurückkehrten und ihn heimsuchten, sobald die Nacht anbrach und er sich ganz allein in seinen dunklen Gemächern befand. Ab und zu hielten sie ihn auch die ganze Nacht wach. Es waren Gedanken, die er mit niemandem teilte, nicht einmal mit denen, die ihm nahestanden, wie Suiren, Gaoshun und Basen, welche ihn praktisch sein Leben lang kannten. Dies bedeutete gewiss nicht, dass er ihnen nicht vertraute, es war bloß so, dass er sich nicht dazu aufbringen konnte, seine tiefsten Gefühle zu gestehen. Nicht einmal ihnen.

Möglicherweise hatte jemand von ihnen bereits Verdacht geschöpft, da sie ihn so wunderbar kannten und auch bestens mit der Last vertraut waren, die er zu tragen hatte. Doch da keiner es auch mit nur einem Wort erwähnte, konnte Jinshi es natürlich nicht wissen. Aber selbst wenn, würde es ihm sowieso nichts bringen. Es war etwas, was er selbst durchstehen musste. So wie immer.

Jedoch fühlte sich diese Last diesmal noch schwerer an als sonst. So schwer, als handele es sich um ein echtes Gewicht, das einem Felsbrocken gleich seine Schultern niederdrückte und gleichzeitig wie eine eiserne Hand seinen Magen zusammenpresste. Es drohnte, ihn jeden Moment zusammenbrechen zu lassen, ihm sowohl von innen als auch von außen zusetzend.

Ein Großteil dieser fürchterlichen Gedanken, die ihn bei lebendigem Leibe auffraßen, bestand aus Sorgen, was ihm die Zukunft wohl bringen würde. Vor allem aus der Frage, wie lange er noch in der Lage sein würde, diese Rolle beizubehalten, die er derzeit spielte und die seine eigene Wahl gewesen war: die des Aufsehers des Inneren Palastes. Oder genauer gesagt, wie lange ihm noch gestattet sein würde, sie beizubehalten, denn es war schon ein großes Glück gewesen, dass derjenige, den er Älterer Bruder nannte, ihm seinen Wunsch überhaupt erfüllt hatte. Weshalb ihm diese Rolle jeden Tag wieder entzogen werden konnte.

Er hatte eine solche Angst davor, was dann passieren würde, dass diese ihm seine gesamte Energie entzog und ihn geistig auszehrte. Zusätzlich zu der körperlichen Erschöpfung von all seiner Arbeit.

Und diesen Zustand konnte er niemandem offenbaren, denn die meisten Leute kannten ihn nur als den „perfekten", makellosen und wunderschönen Eunuchen — eine Seite, deren Aufrechterhaltung übrigens ebenfalls sehr anstrengend war — und mehr nicht. Aber mal ganz ehrlich: Selbst wenn er es täte, wen würde es überhaupt kümmern? Wer würde ihn verstehen? Ganz recht. Keiner. Nun, Gaoshun vielleicht. Sein Gehilfe gehörte zu denjenigen, die ihn am besten kannten, und war wie ein Vater für ihn, jedoch auch ein ziemlich strenger Mann, der der Meinung war, dass Pflichten mehr zählten als Gefühle. Er würde ihm wahrscheinlich bloß dazu raten, so gut es ging die Zähne zusammenzubeißen und einfach seinen Aufgaben nachzukommen, ganz egal, ob er sich diese selbst auferlegt hatte oder nicht. Jederzeit stark und gefasst zu sein. Immer auf der Hut zu sein und sich niemals verletzlich zu zeigen.

Ihn ohne Ende an seine wahre Stellung erinnernd, die ihn wie eine Eisenkette umklammert hielt und die er nicht abschütteln konnte, wie sehr er es auch versuchte.

Denn was zu tun war, musste erledigt werden. Arbeit und Pflichten kannten keine Gnade.

Aber das war nichts Neues. Jinshi war es bereits gewohnt, dass seine persönlichen Gefühle nie von besonderer Wichtigkeit waren, sondern nur seine Taten und Worte, vor allem seine Befehle. Nur das Äußere, niemals das Innere. Er erinnerte sich noch mit Schmerzen daran, wie man ihm seine liebsten Spielzeuge weggenommen und nie zurückgegeben hatte, egal wie sehr er auch weinte.

Und stattdessen durch neue ersetzte, die er nie gewollt hatte.

Sein gesamtes Leben lang war er gezwungen gewesen, seine Emotionen zu unterdrücken, um sich vor allen Augen als würdevoll zu präsentieren. Seines Titels würdig.

Er hatte dies alles so satt. So wahnsinnig satt.

Einen weiteren Seufzer von sich gebend, stand Jinshi auf, begab sich zum Fenster und öffnete es. Dem Alkohol war es nicht so recht gelungen, seine Sinne zu betäuben, also würden es vielleicht die kühlen Nachttemperaturen schaffen. Er atmete tief die frische Luft ein und hielt sein Gesicht in den Wind, der ihm das Haar zauste und die Wangen rötete. Und stand einfach da, ohne sich darum zu scheren, dass er keinen Mantel trug und sich erkälten könnte.

Und als er sie wieder öffnete, erblickte er etwas, was ihn für einen Augenblick erstarren ließ: eine Gestalt, die im fahlen Mondlicht beinahe wie ein Gespenst wirkte, spazierte draußen gemächlich an seinem Fenster vorbei. Eine kleine, zierliche Silhouette, die er jederzeit und überall wiedererkannt hätte. Jinshi rieb sich die Augen, um sicherzugehen, dass er nicht träumte.

„Apothekerin!", rief er ohne Nachzudenken in die Dunkelheit hinaus, im Versuch, nicht allzu laut zu sein und sich fragend, wohin sie zu solch später Stunde noch unterwegs war.

Die Silhouette zuckte zusammen und hielt abrupt an, sich in seine Richtung umdrehend. Seine Stimme, die so urplötzlich und scheinbar aus dem Nichts erklungen war, schien sie erschreckt zu haben, doch sie fasste sich rasch wieder. So wie immer. 

Endlich erspähte Maomao ihn und kam näher, einige Meter vor seinem Fenster stehenbleibend und die Hände in ihren weiten Ärmeln verbergend.

„Seid gegrüßt, Eure Exzellenz."

„Was machst du draußen mitten in der Nacht?"

 „Ich konnte nicht schlafen und beschloss, einen Spaziergang zu machen."

Oh. Dann litt sie also auch an Schlaflosigkeit, was?

„Verstehe. Aber du solltest trotzdem nicht ganz allein in der Dunkelheit herumlaufen."

Obwohl er inzwischen wusste, dass sie sehr wohl in der Lage war, auf sich selbst aufzupassen, konnte er nicht anders, als sich leichte Sorgen zu machen.

Doch statt etwas darauf zu erwidern, kam sie noch näher und kniff die Augen zusammen. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck starker Missbilligung, soweit Jinshi es im Mondlicht erkennen konnte.

„Was ist denn?"

„Seid Ihr schon wieder überarbeitet, Eure Exzellenz? Ich habe Euch doch schon mehrmals gebeten, mehr auf Eure Gesundheit zu achten, Eure Augenringe kann ich selbst in dieser Dunkelheit sehen. Chronischer Schlafmangel kann ernste Folgen haben und sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden."

Er war zunächst etwas verblüfft von dieser plötzlichen Standpauke, doch dann verzogen sich seine Lippen zu einem warmen Lächeln. Einem ehrlichen Lächeln, nicht dem künstlichen, das er für die Arbeit aufsetzte.

Stimmt ja. Er hatte ganz vergessen, dass es jemanden gab, der sich sehr wohl um ihn sorgte. Auch wenn dieser Jemand es abzustreiten versuchte.

„Falls Ihr es wünscht, könnte ich Euch ein Schlafmittel zubereiten", hörte er sie vorschlagen.

„Ach? Und warum hast du dann keins für dich selbst gemacht?"

„Das hatte ich vor, falls der Spaziergang nichts bringt. Also soll ich?"

„Ja, bitte, das wäre nett von dir." Doch kaum wollte Maomao sich umdrehen und gehen, kam ihm ganz plötzlich ein Gedanke. „Warte! Weißt du was? Ich habe eine bessere Idee."

Sie hielt inne und beäugte ihn misstrauisch.

„Welche denn, Herr?"

Jinshi trat kurz vom Fenster weg und kam mit seiner Weinflasche in der Hand zurück. Sein Lächeln war noch breiter geworden.

„Ich habe hier noch ein Glas, welches von deiner Vorkostung übriggeblieben ist. Wie wär's also, wenn wir uns diese Flasche teilen? Na, was sagst du?"

Ein Schlafmittel wäre zwar gewiss nicht verkehrt gewesen, doch diese unerwartete Begegnung mit Maomao hatte ihm klargemacht, dass ihre Gesellschaft das war, was er tatsächlich brauchte und wollte. Er spürte, dass diese ihm helfen würde, sich von all diesen quälenden Gedanken abzulenken und zwar besser als jede Medizin. Es machte ihm nicht das Geringste aus, sie nachts in seine Gemächer zu lassen — oder eher gesagt, nicht nur nachts, sondern überhaupt, da sie zu den sehr wenigen Menschen zählte, denen er bedingungslos vertraute. Jawohl, es war bereits so weit gekommen, dass er ihr ohne jedes Zögern sein Leben anvertraut hätte — das Leben, welches sie einst gerettet hatte. Er, der für gewöhnlich vorsichtig in Gegenwart von Menschen war, die er nicht sein Leben lang kannte (womöglich mit der Ausnahme von Gemahlin Gyokuyou, die ihn wie einen jüngeren Bruder behandelte). Oder genauer gesagt, vorsichtig sein musste.

Und genau wie erwartet, begannen die Augen seiner kleinen Apothekerin zu strahlen, als sie seine Worte vernahm, und sie streckte unbewusst die Hände in die Richtung der Flasche aus. Wie ein kleines Kind, das Süßigkeiten angeboten bekam. „Wie süß", dachte Jinshi.

„Sehr gern, Eure Exzellenz! Vielen Dank!"

Jinshi, der sah, dass sie vorhatte, sich zum Eingang seiner Residenz zu begeben, um zu seinen Gemächern zu gelangen, stellte die Flasche hin und winkte mit der Hand.

„Mach dir keine Umstände. Du stehst bereits vor meinem offenen Fenster, da könnte ich dich einfach hineinziehen."

Ganz genau, er war tatsächlich DERART ungeduldig, sie bei sich zu haben.

Maomao erstarrte urplötzlich, runzelte die Stirn und hob eine Augenbraue. Das konnte er doch nicht ernst gemeint haben, oder? Sie konnte einfach nicht fassen, wie kindisch dieser erwachsene Mann sein konnte. „Wenn das seine Verehrer nur wüssten", dachte sie.

„Ihr beliebt zu scherzen, Herr."

Er stemmte die Hände in die Hüften. Seine Augen glänzten vor Entschlossenheit.

„Aber keineswegs. So wäre es schneller und würde dir den ganzen Weg um das Gebäude herum und durch die Korridore ersparen. Es ist sowieso niemand in der Nähe, der uns sehen könnte. Oder vertraust du mir etwa nicht? Ich lasse dich schon nicht fallen, keine Sorge."

Maomao konnte sein schmollendes Gesicht im Mondlicht sehen und dachte: „Geht das wieder los."

Und da sie nicht den leisesten Wunsch verspürte, sich mitten in der Nacht mit seinem kindischen Gehabe und seiner Sturheit abzuquälen, seufzte sie, trat ganz nah an das Fenster heran und streckte die Arme in seine Richtung aus.

„Nun gut."

Jinshi lächelte triumphierend, glücklich, dass sie ihm doch vertraute (und nicht begreifend, dass sie dies bereits mit dem Annehmen seiner Einladung bewiesen hatte). Er lehnte sich vor, streckte den Oberkörper aus dem Fenster, packte Maomao unter den Armen und hob sie hoch, mal wieder erstaunt, wie leicht sie doch war.

Nachdem er sie in seine Gemächer gehoben hatte, stand er einfach nur da und hielt sie auf Augenhöhe, sie mit einem breiten Lächeln ansehend. Wie ein Fischer, der sein Netz eingeholt und eine Schatzkiste darin entdeckt hatte.

Und in dieser Haltung verblieb er, bis er ein genervtes: „Würdet Ihr mich nun bitte herunterlassen, Herr?" hörte.

Maomao funkelte ihn an, als sei er eine riesige, fette Raupe, die vor ihren Augen herumkroch. Ihre Füße baumelten fast dreißig Zentimeter über dem Boden.

Jinshi blinzelte einige Male, als erwache er aus einer Art Trance, lachte leise und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Er konnte immer noch kaum glauben, welch spektakuläre Wendung jene traurige, einsame Nacht genommen hatte. Als ob irgendein himmlisches Wesen Gnade mit ihm gehabt und Maomao zu seiner Rettung geschickt hatte.

Einige Momente später saß sie bereits neben ihm am Fenster (welches er geschlossen hatte, da es drinnen langsam kalt wurde) und schenkte sich ein Glas Wein ein, strahltend vor Freude, so wie immer, wenn sie Alkohol trank. Dann stellte sie die Flasche zurück, merkte jedoch, dass Jinshi keinerlei Anstalten machte, danach zu greifen, sondern sie einfach nur leise beobachtete.

Sie nahm einen Schluck und blickte leicht verwirrt zu ihm auf. Wollte er die Flasche nicht mit ihr teilen?

„Möchtet Ihr nichts, Eure Exzellenz?"

„Nein, schon gut. Ich habe bereits genug getrunken. Kümmere dich nicht um mich und trink einfach so viel du willst."

Das musste man Maomao selbstverständlich nicht zwei Mal sagen. Sie beschloss, dass es keinen Grund für sie gab, sein Verhalten weiterhin zu hinterfragen, und leerte ihr Glas freudig mit einem einzigen Schluck, sich erneut nachschenkend und ein Kichern aus seiner Richtung vernehmend. 

Umhüllt von vollkommener Stille und gebadet in Mondlicht, wechselten sie kein Wort miteinander. Doch unangenehm war diese Stille nicht, ganz im Gegenteil: Jinshi spürte, dass es derzeit gar keiner Worte brauchte, denn durch ihre Präsenz allein wirkten seine Gemächer bereits nicht mehr so kalt und leer. Als wäre sie ein magischer Talisman gegen Ängste und Sorgen. Er rückte ein wenig näher an sie heran, ohne dass sie es merkte.

Maomao zuckte leicht zusammen und riss die Augen auf, als sie auf einmal etwas Warmes auf ihrer Schulter spürte. Dann begriff sie, dass Jinshi seinen Kopf dorthin gelegt hatte. Sie hatte vor, etwas zu sagen, und öffnete bereits den Mund, überlegte es sich jedoch anders und schloss ihn wieder, sich dazu entscheidend, es zu ignorieren und einfach weiterzutrinken. Einsehend, dass sie sich bereits langsam daran gewöhnte, dass er ständig Körperkontakt zu ihr suchte.

Das Schweigen hielt noch einige Minuten lang an, während derer Maomao hören und fühlen konnte, wie er neben ihr hin- und herrückte. Wahrscheinlich gab er sich Mühe, möglichst nicht zu viel von seinem Gewicht gegen sie zu lehnen, wofür sie dankbar war.

Sie drehte den Kopf leicht zu ihm und stellte fest, dass er die Augen geschlossen hatte.

„Ähm, Herr?"

„Ja?"

„Ich weiß, dass Ihr erschöpft seid, aber bitte schlaft jetzt nicht ein."

Es folgte kurze Stille.

„Hm? Wieso denn?"

"Weil Ihr viel zu schwer für mich seid und ich Euch nicht ins Bett tragen könnte. Und ich habe nicht vor, die ganze Nacht in dieser Haltung zu verbringen."

Erneut Stille. Dann erschallte Jinshis Gelächter durch die schwach beleuchteten Gemächer. Maomao wünschte sich, dass er besser aufpasste, sonst würde ihn womöglich noch jemand hören.

„Oh, mach dir keine Sorgen, ich schlafe schon nicht ein. Lass mich aber noch ein wenig so bleiben, es ist wirklich gemütlich."

Maomao hatte ehrliche Zweifel an dieser Aussage, da diese Position für ihn aufgrund ihres beträchtlichen Größenunterschiedes wohl kaum bequem sein konnte, widersprach jedoch nicht. Ein ganz leichter Alkoholgeruch ging von ihm aus. Sie hoffte wirklich sehr, dass es nicht wie damals enden würde, als er sich betrunken an sie geklammert hatte und nicht loslassen wollte.

Währenddessen hatte Jinshi sich entspannt und seine Augen erneut geschlossen, es einfach genießend, sie bei sich zu haben, als wäre die zierliche Maomao ein stützender Pfeiler, der ihn vor dem Zusammenbrechen bewahrte. Doch seine Sorgen waren gnadenlos und unerbittlich, denn sie versuchten immer noch, zu seinem Verstand durchzudringen.

Und bevor er sich versah oder auch nur bewusst darüber nachgedacht hatte, hatte er bereits den Mund geöffnet.

„Weißt du, es gibt da einige... unschöne Gedanken, die mich ab und zu plagen. Sorgen, Ängste... Und manchmal lassen sie mich nicht schlafen, so wie diese Nacht auch. Das heißt, ich bin nicht wach, weil ich es so will."

Genau. Er fühlte sich so wohl in ihrer Gegenwart, dass diese Worte, die er so lange vor allen verborgen hatte, seinen Lippen einfach so entschlüpft waren. Ohne dass er vorgehabt hätte, sie laut auszusprechen. Oder auch nur geahnt, dass er dies eines Tages überhaupt tun würde.

Jedoch war seine Stimme so leise gewesen, beinahe ein Flüstern, dass sie ihn wohl höchstwahrscheinlich gar nicht gehört hatte, abgelenkt durch den Wein.

Oder zumindest hatte er das geglaubt. Doch dann spürte er plötzlich ihre Hand auf seinem Rücken und öffnete erstaunt die Augen.

„Verstehe", hörte er sie sagen. „Jeder hat von Zeit zu Zeit mit solchen Gedanken zu kämpfen, Eure Exzellenz, da ist nichts Ungewöhnliches dabei. Und da auch Ihr ein Mensch seid, sehe ich nicht, wieso Ihr eine Ausnahme sein solltet."

Er war vollkommen baff für ein paar Augenblicke, kicherte dann aber.

„Keine himmlische Nymphe, sondern bloß ein gewöhnlicher Mensch, was?"

Sie trank einen großen Schluck, bevor sie antwortete.

„Genau. Nicht wirklich gewöhnlich, da Ihr dem Adel angehört, aber immer noch ein Mensch. Ein Mensch, der verletzt werden kann."

Diese Worte bewegten etwas in Jinshis Innerem. Das war es, das war genau das, was er beinahe sein ganzes Leben lang hören wollte: dass er etwas mehr war als nur die Stellung, in die er hineingeboren worden war. Bloß ein Mensch mit menschlichen Gefühlen, die ihn nicht von den anderen unterschieden.

„Und mal abgesehen davon denke ich nicht, dass man Euch noch als himmlische Nymphe bezeichnen würde, wenn man wüsste, wie Ihr wirklich seid." Nun lag leichter Spott in ihrem Tonfall. Zwar sah er ihr Gesicht nicht, konnte sich jedoch ohne Probleme ihr Grinsen vorstellen.

„Was soll das denn heißen?" Er blies erneut die Wangen auf.

Doch Maomao ging nicht darauf ein, sondern leerte ihr Glas und stellte es neben sich hin. Und schon bald vernahm Jinshi ein unterdrücktes Gähnen aus ihrer Richtung. Sein Herz schmolz dahin.

„Oh? Bist du also doch schläfrig geworden, ja?", fragte er sanft.

„Ja. Ich denke, ich werde nun endlich schlafen können. Ich sollte mich wohl besser langsam auf den Rückweg machen. Danke für den Wein." 

Er fühlte leichte Enttäuschung in sich aufsteigen, musste jedoch zugeben, dass sie Recht hatte. Egal wie sehr er es wollte, er konnte sie nicht die ganze Nacht aufhalten, das wäre zu viel verlangt. Und außerdem begann er sich ebenfalls schläfrig zu fühlen, nachdem er sich auf ihrer Schulter entspannt hatte.

Jinshi hob den Kopf und grinste Maomao frech an.

„Du könntest auch jederzeit die Nacht hier verbr-"

Doch bevor er diesen Satz beenden konnte, hatte sie ihn bereits fixiert, als sei er Ungeziefer, das an einer ihrer kostbaren Heilpflanzen herumkaute. Er hob beide Hände in einer beschwichtigenden Geste.

„War bloß ein Witz, haha!"

„Das will ich mal schwer hoffen", grummelte sie leise und stand endlich auf. Er begleitete sie zur Tür, da sie diesmal natürlich keine Abkürzung durchs Fenster nehmen würde. Doch bevor sie den Raum endgültig verließ, blieb sie kurz stehen, drehte sich um und blickte Jinshi in die Augen. „Soll ich Euch nicht vielleicht doch ein Schlafmittel vorbeibringen? Nur für alle Fälle. Wie ich bereits sagte, sollte chronischer Schlafmangel nicht auf die leichte Schulter genommen werden."

Ihre Worte brachten ihn erneut zum Lächeln. Er hob die Hand und wuschelte ihr liebevoll durchs Haar.

„Schon in Ordnung, ich fühle mich bereits viel besser. Du hast genug für mich getan, danke dir."

Einige Augenblicke später ging sie mit einem leicht genervten Gesichtsausdruck durch den dunklen Korridor und richtete sich das von seiner großen Hand zerzauste Haar. Sich fragend, was er denn genau gemeint hatte, da sie, ihrer Meinung nach, überhaupt nichts getan hatte, um seinen Dank zu verdienen.

Chapter 9: Morgen

Summary:

Jinshi ist am Boden zerstört. Egal, was er sagt, egal, was er tut, es scheint einfach keinerlei Gefühle für ihn in Maomao zu erwecken. Das Einzige, was ihm noch bleibt, ist die Hoffnung nicht zu verlieren… richtig?

Notes:

Ich hab vor einiger Zeit ein wunderschönes spanisches Lied entdeckt, was mich zum Schreiben dieser Geschichte inspirierte.
Achtung: hier gibt's Hurt ohne Comfort!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Wie fast jeden Tag saß Jinshi schon wieder am Tisch in seiner Schreibstube. Mit dem bereits gewohnten, nicht kleiner zu werden scheinenden Berg an Papierkram und einem Becher Tee vor sich und seinem Assistenten Gaoshun, der, einem Schatten gleich, hinter ihm stand, die Hände in seinen Ärmeln verbergend. Doch irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas, was die angeblich im Raum herrschende Ruhe Lügen strafte.

Nein, nicht die dunklen Ringe unter Jinshis Augen, auch wenn diese noch ausgeprägter als sonst schienen, ein Beweis, dass er letzte Nacht schon wieder nicht gut geschlafen hatte — oder gar nicht. Und auch nicht der laut wehende Wind draußen oder Gaoshuns gerunzelte Stirn.

Es war der Blick in Jinshis Augen, während er auf das Dokument starrte, das er gerade las. Oder eher gesagt, zu lesen versuchte. Denn egal wie sehr er sich anstrengte, er konnte sich einfach nicht konzentrieren und war gezwungen, immer wieder von Neuem zu beginnen. Jedoch vergeblich. Es war ein Blick voller Kummer und Entmutigung, vermischt mit verschiedenen anderen Emotionen, von denen keine positiv war, und noch stärker betont durch die Art und Weise, wie er seinen Pinsel hielt, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Und durch seine andere Hand, die, zur Faust geballt, auf dem Schreibtisch lag.

Gaoshun blickte ihn besorgt an. Er kannte seinen Herrn praktisch seit dessen Geburt und brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, beschloss jedoch zu schweigen. Er wüsste sowieso nicht, wie er helfen sollte und fühlte sich als Mann mittleren Alters auch schon ein wenig zu alt, um sich mit den persönlichen Problemen eines jungen Menschen zu befassen.

Doch Gaoshuns Herz war nicht aus Stein, und es missfiel ihm sehr, den jungen Adligen, der wie ein dritter Sohn für ihn war, in einem solchen Zustand zu sehen. Also öffnete er nach einigen Überlegungen doch noch seinen Mund, denn er hatte auch noch festgestellt, dass Jinshi an jenem Tag überhaupt nicht mit seiner Arbeit voranzukommen schien.

„Mein Herr?”

Jinshi brummte, um ihm zu verstehen zu geben, dass er zuhörte, drehte sich jedoch nicht um.

„Sprich.”

„Fühlt Ihr Euch möglicherweise nicht gut? Soll ich Xiaomao zu Euch rufen, damit sie einen Blick auf Euch wirft?”

Kaum hatten diese Worte Gaoshuns Lippen verlassen, sah er wie ein heftiges Zucken durch den Körper seines Herrn ging, als wäre dieser von einem Pfeil getroffen.

„Nein. Mir geht's gut.”

Es klang beinahe wie ein Knurren.

Die Falte zwischen Gaoshuns Augenbrauen wurde noch tiefer, während er diesem ungewöhnlichen Verhalten beiwohnte. Hatte er es doch gewusst. Irgendetwas war passiert, und zwar zwischen Jinshi und der jungen Apothekerin, denn normalerweise wäre Ersterer von der bloßen Vorstellung, sie bald zu sehen, außer sich vor Freude gewesen. Aber nun schien es so, als wolle er nicht einmal ihren Namen hören.

„Wie Ihr meint, Herr.”

Doch wenn Jinshi so zu tun wünschte, als sei alles in Ordnung, blieb Gaoshun keine andere Wahl als mitzuspielen. Immerhin konnte er ihn ja nicht zum Reden zwingen.

Nach einigen weiteren Minuten angespannter Stille, ließ Jinshi endlich die Schultern hängen und seufzte.

„Gaoshun.”

Dieser riss sich prompt von seinen Gedanken los, als er seinen Namen hörte.

„Ja, mein Herr?”

„Würde es dir etwas ausmachen, mich für einige Zeit allein zu lassen? Ich rufe dich schon, wenn ich dich brauche.”

Gaoshun war etwas verblüfft und wusste zuerst nicht, was er antworten sollte, doch noch bevor er den Mund öffnen konnte, drehte Jinshi sich zu ihm um. Mit einem Gesichtsausdruck, der jeglichen Protest in der Kehle des Assistenten ersterben ließ.

„Jawohl.”

Daher verbeugte Gaoshun sich bloß und begab sich Richtung Tür. Er würde in der Nähe der Schreibstube bleiben, für den Fall, dass sein Herr es sich anders überlegte und ihn zurückrufen sollte.

Als er gegangen war, gestattete Jinshi sich einen weiteren tiefen Seufzer und fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar, es ein wenig zerzausend. Einige Schweißtropfen fielen von seiner Stirn auf das vor ihm liegende Dokument, doch er schenkte dem nicht die geringste Beachtung.

Der Wind draußen war noch stärker geworden, und Regentropfen fielen vom Himmel, wild gegen das Fenster trommelnd. So ähnlich wild wie der Sturm, der gerade in Jinshis Herz tobte.

Es war sinnlos. Unmöglich, nicht an das zu denken, was am vorherigen Abend passiert war. Maomaos Worte wiederholten sich ohne Ende in seinem Kopf. Ihre Worte, nachdem er ihr seine Absicht ausgedrückt hatte, sie niemals aufzugeben. Es war wahnsinnig schmerzhaft, sogar schlimmer als einen Schwerthieb zu erleiden.

Er packte den Pinsel noch fester, so fest, dass dieser entzwei zu brechen drohte. Genauso wie sein Dilemma kurz davor war, ihn selbst in Stücke zu brechen.

Eine ziemlich ungewohnte, heiße Welle des Zorns flammte in ihm auf und brachte sein Blut zum Kochen. Am allerliebsten wollte er schreien und mit seiner Faust die Wand einschlagen. Einfach unfassbar! Wie konnte sie bloß so etwas zu ihm sagen? Wie konnte sie nicht sehen, dass er außer ihr niemanden brauchte? Was zur Hölle könnte er tun, um es ihr zu beweisen, wenn sie ihm nicht einmal zuhören wollte?!

Während all diese Gedanken in ihm explodierten, atmete er tief durch, im Versuch, sich zu beruhigen, zu seiner gewohnt gefassten Haltung zurückzukehren, denn es würde ihm nichts bringen, die Kontrolle über sich zu verlieren. Doch es ging nicht. Genau das war der Grund, wieso er Gaoshun weggeschickt hatte; dessen Zurechtweisungen waren das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.

Nein. So konnte er auf keinen Fall arbeiten, so aufgewühlt, erschüttert und vollkommen erschöpft nach der schlaflosen Nacht.

Jinshi schnaubte. Ha! Welch Ironie! Nun war diejenige, die ihn stets dafür tadelte, nicht genug zu schlafen, selbst zu einem der Gründe geworden, weshalb er nachts keine Ruhe fand. Was für eine riesige Ironie! Er hätte fast Lust, laut loszulachen.

Jeden Versuch, wenigstens ein bisschen Arbeit zu erledigen, aufgebend, legte er den Pinsel auf den Tisch, stand auf und begann, in der Schreibstube hin und her zu laufen, mit beiden Händen den Kopf haltend und die Zähne zusammenpressend, als ob er Schmerzen hätte. Die Frustration war unerträglich. Und doch…

Nach einer Weile schritt er zum Tisch zurück und stand einfach nur da, eine Hand darauf ablegend und sich mit der anderen die Augen bedeckend. Diese zweite rutschte langsam nach unten und offenbarte einen Blick, der nicht von Zorn, sondern unaussprechlicher Traurigkeit erfüllt war.

Merkte sie wirklich nicht, wie besonders sie für ihn war? Ernsthaft?

Aber sie war es. Und wie.

Da Jinshi viele Jahre im inneren Palast verbracht hatte, war er es mittlerweile gewohnt, von einer Menge Frauen umgeben zu sein. Doch sie waren ihm stets gleichgültig gewesen. Ja, es stimmte zwar, dass er vor ihren Augen oft seinen Charme spielen ließ, doch nur, um sie zu manipulieren, mit ihnen zu spielen, es war ihm nie ernst damit gewesen. Er hatte es bloß amüsant gefunden, dass nur ein Lächeln genug war, um sie dazu zu bringen, so gut wie alles zu tun, was er sich nur wünschte. Ein Spiel, mehr nicht. Und egal wie hübsch die Frauen selbst waren, er hatte nie irgendetwas für sie empfunden. Gar nichts. Außer Unbehaglichkeit, wenn einige von ihnen über die Stränge schlugen und ihm nachzustellen begannen.

Er erschauderte bei der bloßen Erinnerung daran, was einige Frauen (und auch Männer) bereits mit ihm versucht hatten. Genau das war der Grund, wieso die meisten nicht in seine Schreibstube eintreten durften. Und schon gar nicht in seine privaten Gemächer.

Allein vom Gedanken, fremde Leute in seine privatesten Räume hereinzulassen, Konkubinen zu haben und mit jemandem schlafen zu müssen, den er kaum kannte, wurde ihm furchtbar übel. So sehr, dass er es kaum in Worte fassen konnte.

Doch eines Tages war Maomao in sein Leben getreten und hatte in ihm bis dahin nie gekannte Gefühle ausgelöst. Sie war die Einzige, mit der er zusammen sein wollte, die einzige Frau, die er heiraten wollte, die Einzige, die ihn wie ein menschliches Wesen behandelte. Die Einzige, der er sein wahres Ich zeigen konnte.

Die allererste Frau, in die er sich verliebt hatte.

Doch ironischerweise auch die Einzige, die keine solche Beziehung mit ihm eingehen wollte und immun gegen seinen Charme war. Die Tatsache, dass sie sich nicht von seinem Aussehen blenden ließ, war wirklich gleichzeitig ein Fluch und ein Segen…

Wieso? Wieso war das Leben nur so grausam? Wieso musste ausgerechnet die erste und einzige Frau, mit der er seine Zukunft verbringen wollte, kein bisschen interessiert an ihm sein? Womit hatte er das verdient?

Nun, gleichzeitig war Jinshi sich sehr wohl bewusst, dass er sich eigentlich keine solche Mühe zu machen brauchte. Dank seiner hohen Stellung könnte er Maomaos Körper jederzeit bekommen, wann immer er es wollte. Genau, er könnte einfach ihre Einwände ignorieren und sie dazu zwingen, seine Gemahlin zu werden. So bewusst wie sie sich ihrer Standesunterschiede war, würde sie ihm sicherlich gehorchen, falls er sich tatsächlich dazu entschließen sollte. Doch für ihn kam so etwas absolut nicht in Frage. Sein allergrößter Wunsch war, ihr Herz zu erobern, er wollte weder eine Beziehung zwischen Herr und Dienerin noch eine Zwangsehe. Er wünschte sich, dass sie ihn wirklich liebte, dass sie es genauso genoss, bei ihm zu sein, wie er es genoss, bei ihr zu sein. Dass sie Zeit mit ihm verbrachte, weil sie es selbst so wollte. Doch wie könnte er das erreichen? Er hatte nicht die geringste Ahnung.

Einen Kloß im Hals spüren, schluckte er schwer und bedeckte sich erneut die Augen.

So wie es aktuell aussah, könnten seine Träume nie in Erfüllung gehen.

Vielleicht sollte er es ja mal versuchen, das Gleiche zu tun wie in den Liebesromanen und ihr ewige Liebe und ewiges Glück versprechen…

Jinshi lachte auf. Nie im Leben! Er war kein solch naiver Dummkopf und Maomao schon gar nicht! Falls er so einen Unsinn tun sollte, würde sie ihn nie wieder ernst nehmen! 

Romane entstehen gemäß der Vorstellungskraft des Autors, doch die Wirklichkeit kann nicht nach Wunsch umgestaltet werden, denn das Leben ist kein Roman. Zwar kann es mittels Taten geändert werden, das stimmt schon, doch niemals so gesteuert wie Schriftzeichen auf Papier. Daher konnte Jinshi sich so anstrengen wie er wollte, doch versprechen konnte er Maomao, außer seltenen medizinischen Zutaten, überhaupt nichts.

Und schon gar kein ewiges Glück. Oder Glück überhaupt.

Doch sie bedeutete ihm unendlich viel und er wollte sie glücklich sehen. Und was brachte ihr die größte Freude? Richtig, Medizin und Gifte.

Was sie glücklich machte, war, Apothekerin zu sein.

Jinshi zuckte leicht und die Nägel seiner rechten Hand bohrten sich in seinen linken Arm, als ein stechender Schmerz durch seine Brust fuhr und ein simpler, jedoch äußerst grausamer und quälender Fakt in seinem Kopf Gestalt annahm:

Maomao war durchaus in der Lage, ein glückliches Leben ohne ihn zu führen. Sie brauchte ihn nicht.

Und egal wie sehr er versuchte, diesen Gedanken beiseite zu schieben, war er sich doch dessen bewusst.

Aber er brauchte sie, ohne sie fehlte seinem Leben etwas, und wahres Glück konnte er nur erreichen, wenn sie sich an seiner Seite befand. So viel war ihm mittlerweile klar geworden.

 Das war der Grund, wieso er weiterhin sein Bestes geben würde, um sie einzuholen, egal, was sie sagte.

Wie egoistisch von ihm, nicht wahr?

Jinshi seufzte. Und wie. Doch er konnte nichts dagegen machen, denn ihre Präsenz allein half ihm bereits, alle Ängste und Sorgen zu vergessen. Noch nie hatte er sich in der Gegenwart eines anderen Menschen dermaßen wohl gefühlt, nicht einmal derer, die ihn großgezogen hatten.

Aber… für Maomao war es nicht so, oder? Und außerdem würde jeder seiner Schritte und alles, was er tat, nur ihre Freiheit einschränken und das wollte er wirklich nicht. Immerhin hatte er mit eigenen Augen gesehen, was für eine Art von Leben die kaiserlichen Gemahlinnen führten, und Maomao hatte solch ein Schicksal nicht verdient. Er wollte sie nicht in einen goldenen Käfig sperren.

Sie unglücklich zu machen, war etwas, was er auf jeden Fall vermeiden wollte. Aber wie? Gab es überhaupt einen Weg? Einen Weg für sie beide, zusammen glücklich zu werden?

Er schluckte erneut. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus.

Oder vielleicht… sollte er sie… tatsächlich… gehen lassen?

Er riss die Augen weit auf und seine Pupillen verengten sich. Dieser Gedanke war so furchteinflößend, dass ihm für einige Sekunden der Atem stockte. Sein Herz zuckte schmerzhaft.

Nein! Das konnte er nicht! Unmöglich!

Endlich kehrte Jinshi zu seinem Stuhl zurück und ließ sich darauf plumpsen. Dann schob er die Dokumente beiseite und legte die Ellenbogen auf den Tisch, sich an den Kopf fassend.

Und abgesehen von dem allem war da noch all die Gefahr, in die er sie brachte, nur weil er derjenige war, der er war. Unfreiwillig, natürlich, aber trotzdem. Eine Gefahr, die man nicht einmal mit den Dingen vergleichen konnte, die sie sich selbst antat und von der ihr bandagierter Arm zeugte.

Er war sich mehr als bewusst, dass er sie nicht jeden Augenblick beschützen konnte, sondern nur so weit, wie er konnte. Die Welt war grausam, das Leben war grausam und keiner konnte vorhersehen, was passieren würde und nicht einmal, ob sie auch nur den nächsten Tag erleben würden.

Er selbst war bereits mehrmals beinahe umgebracht worden und sie ebenso. Zwar waren sie beide mit dem Leben davongekommen, doch die Zukunft war eine äußerst unsichere Angelegenheit. Keiner wusste, welches Unglück sie noch erwarten könnte.

Aber andererseits litt er auch noch an der ständigen Furcht, dass jemand ihm Maomao wegnehmen könnte, was ihn dazu brachte, so gut wie jeden Mann, der sich ihr zu nähern wagte, misstrauisch zu beäugen. Selbst trotz der zuvor erwähnten Gedanken, würde er es nicht ertragen können, sie mit einem anderen Mann zu sehen!

Jinshi starrte auf seine zitternden Hände, während er an seinen widersprüchlichen Gedanken und Gefühlen beinahe schon erstickte…

…Nein. Egal, welche Hürden noch auf dem Weg liegen möchten, es gab kein Zurück mehr. Er war ihr hoffnungslos verfallen.

Er drückte die Stirn gegen die Tischplatte, schloss die Augen und begann sich erneut an das zu erinnern, was vergangenen Abends geschehen war:

Die beiden saßen schweigend draußen in der Dunkelheit nebeneinander auf einer Bank. Nachdem er sich die nötigen Worte zurechtgelegt hatte, drehte Jinshi sich zu Maomao um und sagte in einem entschlossenen Tonfall: „Hör mir zu, Maomao, ich habe nicht vor, dich aufzugeben!”

Sie zuckte zusammen, doch bevor er noch etwas hinzufügen konnte, merkte er, dass sie davor war, aufzustehen und zu gehen. Wollte sie etwa schon wieder flüchten? Jinshi umarmte sie rasch, um zu verhindern, dass sie vor ihm weglief. Dann beugte er sich zu ihr und begann, in ihr Ohr zu flüstern: „Meine Hoffnung ist noch nicht verschwunden. Vielleicht verliebst du dich eines Tages doch noch in mich.”

Jinshi spürte, wie sie sich in seinen Armen versteifte, und drückte sie noch etwas enger an sich, um sie zu beruhigen. Maomao sagte zunächst nichts, hob dann aber auf einmal den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck war ernst.

Er erwiderte den Blick, darauf wartend, was als Nächstes passieren würde. Und dann kam der Augenblick, an dem sie jene Worte aussprach, die ihn die ganze Nacht und den nächsten Tag lang heimsuchen würden.

„Ich verstehe immer noch nicht, was Ihr in mir seht, Eure Exzellenz… und denke auch nicht, dass ich jemals in der Lage sein werde, Euch so zu lieben, wie Ihr es wünscht. Euch das zu geben, was Ihr braucht. Bitte sucht Euch jemand Anderen.”

Für ihn klang dies wie ein Todesurteil.

Er war so geschockt, dass seine Arme erschlafften. Maomao befreite sich aus seinem Griff und stand auf, den Blick immer noch nicht von ihm abwendend. Danach drehte sie sich um und ging, sich kein einziges Mal umdrehend.

Und er selbst blieb auf jener Bank sitzen, eine Hand in ihre Richtung ausstreckend, ohne etwas tun zu können, zu erschüttert, um sich zu erheben und Maomao zu folgen. Sondern hilflos und entsetzt zusehend, wie sein einziges Licht in der Dunkelheit sich in der Finsternis der Nacht verlor.

Seine Erinnerungen verlassend, biss Jinshi die Zähne zusammen und eine seiner Hände wanderte zu seiner Brust, sich genau dort an seine Kleidung klammernd, wo sich sein Herz befand.

Jene Gedanken taten weh, ihre Worte taten weh und seine Gefühle für sie taten ebenfalls weh.

Liebe war gar nicht so wundervoll und fantastisch wie es in Romanen und Liedern beschrieben wurde. Liebe war schmerzhaft. Schmerzhafter als jede körperliche Wunde, die er je erlitten hatte.

Oder genauer gesagt, unerwiderte Liebe.

Aber vielleicht würde Maomao trotz allem irgendwann doch Gefühle für ihn entwickeln, eines Tages, in einer fernen Zukunft…

Jinshi würde weiterhin alles tun, um dies möglich zu machen, alles, um all die Hindernisse und Widrigkeiten aus ihrem gemeinsamen Weg zu räumen. Möglicherweise würde die Zeit an seiner Seite sein, wer wusste das schon.

Obwohl seine Hoffnung aktuell zerbrochen war, war sie doch nicht vollständig verschwunden, ihre Scherben lagen weiterhin in seinem Inneren.

Vielleicht würde er es doch schaffen, einen besonderen Platz in Maomaos Herzen zu bekommen. Höchstwahrscheinlich nicht morgen, doch vielleicht in ein paar Monaten oder Jahren…

Jinshi schwor sich, dass es nie eine andere Frau in seinem Leben geben würde. Er würde auf Maomao warten, ganz egal, wie lange es auch dauerte.

Notes:

Und das ist das Lied:

The Tenors - Mañana
https://www.youtube.com/watch?v=rYw7_-4kJ0g&pp=ygURdGhlIHRlbm9ycyBtYW5hbmE%3D

Lyrics:
Nadie sabe su destino
(Keiner kennt sein Schicksal)

Quién se queda y quién se irá,
(Wer bleibt und wer geht,)

Los secretos del camino como flores se abrirán.
(Die Geheimnisse des Weges werden sie wie Blumen öffnen.)

Cada noche, cada día más, soñaré con alcanzarte a ti,
(Jede Nacht und jeden Tag werde ich davon träumen, wie ich dich einhole,)

Yo te buscaré y te besaré, el amor vendrá por fin.
(Ich werde dich finden und dich küssen und endlich wird die Liebe kommen.)

Mañana, mañana
(Morgen, morgen)

tal vez suenen las campanas,
(werden möglicherweise die Glocken läuten,)

Mañana, mañana
(Morgen, morgen)

me amarás… quizás
(wirst du mich lieben… vielleicht)

Mañana…
(Morgen…)

Estoy loco por tenerte y bailar contigo al son del vals,
(Mein verzweifelter Wunsch ist es, dich zu bekommen und mit dir einen Walzer zu tanzen,)

Te prometeré una eternidad llena de felicidad.
(Ich verspreche dir eine Ewigkeit voller Glück.)

Mañana, mañana tal vez suenen las campanas,
Mañana, mañana me amarás quizás, mañana...
Siento que el tiempo de mi lado está,
(Ich spüre, dass die Zeit an meiner Seite ist.)

 

Mañana, mañana tal vez suenen las campanas,
Mañana, mañana me amarás quizás.
Mañana, mañana tal vez suenen las campanas
Mañana, mañana me amarás quizás
Mañana…

Chapter 10: Schlafenszeit

Summary:

Maomao zwang Jinshi oft, Nickerchen zu machen, wenn sie merkte, dass er an Schlafmangel litt. Daher begriff Jinshi auf der Stelle, was zu tun war, als er sie übermüdet vorfand.

Chapter Text

Helle Sonnenstrahlen drangen durch die Fenster in Jinshis Residenz ein und schienen warm auf den jungen Adeligen selbst herab, der gemächlich durch den Korridor schritt, die Hände in seinen weiten Ärmeln verbergend. Winzige Staubpartikel tanzten durch die Luft und sein seidiges langes Haar glänzte im Licht, während er sich mit einem gelassenen Ausdruck im Gesicht vorwärtsbewegte. Seinem Gesicht, das so unfassbar schön war, als sei es nicht von dieser Welt.

Er hatte gerade eben seine übliche Kontrollrunde durch den inneren Palast und seine Besuche der vier obersten Gemahlinnen hinter sich gebracht und seine Gesichtsmuskeln fühlten sich nun etwas steif an, nachdem er den ganzen Tag sein „himmlisches" Lächeln zum Besten geben musste. Doch jetzt konnte er es sich gestatten, es endlich verschwinden zu lassen, denn es war keiner da, dem er gezwungen wäre, sein „perfektes Ich" zu präsentieren. Keiner seiner sogenannten Verehrer.

Aber leider war sein Gesicht der einzige Körperteil, den er aktuell entspannen durfte, denn die nächste Aufgabe wartete bereits auf ihn: sein „heißgeliebter" Papierkram, der sich wie immer auf seinem Schreibtisch stapelte...

Beim Gedanken daran verzog er leicht das Gesicht, füllte seine Lungen mit Luft und stieß einen langen, tiefen Seufzer aus, für welchen er, hätte Gaoshun ihn gehört, bestimmt zurechtgewiesen worden wäre. Dann legte er die Hand auf eine seiner ebenfalls steifen Schultern und rieb sie ein wenig. Vielleicht sollte er später Maomao in seine Gemächer kommen lassen und sie um eine kleine Massage bitten. Sie hatte ihm bereits einige Male eine gegeben und er hatte sich danach stets viel besser gefühlt.

Aber eigentlich reichte für gewöhnlich bereits ihr Anblick, um seine Laune zu heben... (wenn er sie nicht dabei erwischte, wie sie versuchte, seltsames und gefährliches Zeug in den Mund zu nehmen oder sich auf irgendeine andere Weise Schaden zuzufügen, versteht sich)

Eine angenehme Wärme breitete sich bei dem Gedanken an sie in seiner Brust aus und seine Mundwinkel hoben sich, ohne dass er es merkte, zu einem ehrlichen, aufrichtigen Lächeln. Es war entschieden! Er würde so schnell wie möglich seine Arbeit erledigen und dann in ihrer Nähe Zeit verbringen. Ihren genervten Gesichtsausdruck konnte er beinahe schon vor sich sehen (obwohl er zugeben musste, dass sie sich wohl bereits daran gewöhnt hatte, ihn um sich herum zu wissen).

Und während er da so vor sich hinspazierte und daran dachte, dass die spätere Zeit mit ihr eine Belohnung für seine harte Arbeit sein würde, wurde sein Lächeln auf einmal breiter und seine Augen leuchteten auf vor Freude.

Da war sie ja! Seine kleine Lieblingsapothekerin lief bloß etwa ein Dutzend Meter vor ihm her, Putzutensilien in den Händen haltend. Offenbar hatte sie gerade einen der Räume saubergemacht und war in den Korridor hinausgetreten, während er vollkommen in Gedanken versunken gewesen war. Aus diesem Grund wirkte es für ihn so, als sei sie wie aus dem Nichts erschienen.

Er beschleunigte seine Schritte und wollte bereits nach ihr rufen, hielt dann jedoch ganz plötzlich inne, als ihm etwas Seltsames an ihrer Gangart auffiel: kam es ihm nur so vor oder schwankte sie wirklich ein wenig beim Gehen, als ob ihre Beine sie nicht richtig halten könnten?

Jinshi runzelte leicht die Stirn und in seiner Brust wurde es eng vor Sorge. Sie war doch nicht etwa betrunken, oder? Nein, ganz bestimmt nicht. Zwar hätte er nicht wirklich etwas einzuwenden gehabt, wenn sie sich an seinem Alkoholvorrat bedient hätte, er hätte ihr mit Freude alles gegeben, was sie nur wollte (außer Gift, natürlich), aber sie war eigentlich viel zu verantwortungsbewusst, um während der Arbeitszeit zu trinken. Mal ganz abgesehen davon, dass er sich nicht sicher war, ob er überhaupt genug Alkohol besaß, um dieses Fass ohne Boden namens Maomao auch nur ein wenig beschwipst zu machen.

Oder könnte es sein, dass sie etwas zu sich genommen hatte, was sich nicht für den menschlichen Konsum eignete, während keiner hinsah? Nun, es gab nur einen Weg, es herauszufinden! 

Er schritt erneut los und holte sie mit Leichtigkeit ein.

„Apothekerin!"

Ihr die Hand auf die Schulter legend, zwang er sie dazu, anzuhalten und sich zu ihm umzudrehen. Dabei bekam er ihre dunklen Augenringe zu Gesicht. Nun, um ehrlich zu sein, war Jinshi es bereits ziemlich gewohnt, solche Ringe zu sehen, jedoch eher auf seinem eigenen Gesicht, nicht auf ihrem.

Sie blickte ruhig zu ihm auf.

„Seid gegrüßt, Eure Exzellenz."

Die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich.

„Was ist passiert? Bist du in Ordnung?", wollte er wissen, ohne den Gruß zu erwidern. Besorgnis lag in seinem Tonfall.

„Nichts. Ich habe mich bloß am vergangenen Abend hingesetzt, um die Heilkräuter zu sortieren, die ich vor Kurzem zu sammeln schaffte, doch bevor ich mich versah, war es bereits Morgen und es blieb keine Zeit mehr zum Schlafen. Aber das ist keine große Sache, ich bin wohlauf." Ihre Augen begannen leicht zu strahlen, während sie sprach, bestimmt vom Gedanken an ihre geliebten Kräuter.

Jinshi sagte erstmal nichts dazu, sondern blickte sie bloß mit beunruhigter Miene an. Da er sie bereits wunderbar kannte, konnte er es sich nur zu gut vorstellen, wie sie die ganze Nacht lang umgeben von ihren Kräutern und einem Grinsen im Gesicht verbrachte. Schließlich gab er einen Seufzer von sich.

„So siehst du mir aber nicht aus und arbeiten kannst du in diesem Zustand ganz gewiss nicht. Geh, ruh dich aus."

„Jetzt gleich? Aber..."

Maomao erschauderte. Bestimmt stellte sie sich gerade all die Arbeit vor, die Suiren für sie später bereithalten würde, sollte sie ihren Pflichten den Rücken kehren, um ein Nickerchen zu machen.

Doch Jinshi wollte keine Einwände hören.

„Kein Aber. Geh schlafen. Sofort."

Er biss entnervt die Zähne zusammen, sich so vorkommend, als würde er es mit einem sturen Kind zu tun haben. Fühlte sie sich auch so, wenn sie ihn zum Schlafen zwang? Sollte das also heißen, dass ihre Rollen sich diesmal umgekehrt hatten? Welch unerwartete Wendung...

Ganz plötzlich und bevor sie auch nur einen weiteren Laut von sich geben konnte, nahm er sie fest bei der Hand. Ihre Putzutensilien fielen zu Boden.

„Komm, ich bringe dich zu deinem Zimmer", verkündete er und zog sie fort, ohne ihr auch nur die Gelegenheit zu geben, ihre Sachen aufzuheben. Genau wie damals bei der Gartenfeier nach ihrer Giftverkostung.

Nun war Maomao mit Stirnrunzeln dran.

„Ich finde den Weg auch allein, Eure Exzellenz." Sie schien sich damit abgefunden zu haben, dass an einem Nickerchen nichts mehr vorbeiführte. „Und außerdem wartet Eure Arbeit bestimmt schon auf Euch, nicht wahr?"

Er spähte beinahe schon schüchtern in ihre Richtung und sie bemerkte, dass seine Wangen sich leicht rot gefärbt hatten. Was sie ein bisschen überraschte.

„Dann soll sie eben. Du bist wichtiger", murmelte er so leise, dass sie ihn nur mit Mühe verstehen konnte. „Und außerdem könnte ich mich sowieso nicht richtig konzentrieren, wenn ich mir den Kopf zerbrechen müsste, ob du es wohlbehalten in dein Bett geschafft hast oder gar unterwegs vor Erschöpfung umgekippt bist."

Maomao hatte keine Ahnung, was sie dazu sagen sollte, also schwieg sie. Doch ihre Augen weiteten sich leicht angesichts seiner Worte. Diese bestätigten nämlich wieder mal den Gedanken, der ihr häufig kam, wenn es um Jinshi ging: 

Sie verstand diesen Mann nicht. Kein bisschen.

Wenn er selbst beinahe vor Müdigkeit zusammenbrach, konnte seine Arbeit nicht warten, aber wenn sie es war, auf einmal doch? Wie konnte er bloß sie, eine einfache Magd, über seine eigene Gesundheit stellen? Und warum musste er immer so dramatisch sein und sie so behandeln, als sei sie schwerkrank oder verletzt? Sie war einfach nur müde, mehr nicht! Eine einzige schlaflose Nacht war gar nichts für sie, so zerbrechlich war sie nicht! Immerhin überarbeitete sie sich nicht ständig wie ein gewisser Jemand!

Das war nicht das erste Mal, dass er so ein Theater veranstaltete, ging ihr durch den Kopf, als sie daran dachte, wie er sich jedes Mal aufführte, wenn sie etwas auch nur im Entferntesten Giftiges zu sich nahm. Selbst nachdem sie ihm versichert hatte, dass alles unter Kontrolle war.

Und während sie so darüber nachgrübelte, hielt er so abrupt an, dass sie beinahe mit ihm zusammenstieß.

„Gut. Wenn dir meine Arbeit so am Herzen liegt, habe ich eine andere Idee."

Und mit diesen Worten begann er sie in die entgegengesetzte Richtung zu zerren.

Gezwungen, ihm zu folgen, blies Maomao genervt die Wangen auf. „Mensch, was ist denn jetzt schon wieder?", dachte sie und kniff die Augen zusammen.

„Wohin bringt Ihr mich, Eure Exzellenz?"

„Zu meiner Schreibstube."

Sie hob eine Augenbraue.

„Zu Eurer Schreibstube? Wieso das denn?"

Doch er antwortete nicht mehr, also musste sie wohl oder übel abwarten und selbst herausfinden, was er diesmal vorhatte. Maomao verzog das Gesicht. Wie lästig! Genau das hatte ihr gerade noch gefehlt!

Maomao funkelte ihn an, als sei er ein Wurm in einem Apfel, in den sie gerade hineingebissen hatte. Schade, dass er ihr den Rücken gekehrt hatte und es nicht sehen konnte. Schade für ihn, nicht für sie.

***

Endlich kamen sie an und er zerrte sie hinein. Außer ihnen befand sich aktuell keiner im Raum.

„Da sind wir. Hier wirst du schlafen", bestimmte Jinshi. „Hier kann ich dich im Auge behalten und in aller Ruhe meine Arbeit erledigen, ohne mir Sorgen machen zu müssen."

Maomao war immer noch der Meinung, dass er es mit seiner Besorgnis übertrieb, hatte jedoch nicht die Energie, um mit ihm zu streiten. Nicht, dass Streiten mit diesem Dickkopf ihr etwas gebracht hätte.

Na gut, dann würde es eben so sein. Sie wollte sich bereits zur im Raum stehenden Couch begeben, um sich hinzulegen, stellte jedoch mit Erstaunen fest, dass Jinshi sie immer noch bei der Hand hielt, und blickte leicht verwirrt zu ihm auf.

„Nein, nicht dort."

Er führte sie zu seinem Schreibtisch, setzte sich hin und klopfte sich mit einem kleinen Lächeln im Gesicht auf den Schoß.

„Hier."

Daraufhin funkelte Maomao ihn an, als sei er ein halber Wurm in einem Apfel, in den sie gerade hineingebissen hatte. Sich fragend, ob er sie wohl zum Narren hielt.

„Es wäre bequemer für dich. Und außerdem würdest du sowieso nicht auf dieser Couch liegen wollen, glaub mir."

Offensichtlich nicht. Er meinte es tatsächlich ernst.

„Wieso denkt Ihr das?", fragte sie stirnrunzelnd nach.

„Weil erst gestern ein gewisser Jemand darauf gesessen war. Ein gewisser alter Sack mit Monokel." Ja, Jinshi war ganz bestimmt nicht unvorsichtig genug, um den Namen des „alten Sacks" in ihrer Gegenwart auszusprechen.

Maomao erstarrte und verzog vor Abscheu das Gesicht dermaßen, dass nicht gerade wenige vor Angst geflüchtet wären. Jedoch nicht Jinshi. Er streckte die Hand aus und nahm ein Dokument vom Tisch, es ihr wie ein Beweisstück präsentierend. Ein runder Fettfleck zierte das Papier.

„Und er hat meine Papiere schon wieder mit seinen Fressalien beschmutzt", grummelte er.

Sie blieb noch einige Zeit lang angespannt, entspannte sich dann aber und stieß einen Seufzer aus. So wie es aussah, blieb ihr wohl wirklich keine andere Wahl, was?

„Verstanden. Nun gut, Eure Exzellenz."

Maomao zögerte noch ein paar Sekunden und ließ sich dann endlich auf seinem Schoß nieder. Jinshi schlang umgehend seinen rechten Arm um ihre Mitte und platzierte seine linke Hand unter ihre Knie, sie so drehend, dass sie seitwärts saß, ihre linke Seite an seinen Körper gepresst.

Danach hob er sein Obergewand an und schloss es um sie wie eine Decke, sie fest an sich drückend.

Maomao entspannte sich noch mehr und lehnte den Kopf an seine Brust, einen erneuten Seufzer von sich gebend. Seine Wärme ließ sie ihre Erschöpfung bestimmt noch stärker spüren, wie eine große, schwere Welle, gegen die sie nicht mehr ankämpfen konnte. Jinshi verstand, da er es nur zu gut kannte, wenn der eigene Körper um Erholung flehte.

Ein breites Lächeln erschien auf den Lippen des jungen Adeligen und er errötete erneut. Sein Herz pochte wie wild vor unaussprechlicher Freude. Da ihr Ohr an seine Brust gedrückt war, musste sie es zweifellos hören, sagte jedoch nichts dazu.

Maomao war sich nicht sicher, ob es bloß ihrer Erschöpfung zuzuschreiben war, doch während die letzten Überbleibsel ihres Widerstandes gegen den Schlaf langsam wegschmolzen, kam ihr ein unerwarteter Gedanke: wie wohl sie sich in seinen Armen fühlte. Und sicher. Vor allem, da sie seine Muskeln durch die Kleidung spüren konnte.

Ein angenehmer Geruch drang in ihre feine Nase, ein Hauch feines Parfüms und teuren Weihrauchs, der von seiner Kleidung und seinem Körper ausging. Doch da war noch etwas, etwas, was sie jedes Mal roch, wenn Jinshi ihr nahekam. Jetzt erst begriff sie, dass es sein natürlicher Duft sein musste.

Von ihm berührt oder umarmt zu werden, war nichts Neues mehr für sie, und sie war sogar schon einmal auf seinem Schoß gesessen, doch damals war sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, genervt zu sein, um es zu merken. Zu merken, dass sie seinen Duft eigentlich mochte.

„Schlaf, Maomao", hörte sie ihn flüstern, während sie nach und nach die Augen schloss. Es war nicht sein üblicher zuckersüßer Ton, der von falscher Liebenswürdigkeit nur so triefte, sondern ein beruhigender und sehr sanfter, unterstrichen von seiner Hand, welche begonnen hatte, ihr den Rücken zu reiben, um ihr beim Entspannen zu helfen.

Und es funktionierte. Sie gähnte.

Dieser Anblick war so niedlich, dass Jinshis Herz beinahe explodierte. Noch nie im Leben hatte er eine derartig tiefe Zuneigung zu jemand anderem verspürt, eine, die ihn bis in die tiefsten Abgründe seiner Seele traf, und auch keinen solch starken Wunsch, jemanden zu beschützen. Vor allen Gefahren, die drohen konnten.

Er zog sie noch näher zu sich und hörte irgendwann auf, ihr den Rücken zu reiben, seine große Hand stattdessen auf ihren Kopf legend und ihr Haar mit dem Daumen streichelnd.

Doch Maomao bekam dies alles kaum noch mit, da sie bereits auf direktem Wege ins Land der Träume unterwegs war.

Eine kurze Erinnerung an die Zeit, als sie noch klein gewesen war und auf dem Schoß ihres Vaters geschlafen hatte, huschte durch ihr von Schläfrigkeit getrübtes Bewusstsein und das war's.

Sie war tief und fest eingeschlafen.

Jinshi streichelte sie weiterhin, mit einem glückseligen Lächeln in seinem wunderschönen Gesicht, ihre ruhigen Atemzüge an seiner Brust und die von ihrem zierlichen Körper ausgehende Wärme genießend. Während er sie einfach nur beobachtete und alles um sich herum vergaß.

Sich wünschend, dass dieser Augenblick ewig währte.

***

Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür der Schreibstube und Gaoshun erschien im Raum, um einen weiteren Stapel Papiere vorbeizubringen, der zur bereits bestehenden Arbeitslast seines Herrn hinzugefügt werden sollte.

Seine Augen weiteten sich, als sein Blick auf die unerwartete Szene vor ihm fiel, einen Jinshi, der eine friedlich schlafende Maomao auf dem Schoß hielt, die Arme fest um sie geschlungen und seine Wange auf ihren Kopf gelegt hatte. Eine Szene voller Beschaulichkeit und Wärme.

Doch bevor der Assistent auch nur eine seiner Fragen laut aussprechen konnte, hob der junge Adelige den Kopf und schenkte ihm ein sanftes und zufriedenes Lächeln, sich den Zeigefinger an die Lippen führend und mit der anderen Hand Maomaos Kopf streichelnd, als wolle er damit betonen, dass er sie schlafen lassen wollte.

Gaoshun verstand. Er gab einen Seufzer von sich und setzte ebenfalls ein Lächeln auf, während er sich langsam zum Schreibtisch begab und die neuen Dokumente neben den alten ablegte. Dann nahm er seinen gewohnten Platz hinter seinem Herrn ein und betrachtete die Beiden schweigend und immer noch lächelnd. Er hatte eine Schwäche für kleine, niedliche Wesen und hegte nicht den geringsten Wunsch, die im Raum vorherrschende Stille zu stören (mal davon abgesehen, dass er die Augenringe der Apothekerin bemerkt hatte), doch die Arbeit würde sich leider nicht von allein erledigen.

Also räusperte er sich einige Minuten später, leise genug, um Maomao nicht zu wecken, doch gleichzeitig auch laut genug, damit Jinshi ihn hörte.

„Mein Herr?"

„Ja?" Jinshi hatte seine Nase in Maomaos Haaren vergraben und atmete ihren Duft nach Kräutern ein, den er so sehr liebte.

„Ich weiß, dass Ihr gerade den Moment genießt, doch Ihr dürft die Dokumente trotzdem nicht vernachlässigen.

Jinshi stieß einen kaum wahrnehmbaren Seufzer aus, als er diese Worte hörte, doch man konnte es nicht damit vergleichen, wie er sonst aussah, wenn er an seinen Papierkram erinnert wurde. Maomao nun mit einem Arm an sich drückend, griff er nach seinem Pinsel und begann zu arbeiten, ohne dass ihm auch nur ein Wort des Protestes über die Lippen kam. Um ehrlich zu sein, hatte Gaoshun ihn noch nie so glücklich gesehen, während er am Schreibtisch saß.

Es war erneut Stille eingetreten. Maomao schlief, Jinshi arbeitete und Gaoshun behielt seinen Herrn im Auge, damit dieser sich nicht allzu sehr von seinen Papieren ablenkte.

„Es ist wirklich erstaunlich, wie sehr sie Euch vertraut, um in dieser Haltung einzuschlafen, Herr", bemerkte der Assistent irgendwann.

Jinshi strahlte vor überschwänglicher Freude.

„Ja, da hast du Recht."

Und genau in diesem Augenblick gab Maomao einen kleinen Seufzer von sich, als wolle sie diese Aussage bestätigen, und regte sich leicht im Schlaf, wachte jedoch nicht auf. Jinshi blickte sie liebevoll an.

***

Ein paar Stunden später verließ Gaoshun mit den fertigen Papieren im Arm die Schreibstube. Er ließ es sich nicht anmerken, doch er war immer noch verblüfft von dem, was er gerade vernommen hatte. Nie im Leben hätte er gedacht, folgende Worte aus Jinshis Mund zu hören:

„Sie schläft noch. Ich möchte sie noch nicht wecken, also könntest du mir bitte noch ein wenig Arbeit bringen?"

Ja, er sollte Maomao definitiv bitten, in Zukunft öfter Nickerchen auf dem Schoß seines Herrn zu machen.

Chapter 11: Schlafenszeit: ein alternatives Ende

Summary:

Ich wurde von einem Leser gebeten, zur letzten Geschichte ein alternatives Ende mit Lakan statt Gaoshun zu verfassen, und da ist es nun! Ich hab bisher noch nie über Lakan geschrieben, hoffe, ich hab ihn gut getroffen.

Chapter Text

Während er da so in seiner vertrauten Schreibstube auf seinem vertrauten Stuhl saß und Maomaos Gewicht auf seinem Schoß und die Wärme ihres Körpers spürte, kam es Jinshi vor, als wäre er derjenige, der gerade am Träumen war, und nicht die Apothekerin. Es war einfach zu unglaublich, dass sie tatsächlich da saß und tief und selig schlummerte, den Kopf gegen seine Brust gelehnt.

Jinshis Herz weigerte sich immer noch, sich von seinem wilden Pochen zu erholen, und ein unbeschreibliches Glücksgefühl, das er so gut wie nie zuvor verspürt hatte, durchflutete seinen gesamten Organismus. Es war wirklich wie ein wahr gewordener Traum, einer, aus dem er am liebsten nie erwacht wäre. So lauteten seine Gedanken, während er seine Wange auf Maomaos Kopf legte und die Augen schloss, einfach nach Herzenslust den Moment genießend und vollkommen vergessend, wo er war und dass da eigentlich noch Papierkram auf dem Tisch lag und auf ihn wartete.

Doch leider kann nichts ewig währen, und sogar der schönste Traum findet irgendwann sein Ende.

Und so wurde der junge Adelige brutal aus seinem Tagtraum gerissen, als eine von der Tür kommende Stimme an sein Gehör drang. Eine, die er nicht erwartet hatte, so bald wiederzuhören. Sie gehörte einem Mann, welcher der allerletzte Mensch auf Erden war, den er jetzt sehen wollte. Sobald Jinshi diese Tatsache begriff, riss er auf der Stelle die Augen auf und hob den Kopf.

Diesmal war er derjenige, der so aussah, als hätte er in einen Apfel gebissen und einen Wurm darin vorgefunden. Und war zu geschockt, um auch nur zu versuchen, es zu verbergen.

Der Militärstratege namens Lakan spazierte seelenruhig hinein, als würde der Raum ihm gehören und ohne um Erlaubnis zum Eintreten zu bitten, sich nicht darum scherend, dass er den eigentlichen Herrn jener Schreibstube stören könnte. Also so wie immer.

„Na, wieder hart am Arbeiten, was?", sagte er lächelnd anstelle eines Grußes.

Doch auf einmal verschwand dieses Lächeln spurlos von seinem Gesicht und seine fuchsgleichen Augen weiteten sich. Er blieb abrupt stehen, als wäre er zu Stein erstarrt.

Jinshi war ebenfalls angespannt. Er drückte Maomao instinktiv noch enger an sich und wartete, was wohl als Nächstes passieren würde, da er nie wusste, was in dem Kopf jenes Mannes vorging. Ein Schweißtropfen lief Jinshis Schläfe entlang und seine Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Währenddessen stöhnte Maomao leise im Schlaf, als spüre sie, dass etwas Unheilvolles vor sich ging, wachte jedoch glücklicherweise nicht auf. Noch nicht.

Die beiden Männer starrten einander an, ohne auch nur ein Wort von sich zu geben. Oder nein, nicht ganz: Lakan starrte nicht auf Jinshi, sondern eher auf die junge Frau auf dessen Schoß. Eine von lediglich zwei Personen, deren Gesicht er erkennen konnte.

Er streckte den Arm aus und richtete seinen leicht zitternden Zeigefinger auf sie, dabei beinahe seinen Saft, den er wie immer bei sich trug, verschüttend.

„M-Maomao! Was machst du denn da?", brachte der immer noch perplexe Lakan schließlich heraus.

Jinshi hob daraufhin rasch den Zeigefinger an die Lippen.

„Sie schläft. Lasst Sie einfach in Ruhe, sie ist schrecklich erschöpft! Bitte!" Er flehte beinahe schon, im Versuch, nicht allzu laut zu werden.

Lakan atmete scharf ein, nicht fassend, dass dieser „Offizier"-Stein es tatsächlich wagte, ihm Befehle zu erteilen.

„I-Ihr! Ihr!" Doch aus irgendeinem Grund gehorchte er doch und senkte seine Stimme ein wenig. Doch war immer noch weit davon entfernt, sich zu beruhigen. „Dass sie schläft, sehe ich selbst, aber warum ausgerechnet auf Eurem Schoß? Was für einen schmutzigen Trick habt Ihr bei meinem kleinen Mädchen durchgezogen?!"

Jinshi blickte ihm direkt in die Augen. Er wusste, dass es unklug war, Lakan zu provozieren, konnte jedoch nicht anders.

„Keinen. Sobald sie hörte, dass Ihr gestern auf meiner Couch gesessen seid, hat sie es selbst vorgezogen, auf meinem Schoß zu schlafen."

Er achtete darauf, das „Ihr" zu betonen.

„..."

Lakans Mund zuckte leicht, doch er sagte nichts dazu. Stattdessen hob er die Hände, als würde er sich zu einem Faustkampf bereit machen.

„Halt durch, Maomao! Papa rettet dich!"

Jinshi hob eine Augenbraue. Er verlor langsam die Geduld.

„Sie muss nicht gerettet werden! Lasst sie einfach schlafen!", zischte er, während die Hilflosigkeit und Verzweiflung einer Welle gleich in ihm aufstiegen. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte.

„Uhhh..."

Die Beiden kamen wieder zu sich, als sie ein weiteres Stöhnen von der jungen Apothekerin vernahmen, und Jinshi spürte, wie sie sich in seinen Armen zu regen begann. Er senkte den Blick und stellte fest, dass sie die Augen öffnete. Na klasse! Also war all die Mühe umsonst gewesen. Er bedauerte es, dass sie so unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde, doch bei dem Theater, das Lakan veranstaltete, war das kein Wunder. Jinshi gab einen Seufzer von sich.

Noch ein wenig benommen von ihrem leider ziemlich kurzen Nickerchen, brauchte Maomao eine Weile, um sich zu erinnern, wo sie war. Sie rieb sich die Augen und sah auf, dabei dem Blick von Jinshi begegnend, der sie entschuldigend anlächelte. Nicht wirklich begreifend, was dieses Lächeln sollte, hob sie die Augenbrauen.

„Eure Exzellenz?... Wah!"

Und genau in diesem Moment nahm sie den Kopf von seiner Brust, drehte ihn und stellte fest, dass sich noch eine dritte Person im Raum befand.

Ein heftiger Schauder lief ihr Rückgrat entlang und ihre Haare standen zu Berge, wie bei einer Katze, der jemand auf den Schwanz getreten war. Sie klammerte sich unbewusst an Jinshis Kleidung, so aussehend, als sei sie direkt in einem wahr gewordenen Alptraum gelandet. Ihre Schläfrigkeit war wie weggeblasen.

Der Stratege strahlte sie an. So wie es aussah, hatte er seine Wut auf Jinshi vergessen.

„Maomao! Du bist aufgewacht!"

„In der Tat. Und daran seid Ihr schuld", murmelte Jinshi vor sich hin, ihn böse anfunkelnd.

Maomao fühlte sich wie in einer Falle. In jeder anderen Situation wäre sie diesem nervigen alten Sack so gut es geht aus dem Weg gegangen oder hätte ihn geflissentlich ignoriert, aber das konnte sie aktuell vergessen. Und außerdem wusste keiner, was er tun würde, nachdem er gesehen hatte, wie sie an einem solch „ungewöhnlichen" Ort ein Schläfchen hielt.

Im Versuch, sich etwas einfallen zu lassen, um aus dieser höchst unerfreulichen Situation herauszukommen, und sich äußerst unwohl fühlend, glitt sie von Jinshis Schoß. Er legte ihr die Hände auf die Schultern (was dem Strategen einen weiteren entrüsteten Schrei entlockte) und näherte sich ihrem Ohr, den Blick nicht von Lakan abwendend.

„Versteck dich hinter mir. Ich habe einen Plan", flüsterte er rasch und stand ebenfalls auf, sich vor seinen Schreibtisch begebend und sich mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck direkt vor Lakan stellend. Maomao gehorchte und huschte hinter seinen Rücken. Dank ihres beträchtlichen Größenunterschieds verbarg Jinshis Körper sie komplett vor den Augen des Strategen.

Er begann erneut aufzuführen, dass er Maomao nicht gezwungen hatte, dort zu schlafen, wo sie geschlafen hatte, und dass es ganz allein ihre Entscheidung gewesen war, was Lakan dazu brachte, seine gesamte Aufmerksamkeit wieder auf ihn zu richten. Nun, über diese Tatsache konnte man gewiss streiten, war Maomaos Meinung. Sie runzelte die Stirn, musste jedoch zugeben, dass sie bis zu diesem unschönen Erwachen eigentlich ganz gut geschlafen hatte.

Und während Jinshi seine Argumente vorbrachte, bewegte er sich diskret auf die Tür zu, seitwärts und schrittweise, darauf achtend, dass Maomao hinter seinem Rücken das Gleiche machte.

Sie begriff, was er da tat: er versuchte gerade, den Strategen abzulenken und ihr zur Flucht zu verhelfen!

Und es schien tatsächlich zu klappen: Lakan war immer noch voll und ganz auf Jinshis Worte fixiert und schien nichts zu merken. Vielleicht, weil er sie nicht sehen konnte.

Als sie nur noch wenige Schritte von der offenen Tür entfernt waren, bewegte Jinshi eine Hand hinter seinen Rücken und stupste Maomao sanft an. Sie verstand und stürmte aus dem Raum so schnell sie ihre Beine trugen.

Dabei rannte sie an Gaoshun vorbei, der mit einem Stapel neuer Dokumente im Arm in der Nähe der Tür stand und besorgt die Szene in der Schreibstube betrachtete. Er schien nicht so recht zu wissen, was er tun sollte. 

***

Am selben Tag am Abend ließ Jinshi Maomao zu seinen Gemächern rufen, um einen Tee mit ihr zu trinken. Zwar hatte er zunächst vorgehabt, sie für den Rest des Tages in Ruhe zu lassen, entschied sich dann aber doch dagegen, da er wissen wollte, ob sie in Ordnung war. Und um sich bei ihr zu entschuldigen. Damit sie diesmal von niemandem gestört wurden, bat er Gaoshun und Suiren zu gehen, sobald Maomao erschien.

Nun saß er da und schaute zu, wie sie den Tee einschenkte (er hatte dies eigentlich selbst machen wollen, doch Maomao ließ ihn nicht), mit Erleichterung feststellend, dass sie trotz der immer noch vorhandenen Augenringe weniger erschöpft aussah. Also hatte ihr der kurze Schlaf doch etwas gebracht.

Maomao bemerkte seinen Blick und erwiderte ihn leicht fragend.

„Entschuldige, Apothekerin. Ich hätte ahnen sollen, dass er wiederkommen würde", sagte Jinshi, auf den Becher in seinen Händen starrend.

Maomao nahm ihm gegenüber Platz.

„Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen, Eure Exzellenz. So weit ich gehört habe, erscheint er immer unangekündigt. Wie ist das Ganze eigentlich ausgegangen?", fragte sie nach einer Weile.

Jinshi verzog das Gesicht als habe er Kopfschmerzen und gab einen gereizten Seufzer von sich.

„Nun, er ist wütend hinausgestürmt, verkündend, dass dies ein Nachspiel haben würde... und hat dabei die Tür zu meiner Schreibstube kaputtgemacht. Gaoshun wird ihm demnächst eine Rechnung zuschicken."

Maomao verzog ebenfalls das Gesicht. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, erinnerte sie sich tatsächlich daran, ein lautes Knallen und dann ein Krachen vernommen zu haben, welche die ganze Residenz erbeben ließen, während sie die Putzutensilien aufsammelte, die sie vorhin zurücklassen musste, als Jinshi sie fortgezogen hatte.

Auf einmal spürte sie wieder seine Blicke auf sich und sah auf. Sein vom schwachen Kerzenlicht erhelltes Gesicht lächelte sie an. Maomao hatte ein ganz mieses Gefühl dabei.

„Mach dir keine Sorgen, mit ihm werde ich schon irgendwie fertig. Wie wär's... wenn wir nun da weitermachen, wo wir aufgehört haben, was meinst du?"

Maomao runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen.

„Ich denke, ich ziehe es lieber vor, in meinem Bett zu schlafen, Eure Exzellenz."

Das war das höflichste „Nein", das sie aufbringen konnte.

Jinshi sah sie daraufhin an wie ein trauriges Hündchen, was Maomao noch stärker die Stirn runzeln ließ. Urgh, wenn es einen Wettbewerb gäbe, wer der nervigste Mann auf Erden war, wüsste sie gar nicht, wer den ersten Platz belegen würde, Jinshi oder der alte Sack!

Bereits ahnend, dass er nicht so leicht aufgeben würde, seufzte sie schließlich.

„Na gut, aber nur für ein paar Minuten."

Jinshis Lächeln war so strahlend, dass er damit wohl nicht nur eine Nation, sondern gleich die ganze Welt in die Knie gezwungen hätte.

„Wie kindisch er ist", dachte Maomao. Sie hatte ein leicht schlechtes Gewissen, dass sie ihn mit dem Strategen verglichen hatte, weil Jinshi dies trotz all seiner Macken nicht verdiente. Und außerdem kam sie nicht umhin, sich zu erinnern, dass sie sich eigentlich ganz wohl gefühlt hatte auf seinem Schoß.

Sie nahm erneut dort Platz, woraufhin Jinshi seinen Tee beiseite stellte und die Arme um ihre Taille schlang, sie wieder mal fest umarmend. Und näherte sich ihrem Ohr.

„Hier, als kleine Entschuldigung", flüsterte er.

Und drückte ihr aus heiterem Himmel einen Kuss auf die Wange.

Maomao zuckte zusammen und ihre Augen weiteten sich für einen Moment. Doch sie fasste sich schnell wieder und saß dann einfach schweigend da, sich drücken lassend.

Schon wieder verstand sie sich selbst nicht.

Denn sie stellte fest, dass es ihr eigentlich gar nicht so zuwider gewesen war. Obwohl sie eine Heilpflanze als Entschuldigung selbstverständlich vorgezogen hätte.

Chapter 12: Ein Nickerchen in der Jaderesidenz

Summary:

Jinshi war überglücklich, dass er endlich eine Gelegenheit bekommen hat, Maomao zu besuchen, die in die Jaderesidenz zurückgekehrt war. Jedoch ahnte er nicht, was genau ihn dort erwarten würde...

Notes:

Und schon wieder komme ich der Bitte eines meiner englischsprachigen Leser nach:
"Could you write a scene with Maomao being caught napping by Gyokuyou or the other Ladies-in-waiting whilst looking after Lingli?"

Und hier kommt das Ergebnis! Natürlich hab ich wieder mal Jinshi hinzugefügt, was denn auch sonst^^

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Mit geradem Rücken, einem ernsten Ausdruck auf seinem wunderschönen Gesicht und die Hände in seinen weiten Ärmeln verborgen, schritt die „himmlische Nymphe" namens Jinshi durch den inneren Palast, den „Blumengarten" des Kaisers, einer seiner Pflichten als dessen Aufseher nachkommend: den vier obersten Gemahlinnen einen Besuch abzustatten. Sein langes Haar wog sich leicht im Wind und seine Haltung war der Inbegriff von Würde und Authorität, was ihn wie ein unerreichbares Wesen wirken ließ, das über allen anderen stand. Begleitet von den sehnsuchtsvollen Seufzern der Palastdamen und seinem treuen Assistenten Gaoshun.

Doch je mehr sie sich ihrem letzten Ziel, der Jaderesidenz, wo Gemahlin Gyokuyou lebte, näherten, desto mehr begann diese Fassade zu bröckeln; das „schöne himmlische Wesen" verwandelte sich in einen gewöhnlichen jungen Mann. Einen jungen Mann, der fast schon strahlte vor Glück, so aussehend, als würde er jeden Moment anfangen, ein Lied zu summen. Er strahlte dermaßen, dass er beinahe vergessen hätte, seine Maske aufrechtzuerhalten.

„Herr, da ist ein Grinsen in Eurem Gesicht. Bitte passt besser auf, es sieht äußerst kindisch aus", tadelte der hinter ihm hergehende Gaoshun ihn leise, als Jinshi seinen Kopf zur Seite drehte.

 „Ach, wirklich?"

Selbst Jinshis Stimme klang überglücklich. Er ersetzte das Grinsen zwar durch eines seiner gewohnten künstlichen Lächeln, da er nicht vergessen durfte, wo und wer er war, doch dies trübte seine gute Laune nicht. Und er hatte das Gefühl, dass nichts und niemand sie trüben würde. Denn heute war der Tag, auf den er ungeduldig gewartet hatte. Der Tag, an dem er eine ganz besondere junge Frau wiedersehen würde. Eine, die er vorübergehend an Gemahlin Gyokuyou „ausgeliehen" hatte.

Es waren bereits mehrere Tage vergangen, seit er seine Lieblingsapothekerin zuletzt zu Gesicht bekommen hatte. Mittlerweile hatte er sich so sehr daran gewöhnt, dass sie in seiner Residenz lebte, dass er ohne sie eine gewisse Leere in seinem Inneren spürte, als würde ihm etwas fehlen. Jeden Morgen musste er sich beim Aufwachen daran erinnern, dass er ihre vertraute zierliche Gestalt mal wieder weder in seinen Gemächern noch in seiner Schreibstube und auch nicht in seinen Korridoren vorfinden würde. Und es tat weh.

Ja, Jinshi vermisste Maomao fürchterlich. Doch diesmal war es anders: diesmal wusste er zumindest, dass sie ihm keiner während seiner Abwesenheit wegnehmen würde, dass sie nirgendwo weggehen würde und dass sie sich nun in (relativer) Sicherheit befand. Dass er sie definitiv wiedersehen würde. Dies machte das Ganze erträglicher.

Und so zählte er bloß die Tage bis zu seinem nächsten Besuch, die Tage, bis es ihm erlaubt sein würde, sich wieder vollständig zu fühlen und sei es nur für ein paar Minuten. Sah zu, wie die Tage und Nächte vergingen, und vertiefte sich in seine gewohnte Arbeit, während er zählte, immerzu zählte. Bis er einen Grund haben würde, ihr einen Besuch abzustatten.

***

Endlich erblickten Jinshi und Gaoshun den Eingang der Jaderesidenz und Jinshis Lippen drohten sich erneut zu einem Grinsen zu verziehen bei dem Gedanken, dass Maomao dort war, gleich hinter jener Tür (wenn sie sich nicht auf einem Botengang oder Ähnlichem befand, wovon er selbstverständlich hoffte, dass dies nicht der Fall war). Doch er schaffte es mit einiger Mühe, sich zu beherrschen.

Sobald sie eintraten, wurden die beiden Männer von Dame Gyokuyou selbst und ihren Zofen empfangen. Während er ins Innere geführt wurde und sich bei der Gemahlin über ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden während der Schwangerschaft erkundigte, ließ der junge Adelige seinen Blick suchend über die Umgebung wandern, im Versuch, nicht allzu auffällig zu sein. Seine Augen weiteten sich, als er begriff, dass die Apothekerin sich nicht unter den Frauen befand. Die Enttäuschung stand ihm fast schon ins Gesicht geschrieben, als ob all die Freude von vor ein paar Minuten ausgegangen sei, wie eine Kerze, der es an Sauerstoff mangelte. Jinshi schluckte schwer. Also wurde sie doch auf einen Botengang geschickt, was?

So einfühlsam wie eh und je und als hätte sie seine Gedanken gelesen, führte Gyokuyou sich die Hand an den Mund und kicherte.

„Nur keine Sorge, die „Katze" sitzt im Zimmer nebenan und passt auf die Prinzessin auf."

Die Art und Weise wie Jinshis Gesicht sich auf der Stelle erhellte, als er ihre Worte vernahm, war fast schon drollig. So sehr, dass die kaiserliche Gemahlin beinahe laut aufgelacht hätte. Ab und zu benahm er sich wirklich wie ein kleiner Junge. Das Leben im inneren Palast war oft ziemlich monoton und bot nicht viel Abwechslung, deshalb fand Gyokuyou es höchst amüsant, jenen beiden zuzusehen und sie auch von Zeit zu Zeit zu necken.

„Verstehe", sagte Jinshi mit einem Lächeln. „Wäre es in Ordnung, wenn ich sie ebenfalls grüßen gehe?"

„Aber natürlich, nur zu."

Die Gruppe begab sich zum nächstgelegenen Zimmer und Gyokuyou öffnete die Tür.

„Maomao!", verkündete sie. „Seine Exzellenz Jinshi ist hi- Oh, na so was!"

Plötzlich brach ihre Stimme ab und ihre Augen öffneten sich weit vor Erstaunen, als sich ihr eine höchst unerwartete Szene offenbarte:

Die Apothekerin befand sich tatsächlich im Raum, jedoch war es unmöglich zu behaupten, dass sie auf die Prinzessin aufpasste. Oder genauer gesagt: sie konnte es gar nicht. Denn sie schlief tief und fest, während sie da auf dem Boden saß, den Kopf gebeugt und die Hände auf dem Schoß. Eine nicht gerade sehr bequem aussehende Haltung. Überhaupt war es ein Wunder, dass sie noch nicht umgefallen war.

Währenddessen lag Prinzessin Lingli bäuchlings neben ihr auf dem Teppich und spielte fröhlich mit einigen Holztieren. Sobald sie merkte, dass die Tür sich öffnete, sah sie auf und kicherte, als sie ihre Mutter, die Zofen und die beiden Besucher entdeckte.

Diese starrten alle mit leerem Blick auf das Kleinkind und Maomao, nicht so recht wissend, was sie dazu sagen sollten.

„Oh, sie muss aber wirklich müde sein", bemerkte schließlich Ailan leise. Sie klang etwas verlegen.

„Und ich dachte mir schon, dass ich letzte Nacht einige seltsame Geräusche aus ihrem Zimmer gehört habe... Gelächter, glaube ich. Also habe ich es mir doch nicht eingebildet", fügte Yinghua hinzu. „Vielleicht hat sie schon wieder etwas mit ihren seltsamen Kräutern angestellt. Ich habe gesehen, wie sie vor einigen Tagen ein paar neue zum Trocknen aufhängte."

Die oberste Zofe, Hongniang, kochte mittlerweile vor Zorn und knirschte mit den Zähnen.

„Ich werde sie lehren, ihre Pflichten dermaßen zu vernachlässigen! Was, wenn der Prinzessin etwas zugestoßen wäre?!"

Sie hob die Hand mit der offensichtlichen Absicht, sich zu Maomao zu begeben und sie wachzuhauen, kam jedoch nicht weit, da sie die Hand ihrer Herrin auf ihrer Schulter spürte.

„Nicht doch", versuchte Gyokuyou, sie zu beruhigen. „Letztendlich ist ja nichts passiert. Und wenn sie tatsächlich so erschöpft ist, dass sie hier einfach so einnickt, dann sollten wir sie lieber noch etwas schlafen lassen."

Sie bückte sich und strich ihrer Tochter, die zu ihr gekommen war und sich nun an ihr Bein klammerte, über den Kopf. Ein sanftes Lächeln zierte das Gesicht der Gemahlin, doch keinem der Anwesenden entging das plötzliche Funkeln in ihren Augen, was sie leicht verblüffte.

Gyokuyou blickte auf die schlafende Maomao.

„Nun, um sie nicht womöglich noch aufzuwecken, schlage ich vor, sie einfach hier, auf dem Teppich weiterschlafen zu lassen. Aber nicht so."

Und nachdem sie Guiyuan und Ailan gebeten hatte, ein Kissen und eine Decke zu bringen, nahm Gyokuyou Lingli auf den Arm und stellte sich vor Jinshi, ihm ein zuckersüßes Lächeln schenkend.

„Eure Exzellenz Jinshi, ich weiß, es ist etwas unverschämt von mir, Euch darum zu bitten, aber könntet Ihr sie bitte hinlegen, damit sie es bequemer hat?"

„Das könnte ich doch erledigen, Dame Gyokuyou", bot Gaoshun an und machte einen Schritt nach vorn als der aufmerksame Assistent, der er war. Doch der Blick, mit dem die Gemahlin ihn bedachte, ließ ihn auf der Stelle verstummen.

Er war nicht ganz so schlimm wie die von Maomao, aber immer noch intensiv. Der Blick einer Frau, die niemandem gestatten würde, sich ihr in den Weg zu stellen, einer, der Gaoshun dank seiner Frau und Tochter mehr als nur vertraut war.

Oh. Nun begriff er langsam.

Gyokuyou lächelte Jinshi erneut an.

„Würdet Ihr dies bitte tun?"

Der junge Adelige starrte sie bloß an. Er brauchte einen Moment, um zu reagieren.

„J-Ja, natürlich."

Leicht zögerlich trat er auf die schlafende „Katze" zu und ging vor ihr auf die Knie. Dann legte er eine seiner Hände auf ihren Hinterkopf und hob mit der anderen ihre Beine an, sie so langsam und vorsichtig auf den Rücken legend wie er nur konnte. Maomao rührte sich leicht während dieser Prozedur und drehte sich nach einigen Augenblicken schließlich auf die Seite. Jinshi hielt ein paar Sekunden lang die Luft an, befürchtend, dass er bei seiner Aufgabe gescheitert war. Doch zu seiner Erleichterung wachte sie nicht auf.

Nachdem er sichergestellt hatte, dass sie immer noch tief und fest schlief, erhob er sich.

Und stand dann einfach mit leicht geröteten Wangen da und sah ihr beim Schlafen zu, als ob ihre Atemzüge ihn hypnotisieren würden und die junge Frau selbst das faszinierendste Wesen auf der Welt war, was es ihm unmöglich machte, den Blick von ihr abzuwenden. Immerhin hatte er sich so danach gesehnt, sie endlich wiederzusehen.

Aber dann hörte er aus heiterem Himmel ein Räuspern hinter sich und kam wieder zu sich, sich erinnernd, wo er war, und sich zu seinem „Publikum" umdrehend. Welches aus dem leicht besorgt aussehenden Gaoshun bestand, der sich gerade geräuspert hatte, um seinen Herrn auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen, und den Frauen, die ihn alle anlächelten, sogar Hongniang.

Von all den Blicken spürte Jinshi wie seine Ohren heiß wurden und räusperte sich aus Verlegenheit ebenfalls. Er war zwar kein bisschen schüchtern, doch es war ihm immer noch etwas peinlich, von Leuten beobachtet zu werden, die ihm nicht so nahestanden wie Suiren oder Gaoshun, während er der Apothekerin gegenüber sein wahres Ich zeigte. Möglicherweise, weil es das erste Mal in seinem Leben war, dass er jemand anderem gegenüber wahre Zuneigung zeigte.

Gyokuyou kicherte diskret, sich den Mund mit der Hand bedeckend. Genau in dem Moment kamen die beiden, die sie fortgeschickt hatte, mit dem Kissen und der Decke zurück.

Sobald das Kissen unter Maomaos Kopf geschoben und die Decke auf ihren Körper gelegt wurde, hob sich die Gemahlin die Hand an die Wange, so aussehend, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen.

„Ach ja, nun da Ihr hier seid, Gaoshun: im Garten sprießt erneut das Unkraut. Würdet Ihr bitte so freundlich sein und es für uns herauszupfen? Ihr habt es letztes Mal so gut gemacht."

Gaoshun riss die Augen weit auf.

„Dame Gyokuyou! Aber..."

Jinshi war ebenfalls leicht erstaunt von dieser plötzlichen Bitte (und auch von der Tatsache, dass Gaoshun bereits schon einmal als Gyokuyous Gärtner agiert hatte), doch wedelte schließlich mit der Hand.

„Schon gut, geh und hilf ihnen. Ich warte so lange auf dich, immerhin ist dies die letzte Residenz, der wir einen Besuch abstatten müssen."

„Sehr wohl, Herr."

Der Assistent verbeugte sich und wurde sogleich fast schon fortgezerrt von den Zofen, die begriffen hatten, was ihre Herrin im Schilde führte.

„Dann schlage ich Euch vor, gleich hier auf ihn zu warten", sagte Gyokuyou zu Jinshi. „Ich weiß, dass Ihr etwas Zeit mit Maomao verbringen wolltet, da wäre es doch ein Jammer, wenn Ihr keine Gelegenheit dazu bekommt, nur weil sie schläft.”

Doch bevor er auch nur einen Ton von sich geben konnte, hatte Gyokuyou bereits das Zimmer verlassen. Mit der Prinzessin im Arm, die begonnen hatte, mit der Halskette ihrer Mutter zu spielen. 

Damit wurde Jinshi einfach so allein stehengelassen, immer noch verarbeitend, was gerade geschehen war (und sich fragend, ob seine Gedanken tatsächlich DERMASSEN offensichtlich waren), etwas unsicher, was er nun tun sollte. Er schluckte und lief erneut leicht rot an, als er sich zur schlafenden Apothekerin auf dem Boden drehte. Nun, so ganz allein war er eigentlich nicht...

Er blickte sich vorsichtig um und nachdem er sichergestellt hatte, dass sich außer ihm und Maomao wirklich niemand mehr im Raum befand, kam er näher und setzte sich neben ihr auf den Boden, um sie von neuem zu bewundern. Dies war ziemlich unangebracht für jemanden mit seinem hohen Status, doch solange ihn keiner dafür zurechtweisen konnte, war es ihm egal.

„Ich habe dich wirklich vermisst, weißt du", traute er sich endlich, die Worte zu flüstern, die er bisher noch nie laut ausgesprochen hatte.

Jinshi musste zugeben, dass er ein wenig enttäuscht war, nicht mit ihr sprechen und ihre wunderschönen Augen nicht sehen zu können, aber...

...aber einfach nur zuzuschauen, wie friedlich sie schlief, erfüllte sein Herz bereits mit so viel Wärme.

Er schüttelte den Kopf, ein sanftes Lächeln auf den Lippen.

„Nein, ist schon in Ordnung. Das reicht mir. Es wird andere Gelegenheiten geben."

Denn sie wird nirgendwohin gehen. Er wird sie ohne jeden Zweifel wiedersehen.

Jinshi hob die Hand und strich Maomaos Pony vorsichtig zur Seite. Sie seufzte leise im Schlaf.

Als Nächstes wollte Jinshi ihre Wange streicheln, riss dann aber die Augen auf und seine Hand erstarrte mitten in der Bewegung, als er einige Geräusche aus der Richtung der offenen Tür vernahm. War etwa bereits jemand zurückgekommen?

Leicht ins Schwitzen geratend, drehte er den Kopf, um nachzusehen, und wäre beinahe aufgesprungen, entspannte sich dann aber wieder und ließ die Luft entweichen, die er angehalten hatte.

Nichts zu befürchten, es war bloß Prinzessin Lingli.

Aber was machte das Kind dort eigentlich? War sie etwa ihrer jetzigen Aufpasserin entwischt, als diese gerade nicht hingesehen hatte? Es sah so aus.

„Hallo nochmal, Prinzessin", sagte er, immer noch erleichtert, dass er von keiner der erwachsenen Frauen erwischt worden war.

Sich an der Tür festhaltend, lächelte Lingli ihn an und...

...begann, unbeholfen auf ihn zuzustaksen.

Nun, Jinshi musste zugeben, dass er schon ein wenig genervt war, während seiner Zeit mit Maomao so abrupt unterbrochen worden zu sein, schließlich hatte er so lange darauf gewartet, aber das kleine Mädchen war so niedlich, dass er nicht anders konnte, als Lingli ein ehrliches Lächeln zu schenken. Als Nächstes beschließend, sie einfach walten zu lassen, seinen Kopf wieder zu Maomao zurückdrehend.

Doch da die Prinzessin noch immer ein wenig unsicher auf den Beinen war, plumpste sie auf halbem Wege auf den Po.

Jinshis Augen weiteten sich erneut, als er diese Szene aus dem Augenwinkel wahrnahm. Er hoffte sehr, dass sie nicht anfangen würde zu weinen, da er nicht die leiseste Ahnung hatte, was er in solch einem Fall tun sollte. Doch seine Besorgnis erwies sich als unbegründet: anstatt zu heulen, setzte Lingli ein erneutes Lächeln auf und begab sich einfach auf die Knie, die letzten Meter zu ihm hinkrabbelnd.

Was für ein Glück, dass sie solch eine Frohnatur war.

Sie begann, an seinem Ärmel zu ziehen.

„Was ist denn, Prinzessin?", fragte Jinshi verwirrt, sich fragend, was sie von ihm wollen mochte.

„Mao!"

Das Kind deutete auf die Apothekerin.

Jinshi lachte in sich hinein.

„Richtig, das ist Maomao."

Linglis Lächeln wurde noch breiter.

Er seufzte.

„Deine Mutter und die Zofen suchen bestimmt schon nach dir, da sollte ich dich wohl besser zurückbringen, denke ich."

Nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf Maomao, war er bereits kurz davor, aufzustehen und das Kind auf den Arm zu nehmen, doch bevor er das tun konnte, vernahm er ein gewisses Wort und erstarrte erneut. Ein solch unerwartetes Wort, dass es ihn vollkommen baff und sprachlos machte.

„Bruder!"

  Lingli zeigte nun mit dem Finger direkt auf ihn, während sie sich mit der anderen Hand an seinen Ärmel klammerte.

Jinshi starrte sie mit offenem Mund an. Und setzte dann erneut ein Lächeln auf und tätschelte ihr den Kopf.

„Ich bin nicht dein Bruder, Kleines, wenn schon, dann eher dein Onkel", murmelte er leise.

Doch Lingli war ganz anderer Meinung. Sie blies ihre runden Wangen auf und ballte ihre winzigen Händchen zu Fäusten.

„Bruder!", ließ sie nicht locker.

Jinshi war etwas erstaunt von ihrer Hartnäckigkeit, lächelte jedoch weiter und strich ihr erneut über den Kopf. Er hatte keine Lust, mit einem Kleinkind zu streiten. Und ganz abgesehen davon, hatte ihn dieses Wort sehr wohl auf eine gewisse Weise berührt, da er bisher noch nie so genannt worden war.

„Gut, gut, wie du möchtest", gab er schließlich nach, sie damit wieder glücklich machend. „Aber sei jetzt bitte leise, ja? Sonst weckst du noch unsere Mao auf."

Er hob sich den Zeigefinger an die Lippen und die Kleine imitierte ihn kichernd. Sie war wirklich zuckersüß.

Jinshi lachte leise und tat nun endlich das, was er die ganze Zeit schon tun wollte: während die Prinzessin ihn beobachtete, begann er geistesabwesend die Wange der Apothekerin zu streicheln. Zum Glück schlief Maomao noch immer tief und fest. Sie hatte einen wirklich tiefen Schlaf.

„Unsere Katze ist müde heute", murmelte er.

„Katze!", stimmte Lingli zu.

Danach stand sie plötzlich auf und tapste hinter Maomao, wo sie sich auf die Knie fallen ließ, ihre kleinen Hände auf den Rücken der Apothekerin legte und begann, sie unbeholfen zu streicheln.

„Katze!"

Zuerst begriff er nicht ganz, worauf sie hinauswollte, doch dann dämmerte es ihm allmählich.

„Oh, verstehe. Du willst sie so streicheln, als wäre sie eine Katze, nicht wahr?"

Lingli strahlte, stolz, dass er sie verstanden hatte.

Jinshi lächelte und stellte sich neben der Kleinen ebenfalls auf die Knie.

„Also gut, dann wollen wir mal."

Er platzierte eine seiner großen Hände auf Maomaos Rücken und bewegte sie sanft entlang ihres Rückgrats. Die Prinzessin tat es ihm nach.

Maomao, welche wundersamerweise auch jetzt nicht aufwachte, setzte einen zufriedenen Gesichtsausdruck auf und seufzte erneut, sich noch etwas enger zusammenrollend. Sie sah so aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu schnurren.

Jinshi hätte bei diesem Anblick beinahe laut aufgelacht, beherrschte sich jedoch, sich seine andere Hand an den Mund führend.

„Schau sie dir an! Wie eine richtige Katze!"

Lingli kicherte wieder und klatschte in die Hände, von all dem Spaß beinahe umfallend.

Was diese zwei (drei) jedoch nicht wussten, war, dass Dame Gyokuyou und die Zofen derweil zurückgekommen waren und sie nun an der Tür stehend beobachteten, vor Rührung fast platzend. Gaoshun, der das Unkraut inzwischen gejätet hatte, schloss sich ihnen an, als er unterwegs war, um sich die Erde von den Händen zu waschen und stehenblieb, um nachzusehen, was da drin vor sich ging. Die Szene entlockte auch ihm ein Lächeln.

***

Ungefähr eine Viertelstunde später und sehr zu Jinshis Bedauern (und Entsetzen, dass er quasi die ganze Zeit beobachtet worden war), wurde er von seinem Assistenten daran erinnert, dass es an der Zeit war, nach Hause zurückzukehren, da die heutige Arbeit immer noch nicht ganz erledigt war.

Na gut, da kann man nichts machen.

„Bis zum nächsten Mal", flüsterte er und drückte kurz die Hand der Apothekerin, immer noch leicht rot im Gesicht vor Verlegenheit, dass man ihn bei einem solch albernen Spiel erwischt hatte.

Dame Gyokuyou begleitete die beiden Männer höchstpersönlich zum Ausgang, die Prinzessin im Arm haltend.

„Möchtest du ihnen auf Wiedersehen sagen, mein Schatz?", fragte sie die Kleine.

Lingli winkte Jinshi zu.

„Tschüss, Bruder!"

Alle anderen erstarrten vor Verblüffung, als sie dies hörten. Alle außer Jinshi, der bloß lächelte und zurückwinkte.

„Auf Wiedersehen, Prinzessin."

Nun, dieser Besuch war zwar ganz anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte, doch seine Lieblingsapothekerin bekam er zu Gesicht und genau dies war das, was zählte.

Notes:

Schon seit ich erfuhr, auf welche Weise Jinshi und Lingli miteinander verwandt sind, wollte ich so eine süße familiäre Szene zwischen ihnen erschaffen. Und diese Bitte war genau das Richtige dafür :)

Es ist mein Headcanon, dass die Kleine irgendwie spüren kann, wer er wirklich ist.

Chapter 13: Ein Nickerchen in der Jaderesidenz - Sequel

Summary:

Noch mehr großer Bruder Jinshi! Das sollte eigentlich wirklich nur ein kurzes Sequel werden, aber da ich eine Idee nach der anderen bekam, wurde es letztendlich fast so lang wie der erste Teil! Diese niedlichen Szenen zu schreiben macht einen Heidenspaß!

Chapter Text

Es war ein ruhiger, friedlicher Nachmittag. Maomao saß, die Ellbogen auf ihre Beine gestützt und die Wangen auf die Handflächen, in einem der Räume der Jaderesidenz auf dem Boden und betrachtete schweigend die kleine Prinzessin, die unbekümmert in ihrer Nähe spielte.

Gemahlin Gyokuyou hatte Gemahlin Lihua zum Tee eingeladen und machte sich nun mit der Hilfe ihrer anderen Zofen dafür fertig, somit war Maomao erneut damit beauftragt worden, auf Lingli aufzupassen. Was, ehrlich gesagt, eine ziemliche Überraschung war, nach dem, was letztes Mal passiert war.

Dame Gyokuyou hatte wirklich großes Vertrauen in sie.

„Immerhin hast du meinem Kind einst das Leben gerettet", hatte die Gemahlin zu ihr gesagt.

„Das habe ich wohl", dachte Maomao, gab einen Seufzer von sich und rieb sich unbewusst den Hinterkopf, angesichts der Erinnerung an Hongniangs „äußerst strenge Warnung" vom Vorabend, als Maomao über ihre heutige Aufgabe informiert worden war. Um sicherzugehen, dass sie nachts ordentlich schläft, damit sich das Geschehene vom letzten Mal nicht wiederholt.

Die Apothekerin runzelte bei diesem Gedanken leicht die Stirn.

„Ich verstehe ihre Bedenken ja, aber sie hätte wirklich nicht so zuhauen müssen. So achtlos, um es ein zweites Mal zuzulassen, bin ich nicht."

Obwohl sie zugeben musste, dass sie sich ziemlich glücklich schätzen konnte, nach der Vernachlässigung einer solch wichtigen Pflicht mit lediglich ein paar Klapsen davongekommen zu sein. Es war eine wirklich gefährliche Situation gewesen, denn wenn der kaiserlichen Tochter etwas zugestoßen wäre, während Maomao geschlafen hatte, dann hätte die Schuld allein bei ihr gelegen und sie wäre höchstwahrscheinlich dafür enthauptet worden. Was ihrer Meinung nach logisch wäre. Sie hatte wirklich, wirklich Glück, dass Gemahlin Gyokuyou ein solch gutherziger und verständnisvoller Mensch war und auf Strafe verzichtet hatte.

Aber wieso war Maomao an jenem Tag überhaupt so erschöpft gewesen?

Nun, Dame Gyokuyou hatte in letzter Zeit über Schlafprobleme geklagt, demnach hatte Maomao, als die leidenschaftliche Apothekerin, die sie war, es sich zur Aufgabe gemacht, das bestmögliche Schlafmittel zusammenzumischen, das dem ungeborenen Kind der Gemahlin keinen Schaden zufügen würde. Und so hatte sie sich bei Anbruch der Nacht in ihrem Zimmer eingeschlossen und angefangen, mit verschiedenen schlaffördernden Pflanzen zu experimentieren. Dabei hatte sie so viel von den Ausdünstungen ihrer eigenen Kreationen eingeatmet, dass es bei ihr eine starke Müdigkeit am nächsten Tag erzeugte.

Nun, eigentlich war Maomao gar nicht so anfällig für solche Dinge, vor allem nicht nach all den jahrelangen Selbstexperimenten, doch gegen eine ganze und außerdem noch schlaflose Nacht mit den Düften dieser Pflanzen in der Nase konnte selbst sie nichts ausrichten.

Jedoch wusste sie, dass dies keine Ausrede war. Deshalb war die Tatsache, dass nichts Ernsthaftes passiert war, wirklich ein wahrer Glücksfall für sie.

„Katze!"

Auf einmal erreichte die hohe Stimme eines Kindes Maomaos Gehör. Aus ihrer Versunkenheit auftauchend, hob sie den Kopf von den Handflächen und stellte fest, dass Lingli auf sie zustackste, mit einem Holztier in der Hand und einem breiten Lächeln im Gesicht.

Maomao lächelte zurück. Sie war nicht sehr angetan von Kindern, musste jedoch zugeben, dass sie diese Kleine sehr wohl mochte. Lingli war so süß, dass sie es geschafft hatte, selbst Maomaos Herz zu schmelzen, das eben nicht aus Stein war, auch wenn es für diejenigen, die sie nicht kannten, auf den ersten Blick so erscheinen mochte.

„Was ist denn, Prinzessin?"

Das kleine Mädchen plumpste auf den Schoß der Apothekerin.

„Katze!"

Maomao blickte auf das Spielzeug in der Hand des Kindes.

„Nein, Prinzessin, das ist ein Pferd."

Doch Lingli zeigte mit dem Finger auf sie, das Tier mit ihrer anderen Hand hochhaltend.

„Katze! Spielen!"

„Oh, Ihr meint also mich?"

Das Kind nickte.

Seit dem letzten Mal, als Maomao auf die Prinzessin „aufgepasst" hatte, hatte die Kleine angefangen, sie so zu nennen. Die Apothekerin hatte sich anfangs noch darüber gewundert, aber da es bei Weitem nicht das erste Mal war, dass sie mit einer Katze verglichen wurde, nahm sie einfach an, dass Lingli es bei ihrer Mutter oder einer der Zofen aufgeschnappt hatte, und beschloss, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.

Doch bevor Maomao die Gelegenheit bekam, noch etwas von sich zu geben, nahm sie aus dem Augenwinkel Bewegungen wahr und drehte den Kopf Richtung Tür, feststellend, dass sie Besuch hatten: Eine bereits wohlbekannte „himmlische Nymphe" betrat mit einem großen Lächeln den Raum. Jinshi sah so atemberaubend aus wie immer und war von einem solchen Funkeln umgeben, das es jeden geblendet hätte. Jeden außer Maomao, natürlich. Sie blinzelte bloß einige Male und erhob sich dann, Lingli auf den Arm nehmend und ein paar Schritte auf ihn zugehend.

„Seid gegrüßt, Eure Exzellenz Jinshi."

Sein Lächeln wurde daraufhin noch breiter, wie das eines Jungen, der lange auf ein Geschenk gewartet hatte und es nun endlich öffnete. Wie immer war es das ehrliche, das er stets zeigte, wenn es an Maomao gerichtet war.

„Lange nicht gesehen, Apothekerin! Und dir auch einen schönen guten Tag, Prinzessin!"

„Er wirkt ganz schön unbekümmert heute", dachte Maomao. „Also nehme ich mal an, dass es wirklich nur ein einfacher Besuch ist und er auch diesmal keinen besonderen Auftrag für mich hat. Vielleicht wurde er ebenfalls zum Tee eingeladen." Sie betrachtete kurz sein Gesicht und stellte mit einiger Erleichterung fest, dass er keine Augenringe hatte. Also hatte er in letzter Zeit genug Schlaf bekommen.

Das Kind begann sich in Maomaos Armen zu winden, als es den Gast bemerkte, und streckte seine Ärmchen in seine Richtung aus.

„Bruder!"

„Bitte, was?!" Maomao riss die Augen weit auf, nicht ganz glaubend, was sie da gerade gehört hatte. Doch sie fasste sich schnell wieder. Immerhin konnte sie sich nicht gerade eine Kinderversteherin nennen, also war dies vielleicht bloß die Macke eines Kleinkindes.

„Ich glaube, die Prinzessin möchte auf Euren Arm, Eure Exzellenz", sagte sie, leicht verblüfft, dass Jinshi weder von diesem einen Wort noch vom Verhalten der Prinzessin eine Miene verzog.

„Gut, warum nicht. Komm her, Kleines", willigte er sofort ein, immer noch lächelnd.

 Er fasste Lingli unter den Armen und hob sie aus Maomaos Griff und hoch in die Luft. Das Mädchen lachte und strampelte vor Freude mit den Beinchen.

„Oh, bist du aber schwer! Bist du etwa gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe?", fragte er, Erstaunen vortäuschend. Die Kleine lachte noch lauter.

Maomao währenddessen sah ihnen mit ehrlicher Verwunderung zu, nicht wissend, was sie sagen sollte. 

„Er kann ziemlich gut mit Kindern umgehen, muss ich zugeben", dachte sie. „Das habe ich nicht erwartet. Aber andererseits ist er selbst wie ein Kind, also kein Wunder."

Ihre Lippen krümmten sich zu einem leichten Grinsen, welches sie auf der Stelle verschwinden ließ, als Jinshi seinen Blick wieder auf sie richtete.

Das Kind im Arm haltend, lächelte er die Apothekerin erneut an, ein leises „Au!" von sich gebend, als die Prinzessin sich eine Strähne seines langen Haars schnappte und daran zog, so wie sie es immer mit dem Bart des Kaisers tat.

„Wie ich sehe, bist du heute wach, Apothekerin."

Maomao war nicht gerade froh, an „jenen Vorfall" erinnert zu werden.

Sie verbarg die Hände in den Ärmeln und verbeugte sich leicht.

„Ja. Ich entschuldige mich, dass Ihr mich in einem solch ungebührlichen Zustand erleben musstet."

Gyokuyou hatte Maomao berichtet, dass Jinshi an jenem Tag ebenfalls zu Besuch gewesen war, also musste er sie unweigerlich gesehen haben. Wie peinlich. Jedoch hatte sie nicht ganz begriffen, wieso die Gemahlin während der Erzählung gekichert hatte, fand aber, dass es ihr nicht zustand, nach dem Grund zu fragen.

„Mach dir keine Gedanken deswegen", winkte Jinshi ab. „Schließlich zwingst du mich immer, schlafen zu gehen, wenn ich erschöpft bin, also wieso solltest du das nicht auch tun?"

„Weil Eure Dokumente keine kleinen Kinder sind, die weglaufen oder sich versehentlich umbringen können, wenn man sie für eine Minute aus den Augen lässt", dachte Maomao und runzelte leicht die Stirn, sprach es jedoch nicht laut aus.

„Würdet Ihr bitte kurz auf die Prinzessin aufpassen, Eure Exzellenz?", fragte sie stattdessen. „Ich hole Tee und Süßigkeiten." Schließlich war er ihr Gast, da wäre es unhöflich, ihm nichts anzubieten.

„Kein Problem."

Während Maomao sich zur Küche begab, nahm Jinshi vorsichtig Linglis Händchen von seinen Haaren und ging zur im Raum stehenden Couch, wo er sich niederließ, die Prinzessin auf seinen Schoß platzierend. Er war überglücklich, dass er endlich die Gelegenheit bekam, sich mit seiner Lieblingsapothekerin zu unterhalten. Obwohl er zugeben musste, dass es auch ziemlich schön gewesen war, sie beim Schlafen zu beobachten.

Auch wenn er damals von seinem „Schwesterchen" unterbrochen worden war. Jinshi lächelte das kleine Mädchen auf seinem Schoß an. Es fühlte sich immer noch etwas seltsam an, doch um ehrlich zu sein, gefiel ihm die Vorstellung, ein älterer Bruder zu sein, auch wenn er keiner war. Die Prinzessin war einfach zu niedlich und außerdem noch sehr klein, also beschloss er, sie vorerst nicht zu korrigieren. Jedoch wird es, wenn sie älter wird, nötig sein, ihr beizubringen, ihn „Onkel" zu nennen.

Lingli erwiderte das Lächeln und präsentierte ihm ihr Spielzeug.

„Pferd!"

Jinshi lachte in sich hinein und strich ihr über den Kopf.

„Wie ich sehe, übst du das Sprechen fleißig, Prinzessin. Sehr gut! Noch ein bisschen und du wirst ganze Sätze formulieren können."

Das Lob brachte die Kleine zum Strahlen.

„Bruder! Spielen!"

„Du willst, dass ich mit dir spiele? Gerne doch!"

Und während Lingli auf Jinshis Schoß mit dem Pferd spielte und es über seine Hand und seinen Unterarm „galoppieren" ließ, sah der junge Adelige ihr einfach mit sanftem Blick schweigend zu. Er hoffte sehr, dass diese Kleine so lange wie möglich eine glückliche Kindheit haben würde.

Eine glücklichere als seine eigene. Eine Kindheit, wo ihr keiner die Spielsachen wegnimmt, so wie man es bei ihm getan hatte, und wo sie niemals an der lähmenden Einsamkeit leiden muss, die er selbst fast sein ganzes Leben lang ertragen musste.

Denn er wusste ganz genau, wie es war, im goldenen Käfig der kaiserlichen Familie aufzuwachsen. Und wie er das wusste.

Leichte Traurigkeit lag nun in seinem Blick, die er auf der Stelle verschwinden ließ, sobald die Kleine erneut mit ihren großen, runden Augen zu ihm aufschaute.

Einige Minuten später kam Maomao mit dem Tee und den Süßigkeiten zurück und stellte sie auf dem kleinen Tisch vor der Couch ab.

Jinshi dankte ihr und nahm sich einen Becher, dem Kind ein Stückchen von einem süßen Brötchen anbietend, welches das Mädchen mit Freuden annahm, das Spielzeug zu Boden fallen lassend.

Währenddessen setzte sich die Apothekerin neben ihn und begann, an einem salzigen Reisgebäck zu knabbern, das sie bei der Zubereitung des Tees aus der Küche stibitzt hatte. Sie mochte Süßkram nicht wirklich. Jinshi wusste dies genau und sagte nichts dazu.

Auf einmal zeigte Lingli mit dem Finger auf sie.

„Katze!"

„Ja, Prinzessin?", fragte Maomao reflexartig, bevor sie es verhindern konnte. Verdammt, also hatte sie sich noch stärker an diesen Spitznamen gewohnt, als sie gedacht hatte.

Jinshi sah so aus, als ob er gleich explodieren würde, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und in schallendes Gelächter ausbrach, dabei beinahe seinen Tee ausspuckend.

„Sie nennt dich „Katze"?! Und du reagierst auch noch darauf?!"

„Ja, seit dem Vorfall, wo ich eingeschlafen bin. Ich habe aber keine Ahnung, wieso."

„Ach, wirklich?"

Jinshi stellte seinen Becher auf den Tisch und grinste sie frech an, wie ein Junge, der einen Streich gespielt hatte. Kam es der Apothekerin nur so vor, oder hatte er gerade tatsächlich der Prinzessin zugezwinkert?

Maomao runzelte die Stirn und funkelte ihn an, als sei er... nein, dieses Mal funkelte sie ihn ganz „normal" an. Schließlich wollte sie der Prinzessin keine Angst einjagen.

„Er weiß etwas!", dachte sie, ihn misstrauisch beäugend. „Was bitte IST an jenem Tag genau vorgefallen? Und seit wann stehen er und die Prinzessin sich überhaupt so nahe?"

Doch ihre Gedanken wurden erneut unterbrochen.

„Mao!"

Maomao blickte auf und sah, dass Lingli nun Jinshis Daumen festhielt und ihr zweites Händchen mit einem breiten Lächeln im Gesicht in ihre Richtung ausstreckte. Jinshi lächelte ebenfalls, vor Rührung dahinschmelzend.

„Ach, also erinnert sie sich doch, wer ich bin", dachte die Apothekerin.

„Was ist los, Prinzessin?", fragte sie, ohne den blassesten Schimmer, was die Kleine von ihr wollte, und die Tatsache bedauernd, dass Lingli noch nicht anständig sprechen konnte. Nun, so wie es aussah, verstand sie kleine Kinder tatsächlich nicht.

„Mao!"

„Ich denke, sie will auch deine Hand halten", versuchte Jinshi zu helfen.

Tja, es gab nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden. Maomao bewegte ihre Hand langsam auf Lingli zu und das Kind ergriff auf der Stelle ihren Zeigefinger, dabei fröhlich kichernd. Also war es wirklich das gewesen.

„Für so ein kleines Ding ist sie wirklich stark, was?", sagte Jinshi, leise lachend. „Eh?"

Die beiden Erwachsenen verstummten auf einmal und starrten auf das Kleinkind, welches aus heiterem Himmel begonnen hatte, gleichzeitig an ihren beiden Fingern zu ziehen, anscheinend im Versuch, ihre Hände zusammenzubringen. Und sie ließen es zu, so verblüfft, dass sie bloß zuschauen konnten.

„Möchte sie etwa... dass wir uns an den Händen halten?", meldete Maomao sich schließlich nach einer Weile zu Wort.

„Sieht so aus", antwortete Jinshi und lächelte die Apothekerin sanft an. „Sollen wir ihr den Gefallen tun, was meinst du?"

Zu behaupten, dass Maomao sehr erpicht darauf war, wäre eine Lüge, doch sie wollte das Kind nicht traurig machen. Und außerdem war es nichts Neues mehr für sie, seine Hand zu halten.

Sie seufzte.

„Von mir aus."

Und so nahmen sich die beiden bei der Hand, was die kleine Prinzessin vor Freude zum Quietschen brachte.

Während er vorsichtig die Hand der Apothekerin drückte, hatte Jinshi das Gefühl, als würde ihre Wärme direkt in seinen eigenen Körper und zu seinem Herzen fließen. Er hatte Lust, alles andere zu vergessen und einfach nur für alle Ewigkeit dort sitzen zu bleiben und sich in Maomaos wunderschönen blauen Augen zu verlieren, die ebenfalls zu ihm aufblickten... oder zumindest lange genug, um die Zeit zu ertragen, bis er sie erneut wiedersehen würde.

Doch so wie es aussah, war das zu viel verlangt...

Sowohl Jinshi als auch Maomao zuckten zusammen und kehrten in die Realität zurück, als sie auf einmal ein Weinen vernahmen und verwirrt auf Jinshis Schoß schauten, wo die kleine Lingli in Tränen ausgebrochen war.

Maomao reagierte als Erste. Sie ließ Jinshis Hand los, erhob sich und nahm das Kind von seinem Schoß.

„Oh, sie braucht eine frische Windel", stellte sie seelenruhig fest ohne mit der Wimper zu zucken und machte sich mit der Kleinen im Arm auf Richtung Tür. „Würdet Ihr mich für einen Moment entschuldigen, Eure Exzellenz?"

Jinshis Gesichtsausdruck war... nun, schwer zu beschreiben.

„Äh, ja, sicher, nur zu", murmelte er mit weit aufgerissenen Augen, zuschauend, wie Maomao mit dem Kind das Zimmer verließ.

Die Apothekerin grüßte unterwegs kurz Dame Gyokuyou, welche gekommen war, um zu schauen, ob alles in Ordnung war, und jetzt bei der Tür stand und sich so vor Lachen bog, dass ihr Tränen über das Gesicht liefen.

***

Bonus:

Ein wenig später, als Jinshi einsah, dass er sich langsam auf den Rückweg machen sollte (sich wie immer gegen seinen Willen von seiner Lieblingsapothekerin trennend), spürte er plötzlich ein Ziehen an seiner Kleidung und drehte sich um, nach unten blickend. Und setzte auf der Stelle ein sanftes Lächeln auf, als er die frisch gewickelte Lingli erblickte, die ihn erneut anstrahlte. Sie hielt ein Blatt Papier mit dem Bild eines Pilzes.

„Bruder!"

„Oh, was haben wir denn da?" Er bückte sich, um ihren Kopf zu tätscheln.

„Gift!"

Jinshi war kurz perplex, grinste dann aber. 

„Hehe, ich sehe schon, wer deine Lehrerin war. Und ja, ich gebe zu, dass es wirklich nützlich ist, zu wissen, wie dieses Zeug aussieht. Aber ich hoffe, du wirst nichts davon in den Mund nehmen. Wie ein gewisser Jemand."

Er schielte amüsiert zu Maomao rüber, die ihn genervt anblickte.

„Wird sie nicht, nur keine Sorge", grummelte sie.

„Das will ich mal schwer hoffen. Wir brauchen keine zweite Maomao hier." Jinshi begab sich zur Apothekerin und legte ihr den Arm um die Schultern, ihr mit dem Zeigefinger seiner anderen Hand leicht auf die Nase klopfend. „Eine ist mehr als genug."

Maomao schnaubte und nahm seine Hand von ihrem Gesicht.

Und als er schließlich Richtung Ausgang unterwegs war, hörte er die Stimme der obersten Zofe hinter sich schreien und lachte leise in sich hinein:

„Ich habe dir doch gesagt, dass du dem Kind keine seltsamen Dinge beibringen sollst!"

Chapter 14: Das Geschenk

Summary:

Jinshi ist aufgefallen, wie hart Maomao als seine Dienerin arbeitet, und er beschließt, ihr mit einem kleinen Geschenk dafür zu danken... Was kann dabei schon schiefgehen?

Notes:

Vor einigen Monaten bekam ich eine Idee für einen lustigen kleinen One-Shot und hier ist er nun, zum Tag der Ausstrahlung der letzten Episode der ersten Animestaffel (weil ich mich weigere zu glauben, dass wir nicht mindestens noch eine weitere bekommen!)

Meine allererste Apothekerin-Fanfic (genauer gesagt, die englische Version davon) hab ich am Tag der Ausstrahlung der ersten Episoden hochgeladen (um sowohl den Start des Animes als auch meinen Geburtstag zu feiern, die beide am 21.Oktober waren) und hier kommt nun meine elfte Geschichte am Tag der letzten (ist aber nicht meine letzte Fanfic, nur keine Sorge).

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

„Nun gut, Xiaomao. Bitte stell alles zurück an seinen Platz, sobald du den Staub von den Regalen gewischt hast, und mach mit dem nächsten Raum weiter. Ich werde währenddessen die Fenster putzen."

„Sehr wohl, Dame Suiren."

„Und bitte sei so gut und beeil dich ein bisschen, andernfalls wird die Teepause leider ausfallen müssen."

„Jawohl!"

Dies war die Unterhaltung, die Jinshi mitbekam, als er auf seinem Weg zu seiner Schreibstube, wo seine übliche Arbeit bereits auf ihn wartete, an einem der Zimmer seiner Residenz vorbeiging. Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass ein Dialog solcher Art zwischen seinen beiden Zofen sein Gehör erreichte.

Er wusste ganz genau, wie unfassbar gnadenlos und streng seine oberste Zofe Suiren, was Arbeit anging, war, trotz ihrer für gewöhnlich ruhigen und freundlichen äußeren Erscheinung, deshalb war er wirklich froh, dass sie die Apothekerin allem Anschein nach ins Herz geschlossen hatte und die beiden ziemlich gut miteinander auskamen. Eine wahre Erleichterung, wie er zugeben musste.

Jedoch... konnte er nicht anders, als sich beim Anblick einer Maomao, die von Suiren fast jeden Tag auf Trab gehalten wird, leicht... schuldig zu fühlen. Verglichen mit ihrer früheren Tätigkeit als Vorkosterin in der Jaderesidenz, hatte sich Maomaos Arbeitspensum zweifellos erhöht seit sie angefangen hatte, bei ihm zu leben, und... nun ja... sie hatte nie auch nur ein Wort der Klage über die Lippen gebracht, natürlich nicht, doch ab und zu fragte er sich schon, ob sie sich in seinem Zuhause auch wirklich wohlfühlte.

Jinshi hatte sie bereits ermutigt, sich an ihn zu wenden, falls ihr etwas nicht gefallen sollte, aber trotzdem... Wer wusste schon, ob sie das tatsächlich tun würde?

Immerhin wollte er nicht, dass sie heimlich begann, ihr Leben als seine Dienerin zu hassen, und irgendwann sogar noch anfing zu bereuen, zugestimmt zu haben, dass er sie loskaufte.

Jinshi schüttelte den Kopf.

Nein, das wäre wirklich schrecklich.

***

In seiner Schreibstube angekommen, begab Jinshi sich zu seinem Stuhl, ließ sich darauf fallen, gab einen Seufzer von sich und stützte seinen linken Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab, seine Wange auf seiner Handfläche ablegend und mit der anderen Hand beginnend, sich geistesabwesend durch den vor ihm liegenden Dokumentenstapel zu wühlen, den Inhalt der Papiere kaum eines Blickes würdigend.

„Was ist denn los, Herr?", wollte Gaoshun wissen, der an der Tür auf ihn gewartet hatte, und kam näher. Er musste die leicht bekümmerte Miene seines Herrn bemerkt haben.

Immer noch leicht in Gedanken versunken, blickte Jinshi zu ihm auf.

„Ich sollte mehr Informationen über seltene medizinische Objekte sammeln", sagte er leise, nahm seinen Pinsel in die Hand und begann damit leicht gegen die Tischplatte zu klopfen. Als er Gaoshuns fragenden Blick sah, fügte er eine Erklärung hinzu: „Weißt du, ich denke, ich sollte der Apothekerin etwas kaufen, um mich für ihre harte Arbeit erkenntlich zu zeigen. Damit sie mit ihrer Tätigkeit als Dienerin nicht unzufrieden ist."

„Xiaomao sieht meiner Meinung nach nicht unzufrieden aus."

„Schon, aber trotzdem."

Gaoshun räusperte sich.

„Ich kann Euch sehr gut verstehen, Herr, und glaube, dass es sehr freundlich und aufmerksam von Euch ist, aber... an Eurer Stelle würde ich ihr nicht noch ein solch seltenes Objekt schenken. Schließlich habt Ihr ihr bereits einen Bezoar versprochen und auch vor Kurzem erst dieses seltsame Insekt gegeben. Ihr verwöhnt sie zu sehr."

Jinshi wendete den Blick ab, als er diese Worte vernahm, und drehte den Kopf zur Seite. Eine leichte Röte erschien auf seinen Wangen.

„Ich habe überhaupt nichts dagegen, sie zu verwöhnen...", murmelte er.

Ganz genau. Er war immerhin einer der reichsten Männer der Nation, somit würde es ihm kein bisschen schaden, eine einzige Frau zu verwöhnen. Und außerdem machte es ihn glücklich, sie glücklich zu sehen, welch bessere Verwendung könnte es für sein Geld demnach geben? Aus welchem Grund sollte er denn kein Geschenk kaufen, um jemandem seine Wertschätzung zu zeigen?

Nein. Nicht einfach nur „jemandem".

Sondern jemandem, der ihm etwas bedeutete.
 
Wahrhaftig etwas bedeutete.

In anderen Worten: ihr.

Er fühlte ein Kribbeln im Bauch und schluckte heftig bei der Erinnerung, wie sie jedes Mal beinahe schon vor Freude tanzte (manchmal beinahe, andere Male auch im wahrsten Sinne des Wortes), wenn sie die Gelegenheit bekam, mit medizinischen Wirkstoffen in Kontakt zu treten.

Das Lächeln, welches sie damals aufsetzte... war wirklich etwas.

Wirklich ungewöhnlich für jemanden, der seine Emotionen normalerweise nicht so deutlich zur Schau stellte.

Er wollte es wiedersehen. Und wieder. Und wieder.

Und vielleicht würde sie dieses Lächeln eines Tages auch nicht den Sachen, die er ihr gab, widmen, sondern ihm selbst. (Dieses eine Mal, als sie das aus Versehen getan und ihn dazu gebracht hatte, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, zählte seiner Meinung nach nicht!)

Bei diesem letzten Gedanken errötete er noch stärker und war wirklich dankbar, dass Gaoshun rücksichtsvoll genug war, ihn nicht darauf anzusprechen.

Aber ja, sein Assistent hatte trotzdem Recht. Seltene Geschenke sollten wirklich nur zu außergewöhnlichen Anlässen gegeben werden, damit sie besonders blieben und ihre Wirkung nicht verloren. Zum Beispiel, wenn er mal wieder einen Köder für Maomao benötigte. Jinshi grinste leicht bei diesem Gedanken.

Nun gut, dann musste es eben etwas Kleineres sein, ein Geschenk, welches nicht zu wertvoll und zu besonders war, aber trotzdem von einer genügend hohen Qualität, um seine Wertschätzung und Dankbarkeit ausreichend zum Ausdruck zu bringen.

Maomao liebte Alkohol. Hm, nicht schlecht, aber er hatte ihr bereits einige Male welchen geschenkt und trank auch sowieso von Zeit zu Zeit ein Glas mit ihr, wenn sie seinen Wein auf Gift vorkostete. Da wollte er ihr diesmal etwas anderes geben. Aber was nur?

Jinshi hatte vom Brauch gehört, einer Frau, die man gernhatte und schätzte, Blumen und Süßigkeiten zu schenken, vielleicht wäre das ja was. Und da er schon wusste, dass Maomao Süßes nicht so wirklich mochte...

„Blumen! Das ist es!", rief er aus heiterem Himmel und sprang beinahe schon von seinem Stuhl auf, Gaoshun damit einen leichten Schreck einjagend.

„Mein Herr?"

„Ich schenke ihr einen Strauß Blumen!"

Gaoshun setzte ein kleines Lächeln auf und gab Jinshi den Pinsel zurück, den dieser auf den Tisch fallen gelassen hatte.

„Eine gute Idee, Herr. Aber bitte macht doch zuerst Eure Arbeit fertig."

„Äh, ja, natürlich..."

***

Die nachfolgenden paar Tage war Jinshi eifrig damit beschäftigt, verschiedene Gärtner in seine Residenz kommen zu lassen und einige teure Blumenläden in der Stadt zu besuchen (maskiert, natürlich), um die besten Blumen für sein Geschenk auszusuchen. Er wollte welche finden, die weder im Inneren noch im Äußeren Palast wuchsen.

Und nachdem er seine Wahl endlich getroffen hatte, suchte er Maomao auf, die mal wieder am Putzen war, und bat sie, nachdem sie ihre aktuelle Aufgabe erledigt hatte, zu ihm in die Schreibstube zu kommen. Danach begab er sich selbst dorthin und nahm Platz, um mit Vorfreude auf sie warten, während er die weiß-gelben Blumen betrachtete, die in einer Vase auf seinem Schreibtisch standen. Er hoffte sehr, dass sie ihr gefallen würden.
 
Endlich sah er wie die Tür sich öffnete und versteckte die Vase ganz schnell unter dem Tisch, bevor Maomao eintrat. Sie schritt in seine Schreibstube und ging auf ihn zu, die Hände in den Ärmeln verborgen.

„Ihr habt mich gerufen, Eure Exzellenz?", fragte sie mit einer kurzen Verbeugung.

Jinshi räusperte sich und stand auf.

„Ja, aber es ist nichts Schlimmes, also mach bitte kein solches Gesicht."

Maomao entspannte ihre Gesichtszüge. Sie hatte vorhin die Stirn gerunzelt, als ob sie „Was ist es denn diesmal?" denken würde, bereit, ihn anzufunkeln, als sei er ein Steinchen, das sie in ihrem Schuh vorgefunden hatte. Vielleicht, weil ihr das Lächeln auf seinem Gesicht aufgefallen war und sie misstrauisch gemacht hatte.

„Worum geht es, Herr?"

„Nun, ich habe bemerkt, dass du hart arbeitest, seit du zu meiner Zofe geworden bist."

Maomao hob eine Augenbraue, nicht ganz begreifend, worauf er hinauswollte.

„Harte Arbeit macht mir nichts aus, Herr. Es ist eindeutig besser, als überhaupt nichts zu tun zu haben."

„Und sehr viel besser als die Arbeit einer Kurtisane...", murmelte sie, so leise, dass er es nicht mitbekam.

„Verstehe. Trotzdem möchte ich dir gern meine Dankbarkeit ausdrücken." Er bückte sich, holte die Vase unter dem Tisch hervor und trat vor die Apothekerin. „Und dir dieses kleine Geschenk geben, als Dekoration für dein Zimmer."

Jinshi reichte ihr die Blumen und sein Lächeln wurde breiter. Jetzt würde sie ihm vermutlich danken und sich erneut verbeugen, dachte er. Nun, im Vergleich zu seinen anderen Geschenken, war es diesmal nicht viel, doch er hoffte trotzdem, dass die Botschaft bei ihr ankam. Und dies war das, was zählte.

Maomao nahm die Vase an sich und begann, die Blumen mit weit aufgerissenen Augen anzustarren, ohne ein Wort zu sagen.

Einige Sekunden vergingen.

Jinshi war etwas verwirrt und begann, sich leichte Sorgen zu machen.

„Apothekerin? Was hast du denn?"

Auf einmal verzogen sich ihre Lippen zu einem riesigen Lächeln und ihre Wangen liefen knallrot an. Sie sah so aus, als wäre sie im Paradies gelandet. 

Jinshi trat einen Schritt zurück. Solch eine Reaktion hatte er nun wirklich nicht erwartet. Es war nicht ganz der gleiche Ausdruck, den sie aufsetzte, wenn sie seltene medizinische Objekte erspähte, aber er hätte schwören können, es schon mal gesehen zu haben.

Er kniff die Augen zusammen. War das etwa... ein dünner Speichelfaden, der ihr da aus dem Mundwinkel lief?

Jinshis Pupillen zogen sich zusammen und sein Mund öffnete sich weit vor Schock, als ihm alles klar wurde. Er kannte dieses Gesicht...

Oh, nein...

„Ich danke Euch vielmals, Eure Exzellenz Jinshi!", sprudelte es aus Maomao heraus mit vor Glück fast schon brechender Stimme und sie sah mit großen, leuchtenden Augen zu ihm auf. „Ich habe gelesen, dass sich in den Blättern dieser Pflanze ein Gift befindet, das für ein Kribbeln im Mund sorgt, sich im gesamten Körper ausbreitet und ein herrliches Zittern und Krämpfe auslöst! Es ist zwar beschrieben, dass sie einen ziemlich starken und unangenehmen Geschmack hat, aber ich wollte sie schon immer mal probieren, habe sie jedoch bisher nur in Büchern gesehen."

Ihre Hände bebten leicht vor Aufregung.

Dann bemerkte sie seinen Gesichtsausdruck und beschloss, noch etwas zu seiner Beruhigung hinzuzufügen.

„Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Solange nur eine kleine Menge konsumiert wird, ist es nicht tödlich."

Jinshi starrte sie immer noch wie versteinert an. Er hatte gar nicht daran gedacht, sich über die möglichen „Wirkungen" der Blumen zu informieren, sondern sie einfach nur dem Aussehen nach ausgewählt, von seinem Wunsch geblendet, ihr einen schönen Strauß zu schenken. Was für ein fataler Fehler!

Wie konnte er nur so dämlich sein?! Er war ein Idiot! Nein, kein Idiot, sondern ein IDIOT (Kleinbuchstaben reichten einfach nicht aus, um das Ausmaß seiner Blödheit auszudrücken)!

Er hatte Lust, seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen.

Warum?! Warum hätte er nicht einfach Rosen nehmen können?! 

***

Gaoshun ging ruhigen Schrittes durch die Korridore der Residenz seines Herrn. Auf einmal weiteten sich seine Augen, als er sah, wie etwas mit einem seltsamen Funkeln auf ihn zu- und dann vorbeiraste.

Nein, nicht etwas, sondern jemand:

Es war die junge Apothekerin, die so schnell rannte wie ihre Beine sie tragen konnten, eine Vase mit Blumen an die Brust gedrückt haltend. Das besagte Funkeln kam von ihren Augen.

Verwirrt blinzelnd starrte Gaoshun in die Richtung, in die sie gelaufen war.

Und einige Sekunden später...

...kam sein Herr Jinshi hinter ihr hergerannt, dabei „Komm auf der Stelle zurück! Nicht essen! WAG ES JA NICHT, DIE ZU ESSEN!" schreiend.

Der Assistent stieß einen tiefen Seufzer aus und lief den beiden nach.

Ab und zu fühlte er sich, als hätte er nicht drei Kinder, sondern fünf. Drei erwachsene und zwei Kleinkinder.

 

Notes:

Die Pflanze in dieser Geschichte hat keinen Namen, weil ich einfach keine finden konnte, die 100% passen würde, deshalb beschloss ich, mir eine auszudenken.

Puh, jetzt brauch ich aber eine etwas längere Pause. :)

Und übrigens: wir Deutschsprachigen haben einen Grund zum Feiern! Die Light Novel wird nun offiziell ins Deutsche übersetzt! Schaut mal hier:

https://jnc-nina.eu/series/die-tagebuecher-der-apothekerin

Chapter 15: Bleib bei mir! Teil 1

Summary:

Würdevoll und ruhig waren die Schritte des jungen Adeligen, während er die verletzte junge Frau, die ihm gerade erst das Leben gerettet hatte, im Arm trug. Es war wahrhaftig der schlimmste Tag seines Lebens.

Aber nicht, weil er beinahe zu Tode zerquetscht worden war.

Notes:

Und schon wieder lieferte mir ein Leser eine Idee:
„Do you think you’d ever write anything about how Mao Mao saved Jinshi during the ritual? I’d love to see how Jinshi would worry over Mao Mao while she’s being treated and how he would fret over her when she starts pushing herself too hard with her injuries.”

Ja, ich weiß, ich wollte diesmal eigentlich eine längere Pause machen, aber ich war einfach viel zu motiviert und mir juckten bereits die Finger, also kommt hier bereits der erste Teil der nächsten Geschichte!

Zuerst hatte ich vor, einen One-Shot daraus zu machen, entschied mich dann aber, sie in drei Teile aufzuteilen.

Übrigens hab ich den Namen der Sammlung abgeändert, da immer mehr meiner Geschichten mehrere Kapitel haben und es deshalb nicht mehr ganz richtig wäre, sie als One-Shot Sammlung zu bezeichnen.

Chapter Text

„Bleib bei mir! Mach die Augen auf!"

Was die Leute an jenem Tag sahen, war wie der junge Mann, der gerade eben noch das Ritual durchgeführt hatte, ruhig, aber gleichzeitig auch bestimmt durch den kaiserlichen Hof schritt, mit einer bewusstlosen zierlichen jungen Frau in den Armen.

Aber das war alles nur Theater. Innerlich schrie Jinshi nämlich so verzweifelt, dass er bestimmt bereits heiser geworden wäre, wenn es sich um keine stummen Schreie gehandelt hätte. Aber da ihm kein einziges Geräusch über die Lippen kam, konnte keiner auch nur erahnen, wie sehr er sich anstrengte, um sich seine überwältigende Panik nicht anmerken zu lassen.

„Wach auf!

Wach auf!

BITTE WACH DOCH AUF!"

Eine Panik, die ihn schier um den Verstand brachte und nicht klar denken ließ. Die Gedanken rasten durch seinen Verstand wie wilde Pferde, unmöglich zu zähmen.

Eine Adrenalinwelle durchströmte seinen gesamten Körper, während er automatisch einen Fuß vor den anderen setzte und all die Blicke der Leute auf sich spürte. Sein eigener war währenddessen nach vorn gerichtet, den Schaulustigen nicht die kleinste Beachtung schenkend.

Seine vermeintlich ruhigen Augen richteten sich auf die junge Frau, die schlaff in seinen Armen lag und nicht das Geringste davon mitbekam, was um sie herum geschah. Daraufhin durchbohrte ein scharfer Schmerz sein Herz und ein leichter Schauder zog sich durch seine Hände. Sie bewegte sich nicht, sondern lag einfach nur da, wie eine leblose Puppe, während ihr das Blut aus der Nase Richtung Kinn floss und auch ihr verletztes Bein entlangströmte, seine und ihre eigene Kleidung befleckend und zu Boden tropfend. Große, scharlachrote Tropfen, welche sie verließen wie das Leben selbst.

Die einzigen Anzeichen, dass sie noch am Leben war, waren die Wärme ihres Körpers und ihre flachen Atemzüge an seiner Brust, doch sie schafften es nicht, sein wie wild pochendes Herz zu besänftigen.

Sie in diesem Zustand sehen zu müssen, war die reinste Qual, die schlimmste Folter.

Noch nie im Leben hatte Jinshi sich derart hilflos gefühlt.

So verzweifelt, so verängstigt.

Die Furcht zerstörte ihn geradezu von innen, riss ihn in Stücke wie eine scharfe Klinge.

Aber immer noch war nichts davon seinem schönen Gesicht anzusehen. Nur der kalte Schweiß, der ihm die Stirn herunterströmte, verriet seinen wahren Gemütszustand.

Ja, selbst jetzt... selbst jetzt, wo jemandes Leben auf dem Spiel stand, war er gezwungen, sich zu beherrschen, seine Gefühle zu unterdrücken, das gefasste, würdevolle Mitglied der kaiserlichen Familie zu spielen... genau so wie es ihm von frühester Kindheit an antrainiert worden war...

Nur weil dieser Jemand „bloß eine Dienerin" war...

Auf einmal blieb sein Herz für den Bruchteil einer Sekunde stehen und er wäre beinahe erstarrt. Seine Augen weiteten sich leicht. Bildete er es sich nur ein oder war ihre Atmung tatsächlich schwächer geworden? Nein! Das konnte doch nicht wahr sein!

Oder?

Jinshi biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf, wieder zu sich kommend. Was tat er da eigentlich? Wieso sollte es ihn jetzt kümmern, was andere von ihm dachten? Zur Hölle mit diesem Unsinn! Er hatte keine Zeit dafür! Das Einzige, was jetzt zählte, war Maomao so schnell es ging zum Arzt zu bringen! Er hatte keine Ahnung, wie hoch die Ausmaße des Schadens waren, welchen ihr Kopf erlitten hatte, also war jede Sekunde kostbar!

„Halte durch, Maomao! Wir sind bald da!"

Und mit diesen letzten Gedanken rutschte die Maske falscher Gefasstheit endlich von seinem Gesicht, und er rannte los als sei der Teufel hinter ihm her, als wären seine Beine aus einer Art Starre erwacht. 

Da war das Lager des Hofarztes! Endlich! So lauteten seine Gedanken, während er Maomao enger an sich drückte, als wolle er sie beschützen, verzweifelt versuchen, das noch verbliebene Leben in ihrem Körper zu halten.

Jinshi sah, dass Gaoshun bereits vor dem Eingang stand. Bestimmt hatte ihm jemand von dem Vorfall berichtet und er war sofort hingeeilt, um auf ihn zu warten.

***

„Bitte sei wohlauf... Was... Was soll ich nur ohne dich machen? Bitte bleib bei mir, ich flehe dich an!"

Nun, da er die verletzte Maomao zum Hofarzt des Äußeren Palastes gebracht hatte, saß Jinshi ganz allein auf einer nahegelegenen Bank. Saß da und wartete... hoffte... flehte in seinen Gedanken, während er unruhig auf die Tür des Gebäudes starrte, in dem Maomao gerade behandelt wurde. Die Minuten fühlten sich wie Stunden an, schienen überhaupt nicht vergehen zu wollen.

Zwar wollte er zuerst bei der Behandlung anwesend sein, doch Gaoshun hatte es geschafft, ihn zu überreden, draußen zu warten, wohl, weil er seinem Herrn, nach all dem, was dieser bereits durchgemacht hatte, zumindest den Anblick des Nähens der Wunde ersparen wollte. Der Assistent bat ihn, die Zeit zu nutzen, um wieder zu Atem zu kommen und sich zu beruhigen, ihm versichernd, dass die junge Frau nun in guten Händen war und dass er an seiner statt über sie wachen würde.

Ha! Als ob das so einfach wäre! Wie sollte er sich beruhigen, wenn er keine Ahnung hatte, was mit ihr gerade geschah?!

Jinshi bedeckte sein Gesicht mit der linken Hand und versuchte, tief durchzuatmen. Doch es brachte nichts. Sein Herz pochte immer noch wie verrückt und seine beiden Hände zitterten. Auch jetzt noch konnte er das Gewicht seiner kleinen Apothekerin auf seinen Armen spüren.

Doch er sah ein, dass er während der Behandlung sowieso keine Hilfe gewesen wäre. Er wäre einfach nur im Weg herumgestanden.

Es war schrecklich, sich so nutzlos zu fühlen. So unfassbar nutzlos, obwohl er doch einer der wichtigsten Männer der gesamten Nation war... und doch gezwungen, einfach herumzusitzen und zu warten, während jemand, der ihm wichtig war, in Gefahr schwebte...

Es war schier unerträglich...

Erneut die Zähne zusammenbeißend, deckte Jinshi sein leicht blasses Gesicht wieder auf und blickte auf seine rechte Hand herab.

An dieser klebte immer noch Blut von der Beinwunde der Apothekerin und verströmte einen leicht metallischen Geruch. Und auch seine Kleidung hatte etwas von den Tropfen abbekommen, während er sie getragen hatte. Er wendete den Blick wieder ab, um es nicht sehen zu müssen, und wünschte sich, er könne den Anblick ganz aus seinem Verstand tilgen.

Ihr Blut an sich zu haben...

...war so grauenvoll, dass er es nicht in Worte fassen konnte...

...so grauenvoll es zu sehen und zu wissen, dass er nicht in der Lage gewesen war, jene Blutung aufzuhalten, dass er rein gar nichts für Maomao hatte tun können, außer sie herzubringen.

Er hätte es vorgezogen, wenn es sein eigenes Blut gewesen wäre. Ja, genau! Schließlich waren seine Beine viel länger als ihre, wieso konnte das verdammte Ding also nicht eines von seinen treffen?! Wieso hatte es ausgerechnet ihres sein müssen?! Dieser Schlag auf den Kopf war doch schon mehr als genug gewesen!

Apropos, er musste noch unbedingt herausfinden, wer sie da geschlagen hatte, und den Mistkerl entsprechend bestrafen.

Zu dem Zeitpunkt verschwendete er keinen einzigen Gedanken daran, dass er beinahe von einem Balken zerquetscht worden war und wahrscheinlich nicht mehr auf Erden weilen würde, hätte die Apothekerin ihn nicht in letzter Sekunde noch weggestoßen.

Nein. Das würde erst später kommen. Aktuell war sein gesamter Verstand mit Maomao ausgefüllt.

Mit Maomao und der Möglichkeit, sie zu verlieren.

Diesmal für immer.

Unwiederbringlich.

Nun begann er am ganzen Körper zu zittern.

Er wollte diese fürchterlichen Gedanken aufhalten, doch sie bahnten sich gnadenlos ihren Weg durch seinen Verstand.

Nein, nein, nein! Er durfte sich solche Dinge nicht einmal ausmalen! Alles wird gutgehen. Es musste einfach!

Nicht wahr?

Jinshi krümmte sich. Ein leiser Schluchzer entfuhr seiner Kehle.

Die Tränen, die sich schon seit dem Zeitpunkt, als er sich hingesetzt hatte, in seinen Augen angesammelt hatten, fingen endlich an, seine Wangen herabzufließen und von seinem Kinn zu tropfen. Eine nach der anderen.

Er hatte nicht mehr die Kraft sie zurückzuhalten und versuchte nicht einmal, sie zu stoppen, denn er wusste bereits, dass dies ein nutzloses Unterfangen sein würde.

Und schon bald verwandelten sich die paar Tränen in eine richtige Flut.

Es war, als wäre in seinem Inneren ein Damm gebrochen, als hätten alle seit seiner Kindheit unvergossenen Tränen beschlossen, auf einmal herauszukommen. Zusammen mit all den unterdrückten Gefühlen.

Schluchzend wie ein kleiner Junge saß er da auf jener Bank. Vollkommen allein und mit aller Macht um ein glückliches Ende betend.

***

Nach einer Weile, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, hielt Jinshi es schließlich nicht mehr aus. Seine Besorgnis und Angst waren bereits kurz davor, ihn zu verschlingen.

Des Herumsitzens überdrüssig geworden, stand er auf und begann, hin und her zu laufen, im Versuch, die Zeit damit wenigstens ein bisschen schneller vergehen zu lassen. Vor Unruhe die Finger verdrehend und zu Boden starrend, die Blutflecken meidend. Tränen strömten immer noch unaufhaltsam sein Gesicht entlang.

Eine weitere Ewigkeit verging, bis letztendlich einige Geräusche vom Lager des Hofarztes an sein Gehör drangen. Umgehend blickte er auf und sah, dass die Tür aufging und Gaoshun heraustrat.

Jinshi verschwendete keine Sekunde. Ohne es sich zweimal zu überlegen oder auch nur seine Tränen wegzuwischen, rannte er auf seinen Assistenten zu und packte ihn am Kragen. Seine Hände zitterten heftig.

„Wie geht es ihr?!"

Gaoshun hatte seinen Herrn noch nie derart die Fassung verlieren sehen, nicht einmal, als dieser noch ein Kind gewesen war, und war daher etwas baff. Doch die Verzweiflung in Jinshis Augen und Stimme ließen ihn jede Bemerkung herunterschlucken. Jetzt war einfach nicht die Zeit dafür.

Stattdessen legte er dem jungen Adeligen die Hände auf die Schultern.

„Macht Euch keine Sorgen, mein Herr. Sie hat zwar ganz schön was abbekommen, aber der Arzt meinte, sie würde sich wieder erholen. Sie braucht im Moment bloß Bettruhe. Er hat ihr Verbände angelegt und ihr Bein genäht."

In Gaoshuns Stimme schwang eine gewisse Erleichterung mit, aber das war kein Wunder, denn er hatte „Xiaomao" inzwischen ebenfalls ziemlich liebgewonnen und sah sie bereits unbewusst als eine Art „zweite Tochter" an. Daher hatte auch er sich Sorgen um sie gemacht. Auch wenn sie ihm nicht weniger Kopfschmerzen bereitete als sein Herr.

Als Jinshi dies hörte, wurden seine Beine schwach und gaben sogar unter ihm nach, sodass er gezwungen war, Gaoshuns Kragen loszulassen. Doch sein Assistent schaffte es, ihn unter den Armen zu packen und noch rechtzeitig aufzufangen, bevor er auf die Knie fallen konnte.

Der junge Adelige verspürte erneut den Wunsch zu weinen, doch diesmal vor unaussprechlicher Freude und Erleichterung. Es war so, als hätten diese Worte einen gewaltigen Felsen versetzt, der ihm die Brust gequetscht hatte.

„Alles in Ordnung, Herr?"

Doch Jinshi ging nicht auf Gaoshuns besorgte Nachfrage ein.

„Hat sie... Schmerzen?", wollte er stattdessen wissen, sein Blick erneut von Sorge getrübt.

„Nein, Herr. Der Arzt hat ihr ein Schmerzmittel verabreicht. Sie schläft jetzt tief und fest."

Daraufhin gab Jinshi einen erleichterten Seufzer von sich und setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf. Da er wieder fest auf beiden Beinen stand, ließ Gaoshun ihn los.

„Bring sie in meine Gemächer. Sie soll in meinem Bett schlafen und Suiren sich um sie kümmern. Ich habe nicht vor, sie hier liegen zu lassen. Sie bekommt die beste Behandlung, die allerbeste, verstanden?", befahl Jinshi in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Seine Stimme und auch sein Körper hatten endlich aufgehört zu beben.

Gaoshun wollte bereits den Mund öffnen, doch der entschlossene Blick seines jungen Herrn hielt ihn davon ab, Fragen zu stellen.

„Sehr wohl, Herr!"

Er verbeugte sich und eilte zum Arzt zurück, um Jinshis Anweisungen auszuführen.

Chapter 16: Bleib bei mir! Teil 2

Notes:

Mir sind noch einige neue Ideen zu dieser Geschichte gekommen und es werden wohl doch keine drei Kapitel, sondern fünf + Epilog!

Chapter Text

„Bitte tretet ein. Sie schläft noch. Ich habe sie gewaschen und ihr Schlafbekleidung angezogen."

Von Suiren empfangen, betraten Jinshi und Gaoshun die Gemächer des jungen Adeligen. Ungefähr eine Stunde war vergangen, seit Jinshi benachrichtigt worden war, dass seine Apothekerin sich wieder vollständig erholen würde.

„Danke dir, Suiren", antwortete er leise und schaffte es, ihr ein kleines Lächeln zu widmen. Seine Besorgnis war immer noch nicht ganz verschwunden, doch zumindest hatte er es irgendwie geschafft, sich endlich zu beruhigen, denn er wusste nun, dass Maomao am Leben war und sich in den besten Händen befand, die er sich nur vorstellen konnte.

Er konnte es nicht erwarten, sie zu sehen, sich mit eigenen Augen zu vergewissern, dass sie in Ordnung war... jedoch... zögerte er trotz allem ein wenig, als er auf das Bett zuging, leichte Angst davor habend, was er zu sehen bekommen würde.

Der Anblick ihrer geschwollenen Wange und ihres Auges und all des Blutes hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt... Er hatte das Gefühl, als würde er ihn nie vergessen können, solange er lebte.

Während sein Herz erneut schneller zu schlagen begann, erreichte er schließlich das Bett und sein Assistent und seine oberste Zofe nahmen geschwind ihren gewohnten Platz hinter ihm ein.

Da war sie!

Jinshi stockte der Atem, als er sie in seinem Bett liegen sah. Ein Teil ihres Kopfes und die gesamte rechte Seite ihres Gesichtes waren von Verbänden umwickelt und er konnte sich bereits ausmalen, dass ihr Bein nicht viel besser aussehen musste. Bei dem Anblick schmerzte ihm das Herz und er wollte nichts sehnlicher, als sich auf sie zu stürzen und sie fest zu umarmen. Das Bedürfnis war so stark, dass er sogar, ohne es zu merken, die Arme hob, bereit, sie um ihren Körper zu legen, doch...

Doch Maomao sah nun noch kleiner aus als sie es bereits war, so zerbrechlich und verwundbar, dass er sich beherrschte und die Arme wieder senkte. Die Angst, ihr aus Versehen weh zu tun, war einfach zu groß.

Aber trotz allem spürte Jinshi, dass er sie einfach berühren musste, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie wirklich da war und sein Verstand ihm nicht bloß einen Streich spielte. Und so schnappte er sich rasch einen Stuhl und stellte ihn direkt neben das Bett. Dann setzte er sich und nahm Maomaos linke Hand in seine beiden eigenen. Von ihrem Puls beruhigt, warf er einen erneuten Blick auf ihr Gesicht.

Und hob dann ihre Hand zu seinen Lippen und küsste sie sanft.

Ihr Mund zuckte leicht im Schlaf und ihre andere Hand, welche auf der Decke lag, ballte sich zur Faust. Der junge Adelige erstarrte für einen Moment, aus Angst, dass er sie aufgeweckt hatte, doch entspannte sich wieder, als er feststellte, dass dies nicht der Fall war.

Bevor er sich zu seinen Gemächern begeben hatte, hatte er seine zeremonielle Kopfbedeckung abgenommen, seine Haare wieder frei über seinen Rücken und Schultern fallen lassend, und sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen, weil Gaoshun darauf bestanden hatte und auch weil er selbst Suiren keine unnötigen Sorgen bereiten wollte. Doch nun begannen einige neue Tränen in seinen immer noch vom Weinen leicht geschwollenen Augen zu brennen und schließlich seine Wangen herabzufließen, als er sah, wie Maomao sich bewegte.

Sie war nicht mehr wie eine leblose Puppe, was für ein Glück! 

Jinshi legte vorsichtig seine die Hand auf ihren Kopf und begann, ihr langsam übers Haar zu streicheln, während er mit der anderen weiterhin ihre kleine Hand festhielt.

„Schlaf, Apothekerin. Alles wird gut. Schlaf", murmelte er.

Als hätte sie seine Worte gehört, entspannte Maomao sich wieder.

Währenddessen standen Suiren und Gaoshun immer noch hinter ihm und sahen ihm mit Wärme in den Augen zu. Dann wechselten sie einen kurzen Blick, sich stillschweigend darauf einigend, ihren Herrn erstmal nach Belieben walten zu lassen. Immerhin waren sie die Menschen, die Jinshi großgezogen hatten, seine engste Familie. Diejenigen, die ihn besser kannten als jeder andere.

Und sie mussten beide zugeben, dass sie noch nie zuvor gesehen hatten, wie er sich dermaßen um einen anderen Menschen sorgte. Eine Sorge, die über simple Dankbarkeit für die Rettung seines Lebens weit hinausging.

Nichts davon war gespielt.

Er liebte sie wirklich.

***

Der Raum war erfüllt mit Stille.

Maomao schlief, Jinshi saß neben ihr und hielt ihre Hand, und Gaoshun und Suiren wachten über sie. Keiner gab auch nur ein Wort von sich.

„Ah!"

Aus heiterem Himmel stand Jinshi vom Stuhl auf. Der Assistent und die Zofe bekamen einen leichten Schreck und kamen näher, sich fragend, was wohl passiert sein mochte.

Und als sie das taten, bemerkten sie, dass Maomao begonnen hatte, sich unruhig im Schlaf zu wälzen und mit ihrem gesunden Bein beinahe die Bettdecke wegzustrampeln... Suiren begab sich auf der Stelle zur anderen Seite des Bettes und füllte für die verletzte junge Frau einen Becher mit Wasser, sich bereitmachend, für den Fall, dass diese aufwachen sollte.

Währenddessen beugte sich Jinshi über die Apothekerin und drückte ihre Hand, seine freie auf ihre Schulter legend. In seinen Augen lag blanke Angst.

„Maomao, kannst du mich hören? Maomao!", begann er, sie zu rufen. Sein Schrecken wuchs immer weiter an. Ihm fiel nicht einmal auf, dass er sie gerade beim Namen gerufen hatte. Ganze zwei Mal.

Und überraschenderweise schien sie seine Stimme tatsächlich vernommen zu haben, da sich ihr Kopf in seine Richtung drehte.

Aber dann entspannte sie sich wieder und sank erneut in einen tiefen Schlaf.

Jinshi spürte, wie sich die Besorgnis wieder wie eine Kette um seine Brust legte und ihm das Atmen erschwerte.

„Was war das gerade!?"

Suiren befühlte Maomaos Stirn und seufzte.

„Nun, so wie es aussieht, ist sie doch noch nicht bereit aufzuwachen. Aber zumindest hat sie kein Fieber und scheint auch keine Schmerzen zu leiden."

Jinshi setzte sich wieder hin und sah mit flehendem, verzweifeltem Blick zu seiner obersten Zofe auf.

„Also meinst du, dass alles in Ordnung ist?"

Suiren schenkte ihm das sanfte Lächeln, das er seit seiner Kindheit kannte.

„Aber ja, junger Herr. Macht Euch bitte keine Sorgen. Bestimmt war es bloß ein unangenehmer Traum, der sie befallen hat."

Er seufzte vor Erleichterung und drückte einen weiteren Kuss auf die Hand der Apothekerin.

***

Fast eine Stunde war vergangen. Jinshi sah der Apothekerin immer noch beim Schlafen zu, sich nicht einmal für eine Minute von ihrer Seite entfernend. Der Himmel hatte bereits angefangen, sich rot und orange zu verfärben, ein Anzeichen, dass schon bald die Nacht anbrechen und dieser schreckliche Tag endlich zu Ende gehen würde.

Auf einmal bemerkte der junge Mann aus dem Augenwinkel, dass Suiren auf ihn zuging, tauchte aus seiner Versunkenheit auf und hob den Kopf.

Sie trug ein Tablett mit einer Schüssel Reisbrei.

„Ihr seid bestimmt hungrig, junger Herr."

Jinshi schüttelte den Kopf.

„Danke, Suiren, aber nein, bin ich nicht."

Doch sie stellte das Tablett trotzdem auf seinen Schoß.

„Aber Ihr habt seit heute Morgen nichts gegessen."

Dem jungen Adeligen fiel auf, dass sie Recht hatte. Sein Magen war tatsächlich leer, doch er hatte absolut keinen Appetit. Und außerdem konnte er sich nach all dem, was er heute durchgemacht hatte, und weil Maomao immer noch nicht aufgewacht war, einfach nicht dazu aufraffen, sich um solche banalen Dinge wie Essen Gedanken zu machen.

Begreifend, dass es nicht so aussah, als würde er seine Meinung bald ändern, hob Suiren die Hand zum Mund und gab einen kleinen Seufzer von sich.

„Wenn Xiaomao wüsste, dass Ihr ihretwegen nichts esst, wäre sie zweifellos verärgert und würde Euch tadeln, mein Herr", meldete sich schließlich Gaoshun zu Wort, der sich ebenfalls noch im Raum befand. „Bitte bereitet Ihr keine Unannehmlichkeiten, sie muss sich schließlich voll und ganz auf ihre Heilung konzentrieren."

Jinshi hatte sich zu ihm umgedreht und seine Augen weiteten sich leicht angesichts dieser Worte. Das war richtig! Maomao warf ihm immer vor, seine Gesundheit zu vernachlässigen. Da konnte er sie doch nicht ausgerechnet jetzt damit belästigen!

Und so nahm er mit leichtem Zögern den Löffel in die Hand und begann langsam zu essen, Maomao dabei immer noch bei der Hand haltend. Der Brei war warm und glitt angenehm seine Speiseröhre hinunter.

Gaoshun setzte ein kleines Lächeln auf, als er sah, wie hervorragend seine Worte gewirkt hatten. Nun, immerhin wusste er genau, wie mit seinem Herrn umzugehen war.

***

Und genau als Jinshi dabei war, sein Mahl zu beenden, kam Gaoshun auf ihn zu und räusperte sich. Er wusste genau, dass das folgende Thema dem jungen Mann ganz bestimmt nicht gefallen würde. Aber es musste sein.

„Wenn Ihr mit Eurem Essen fertig seid, mein Herr, möchte ich, dass Ihr mich zu meinem Zimmer begleitet. Ihr müsst Euch ebenfalls ausruhen und ich würde Euch für heute Nacht mein Bett überlassen."

Suiren nickte. Sie war ganz seiner Meinung.

Und wie erwartet, nahm Jinshi diese Worte gar nicht gut auf. Er wedelte mit der freien Hand herum, beinahe das Tablett von seinem Schoß stoßend.

„Aber was redest du da, Gaoshun? Wie könnte ich sie jetzt im Stich lassen?"

Sein Tonfall drückte aus, dass er die bloße Vorstellung vollkommen absurd fand.

Doch der Assistent ließ nicht locker.

„Ihr seid erschöpft, mein Herr, und braucht Ruhe. Ich weiß, dass Ihr öfters an Schlafmangel leidet, aber heute braucht Ihr diesen Schlaf wirklich", antwortete er ruhig.

„Ich kann hier schlafen, auf dem Stuhl."

„Nein, junger Herr", mischte Suiren sich ein. 

„Aber ich kann jetzt nicht gehen! Was ist, wenn ihr Zustand sich auf einmal verschlechtert?!"

Jinshi hielt sich rasch den Mund zu, als ihm auffiel, dass er die Stimme erhoben hatte, und blickte umgehend zu Maomao, um nachzusehen, ob er sie aufgeweckt hatte. Nein, zum Glück nicht.

Aber er hatte immer noch keine Ahnung, wie er jetzt einfach schlafen gehen sollte. Was war, wenn ihr irgendwas zustieß, und er war nicht da? Aber na ja, es war ja nicht so, als ob er tatsächlich in der Lage gewesen wäre, ihr zu helfen, selbst wenn er an ihrer Seite bliebe. Er hätte nichts für sie tun können, außer zu versuchen, sie so gut es ging zu beruhigen. Seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als sein Blick erneut auf die noch verbliebenen getrockneten Blutflecken auf seiner Kleidung fiel und das Gefühl von Hilflosigkeit und Nutzlosigkeit zu ihm zurückkehrte. Zwar war es nicht so schlimm wie zuvor, aber... es tat trotzdem weh.

Suiren schien seine Gedanken erraten zu haben und lächelte ihn erneut an.

„Alles wird gut, junger Herr. Ich werde heute Nacht an Eurer Stelle über sie wachen."

Diese Worte beruhigten ihn. Ja, sie hatte Recht. Schließlich war sie einer der Menschen, denen er am allermeisten vertraute, und er hatte selbst den Befehl erteilt, dass sie sich um Maomao kümmern sollte.

Er seufzte. 

„Aber falls etwas passieren sollte, lässt du mich rufen, ja?"

„Ich verspreche es, junger Herr."

Jinshi richtete den Blick erneut auf das Gesicht der Apothekerin und drückte ihre Hand, die er nun schon seit mehreren Stunden hielt. Sein Gesichtsausdruck zeigte klar und deutlich, wie sehr es ihm zuwider war, von ihrer Seite zu weichen.

„Bis morgen, Apothekerin. Bitte sei wohlauf."

Und ließ sie endlich los. Als Nächstes stand er auf und begab sich zur Tür, wo Gaoshun bereits auf ihn wartete. Sich unterwegs mehrmals zum Bett umdrehend.

„Geh schon mal vor. Ich würde vor dem Schlafengehen gern noch meine Gedanken ordnen", sagte der junge Adelige leise. „Allein."

Für einige Augenblicke herrschte Stille. Dann nickte der Assistent, begreifend, dass sein Herr etwas Zeit für sich benötigte.

„Sehr wohl, mein Herr."

***

Seine Schritte hallten durch den verlassenen, stillen Korridor seiner Residenz, während er ihn durchschritt, die Hände in den Ärmeln verborgen.

Die leichte und kühle abendliche Brise, welche durch einige offene Fenster eindrang, fühlte sich angenehm an auf seinem immer noch leicht bleichen Gesicht, das von den letzten Sonnenstrahlen des Tages schwach beleuchtet wurde.

Jinshi kam sich daraufhin fast so vor, als sei er der Einzige noch existierende Mensch auf Erden. Nein, genauer gesagt, er und Maomao, welche seine Gedanken nie verlassen hatte, nicht einmal für eine Sekunde.

Erneut so alleingelassen mit besagten Gedanken, begann ihm mit jedem Schritt immer mehr zu dämmern, was an jenem Tag eigentlich passiert war, während die letzten Reste des Sonnenlichtes sich vom nun dunklen Himmel zurückzogen und Jinshi zusammen mit seiner Residenz in Finsternis tauchten. Auch wenn diese sich immer noch von der Finsternis in seinem Herzen unterschied, die ihn geplagt hatte, während er um Maomaos Leben bangte.

Jetzt erst wurde ihm so richtig klar, wie nahe er eigentlich gewesen war, Maomao für immer zu verlieren. Diese Erkenntnis fiel ihn an wie ein schreckliches Ungeheuer und ließ ihn vor Schock zusammenzucken und erzittern. Oder sein eigenes Leben. Seins oder ihres. Einer von ihnen hätte heute aufhören können zu existieren. Einfach so.

Jinshi begriff überhaupt nichts. Wie, wie nur konnte jener Tag, der beim morgendlichen Aufwachen so normal, so gewöhnlich erschienen war, sich bloß in einen solchen Albtraum verwandeln?

Der ehemals angenehme Wind fühlte sich plötzlich eiskalt auf seiner Haut an.

Der junge Adelige bedeckte sich die Augen mit beiden Händen und atmete tief durch.

Und als er sein Gesicht wieder aufdeckte...

...stellte er fest, dass er direkt vor dem Zimmer seiner geliebten Apothekerin stand. Als ob seine Beine von seinem Unterbewusstsein kontrolliert worden waren.

Ohne es sich zwei Mal zu überlegen, öffnete er die Tür und trat ein.

Es war dunkel, doch die Anzeichen ihrer Präsenz waren immer noch allgegenwärtig, dargestellt durch einige ihrer Kleidungsstücke, welche über dem Stuhlrücken hingen, die paar Kräuter, die sie zum Trocknen aufgehängt hatte, und all die seltsamen Pulver und Fläschchen, die überall herumstanden und -lagen. Ja, dies war zweifellos ihr Zimmer. 

Jinshi machte noch ein paar Schritte und nahm eines der kleinen Pflanzenblätter in die Hand, welche in einem kleinen Haufen auf dem Tisch lagen.

„Ich frage mich, was sie wohl damit vorhatte", dachte er und schaffte es, sich ein schwaches Lächeln abzuringen.

Dieser Raum war dermaßen von Maomaos Präsenz durchdrungen, als ob sie selbst jeden Moment dort auftauchen würde. Er konnte beinahe schon ihre Stimme hören, die ihn rief.

Jinshi legte das Blatt zurück und schüttelte den Kopf, im Versuch, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Nein, dies würde aktuell nicht geschehen, denn sie lag derzeit immer noch in seinem Bett und schlief. Friedlich, wie er hoffte.

Oh, wie sehr wünschte er sich, zurückzugehen und bis zum Morgengrauen ihre Hand zu halten.

Nein. Wenn er das tat, würde er bloß Suiren und Gaoshun Sorgen bereiten, also lieber nicht. Schließlich hatte seine oberste Zofe versprochen, ihm Bescheid zu geben, falls etwas passieren sollte, und er vertraute ihr vollkommen.

Apropos Sorgen bereiten, vielleicht sollte er sich langsam zu Gaoshun begeben, der aller Wahrscheinlichkeit nach auf ihn wartete...

Aber stattdessen brachten ihn seine Füße zu Maomaos Bett.

Eine kurze Weile lang stand er einfach da und starrte darauf und kam dann ohne Nachzudenken näher und...

...lief sich einfach vollständig angezogen darauf fallen, sein Gesicht in ihrem Kissen vergrabend. Ein Duft nach Kräutern drang ihm auf der Stelle in die Nase.

„Es riecht nach ihr..."

Und genau das war der Augenblick, an dem all seine aufgestaute Erschöpfung ihn mit voller Wucht einholte. So plötzlich, dass es schier unmöglich war, dagegen anzukämpfen, sogar für jemanden, der Schlafmangel so gewohnt war wie er.

Der junge Adelige schloss die Augen.

„Ich glaube, ich bleibe noch kurz hier. Nur ganz kurz... ich bin so müde."

***

Ungefähr eine Viertelstunde später öffnete sich die Tür zu Maomaos Zimmer erneut und Gaoshun trat ein, mit einer brennenden Kerze in der Hand.

Er sah sich um, bis sein Blick auf die auf dem Bett liegende Gestalt fiel, und kam näher, einen Seufzer von sich gebend.

„Ich wusste doch, dass ich ihn hier finden würde", murmelte er. „Herr?"

Daraufhin merkte er, dass sein Herr tief und fest schlief. Auf dem Bauch liegend und mit beiden Händen die Bettdecke der Apothekerin umklammernd.

„Er muss ganz schön erschöpft sein... aber kein Wunder, nach einem solchen Tag."

Und so beschloss Gaoshun, Jinshi nicht zu stören, sondern einfach schlafen zu lassen. Er stellte die Kerze auf den Tisch und zog seinem Herrn behutsam die Schuhe aus. Zu guter Letzt verließ er den Raum, um eine weitere Decke zu holen und Jinshi zuzudecken, denn es wäre unmöglich, die der Apothekerin unter ihm wegzuziehen.

„Maomao..."

Jinshi selbst bekam davon nichts mit. Die Decke noch fester umklammernd, murmelte er im Schlaf ihren Namen.

Chapter 17: Bleib bei mir! Teil 3

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Irgendwann war der nächste Morgen angebrochen und hatte die Dunkelheit verscheucht und die Sonne wieder Richtung Himmel geführt, damit sie durch die Fenster von Jinshis Residenz scheinen konnte. Ihr Licht drang ins Zimmer einer gewissen Apothekerin ein und fiel auf eine Gestalt, welche auf ihrem Bett lag.

Gestört von der hellen Sonne, die ihm direkt in die Augen schien, begann der junge Adelige, der immer noch auf dem Bauch lag, sich schließlich zu regen und genervt zu grummeln.

„Urgh…”

Verschlafen öffnete Jinshi die Augen und rieb sie gähnend. Dann richtete er, sich mit den Ellenbogen abstützend, seinen Oberkörper auf und schaute sich leicht verwirrt um, nicht sofort begreifend, wo er sich befand.

Einige Sekunden später erinnerte er sich jedoch, in wessen Zimmer er lag und wie er da vergangenen Abends überhaupt hingekommen war.

„Ich... bin tatsächlich hier eingeschlafen", dachte er und fuhr mit der Hand über das Kissen der Apothekerin, an welches er noch vor ganz wenigen Minuten sein Gesicht gedrückt hatte, es anstarrend, als könne er diese Tatsache selbst nicht glauben. Seine Wangen färbten sich leicht rosa. „Ja, das bin ich."

Aber dann fiel ihm eine andere, viel dringendere Angelegenheit ein, woraufhin er die Augen weit aufriss und fast schon aus dem Bett sprang, seine Verlegenheit und Verblüffung komplett vergessend.

Maomao! Er musste unbedingt nach ihr sehen, überprüfen, ob sie endlich aufgewacht war! Schnell! Er hatte keine Zeit zu verlieren!

Da seine Gedanken sich ausschließlich um die Apothekerin drehten, bemerkte der junge Herr gar nicht, dass er keine Schuhe trug und tatsächlich kurz davor war, einfach barfuß aus dem Zimmer zu rennen.

Doch bevor er etwas für seine Position solch Unangemessenes tun konnte, sah er, wie sich die Tür öffnete und sein Assistent eintrat.

„Seid Ihr wach, Herr?", erkundigte sich Gaoshun, als sei es das Normalste der Welt, dass sein Herr im Bett seiner Zofe schlief.

Jinshi sah ihn verdutzt an und begann sogleich, sich zu überlegen, wie er das Ganze erklären sollte, doch so wie es aussah, war das überhaupt nicht nötig. Zu seiner Überraschung erwähnte Gaoshun es mit keinem Wort.

„Ich habe für Euch einige Neuigkeiten von Suiren."

Und die Besorgnis war flugs wieder da.

Der junge Adelige stürzte sich beinahe schon auf ihn, packte ihn an den Armen und blickte ihn so verzweifelt an, als würde sein eigenes Leben von den Worten des Anderen abhängen.

„Welche!? Ist die Apothekerin wach!? Ist während der Nacht etwas vorgefallen!? Wie geht es ihr!?"

„Beruhigt Euch bitte, Herr. Nein, es ist nichts vorgefallen, und ja, Xiaomao ist vor Kurzem aufgewacht. Laut Suirens Worten geht es ihr gut."

Jinshi ließ ihn los. Sein heftig pochendes Herz und beschleunigte Atmung kamen wieder zur Ruhe, sobald er diese Worte vernahm.

Ein riesiges Lächeln erschien auf seinen Lippen, er war außer sich vor Freude.

„Basen kommt auch gleich", fuhr Gaoshun fort. „Und dann können wir losgehen und Xiaomao befragen, wie sie es geschafft hat, herauszufinden, was während des Rituals geschehen wird."

Daraufhin tauchte Jinshi aus seiner Erleichterung und seinem Glück auf und warf ihm einen leicht unsicheren Blick zu, die Augenbraue hebend.

„Schon? Sollten wir nicht ein wenig Rücksicht nehmen? Immerhin hat sie einen Schlag auf den Kopf bekommen und ist gerade erst aufgewacht."

Er wollte Maomao wirklich nicht so kurz nach ihrem Erwachen mit solchen Dingen belasten, auch wenn sie tatsächlich wohlauf sein sollte.

„Ich fürchte, das können wir uns in diesem Fall nicht leisten, Herr." Gaoshuns Gesichtsausdruck zeigte, dass er diese Tatsache ebenfalls bedauerte. „Das war ein Attentatsversuch auf ein Mitglied der kaiserlichen Familie, deshalb ist es überaus wichtig, so viele Informationen wie möglich zu sammeln und Ermittlungen anzustellen."

Jinshi seufzte.

„Verstehe. Gut, dann gehen wir."

Gaoshun schaute auf die Füße seines Herrn, woraufhin dieser seinem Blick folgte und endlich merkte, dass diese entblößt waren.

„Xiaomao zieht sich gerade um. Möchtet Ihr vielleicht dasselbe tun, mein Herr? Ihr habt schließlich einen ganzen Tag in dieser Kleidung verbracht und sogar darin geschlafen. Ich könnte Suiren rufen, damit sie Euch hilft."

Doch der junge Mann winkte ab.

„Nein, lass nur. Suiren hat die ganze Nacht nicht geschlafen und außerdem wird außer uns und Basen sowieso niemand da sein, also passt es schon so."

Mit anderen Worten: er hatte keinen Grund, die „himmlische Nymphe" zu spielen.

Jinshi setzte sich hin, um sich die Schuhe anzuziehen, und fuhr sich durchs Haar, im Versuch, es ein wenig mit den Fingern zu kämmen und sich zumindest etwas präsentabler zu zeigen, immerhin war er gerade erst aus dem Bett gestiegen. Gaoshun, währenddessen, legte die Extradecke zusammen, mit der er seinen Herrn nachts zugedeckt hatte, und verstaute sie.

***

Jinshi stand mit leicht gerunzelter Stirn in seinen Gemächern und sah der Apothekerin zu, wie sie all ihre medizinischen Sachen, die sie stets mit sich herumtrug, wieder in ihrer Kleidung verstaute. Suiren hatte selbstverständlich alles herausgenommen, als sie sie am vergangenen Tag umgezogen hatte.

Sobald die Befragung zu Ende gegangen war, war Maomao vom Stuhl, auf dem sie saß, aufgestanden und hatte begonnen, ihre Besitztümer einzusammeln, in der deutlichen Absicht zu gehen.

„Sag mal, solltest du wirklich schon auf den Beinen sein?", fragte er. Es lag immer noch eine leichte Sorge in seiner Stimme. Maomao stand derzeit mit dem Rücken zu ihm und konnte deshalb nicht sehen, dass Jinshi leicht die Arme erhoben hatte, als ob er sich bereitmachen würde, sie aufzufangen, falls sie stürzen sollte.

Nein, vergesst das „als ob". Er WAR bereit, sie aufzufangen.

Doch trotz der Tatsache, dass sie leicht hinkte, schien sie tatsächlich ganz gut laufen zu können.

„Es ist alles in Ordnung, Herr. Ich habe während des Umziehens einen Blick unter die Verbände geworfen und festgestellt, dass die Wunde sehr ordentlich vernäht ist, also ist es kein Problem."

Jinshi nickte, doch der Zweifel war immer noch nicht ganz aus seinem Gesicht verschwunden.

„Wie du meinst. Aber bist du sicher, dass du jetzt schon in dein Zimmer zurück möchtest? Du kannst heute gerne noch hierbleiben, weißt du?"

Maomao hatte sich inzwischen fertiggemacht und drehte sich zu ihm um.

„Ich bin Eure Zofe, Eure Exzellenz, ich kann Eure Gemächer nicht ewig besetzen."

Jinshi biss angesichts dieser Worte die Zähne zusammen, sich im Zaum haltend, bevor ihm noch ein lautes „Na und!?" entfuhr. Letztendlich verschränkte er die Arme und seufzte frustriert.

Nun, wenn sie sich in ihrem Zimmer wohler fühlte als in seinen Gemächern, dann würde er sie nicht aufhalten.

„Gut. Aber pass auf, dass du dich weiterhin schonst und ausruhst, hast du mich gehört, Apothekerin? Du wirst heute nicht arbeiten. Und wenn du läufst, dann langsam, denk nicht einmal ans Rennen."

„Ja, Herr."

***

Seitdem waren einige Stunden vergangen und nun war Jinshi erneut unterwegs zu Maomaos Zimmer, dieses Mal jedoch bewusst und am hellichten Tage. Nicht zu vergessen, dass er auch viel ruhiger geworden war, nachdem er sich mit eigenen Augen vergewissert hatte, dass sie in Ordnung war. Welch Erleichterung, dass sie dieselbe war wie immer...

Bei der Erinnerung an das, was er am letzten Abend getan hatte, lief er knallrot an und sah sich vorsichtig um, in der Hoffnung, dass ihn keiner so sah.

„Aber das war wohl nicht zu vermeiden gewesen..."

Nun, jetzt, wo er darüber nachdachte, erschien es ihm eigentlich ganz logisch, dass er sich in seinem bedrängten Zustand zu einem Ort begeben hatte, der Maomaos Sachen enthielt, Dinge, die ihn an sie erinnerten, um sich von seiner überwältigenden Sorge ablenken zu können. Und wie es sich herausstellte, hatte dies tatsächlich funktioniert, denn der Anblick ihrer geliebten Kräuter und ihr Geruch hatten es tatsächlich geschafft, ihn so weit zu beruhigen, dass er sogar eingeschlafen war.

Er hoffte, sie würde ihm verzeihen, falls sie es eines Tages herausfinden sollte, und ihn nicht für einen Perversling halten.

Andernfalls würde er es nicht ertragen können. Aber eigentlich hatte sie ihm sogar den Scherz mit den in Honig getauchten Fingern vergeben, also sollte er sich vielleicht nicht so viele Gedanken machen.

Ach egal, darum ging es jetzt nicht. Diesmal ging er zu ihr, um ihr etwas mitzuteilen, was er nicht vor den Anderen hatte sagen können. Und mit „Anderen" meinte er vor allem Basen.

***

Als er schließlich vor ihrer Tür stand, atmete Jinshi tief durch und klopfte.

„Apothekerin? Bist du da? Darf ich rein?"

„Ja, Herr? Möchtet Ihr noch etwas von mir wissen?"

Als er Maomaos Stimme von innen hörte, öffnete er die Tür und sah sie auf dem Bett sitzen, mit einigen Pflanzenblättern in der Hand. Den paar kleinen Blätterhaufen neben ihr nach zu urteilen, waren ihre Kräuter nun getrocknet und sie war gerade dabei, sie zu sortieren.

Jinshi schluckte, als sein Blick auf das Bett fiel, doch da die Apothekerin nicht so aussah, als sei ihr etwas Ungewöhnliches aufgefallen, bemühte er sich, nicht daran zu denken.

Maomao blickte auf und war bereits kurz davor, sich zu erheben, sobald sie sie ihn eintreten sah.

„Nein, bleib sitzen!", hielt Jinshi sie rasch auf, die Hand hebend.

Sie gehorchte und legte sich die Hände auf den Schoß, ihn erneut anblickend.

„Warum seid Ihr gekommen, Herr?"

Der junge Adelige konnte nicht anders als etwas zu schmollen. Brauchte er wirklich stets einen Grund, um sie zu sehen?

Er räusperte sich, wendete den Blick ab und kratzte sich an der Wange.

„Nun, ich wollte bloß sichergehen, dass du dich auch wirklich schonst."

„Das tue ich, Herr."

„Ja, das sehe ich. Sehr gut."

Für einige Momente herrschte Stille, während derer sich die beiden einfach nur gegenseitig anschaueten, Maomao auf dem Bett sitzend und Jinshi an der Tür stehend und sich die Finger verdrehend, die in seinen Ärmeln verborgen waren.

Dann atmete er erneut tief durch und schüttelte den Kopf.

„Nein, in Wahrheit ist da noch etwas..."

Und mit diesen Worten verließ ihn all die Befangenheit und Gefasstheit, als er ganz plötzlich losstürmte, um das zu tun, was er sich schon so lange gewünscht hatte. Er stürzte sich auf Maomao und umarmte sie so fest, dass er sie fast vom Bett hob. Endlich, oh, endlich! Es hatte sich wirklich ernsthaft zusammenreißen müssen, um es nicht bereits zu tun, als er sie am Morgen zum ersten Mal wach vorfand. Aber na ja, mit Basen im Raum wäre das wohl eher keine gute Idee gewesen.

Ihren schmalen Rücken umschlingend, presste er die zierliche junge Frau an seinen zitternden Körper, so verzweifelt, als ob jeden Moment jemand kommen und sie ihm wegnehmen würde. Endlich ließ er seine aufgestauten Gefühle heraus. Alle.

„Es geht dir gut, es ist kein Traum... was für ein Glück... was für ein unfassbares Glück...", murmelte er, stellte sich auf die Knie und platzierte sein Kinn auf Maomaos Kopf, während schon wieder ein paar Tränen aus seinen Augen traten und bis zu ihrem Haar herabflossen.

Doch dann kam Jinshi urplötzlich wieder zu sich und riss die Augen weit auf, als er spürte, wie sie sich in seinen Armen wand und ein gedämpftes “Herr! Krieg... keine Luft..." herausbrachte.

„Gah!" Er erbleichte etwas und lockerte seinen Griff auf der Stelle, ließ sie jedoch immer noch nicht los. „Entschuldige."

Nach Luft schnappend, lehnte Maomao den Kopf an seine Schulter und hustete einige Male. Er rieb ihr als Entschuldigung sanft den Rücken, während sie sich nach dem Schrecken erholte und sich nach und nach wieder entspannte.

Als Nächstes blickte sie ihm verwirrt und gereizt ins Gesicht.

„Mensch! Was ist in Euch gefahren, Eure Exzellenz?"

Doch der junge Mann ging nicht auf ihre Frage ein, sondern packte sie stattdessen bei den Schultern und schaute ihr direkt in die Augen.

„Versprich mir, dass du so etwas nie wieder tun wirst! Niemals wieder!", brach es plötzlich aus ihm heraus.

Maomaos Augen weiteten sich etwas, was die Verwunderung in ihrem Gesicht noch weiter betonte. Wie es schien, war sie wohl ziemlich überrascht von seinem flehenden Tonfall.

„Was meint Ihr?"

„Was du gestern getan hast, natürlich!"

Jinshi war verblüfft. Was könnte er denn sonst meinen!?

„Euch das Leben retten?"

„Nein, dich in eine solche Gefahr begeben!"

„Wenn ich das nicht getan hätte, wärt Ihr jetzt mit Sicherheit tot, Herr."

Wie immer nahm sie in seiner Gegenwart kein Blatt vor den Mund. Jinshi gab so etwas wie ein Knurren von sich. Na gut. Falls er es ihr nicht mit Worten verständlich machen konnte, musste eben ein anderer Weg her.

Und so ergriff er aus heiterem Himmel ihre rechte Hand und drückte sie fest an seine Brust, genau dorthin, wo sich sein Herz befand. Es hatte bei der bloßen Erinnerung an die gestrigen Vorfälle erneut begonnen, wie wild zu pochen. Ihre Hand festhaltend, damit sie nicht auf die Idee kam, sie wegzunehmen, konnte Jinshi spüren, wie ihre Finger leicht zuckten.

„So! Fühlst du es nun? Wenn du solche Dinge noch einmal machst, werde ich es nicht ertragen können! Dann sterbe ich sowieso, aber an einem Herzanfall! Versteht du!?"

Ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen oder auch nur eine Antwort abzuwarten, vergrub der junge Adelige sein Gesicht an ihrer Schulter. Er atmete schwer.

Eine Weile lang war es still. Bis er spürte, wie Maomao auf dem Bett leicht hin- und herrückte.

„Herr?"

„Was ist denn?"

Jinshis Stimme bebte immer noch etwas.

„Ich habe getrockneten Baldrian hier. Soll ich Euch vielleicht Tee daraus machen, um Eure Nerven zu beruhigen?"

Dies raubte ihm für ein paar Sekunden die Sprache. Dann schüttelte er den Kopf und drückte das Gesicht nun an ihren Hals.

„Nein. Lass mich bloß noch ein bisschen so bleiben."

Die Apothekerin sagte nichts dazu, doch die Tatsache, dass sie ihre andere Hand auf seinen Rücken gelegt hatte, ließ Jinshi annehmen, dass sie einverstanden war.

Schließlich ließ er ihre rechte Hand los, um sie wieder mit beiden Armen umschlingen zu können, und zu seiner Überraschung nahm Maomao diese nicht von seiner Brust.

Die Hand blieb genau dort, wo sie war. Auf seinem Herzen.

Notes:

Und im nächsten Kapitel sehen wir dann, wie genervt Maomao von Jinshis ständiger Sorge ist xD
Bis in einer Woche!

Chapter 18: Bleib bei mir! Teil 4

Notes:

Hehe, ich hoffe, euch gefällt Jinshis und Maomaos kleine „Begegnung" in diesem Kapitel *grins*

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Maomao hatte die Nase gestrichen voll. Aber so richtig.

Es gab einfach keinen besseren Ausdruck, um ihren aktuellen Gemütszustand zu beschreiben.

Mit tief gerunzelter Stirn und einem gefährlichen Blick in den Augen, die vor Verärgerung nur so funkelten, stampfte sie nach draußen mit einem leeren Wäschekorb auf dem Rücken, um die trockene Wäsche einzusammeln. Dabei gab sie ab und zu ein Schnauben von sich und verströmte allgemein eine solch bedrohliche Aura, dass die meisten anderen Menschen sich von ihr fernhielten.

Es schien fast so, als würde eine kleine Gewitterwolke über ihr schweben.

Beinahe eine Woche war bereits seit ihrem Erwachen nach dem Vorfall während des Rituals vergangen und sie war absolut in Ordnung und wunderbar in der Lage, den meisten ihrer Aufgaben problemlos nachzugehen.

Jedoch schien ein gewisser Jemand da anderer Meinung zu sein…

Die Apothekerin gab einen entnervten Seufzer von sich und blickte sich um. Er war nirgendwo zu sehen. Was für ein Segen!

Seit jenem verhängnisvollen Tag beobachtete Jinshi sie nämlich mit Argusaugen und war, egal, worum es auch ging, sei es Arbeit oder andere Tätigkeiten, bei denen man auf den Beinen sein musste, immer zur Stelle, um sie an ihre Wunde zu erinnern und daran, dass sie sich schonen musste.

Immer! Als ob er einen sechsten Sinn dafür entwickelt hätte und nur darauf wartete, ihr eine Standpauke zu halten. Maomao fragte sich bereits, ob nicht vielleicht seine eigene Arbeit darunter litt. Aber was soll's, war ja nicht ihr Problem.

Jeden Tag die gleiche Geschichte:

„Apothekerin! Wieso rennst du?! Deine Wunde wird noch aufbrechen!”, als er sie dabei erwischt hatte, wie sie ein bisschen schneller als sonst durch den Korridor lief.

„Apothekerin! Nein!”, als sie in einem der Zimmer den Boden kehren wollte und er ihr den Besen direkt aus den Händen riss.

„Apothekerin! Lass das!”, als er sie von einer Pflanze fortzog, die sie hatte pflücken wollen.

Es war so erdrückend!

Pah! Als ob sie nicht auf sich selbst aufpassen könnte! Schließlich war sie kein Kleinkind mehr, vielen Dank aber auch!

Nun, es stimmte schon, dass sich ihre Wunde während der letzten Tage einige Male geöffnet hatte, aber sie wurde jedes Mal rasch wieder zugenäht und war nun schön am Heilen. Maomao hinkte auf jeden Fall weniger als am Anfang. Anders gesagt: es gab wirklich keinen Grund, solch ein Aufheben zu veranstalten!

Aber egal wie oft sie Jinshi auch anfunkelte als sei er ein Schlammfleck auf einem frisch gewaschenen Kleidungsstück, summte er trotzdem weiterhin um sie herum wie eine Mücke, die ihr die gesamte Geduld aus dem Körper saugte.

Möglicherweise war der Kerl ja bereits immun gegen ihre bösen Blicke, wer weiß.

Nun, vielleicht sollte man an dieser Stelle erwähnen, dass es ganz schön viel brauchte, um die stoische Maomao so richtig wütend zu machen. Und Jinshi war dies mit einer solchen Bravour gelungen, dass sie sogar den Wunsch verspürt hatte, ihm einige… ähem, ziemlich unangemessene Worte zuzuschreien. Das war wirklich eine Meisterleistung.

Jedoch konnte Maomao trotz allem immer noch nicht behaupten, dass sie den jungen Herrn hasste. Das hatte sie nie und natürlich waren ihr auch keine Worte an ihn, die sie später bereuen würde, über die Lippen gekommen, aber…

…aber am heutigen Tag hatte sie etwas getan, was man als genauso schlimm betrachten könnte. Vielleicht.

Allein bei der Erinnerung daran biss Maomao die Zähne zusammen.

Es war vor gerade mal einer Stunde geschehen:

Die Apothekerin befand sich in ihrem Zimmer und zog sich um.

„Hach, was für ein dummes Missgeschick!", dachte sie und blickte zu der vollkommen mit Schmutzwasser durchtränkten Kleidung, die sie ausgezogen hatte und die nun auf dem Boden lag. Tja, aber so etwas passierte nun einmal, wenn man sich zu sehr seinen Tagträumen hingab!

Beim Verstauen von kürzlich poliertem Geschirr war Maomao nämlich so in Gedanken versunken und derart damit beschäftigt gewesen, sich vorzustellen, was sie wohl mit dem kostbaren Bezoar anstellen würde, den sie (hoffentlich) schon bald ihr Eigen nennen könnte, dass sie versehentlich über einen vollen Wassereimer stolperte, den Suiren fürs Bodenwischen nutzte. Und ehe sie sich versah, war da ein lautes Klappern und sowohl Maomao als auch der Eimer lagen am Boden. Ein Glück, dass sie zumindest kein Geschirr mehr in den Händen getragen hatte und somit nichts davon zerbrochen war. 

Die erschrockene Suiren war daraufhin sofort zu ihr geeilt, um ihr aufzuhelfen und sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung war. Maomao hatte sich aufrichtig entschuldigt und ihr angeboten, die Sauerei aufzuwischen, doch die andere Zofe versicherte ihr, dass sie wunderbar allein klarkommen würde, und schickte sie auf ihr Zimmer, um sich umzuziehen, bevor sie sich in den nassen Sachen noch eine Erkältung einfing.

Und so hatte Maomao keine andere Wahl gehabt als zu gehorchen und sich zu entfernen, sich für ihre Unaufmerksamkeit verfluchend. Sie konnte den riesigen Berg an schmutzigem Geschirr fast schon vor sich sehen, den Suiren später für sie bereithalten würde, als Strafe sozusagen. Aber na ja, da konnte man eben nichts machen.

Genau das war der Grund, wieso sie nun in Unterwäsche dastand und nach sauberer Kleidung zum Anziehen kramte.
 
Doch auf einmal spitzte sie misstrauisch die Ohren und erstarrte. Kam es ihr nur so vor oder hörte sie tatsächlich eine Stimme aus dem Korridor, direkt in der Nähe ihres Zimmers?

Eine viel zu bekannte Stimme, die gar nicht glücklich klang.

Und einige Sekunden später ging auch schon die Tür auf und eine ziemlich aufgebrachte „himmlische Nymphe" platzte in ihr Zimmer.

Oh, verdammt!

„Apothekerin! Ich habe von Suiren gehört, dass du über ihren Eimer gestolpert bist! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du-"

Seine Predigt fand ein jähes Ende, und die beiden starrten sich mit weit aufgerissenen Augen gegenseitig an.

Jinshi sagte nichts.

Maomao sagte nichts.

Doch sie konnte spüren, wie ihr Blut zu kochen begann.

„Eure Exzellenz!"

Das war's, nun reichte es ihr aber! Wie es aussah, konnte sie sich jetzt nicht einmal in Ruhe umziehen! Genug war genug!

Jinshi stand wie versteinert mit weit offenem Mund da und einem Gesicht, dessen Farbe sich mit dem von Dame Gyokuyous Haar messen konnte. Einige Augenblicke später schien er jedoch wieder zum Leben zu erwachen und begann, wild mit den Händen herumzuwedeln und einige Schritte zurückzutreten.

„A-Apothekerin, e-es tut mir leid! I-Ich wusste nicht, dass du..."

Aber Maomao ließ ihn nicht ausreden. Außer sich vor Zorn und ihren Statusunterschied für eine Minute vergessend, bückte sie sich und hob ihren triefend nassen Rock auf.

Und schleuderte ihn direkt in sein Gesicht.

Im Versuch, das nasse Kleidungsstück von seinem wunderschönen Gesicht zu schälen und noch mehr Entschuldigungen stammelnd, taumelte er unbeholfen rückwärts aus dem Zimmer, dabei beinahe mit der Tür zusammenstoßend. Und rannte schließlich davon, als ob Maomao hinter ihm herjagen würde.
 
„Hat er etwa noch nie eine Frau in Unterwäsche gesehen?"

Was sie selbstverständlich nicht tat. Stattdessen gab die Apothekerin ein lautes Schnauben von sich und hob den Rock auf, den er auf dem Boden zurückgelassen hatte.

„Dieser Kerl macht mich noch wahnsinnig, ich schwöre!"

Nun, um ehrlich zu sein, ging es Maomao nicht wirklich darum, dass Jinshi sie halbnackt gesehen hatte, da ihr Körper sowieso nicht viel zu bieten hatte, sondern eher darum, dass sie keinen einzigen Schritt mehr tun konnte, ohne dass er darüber Bescheid wusste und aus heiterem Himmel auftauchte. Sogar eine einfache Zofe wie sie brauchte ab und zu ein wenig Privatsphäre.

„Oh, Dame Suiren, wieso musstet Ihr ihm bloß unbedingt davon erzählen?..."

So wie sie Jinshi bereits kannte, ahnte Maomao, dass sie wohl eher nicht für ihre Tat bestraft werden würde (na zumindest nicht den Kopf abgeschlagen bekommen), aber selbst wenn, bereute sie es kein bisschen. Er hatte es absolut verdient!

Immer noch vor Wut kochend, zog sie sich rasch an, tat die durchnässten Sachen zur Schmutzwäsche und ging nach draußen, um sich ihrer nächsten Aufgabe zu widmen: dem Hereinholen der sauberen Wäsche.

„Ich nehme alles zurück: er hat sehr wohl zu viel Freizeit! Viel zu viel! Wenn er so dringend ein neues Hobby braucht, soll er sich gefälligst woanders umsehen!"

Aber na ja, so wie er vorhin Hals über Kopf geflohen war, nahm Maomao an, dass sie jetzt zumindest ein paar Stunden Ruhe haben würde oder vielleicht sogar einen ganzen Tag, wenn sie Glück hatte. Ach, welch Freude.

***

Während sie sich den hinter der Residenz befindenden Wäscheleinen näherte, konnte Maomao erkennen, dass Gaoshun bereits dort stand und auf sie wartete. Jinshi hatte ihm nämlich aufgetragen, ihr bei einigen Haushaltsarbeiten, bei denen man auf den Beinen sein musste, zur Hand zu gehen, somit war der Assistent gekommen, um die trockene Wäsche für sie von den Leinen zu nehmen. Er schien nichts dagegen zu haben, doch er tat Maomao trotzdem ein wenig leid.

Sie stellte den leeren Korb neben ihm ab.

„Seid gegrüßt, verehrter Gaoshun."

„Xiaomao..."

Als er sie erblickte und sah, was für ein Gesicht sie machte, warf Gaoshun ihr einen Blick zu, der wohl „Da hat unser Herr wohl wieder mal etwas angestellt, nicht wahr?" besagen sollte.

Maomao bestätigte seinen Verdacht mit einem grimmigen Blick. Dann gaben sie beide einen tiefen Seufzer von sich. Worte waren nicht nötig.

Doch als er anfing, die Wäsche herunterzuholen und sie ihr zu reichen, damit sie sie falten und in den Korb legen konnte, verspürte Maomao dann doch ein gewisses Bedürfnis, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.

„Apothekerin hier, Apothekerin dort! Er behandelt mich wie ein kleines Kind oder ein ungezogenes Haustier! Ich kann so gut wie gar nichts mehr tun, ohne dass er mir im Nacken sitzt! Es ist so nervig!"

Maomao schmiss die arme Wäsche in den Korb mit einer solchen Wucht, als würde sie die ganze Schuld tragen.

Gaoshun drehte den Kopf zu ihr. 

„Sei bitte nicht so hart zu ihm, Xiaomao. Ich weiß, dass es nicht immer einfach mit ihm ist." Sein Gesicht zeigte ganz deutlich, wie gut er es wusste. „Aber er meint es nur gut. Nach dem Vorfall war er schrecklich besorgt um dich und ist es immer noch. An dem Tag drehten sich seine Gedanken nur um dich."

„Huch?"

Maomao war etwas verblüfft.

„Genau. Außerdem fühlt er sich schuldig, da deine Wunde entstanden ist, als du ihn gerettet hast. Vergiss nicht, dass er dich in seinem Bett schlafen ließ."

Die Apothekerin ließ sich diese Worte kurz durch den Kopf gehen. Das hatte er tatsächlich. Sie erinnerte sich an das Gespräch, das sie danach in ihrem Zimmer hatten.

Seine Gedanken hatten sich... nur um sie gedreht?

„Verstehe", sagte sie schließlich. „Aber er braucht sich trotzdem keine solche Mühe zu machen. Schließlich bin ich bloß eine Dienerin."

„Nicht für ihn", murmelte Gaoshun. Er sah so aus, als wolle er noch etwas hinzufügen, entschied sich jedoch dagegen und schüttelte den Kopf. Maomao war dankbar dafür, da sie sich nicht sicher war, ob sie es tatsächlich hören wollte.

Stattdessen sagte er: „Er ist dir auch noch sehr dankbar für alles. So dankbar, dass er vorhat, zu Seiner Majestät zu gehen und ihn zu bitten, dir einen Wunsch zu gewähren. Als Belohnung für all die Leben, die du bis jetzt gerettet hast, nicht nur seines."

Maomao musste zugeben, dass sie dies nun wirklich nicht erwartet hatte. Sie blickte den Assistenten mit weit aufgerissenen Augen an, fasste sich dann aber wieder.

„Nicht nötig, ich möchte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Denn es ist nicht immer von Vorteil, wenn bekannt wird, dass man in der Gunst Seiner Majestät steht. Ich ziehe es vor, einfach eine Dienerin und Apothekerin zu bleiben. Und außerdem gibt es sowieso nur eine Sache, die ich mir im Moment wünsche, und ich weiß bereits, dass ich sie auf jeden Fall bekomme."

„Wirklich? Welche denn?"

„Meinen Bezoar!" Allein beim Gedanken an diesen seltenen medizinischen Wirkstoff leuchteten ihre Augen auf. Sie konnte ihn fast schon in ihren Händen spüren.

Gaoshun seufzte tief.

Aber dann fiel Maomao etwas anderes ein.

„Ach ja, da gibt es noch etwas, was ich mich die ganze Zeit gefragt habe."

Ohne dass sie es merkte, hatte die Unterhaltung mit dem ruhigen Gaoshun dabei geholfen, ihren Zorn verrauchen zu lassen und sie zu ihrem gewohnten Selbst zurückzukehren zu lassen.

„Ja?"

„Wenn seine Exzellenz mir in jener Nacht sein Bett überlassen hat, wo hat dann er geschlafen?"

„Nun... wie ich sagte, hatte er sich große Sorgen um dich gemacht und..."

Es war ungewöhnlich, den Assistenten nervös zu erleben.

Maomao hob eine Augenbraue und sah ihn fragend an, ihn stumm darum bittend, zum Punkt zu kommen.

Schlussendlich seufzte Gaoshun erneut.

„Bist du sicher, dass du es wirklich wissen willst?"

„Eh?"

Maomao runzelte leicht die Stirn. 

„Es kann sein, dass dir die Antwort nicht gefällt."

Zwar hatte die Apothekerin kein gutes Gefühl dabei, doch diesmal siegte ihre Neugier.

„Ich bin sicher."

„Wie du wünschst. Er hat in deinem Bett geschlafen, Xiaomao, in deinem Bett..."

„Oh."

Maomao runzelte noch stärker die Stirn, und Gaoshun wirkte bereits, als würde er seine Worte ein wenig bereuen. Bestimmt erwartete er, gleich noch mehr Beschwerden über seinen Herrn zu hören.

Jedoch...

„Ist es nicht ein wenig zu klein für ihn?", war alles, was sie dazu zu sagen hatte.

„Ist das etwa alles, was dich daran beschäftigt?"

***

Einige Stunden später war Maomao wieder auf ihrem Zimmer und saß am Tisch, die Wange auf die Handfläche gestützt und in das durch das Fenster einfallende Licht der untergehenden Sonne getaucht. Es war bereits Abend und immer noch keine Spur von Jinshi...

Und überraschenderweise machte diese Tatsache sie gar nicht so glücklich wie sie gedacht hatte.

Nicht nach dem, was sie von Gaoshun erfahren hatte. Das Gespräch mit ihm ging der Apothekerin nicht aus dem Kopf.

Also hatte Jinshi die Nacht in ihrem Bett verbracht, was?

Nun, wenn sie so darüber nachdachte, erinnerte Maomao sich nun, dass ihr Laken, ihre Decke und ihr Kissen mehrere Tage lang nach Sandelholz gerochen hatten. Damals hatte sie den Grund dafür nicht verstanden, weil Jinshi das Bett während der Umarmung nicht direkt berührt hatte. Schlussendlich war sie zum Schluss gekommen, dass es nicht das Bett war, welches nach dem Weihrauch roch, sondern sie selbst, da sie in seinem Bett geschlafen hatte, und beließ es einfach dabei. Annehmend, dass sie nach dem Schlag auf den Kopf immer noch ein wenig benommen war.

Aber wenn er tatsächlich darin geschlafen hatte, dann erklärte dies natürlich alles.

Maomaos Mund zuckte leicht. Zu behaupten, dass die Vorstellung, wie Jinshi in ihrem Bett schlief, so gar keine Gefühle in ihr erweckte, wäre eine Lüge gewesen, doch sie musste zugeben, dass es auch irgendwie logisch war: da sie seine Gemächer besetzt hatte, hatte er in jener Nacht einen anderen Platz zum Schlafen gebraucht, nicht wahr?

Noch dazu hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wie sie besagte Gefühle überhaupt benennen sollte: War sie glücklich darüber? Definitiv nicht. War sie angewidert? Seltsamerweise auch nicht. War sie sauer? Nein. Doch trotzdem war da etwas, zweifellos war da was.

Wie verwirrend...

Die vernünftig denkende und den Wissenschaften zugewandte Maomao war es nicht gewohnt, über Gefühle nachzudenken, demnach war es ziemlich schwierig für sie, diese zu analysieren, sei es die von anderen Leuten oder ihre eigenen. Wie sollte sie also Jinshi verstehen, wenn sie nicht einmal sich selbst richtig verstand?

Ja, die beiden missverstanden sich recht häufig.

Aber andererseits... ab und zu auch wieder nicht. Manchmal verstand Maomao ihn sogar besser als jeder andere, selbst ohne Worte. Dies geschah zwar ziemlich selten, aber doch geschah es. Die Apothekerin hatte dies bisher noch nie erlebt. Zumindest nicht so.

Sie und Jinshi waren so verschieden, aber vielleicht trotzdem ähnlicher als sie dachte.

Ihr Blick wanderte Richtung Bett.

Jinshi hatte sich also wirklich Sorgen um sie gemacht, was? Während sie sich an die Worte erinnerte, die er während der Umarmung zu ihr gesagt hatte, wurde ihr dies nun auch klar. Aber möglicherweise... hatte sie es bereits die ganze Zeit gewusst, sich jedoch dafür entschieden, sich selbst zu hintergehen und sein Verhalten der Tatsache zuzuschreiben, dass er immer noch aufgewühlt gewesen war, nachdem er beinahe sein eigenes Leben verloren hatte.

Nein. Es gab keinen Grund mehr, es abzustreiten. Tief in ihrem Inneren hatte sie genau gewusst, dass er sich nicht um sich selbst, sondern um sie gesorgt hatte. Zwar war sie tatsächlich ein wenig schwer von Begriff, was Gefühle anging, aber nicht blind.

Es war bloß so, dass sie immer noch nicht das „Warum" begriff, denn egal wie man es auch drehte und wendete, war und blieb sie trotz allem eine Dienerin, also sollte ein Adeliger wie Jinshi sich eigentlich keine solchen Gedanken um ihr Leben machen. Wenn sie es verlor, dann war es eben so. Dienerinnen gab es wie Sand am Meer.

Selbstverständlich wollte sie nicht sterben, aber so sah die Realität nun einmal aus. 

Er sollte sich keine Gedanken machen und doch tat er es.

Maomao hob die rechte Hand und betrachtete sie. Genau diese Hand war vor wenigen Tagen erst an Jinshis Herz gepresst gewesen und sie konnte sich immer noch an das Gefühl erinnern, wie es gegen ihre Handfläche gepocht hatte, als ob es aus seiner Brust herausspringen wollte. Um ehrlich zu sein, war sie ganz schön verblüfft gewesen, wie heftig es geschlagen hatte. War das wirklich alles... ihretwegen?

Sie hatte wirklich keine Ahnung, was sie davon halten sollte. Es war alles so neu für sie.

Nun, vielleicht...

Die Apothekerin zuckte zusammen, als ihr auffiel, dass ihre Gedanken eine Richtung eingeschlagen hatten, die ihr überhaupt nicht gefiel, und sie schüttelte heftig den Kopf. Nein, nein, nein! Sie sollte sich nicht tiefer damit befassen als sie sollte und sich selbst unnötige Kopfschmerzen bereiten. Gut, sie hatte die Tatsache akzeptiert, dass er sich Sorgen um sie gemacht hatte und immer noch machte. Das war genug! Es gab keinen Grund für sie, sich über das „Warum" den Kopf zu zerbrechen!

Genau. Sie hatte es akzeptiert. Und mit dieser Akzeptanz fielen ihr nun weitere Dinge ein, eines nach dem anderen:

Sein schmerzerfüllter Blick an dem Tag des Vorfalls, kurz nachdem er gerettet worden war und ihr verletztes Gesicht gesehen hatte.

Seine Hand, die sanft ihre geschwollene Wange streichelte.

Die Tatsache, dass er immer noch dieselbe Kleidung getragen hatte, als er am nächsten Morgen mit Gaoshun und Basen gekommen war, um sie zu befragen.

Das getrocknete Blut auf eben dieser Kleidung, das aller Wahrscheinlichkeit nach ihres sein musste, da er während des Vorfalls unverletzt geblieben war.

Wie verzweifelt er sie in ihrem Zimmer umarmt hatte... und wie seine Stimme brach, als ob er kurz davor gewesen war, in Tränen auszubrechen... und wieder dieser Herzschlag...

Nun wurde ihr klar, dass er ganz offensichtlich traumatisiert und nicht er selbst gewesen war.

Aber natürlich! Schließlich WAR er an jenem Tag beinahe gestorben und hatte auch noch mitansehen müssen, wie das Blut aus ihr herausströmte und wie sie in seinen Armen das Bewusstsein verlor. Die meisten Menschen wären nicht in der Lage, solch schockierende Ereignisse so einfach zu vergessen, und er war nicht wie Maomao, die mit solchen Dingen umging, indem sie umgehend versuchte, jeden Gedanken daran zu blockieren.

Dies alles bedenkend, fühlte sie sich nun... ein wenig schuldig, dass sie Jinshi so behandelt hatte.

Vielleicht war sie wirklich zu hart zu ihm gewesen. Zu ungerecht. Zwar war er ein sehr nerviger Typ und neigte zu Übertreibungen, aber ein schlechter Mensch war er nicht.

„Ich schimpfe ihn auch oft fürs Überarbeiten aus, also bin ich wohl eher doch nicht die Richtige, um sich wegen solcher Dinge zu beschweren...", dachte sie. „Aber... ich nehme mal an, dass ich so was einfach nicht gewohnt bin."

Richtig. War sie nicht. Schließlich war es das allererste Mal in ihrem Leben, dass jemand dermaßen besorgt um sie war. Sicher, ab und zu machten sich die Leute Sorgen um sie: ihr Adoptivvater, ihre Schwestern im Freudenhaus, Dame Gyokuyous Zofen, Suiren...

Aber niemals auf diese Weise. Und um ehrlich zu sein, hatte sie nicht den blassesten Schimmer, wie sie damit umgehen sollte.

Genau deshalb hatte sie ihm ohne ein weiteres Wort gestattet, sie zu umarmen. Weil sie vollkommen ratlos gewesen war und nicht gewusst hatte, was sie sonst hätte tun sollen.

Maomao barg das Gesicht in den Händen und stieß einen lauten Seufzer aus.

Sie musste sich bei ihm entschuldigen. Andernfalls würde sie nicht ruhig schlafen können.

Notes:

Und wieder mal bis nächste Woche!

Chapter 19: Bleib bei mir! Teil 5

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Ja, Maomao hatte eingesehen, dass sie sich unbedingt bei Jinshi entschuldigen musste.

Und genau als sie zu diesem Schluss gekommen war, vernahm sie auf einmal Geräusche aus dem Korridor, genau von der anderen Seite ihrer Tür, und hob erstaunt die Wange von der Handfläche, den Kopf in die Richtung besagter Laute drehend.

Zweifellos stand da draußen jemand. Und die Apothekerin ahnte bereits, wer dieser geheimnisvolle „Jemand" sein könnte.

Wirklich unfassbar! Das kam ja gerade recht! Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte und prompt hergeeilt war. Ein wahrhaftiger sechster Sinn! Maomao konnte diesen Zufall kaum glauben. Aber wie auch immer, jedenfalls machte dies das Ganze wesentlich einfacher, da es ihr die Suche nach ihm ersparte.

Maomao blieb sitzen und starrte weiterhin die Tür an, darauf wartend, ein Klopfen und eine Stimme, die „Apothekerin" rief, zu hören.

Sie wartete und wartete.

Doch nichts geschah.

Stattdessen hörte sie irgendwann Schritte, was bedeuten musste, dass diese andere Person sich höchstwahrscheinlich entfernte.

„Eh? Also war das doch nicht Seine Exzellenz?"

Doch ihr Gespür sagte ihr, dass er es sein musste. Nicht zu vergessen, dass sie inzwischen bereits gelernt hatte, die Geräusche seiner Schritte zu erkennen und sie von anderen zu unterscheiden. Und außerdem würde außer ihm und Suiren sowieso keiner zu ihrem Zimmer kommen.

Maomaos Neugier war hiermit geweckt und sie stand endlich vom Stuhl auf, um sich zur Tür zu begeben und nachzusehen.

Sie öffnete die Tür und spähte in den Korridor hinaus. Keiner da. Also war die Person schon weg. Seltsam...

Und als sie kurz davor war, selbst hinauszugehen und nach ihrem ungebetenen Gast zu suchen, und einen Schritt machte, berührte ihr Fuß plötzlich etwas, was auf dem Boden stand. Sie senkte den Blick.

Es war eine Kürbisflasche.

Die etwas verwirrte Maomao hob beide Augenbrauen und nahm die Flasche in die Hand. Ihrem Gewicht nach zu urteilen, musste sie voll sein. 

Mit einer immer größer werdenden Neugier öffnete sie sie und hielt sie sich an die Nase, um am Inhalt zu riechen.

Der Geruch, der in ihre Nasenlöcher drang, hellte auf der Stelle ihr Gesicht auf und brachte ein entzücktes Lächeln auf ihre Lippen. Ihre Augen strahlten.

Das war Wein!

Aber was machte der dort?

Immer noch lächelnd und einen genaueren Blick auf die Flasche werfend, entdeckte Maomao endlich das Stück Papier, das daran befestigt war. Es war von guter Qualität, eines der teuren Sorte. Da stand etwas drauf.

Da sie mehr als nur einmal in Jinshis Schreibstube saubergemacht hatte während er dort arbeitete, konnte die Apothekerin auf der Stelle erkennen, dass es sich um seine Handschrift handelte. Und selbst wenn sie es nicht könnte, die Worte an sich machten es bereits mehr als deutlich:

„Das ist für dich, Apothekerin. Bitte verzeih mir!"

„Ach so, verstehe..."

Mit anderen Worten: er hatte sich ebenfalls schuldig gefühlt und wollte sich mit einem Geschenk bei ihr entschuldigen.

Wie überaus aufmerksam.

Die Alkoholliebhaberin Maomao wollte bereits auf der Stelle ein paar Schlucke trinken, doch bevor sie die Flasche an ihre Lippen ansetzen konnte, hielt sie plötzlich inne, sich an etwas Wichtiges erinnernd.

Ach ja, ihre eigene Entschuldigung... die hätte sie beinahe vergessen. Nun, da er mit diesem Geschenk bereits den ersten Schritt gemacht hatte, war jetzt zweifellos sie an der Reihe.

„Er kann noch nicht sehr weit gekommen sein!"

Die Apothekerin schloss die Flasche wieder und nahm sie mit, als sie durch den Korridor zu eilen begann. Sie hatte einen Plan!

Irgendwann bog sie um eine Ecke und... erblickte tatsächlich Jinshis Rücken etwa ein Dutzend Meter vor ihr. Er schleppte sich träge und mit gesenktem Kopf vorwärts, wie die absolute Verkörperung von Niedergeschlagenheit. Als hätte ihm jemand seine gesamte Energie geraubt.

„Eure Exzellenz! Wartet!"

Der junge Adelige zuckte heftig zusammen und erstarrte, als er ihre Stimme vernahm. Nach einigen Augenblicken hob er dann endlich den Kopf und drehte sich langsam zu ihr um. Maomao entdeckte auf seinem Gesicht Verwunderung und noch etwas anderes... war das etwa Angst? Aber wovor könnte er sich fürchten?

Und doch wartete er auf sie.

„A-Apothekerin..."

Seine Stimme klang etwas angespannt.

Sie verlangsamte ihre Schritte und ging auf ihn zu, die Flasche hochhaltend.

„Ihr habt gerade eben das hier vor meiner Tür zurückgelassen, nicht wahr, Herr?"

„Ich hoffe, es gefällt dir...", war alles, was er dazu zu sagen hatte, und schenkte ihr ein schwaches Lächeln. Ganz klar ein aufgesetztes. Sein Blick waren immer noch von Kummer erfüllt und ihr fiel auf, dass er nervös an seinen Fingern herumdrehte.

Dieser Anblick verstärkte die Schuldgefühle der Apothekerin noch. Aber kein Wunder: obwohl sie von außer her kalt erscheinen mochte, hatte sie doch ein warmes Herz und besaß auch selbstverständlich ein Gewissen.

„Das tut es, Herr. Ich danke Euch."

Als er das hörte, ließ Jinshi seine Finger in Ruhe und machte ein paar Schritte auf sie zu. Er schien bereits etwas ruhiger geworden zu sein.

„Also bist du nicht mehr sauer?"

„Ach so. Das hat ihn also wahrscheinlich so gequält", dachte sie.

„Nein, bin ich nicht. Nun, um ehrlich zu sein, habe ich eine Bitte an Euch."

Er warf ihr einen fragenden und neugierigen Blick zu.

„Ja? Welche denn?"

Maomao sah ihm in die Augen und zupfte mit ihrer freien Hand an seinem Ärmel.

„Wenn Ihr Zeit habt, würde ich das gerne mit Euch zusammen trinken, Eure Exzellenz... Ich glaube, wir müssen reden."

Da dies das allererste Mal war, dass sie von sich aus um ein Gespräch mit ihm bat, war der junge Adelige zunächst verblüfft und gab einige Sekunden lang keine Antwort von sich. Doch dann fasste er sich wieder und nickte. Er sah ernst aus.

„Gut. Dann lass uns in meine Gemächer gehen. Ich habe meine Arbeit für heute beendet."

***

Kein einziges Wort unterbrach die Stille, während sie Seite an Seite durch den nun fast vollkommen in Dunkelheit getauchten Korridor schritten. Jedoch merkte Maomao, dass Jinshi ihr immer wieder kurze Blicke zuwarf und den Mund öffnete, es sich aber jedes Mal anders überlegte. Das Ganze war etwas unangenehm, aber die Apothekerin wusste, dass jenes Gespräch unumgänglich war.

Und er spürte dies bestimmt ebenso.

Die Atmosphäre in seinen Gemächern war nicht wirklich anders, vielleicht mal abgesehen von den paar brennenden Kerzen, deren weiches, flackerndes Licht auf die Einrichtung fiel. Die dienstbeflissene Suiren musste sie angezündet haben, sobald es angefangen hatte, dunkel zu werden.

Schwaches Mondlicht drang durch die Fenster ein.

Jinshi und Maomao begaben sich direkt zum niedrigen Tisch, an dem der junge Herr meistens saß, wenn er etwas trank. Zwei Becher standen bereits dort, Jinshis eigener und der, welchen Maomao für ihre Vorkostungen nutzte.

Der junge Adelige nahm Platz und Maomao wollte sich bereits ihm gegenüber niederlassen.

„Nein, komm her."

Sie sah auf und stellte fest, dass er auf den freien Platz neben sich auf der Couch klopfte.

Maomao zuckte die Achseln und tat wie geheißen. Vor ein paar Monaten hätte sich sicherlich noch dagegen protestiert, anführend, dass sie unmöglich neben einem Adeligen sitzen konnte, aber die beiden waren seitdem schon so oft nebeneinander gesessen, dass es sie nicht mehr kümmerte. Sie wusste, dass es in Jinshis Fall in Ordnung war.

Und gerade als sie die Flasche öffnen und den Wein ausschenken wollte, rückte Jinshi ein wenig näher zu ihr und Maomao spürte auf einmal, wie seine Hand sich behutsam um ihr bandagiertes Bein legte und es auf seinen Schoß hob. Sie erschrak ein wenig und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren.

„Was tut Ihr da, Herr?"

„Du musst dich schonen, Apothekerin. Deine Wunde heilt noch."

Er begegnete ihrem Blick nicht, sondern sah auf ihr Bein herab.

Maomao seufzte.

„Geht das wieder los", dachte sie. Aber da sie sich entschlossen hatte, ein wenig netter zu ihm sein, sagte sie schlussendlich nichts, sondern ließ ihn einfach machen. Außerdem stimmte es schon, dass sie an jenem Tag ziemlich viel auf den Beinen gewesen war und ihre Wunde ein wenig pochte.

Und so öffnete sie einfach die Flasche und goss zuerst ein wenig von dem Inhalt in ihren Becher, um ihn wie immer auf Gift vorzukosten. Nachdem sie verkündet hatte, dass alles in Ordnung war, füllte sie schließlich beide.

In der Zwischenzeit hatte Jinshi begonnen, sanft ihr verletztes Bein zu streicheln, während er ihr schweigend zusah. Auch dies kommentierte Maomao nicht, wobei sie heimlich zugeben musste, dass es sich irgendwie schon angenehm anfühlte.

Sie reichte ihm seinen Becher.

„Hier, bitte, Herr."

„Danke."

Er nahm ihn an sich und starrte dann einfach für einige Augenblicke auf die dunkelrote Flüssigkeit darin, ohne davon zu trinken. Danach atmete er tief durch und blickte Maomao, die währenddessen ein paar Schlucke genommen hatte, erneut ins Gesicht.

„Apothekerin...", ergriff er schließlich das Wort, womit er ihre Aufmerksamkeit erregte, und wurde rot, es vermeidend, ihr in die Augen zu sehen. „Ich... Ich wollte nicht spannen, ich schwöre! Ich wusste wirklich nicht, dass du beim Umziehen warst!"

„Hä?" Maomao weitete verwundert die Augen. „Moment mal... habt Ihr etwa DESWEGEN um Verzeihung gebeten?"

Nun war auch er verwirrt und hörte mit dem Streicheln auf.

„Eh? Weswegen denn sonst?"

Die Apothekerin runzelte die Stirn. Hatte er es nicht einmal gemerkt?

„Ich dachte, Ihr wolltet Euch entschuldigen, weil Ihr so nervig seid und mir ständig mit meiner Wunde in den Ohren liegt."

Nein, sie nahm wirklich kein Blatt vor den Mund, wenn sie mit ihm sprach.

Sie konnte sehen, wie er ebenfalls die Stirn runzelte.

„Verdammt, jetzt habe ich ihn verärgert. Das war wirklich keine Absicht!", dachte sie.

Oh ja, Jinshi war verärgert.

„Hast du gezählt, wie oft deine Wunde schon aufgegangen ist!?", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er ihr mit dem Zeigefinger in die Wange piekte, wahrscheinlich, um seine Worte zu betonen. „Wenn man dich nicht ständig daran erinnert, dass du dich nicht überanstrengen sollst, wird sie nie heilen!" Er schnaubte und funkelte sie gereizt an. „Deshalb bekommst du von mir keine Entschuldigung dafür, Apothekerin, das kannst du gleich vergessen."

Maomao schob sich seine Hand aus dem Gesicht und funkelte ihn ihrerseits an, ihre eigene Entschuldigung vorübergehend beiseitelegend. Jedoch nicht vergessend.

Was für ein Dickkopf er war. Na ja, genau so ein Dickkopf wie sie selbst, könnte man meinen.

Doch nach einiger Zeit entspannten sich seine Gesichtszüge wieder ein wenig, und er wendete den Blick ab, noch stärker errötend als zuvor.

„Ich... Ich dachte, du wärst sauer, weil ich in dein Zimmer geplatzt bin, während du... dich umgezogen hast, und dich... ähm, leichtbekleidet vorfand."

Nachdem sie dies vernahm, entspannte auch Maomao ihr Gesicht. Sie fand es schwer zu glauben, dass so ein schöner Mann so verlegen werden konnte, nur weil er einen Blick auf den Körper einer solch unscheinbaren Frau wie sie erhascht hatte.

„Es macht mir nicht wirklich etwas aus, von Euch „leichtbekleidet" gesehen zu werden, Eure Exzellenz." Maomaos Ton war seelenruhig.

„WAS?!"

Er war nun so knallrot, dass sein Gesicht fast schon leuchtete, und starrte sie vollkommen ungläubig an, mit weit geöffnetem Mund und Augen. Gut, dass er nicht am Trinken gewesen war, sonst hätte er bestimmt alles wieder ausgespuckt. Maomao fand seinen Ausdruck ziemlich lustig, hielt sich jedoch vom Grinsen ab. Es war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

„Vergesst nicht, wo ich aufgewachsen bin, Herr. Und außerdem war ich bloß in Unterwäsche, nicht ganz nackt, also ist es keine große Sache." Sie zuckte gelassen die Achseln und trank weiter. „Nicht, dass es da sowieso viel zu sehen gäbe."

„Ach." Jinshi blinzelte einige Male und legte dann die Stirn leicht in Falten, so aussehend, als hätte er nicht übel Lust zu widersprechen. Doch dann überlegte er es sich doch anders. Die Apothekerin war dankbar dafür, sie wollte keinen weiteren Streit.

Aber...

„Wenn ich tatsächlich nackt gewesen wäre, hätte ich Euch mit etwas Schwererem beworfen als bloß mit einem Rock", grummelte sie ganz leise vor sich hin. Ja, es stimmte, dass sie in einem Freudenviertel groß geworden und nichts als ein mageres kleines Ding war, aber selbst sie besaß einen Sinn für Anstand und ein gewisses Selbstwertgefühl.

„Was war das gerade?"

Jinshi warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Gar nichts, Herr."

„Wie du meinst..."

Endlich nahm er einen Schluck Wein, so aussehend, als sei er tief in Gedanken versunken. Als ob ihm immer noch etwas auf dem Herzen liegen würde.

Maomao beschloss nachzufragen.

„Ist etwas, Herr?"

Jinshi schaute sie erneut an.

„Sag mal, findest du mich wirklich... so nervig?"

Traurigkeit und Kränkung lagen in seinen Augen.

Und prompt kamen die Schuldgefühle wieder zurück. Maomao schluckte. Sie hätte vorhin besser den Mund halten sollen, was?

Aber da gab es kein Zurück mehr. Für Reue war es bereits zu spät.

„Ja, das tue ich", antwortete sie. Er zuckte angesichts ihrer brutalen Ehrlichkeit zusammen. „Ihr neigt einfach dazu, zu überfürsorglich zu sein, und das wird mir zu viel." Die Apothekerin machte eine Pause und blickte ihm erneut in die Augen, um zu zeigen, dass ihre nachfolgenden Worte ebenfalls alle aufrichtig gemeint waren. „Aber... ich glaube nicht, dass Ihr die Schuld daran tragt. Und ich hätte Euch nicht so behandeln sollen. Es tut mir leid."

Da war ihre Entschuldigung. Endlich.

Jinshi erwiderte bloß ihren Blick ohne etwas zu sagen. Er schien irgendwie mit sich selbst zu hadern, bestimmt nach den richtigen Worten suchend. Oder zumindest nahm sie das an.

Daher räusperte Maomao sich und sprach weiter.

„Das ist der Grund, weshalb ich überhaupt mit Euch reden wollte. Um mich zu entschuldigen. Gaoshun hat mir gesagt, wie besorgt Ihr war, und mir erklärt, dass Ihr es nur gut mit mir meint. Da ist es mir klargeworden."

Zu ihrer Überraschung verspannte Jinshi sich auf einmal und riss die Augen auf, erneut errötend als hätte sie ihn bei etwas höchst Unanständigem erwischt. Sie konnte sehen, wie ein paar Schweißtropfen sein Gesicht entlangliefen.

„W-Wie viel h-hat er dir verraten!?"

„Hä?" Maomao verengte misstrauisch die Augen. Was sollte die Reaktion denn? Gab es da was, was sie nicht wissen durfte?

„Na ja, nicht sehr viel. Eigentlich nur, dass Ihr in meinem Bett geschlafen habt, und nur weil ich ihn extra gefragt habe."

Jinshi erschrak und schluckte.

„B-Bist du wütend deswegen?"

„Sehe ich etwa so aus, Herr?"

„Nein", gab er zu und gab schließlich einen Seufzer der Erleichterung von sich, als er feststellte, dass dies der Wahrheit entsprach. „Nein, tust du nicht."

Maomao streckte die Hand aus, um seine zu berühren, in der er den Becher hielt.

„Eure Hand zittert ein wenig, Eure Exzellenz. Passt bitte auf, dass Ihr den Wein nicht verschüttet." 

„Ah, ist gut..." Er trank einen Schluck. „Und ja, das habe ich. Ich habe in deinem Bett geschlafen. Es... ist einfach so passiert. Du hast zwar gesagt, dass du nicht wütend bist, aber... es tut mir trotzdem leid..."

Jinshi richtete seinen Blick wieder auf ihr Bein, welches immer noch auf seinem Schoß lag, und begann, es erneut gedankenverloren mit seinen warmen, langen Fingern zu massieren. Maomao fand, dass er aussah wie ein verlorenes Kind.

„Das muss es nicht, Herr. Ihr habt mich ja auch in Eurem schlafen lassen."

Danach herrschte Stille. Maomao leerte ihren Becher und schenkte sich erneut ein. Jinshi währenddessen hatte seinen kaum angerührt.

„Wie schade", dachte sie. „Und dabei ist es doch solch ein guter Wein."

„Ähm...", hörte sie plötzlich wieder seine Stimme.

„Was ist denn, Eure Exzellenz?"

„Nun... ich... denke, du hast Recht. Dass ich überfürsorglich bin, meine ich."

„Ach?"

Die Apothekerin war leicht verdutzt. Er gab es tatsächlich zu?

Er begann, mit dem Zeigefinger vorsichtig Kreise auf ihrem Bein zu zeichnen, und fuhr fort.

„Ja, du hast Recht. Aber weißt du... ich bin es nun mal nicht gewohnt, mich derart um jemand anderen zu sorgen. Das ist das allererste Mal und es ist alles neu für mich. Ich weiß nicht genau, wie ich damit umgehen soll."

Maomao starrte ihn ungläubig an. Sie hatten ja wirklich mehr gemeinsam als sie dachte!

„Und was ich dir an dem Tag gesagt habe, meinte ich ernst", murmelte er schließlich und sah ihr erneut ins Gesicht. „Sei vorsichtiger in Zukunft. Bitte."

Die Apothekerin erwiderte bloß seinen Blick, ohne eine Antwort zu geben. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm wirklich verraten sollte, dass, wenn sich ein ähnlicher Vorfall ereignen sollte, sie ihn auf jeden Fall erneut retten würde, selbst auf das Risiko hin, dass er danach einen Herzanfall erlitt. Dies war auch ein Grund, weshalb sie ihm das Versprechen, um das er sie während der Umarmung von vor einigen Tagen gebeten hatte, nicht hatte geben können. Und um ehrlich zu sein, konnte sie auch diesmal nicht erklären, wieso genau sie das tun würde. Vielleicht war es ja die Hoffnung, dass man ihr daraufhin noch einen seltenen medizinischen Wirkstoff versprach.

Oder auch nicht. Vielleicht war es ja auch etwas anderes. Etwas, worüber sie nun wirklich nicht nachdenken wollte.

Aber wie auch immer, dies sollte sie lieber für sich behalten, um ihn nicht schon wieder aufzuregen.

Welch ein Segen, dass Jinshi ihre Gedanken nicht lesen konnte!

Anstatt ihm mit Worten zu antworten, trank Maomao demnach weiter, rückte noch etwas näher zu ihm und lehnte sich schließlich an seinen Arm. In der Hoffnung, dass dies ausreichte, um ihn zu beruhigen und ihm zu verstehen zu geben, dass er sich wirklich keine Sorgen zu machen brauchte.

Sie spürte, wie sich sein Körper für einen Moment anspannte und dann wieder entspannte, und als Nächstes legte er seine Wange auf ihren Kopf. Maomao hatte nichts dagegen einzuwenden. Erneut wurde sie von seinem bereits bekannten und angenehmen Duft nach Sandelholz umhüllt und fühlte, wie sein langes Haar ihr leicht das Gesicht kitzelte.

Auch er blieb still. Doch Worte waren sowieso nicht nötig, denn die beiden haben auch so schon begriffen, dass sie einander verziehen hatten.

Es war einer dieser seltenen Momente, in denen sie sich auch ohne Worte verstanden.

Um sie herum war es ruhig und friedlich. Als würde die Welt außerhalb jener Gemächer stillstehen.

Notes:

Ich liebe es einfach, wenn Charaktere ehrlich zueinander sind und tatsächlich über ihre Probleme sprechen! Ich wünschte, Jinshi und Maomao würden das öfter machen im Kanon. Aber na ja, Jinshi will ja reden, aber Maomao weigert sich häufig, ihm zuzuhören...

So! Jetzt fehlt zu dieser Geschichte nur noch der Epilog! Der sollte nicht lang werden, also nehme ich an, dass ich den am Wochenende hochlade.

Chapter 20: Bleib bei mir! Epilog

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Es war eine ruhige, stille Nacht. Die einzigen Geräusche waren das Summen einiger Insekten und die leichte Brise, welche die Äste der Bäume bewegte und den Duft wohlriechender Blumen in der Luft verbreitete. Eine Nacht, als wäre sie direkt einem Liebesroman entsprungen.

Eine einsame Gestalt schritt feierlich unter dem weiten Sternenhimmel. Oder vielleicht doch nicht ganz so einsam: wenn man näher hinsah, konnte man erkennen, dass sie eine zweite, kleinere auf den Armen trug.

Ganz genau. Maomao befand sich tatsächlich erneut in Jinshis Armen und genau wie beim letzten Mal floss auch jetzt Blut aus der Wunde an ihrem Bein, beschmutzte ihren Rock und hinterließ kleine scharlachrote Tropfen auf dem Weg.

Und doch war es diesmal anders. Zum Beispiel waren keine Blicke auf sie gerichtet, denn die beiden waren ganz allein, umhüllt von der Dunkelheit der Nacht.

Dazu war Maomao auch noch putzmunter und alles andere als eine leblose Puppe. Genau wie es sein sollte.

Aktuell funkelte sie Jinshi böse an und hielt sich mit beiden Händen die Stirn, die Stelle, wo er ihr gerade eben eine Kopfnuss verpasst hatte.

Jinshi erwiderte jene bösen Blicke, es nicht einmal versuchend, seinen Ärger zu verbergen. Wieso sollte er auch? Es war sowieso sonst keiner da, also gab es keinen Grund für ihn, sich zu verstellen und seine Emotionen zu verstecken, so wie er es für gewöhnlich tat. Die Maske des würdevollen Adeligen wurde gerade nicht gebraucht und war von seinem Gesicht verschwunden.

Er kochte vor Wut. Ausgerechnet jetzt musste sie ihn nach diesem blöden Bezoar fragen! Und er hatte bereits geglaubt, es gehe tatsächlich um etwas Wichtiges, so wie sie sich vorhin benommen hatte! Aber wie es aussah, hatten sie und er vollkommen verschiedene Vorstellungen davon, was das Wort „wichtig" überhaupt bedeutete.

Und doch...

Und doch war dieses Verhalten so unfassbar typisch für Maomao, dass Jinshi losgelacht hätte, wäre er nicht so sauer darüber gewesen, dass sie (schon wieder) ihre Wunde vernachlässigte. Stattdessen gab er ein Schnauben von sich.

Die Mauer hochklettern, auf ihr tanzen, ihre Wunde wieder zum Aufbrechen bringen und sie dann auch noch selbst wieder zunähen wollen! Diese junge Frau war wirklich etwas! Etwas Besonderes! Der junge Adelige war sich sicher, dass er sein Leben lang keinem zweiten solchen Menschen begegnen würde.

Und dabei hatte er sie doch extra gebeten, vorsichtiger zu sein... Pah! Natürlich würde sie nicht auf ihn hören, was hatte er auch anderes erwartet? Schließlich war das Maomao!

Nein, diese Apothekerin würde sich niemals ändern, so viel war sicher.

Nicht dass er das tatsächlich wollte.

„Eines Tages wird sie mich echt noch ins Grab bringen, was?", dachte er. Und aus irgendeinem Grund amüsierte ihn diese Vorstellung ein wenig.

Doch trotzdem durchzog ein winziger Schauder seinen Körper, als er sich unweigerlich daran erinnerte, dass sie von jener Mauer gestürzt wäre, hätte er sie nicht noch rechtzeitig aufgefangen, und er drückte sie unbewusst noch etwas enger an sich. Warum musste sie ihn bloß immer wieder solche Ängste durchstehen lassen!?

Aber bevor sein noch immer leicht traumatisierter Verstand in Gedanken versinken konnte, wurde er erneut von ihrer Stimme abgelenkt.
 
„Seid Ihr sicher, dass Ihr ihn wirklich habt, Eure Exzellenz?" Sie hatte die Stirn gerunzelt und beäugte ihn misstrauisch.

Jinshi biss die Zähne zusammen. Er hatte sie wahnsinnig gern, doch ab und zu brachte sie ihn wirklich um den Verstand.

„Du kriegst deinen Bezoar, du kleine Nervensäge!", fuhr er sie schließlich an. Seine Stimme durchbrach die friedliche Atmosphäre der Nacht. „Hab einfach noch Geduld, in Ordnung? Ich breche meine Versprechen nicht, wie du bestimmt schon weißt! Und nennst MICH nervig, tsk..."

Er schnalzte gereizt mit der Zunge und blieb plötzlich stehen, sie noch ein wenig weiter hochhebend, auf seine Augenhöhe. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast und Maomaos Hände landeten auf seinen Schultern.
 
„Beantworte mir lieber mal eine Frage: was hättest du getan, wenn ich nicht erschienen wäre, hm? Bis zum Morgen auf dieser Mauer festgesteckt? Denn ich glaube nicht, dass du mit diesem Bein in der Lage gewesen wärst, ohne Hilfe wieder herunterzuklettern, selbst wenn du es geschafft hättest, die Wunde selbst zu nähen."

Keine Antwort. Bloß noch mehr böse Blicke.

Doch Jinshi ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern hielt ihnen eisern stand.

„Ach, du hast keine Ahnung? Überrascht mich nicht."

Letztendlich seufzte er und nahm einfach seinen Weg wieder auf, Maomao erneut an seine Brust drückend. Schließlich blutete ihre Wunde immer noch und musste behandelt werden. Zum Glück schien sie zumindest keine Schmerzen zu haben.

Maomao schaute weiterhin grimmig zu ihm auf, ohne ein Wort zu sagen, bis sich irgendwann ihre Augen leicht weiteten, als sie zusah, wie Jinshis Gesichtsausdruck sich auf einmal veränderte. Ihr eigenes Gesicht verriet nur zu deutlich, dass ihr dies überhaupt nicht geheuer war.

Und tatsächlich schien sein Zorn verraucht zu sein und wurde durch etwas ersetzt, was man am Besten als freches, verspieltes Grinsen bezeichnen konnte. Seine kindische Seite zeigte sich mal wieder.

„Ich glaube, ein gewisser Jemand hat für seine Unachtsamkeit noch eine kleine Strafe verdient, denkst du nicht auch?"

Der junge Herr achtete darauf, dass seine Stimme besonders zuckersüß klang, um Maomao zu necken.

Er sah, wie sie schluckte. Bestimmt machte sie sich auf eine zweite Kopfnuss gefasst.

Aber nein, für dieses Mal hatte er etwas ganz anderes vor!

„Das ist dafür, dass du mir schon wieder Sorgen bereitet hast!"

Und mit diesen Worten drückte er einen raschen Kuss auf ihre immer noch gerötete Stirn.

Für einen Augenblick starrte ihn die Apothekerin einfach nur verdutzt und sprachlos an. Dann jedoch legte sie die Hand auf ihre Stirn und begann, lautstark zu protestieren.

„Eure Exzellenz!"
 
„Hahahaha!"

Jinshis Gelächter war erfüllt mit Glück und Erleichterung, dass sie trotz ihrer erneut blutenden Wunde in Ordnung und immer noch dieselbe Maomao war.

Und als er sich schließlich beruhigt hatte, konnte der junge Herr nicht anders als sie sanft anzulächeln. Im Moment verspürte er eine solch tiefe, unfassbare Liebe zu ihr, dass ihm beinahe schon die Brust schmerzte.

Es stimmte, dass sie ihm ziemlich viel Ärger verursachte, doch schlussendlich wusste er, dass diese unglaubliche und niedliche junge Frau es wert war.

Sie war all die Mühe mehr als nur wert.

Er küsste sie erneut, diesmal auf die Wange.

Daraufhin ballte sie ihre kleinen Hände zu Fäusten und begann, mit ihrem gesunden Bein zu strampeln.

„Hey, Vorsicht! Zappel nicht so herum, sonst fällst du noch!"

Ja, sie war ohne jeden Zweifel am Leben und voller Energie. Und das war das, was zählte.

Notes:

Genau, es ist diese Szene. :) Ich hatte von Anfang an vor, diese Geschichte damit enden zu lassen, weil sie einen perfekten Kontrast zum ersten Kapitel darstellt.
Gut, nun ist diese Geschichte zu Ende, und ich werde mir eine Pause nehmen (zwei oder drei Wochen voraussichtlich, kann ich jetzt noch nicht sagen), um meine Ideen für die nächsten Geschichten „reifen" zu lassen und genauer zu planen.

Vielen Dank fürs Lesen!

Chapter 21: Du bist wirklich hier, Teil 1

Summary:

Jinshi war sich sicher: es gab einfach keine bessere Medizin auf der Welt als seine Apothekerin. Allein zu wissen, dass sie bei ihm war, beruhigte ihn und schenkte ihm den Glauben daran, dass alles gut werden würde. Er brauchte sie wirklich sehr.
Und irgendwann begriff er, dass auch er von Zeit zu Zeit für sie da sein musste.

Notes:

Ich bin zurück, liebe Leser! Zurück mit einer weiteren Geschichte voller Fluff! :)

Diesmal sollte es auch eine etwas längere werden und sie ist schon mehr oder weniger durchgeplant, aber noch kann ich nicht sagen, wie lang die Kapitel werden oder wie vele es überhaupt geben wird, denn plötzliche neue Ideen oder Änderungen können jederzeit aufkommen. :)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Es war Herbst. Zwar war die Luft immer noch einigermaßen warm, doch ein zunehmend kühler Wind blies bereits hier und da durch den kaiserlichen Palast von Li und trug das schöne farbenfrohe Laub mit sich, das von den Bäumen auf die Erde herabsegelte. Ehe man sich versah, würde auch schon der Winter vor der Tür stehen.

Genau solch eine frische Brise wehte gerade durch den Äußeren Palast und ließ den Rocksaum und die Ärmel einer gewissen Apothekerin flattern, welche mit einer für sie ungewohnt vergnügten Miene und einem Korb auf dem Rücken vor sich hinschritt.

Im besagten Korb befanden sich - wie sollte es auch anders sein - Heilkräuter, die sie mit einiger Mühe aufgespürt und mit großer Freude gepflückt hatte, dafür die freie Zeit nutzend, die man ihr freundlicherweise gewährt hatte.

Bedauerlicherweise hatte Maomao nicht wirklich viel erbeuten können, da Heilkräuter im Äußeren Palast eher rar waren (im Vergleich zum Inneren Palast, wo ihr Vater in der Vergangenheit wirklich ganze Arbeit geleistet hatte), sodass sie ihren Korb lediglich zur Hälfte voll bekommen hatte, aber immerhin war dies besser als nichts. Als Jinshis Dienerin hatte sie im Inneren Palast aktuell nun mal nichts verloren, also musste sie sich mit dem zufriedengeben, was sie in die Finger bekommen konnte.

Aber zufrieden war sie. Und wie! So zufrieden, dass sie sogar ein Liedchen summen könnte!

Sie tat einen tiefen Atemzug, den schwachen, jedoch immer noch wunderbaren Geruch der Kräuter im Korb einatmend.

Es war schon so viel Zeit vergangen, seit sie zuletzt in der Erde gewühlt und Pflanzen herausgezogen hatte, dass es ihr vor Sehnsucht bereits das Herz zerrissen hätte! Aber zum Glück hatte sie nun endlich welche entdecken können.

Vielleicht sollte sie irgendwann dem Beispiel ihres Vaters folgen und mal selbst ganz diskret welche pflanzen gehen, zumindest ein wenig, damit die Auswahl ein kleines bisschen größer wird. Schließlich wusste sie ja nie, wann sie einige frische brauchen könnte.

Mit dieser fabelhaften Idee im Hinterkopf führte sie ihren Weg fort. 

Oh, und möglicherweise sollte sie noch nach Pilzen Ausschau halten! Zu dieser Jahreszeit sollte es besonders viele geben. Bei dem Gedanken lief unserer Apothekerin das Wasser im Munde zusammen.

Tja, nur leider hatte sie diesmal keinen Quacksalber, den sie zu ihrem Pilz-Komplizen machen konnte, wie sie voller Enttäuschung feststellte. Diese Erkenntnis ließ sie den Kopf hängen wie ein trauriges Kätzchen.

Jinshi wäre da kein großes Hindernis, der würde bestimmt wieder ein Auge zudrücken, wenn sie ihm etwas abgab. Aber falls Suiren davon Wind bekommen sollte…

…dann könnte sich Maomao auf ein Donnerwetter gefasst machen, dessen Ausmaße sie sich nicht einmal vorstellen mochte.

Ein heftiger Schauder lief ihr das Rückgrat entlang und ließ sie den Kopf schütteln. Nein, der kurze Genuss war ein solches Risiko gewiss nicht wert. 

Aber zumindest hatte sie ihre Kräuter und die waren sowieso viel mehr wert als ein paar Pilze.

Ein breites Grinsen umspielte ihre Lippen, als sie sich bereits gedanklich ausmalte, was sie mit ihren Schätzen anstellen würde, sobald sie spätabends ihre ganzen Aufgaben als Dienerin erledigt haben und zu ihrem Zimmer zurückkehren würde. 

Zuerst mal in Bündel zusammenfassen und zum Trocknen aufhängen. Ja, genau! Aber so, dass sie möglichst nicht im ganzen Raum verteilt waren, damit sie keinen Ärger bekam. 

Ach, wäre es ihr doch nur gestattet gewesen, in den Stall zu ziehen! Dann hätte sie sich über so etwas keine Sorgen zu machen brauchen.

Aber das Leben war nicht immer gerecht. Obwohl sie zugeben musste, dass es sie in letzter Zeit eigentlich ziemlich gut behandelt hatte.

***

So vor sich hinsinnierend, erblickte Maomao irgendwann schließlich in einigen Dutzenden Metern Entfernung die Gestalt einer nur zu wohlbekannten „himmlischen Nymphe”.

Zuerst dachte sie sich nichts dabei, da sie aktuell ja in seiner Residenz lebte und seine Gegenwart mehr als nur gewohnt war, doch als sie etwas näher kam, fand sie eine Szene vor, welche sie leicht die Stirn runzeln ließ:

Jinshi stand mit dem Rücken zu ihr und befand sich in der Gesellschaft dreier Palastdamen, die er, so wie es aussah, nicht gerade zu genießen schien. Seiner Mimik und Gestik nach zu urteilen, versuchte er nämlich ganz deutlich, von ihnen wegzukommen, doch die aufdringlichen Damen ließen einfach nicht locker. Eine war sogar so dreist, dass sie versuchte, sich an seinen Arm zu klammern.

Maomao blieb stehen, um das Ganze mal zu beobachten. 

„Gar nicht so einfach, so schön zu sein, was?”, dachte sie und gab einen Seufzer von sich. „Mensch, aber sehen die wirklich nicht, wie aufgesetzt sein Lächeln ist? Er möchte ganz klar weg in Ruhe gelassen werden. Wie kann man nur so blind sein?”

Na, das sagte ja genau die Richtige.

Praktischerweise „vergaß” Maomao während ihrer inneren Schimpftirade die Tatsache, dass sie selbst oft genug nicht die Hellste war, wenn es darum ging, den jungen Adeligen zu verstehen. Um es mal milde auszudrücken. Aber na ja, von Zeit zu Zeit war sie dann doch überraschend scharfsinnig beim Erraten seiner Gedanken und Gefühle. So wie jetzt.

„Hm, na ja, aber ist ja nicht mein Problem.”

Die Apothekerin zuckte die Achseln und wollte bereits weitergehen und den jungen Herrn seinem Schicksal überlassen. Aber andererseits…

Andererseits hatte die erfolgreiche Kräuterernte ihre Laune derart gehoben, dass sie doch mal ausnahmsweise großzügig sein und Jinshi helfen könnte, sich diese Kletten vom Hals zu schaffen. Als kleiner Dank dafür, dass er ein solch guter Arbeitgeber war, sozusagen.

Also gut! Gesagt, getan!

Und so näherte sie sich ihnen, im Versuch, dabei so leise wie möglich zu sein, und blieb schließlich ein paar Schritte hinter Jinshi stehen. Einige Augenblicke später schienen die Damen sie bereits bemerkt zu haben und runzelten die Stirn. 

Eine öffnete auch schon den Mund, bestimmt, um zu fragen, was dieses magere, unscheinbare Ding hier verloren hatte.

Doch dazu kam es nicht. Bevor sie auch nur einen Laut über die Lippen bringen konnte, setzte Maomao einen ihrer berühmt-berüchtigten „bösen Blicke” auf, mit denen sie den dreien unmissverständlich mitteilte, dass ihre Gegenwart nicht erwünscht war.

Den Palastdamen wich all die Farbe aus den Gesichtern. Sie erstarrten auf der Stelle und suchten dann mit einem angsterfüllten Kreischen umgehend das Weite.

„Huch?”, kam es daraufhin von Jinshi. Er drehte sich verwirrt um und erblickte prompt Maomao, die wieder ihren gewohnten neutralen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte und sich kurz zum Gruß verbeugte. „Oh, Apothekerin. Weißt du vielleicht, wieso sie so plötzlich davongerannt sind? Sie sahen ja aus, als hätten sie ein Monster gesehen.” Er kratzte sich leicht am Kopf.

Maomao zuckte die Achseln.

„Keine Ahnung.”

„Ein Monster? Hach, wie gemein”, dachte sie. „Aber ich habe erreicht, was ich wollte, also was soll’s.”

Jinshi verbarg die Hände in den Ärmeln und schenkte ihr ein Lächeln. Eines, das diesmal definitiv echt war und jede Palastdame außer Maomao dazu bringen könnte, in Ohnmacht zu sinken.

„Nun gut, wie auch immer. Ich bin jedenfalls froh, dass sie endlich weg sind. Sag mal, wohin bist du denn unterwegs?”

„Ich habe Heilkräuter gepflückt, Eure Exzellenz, und wollte diese auf mein Zimmer bringen, bevor ich mich wieder meinen Aufgaben zuwende.”

Sein Gesicht hellte sich noch etwas stärker auf.

„Oh, das trifft sich aber gut. Ich wollte ebenfalls nach Hause, in meiner Schreibstube wartet noch eine ziemliche Menge Arbeit auf mich.” Bei diesen Worten verzog er für ein paar Augenblicke das Gesicht. „Was dagegen, wenn ich dich ein Stück begleite?”

„Nein, Herr.”

Na klasse. Das hatte sie nun von ihrer Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit. Maomao wollte sich gefälligst wieder ihren Tagträumen über ihre Kräuter hingeben, sie hatte nicht die geringste Lust auf Gesellschaft! Doch das durfte sie ihm logischerweise nicht verraten. Und außerdem konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass ihr etwas an seinem Verhalten leicht seltsam vorkam.

Und so führten die beiden ihren Weg schließlich gemeinsam fort.

***

Unterwegs versuchte Jinshi, der sich sichtlich freute, etwas Zeit mit seiner Apothekerin verbringen zu können, eine Unterhaltung zu beginnen, doch jede seiner Fragen wurde von Maomao mit einer einsilbigen Antwort oder einem bloßen „Hm” quittiert, während sie ihm ab und zu stirnrunzelnd Seitenblicke zuwarf. Sie schien tief in Gedanken versunken zu sein und ihm gar nicht so richtig zuzuhören.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus und beschloss nachzufragen, ihr die Hand auf die Schulter legend.

„Was ist denn heute los mit dir? Du bist ja noch schweigsamer als sonst. Hast du vielleicht etwas auf dem Herzen, wovon du mir gern erzählen würdest?” Die letzte Frage wurde von einem leisen Lachen begleitet, denn er war sich mehr als sicher, dass er darauf keine ernsthafte Antwort erhalten würde.

Umso größer war seine Verblüffung, als er die folgenden Worte vernahm:

„Habe ich.”

„Was!? Im Ernst!?”

Jinshi war so perplex, dass er sogar stehenblieb. Dies nutzte Maomao umgehend aus, um sich vor ihn zu stellen und eine Weile lang sein Gesicht genauestens zu betrachten, als ob sie etwas daran stören würde. Was ihn langsam nervös machte. Er schluckte.

„Apothekerin? W-Was…”

Doch sie ging nicht auf ihn ein.

„Würdet Ihr Euch bitte etwas zu mir beugen, Herr? Ich komme nicht ran”, bat sie ihn stattdessen aus heiterem Himmel. Sie hatte da einen Verdacht, den sie auf jeden Fall überprüfen musste.

„Eh?” Jinshi sah so aus, als verstünde er immer weniger, was vor sich ging. „Wo willst du rankommen?”

„Bitte, Eure Exzellenz.”

„Gut, in Ordnung.”

Immer noch leicht zögernd tat er wie geheißen und Maomao hob sofort die Hand und legte sie ihm auf die Stirn, die andere auf ihrer eigenen platzierend. Der junge Adelige lief auf der Stelle rot an, wagte es jedoch nicht, sich zu rühren.

„W-Was tust du denn da?”

Seine Frage ignorierend, biss Maomao die Zähne zusammen. Also hatten ihr Bauchgefühl und ihre Erfahrung als Apothekerin sie auch diesmal nicht getrogen. Ihr Magen zog sich leicht zusammen.

„Genau wie ich vermutet habe”, dachte sie, die Hand wieder von seiner Stirn nehmend und ihm in die immer noch leicht geweiteten Augen blickend. „Normalerweise wäre er auch mit zehn Palastdamen spielend und ohne Hilfe fertiggeworden.”

„Eure Exzellenz”, ergriff sie wieder das Wort. „Kann es sein, dass Ihr Euch nicht wohlfühlt? Eure Stirn ist etwas zu warm.”

„Nun”, meinte er, immer noch leicht aus der Fassung gebracht von ihrem Verhalten und ihrer Berührung. „Ich habe ein wenig Kopfschmerzen, das stimmt schon, aber sonst geht es mir wunderbar. Ehrlich.” 

Diese Behauptung wurde von einem lauten Niesen begleitet, das seine Worte prompt Lügen strafte.

Maomao sah ihn an, als wäre er ein Nachtfalter, der direkt vor ihrem Gesicht herumflatterte und dem sie am liebsten die Flügel herausgerissen hätte.

„Mit Fieber ist nicht zu spaßen, Herr”, erwiderte sie mit fester Stimme, als würde sie es mit einem uneinsichtigen Kind zu tun haben. „Ich würde Euch dringend raten, Euch so bald wie möglich hinzulegen und auszukurieren, bevor Ihr noch ernsthaft krank werdet.” 

Die Apothekerin vermutete, dass Jinshis Immunsystem durch die viele Arbeit und den Schlafmangel angeschlagen und er deshalb anfälliger für Krankheiten war. Schon mehrmals hatte sie ihn gebeten, mehr auf seine Gesundheit zu achten, aber der junge Herr wollte ja nicht auf sie hören. Bestimmt würde er ihr auch jetzt wieder eine Ausrede präsentieren.

Jinshi verschränkte die Arme und lachte leise, was ihr in dem Moment vorkam, als würde er sich über sie lustigmachen. Oder den Ernst der Situation nicht begreifen. Auf jeden Fall verletzte es ihren Stolz als Apothekerin.

„Das kann ich mir leider nicht leisten, Apothekerin, es wartet noch wichtige Arbeit auf mich.”

Maomao spürte, wie das Blut in ihren Adern zu kochen begann. Na bitte, was hatte sie gesagt?

„Wie oft muss ich Euch noch sagen, dass Eure Gesundheit wichtiger ist als die Arbeit?”, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Genauso oft wie ich dir noch sagen muss, dass du keine Sachen in den Mund nehmen sollst, die sich nicht für den menschlichen Verzehr eignen, nehme ich mal an”, konterte er, ebenfalls langsam die Geduld verlierend.

Maomao wusste nicht genau, was sie daraufhin entgegnen sollte, also presste sie ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und funkelte ihn so böse an wie sie nur konnte.

Jinshi hielt ihrem Blick stand und erwiderte ihn.

Beide waren so stur wie eh und je. Aber Jinshi hatte leider noch einen Vorteil: er war Maomaos Arbeitgeber und auch noch adelig, da konnte sie ihn schlecht herumkommandieren.

Und so gab sie ein Schnauben von sich und senkte schließlich den Blick, zu Boden starrend, um sein triumphierendes Lächeln nicht sehen zu müssen.

„Gut. Ihr habt gewonnen.”

Nach einer Weile sah sie aber doch wieder auf.

„Aber ich werde Euch vor dem Schlafengehen zumindest einen Erkältungstrunk vorbeibringen. Wenn Euch das recht ist, Herr.” 

Jinshi nickte lächelnd.

„Ist es. Du weißt ja, dass du meine Gemächer jederzeit betreten darfst und dort stets willkommen bist.”

Dies wusste Maomao allerdings. Zwar fand sie es etwas unvernünftig, dass er ihr, seiner Dienerin, die er gar nicht mal so lange kannte, so bedingungslos vertraute, schließlich hätte sie durchaus die Möglichkeit gehabt, ihn zu vergiften, wenn sie es nur gewollt hätte (Nicht, dass sie es tatsächlich wollte!), aber nun gut. Das war seine Entscheidung.

An der Residenz angekommen, trennten sich schließlich ihre Wege.

„Dann sehen wir uns später, Apothekerin”, verabschiedete sich der junge Adelige von ihr. „Und mach nicht so ein Gesicht, es gibt wirklich nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.”

Er tätschelte ihr sanft den Kopf und machte sich auf in Richtung Schreibstube.

Maomao stand noch eine Weile da und blickte ihm nach, sich die Hand zum Kopf führend, wo seine gerade noch gelegen war.

„Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste… aber sicher doch”, dachte sie genervt und ballte die Hände zu Fäusten. „Irgendwann werdet Ihr noch ernten, was Ihr gesät habt, Eure Exzellenz. Ich weiß es einfach.”

Wieso mühte sie sich eigentlich so mit ihm ab? Wenn ihm seine eigene Gesundheit so am Allerwertesten vorbeiging, dann konnte sie doch auch nichts daran ändern, warum versuchte sie es also überhaupt?

Ach, doch die Wahrheit war, dass Maomao es trotz ihrer harschen Worte und ihres Benehmens oft nicht übers Herz brachte, jemanden abzuweisen, der Hilfe brauchte. Vor allem medizinische. 

Und so schwor sie sich, dass Jinshi zumindest ihre Medizin einnehmen würde, selbst wenn sie ihm diese höchstpersönlich in die Kehle schütten müsste.

Aber natürlich hoffte sie, dass es nicht zu solch drastischen Maßnahmen kommen würde.

***

Als all ihre Aufgaben für den Tag erledigt waren, kehrte Maomao in ihr Zimmer zurück und begann, die Zutaten für ihren Erkältungstrunk vorzubereiten.

Der Korb mit den kürzlich gesammelten Kräutern stand derzeit in einer Ecke des Raums. Dann würden diese eben noch ein wenig länger warten müssen, es half ja nichts. Maomao nahm sich vor, sich mit ihnen zu befassen, sobald sie von ihrer Visite bei Jinshi zurückkommen würde. Der Uhrzeit nach zu urteilen, müsste er gerade sein abendliches Bad einnehmen und sich für die Nacht bereit machen. Die Apothekerin hoffte doch sehr, dass er angesichts seines Zustands wenigstens auf Überstunden verzichtete und zeitig schlafen ging. 

Aber bei diesem Kerl wusste man nie.

Und leider kam tatsächlich alles ganz anders als gedacht. 

Während die Apothekerin nämlich am Tisch saß und mit der Herstellung ihrer Arznei beschäftigt war, hörte sie plötzlich eilige Schritte draußen vor ihrem Zimmer und sah überrascht auf. Und schon wurde ihre Tür aufgestoßen und eine aufgebrachte Suiren trat ein.

„Xiaomao! Bitte komm schnell! Der junge Herr ist ganz plötzlich zusammengebrochen!”

Maomao biss zornig die Zähne zusammen, während sie hinter Suiren zu Jinshis Gemächern herhastete.

„Ich wusste es! Ich wusste doch, dass so etwas passieren würde!”, schimpfte sie in Gedanken. „Dieser Dummkopf… dieser verdammte Dummkopf…”

Notes:

Keine Ahnung, ob man's merkt, aber ich hab kürzlich meine Arbeitsweise beim Schreiben geändert:
All meine anderen Apothekerin-Geschichten wurden zuerst auf Englisch geschrieben und dann ins Deutsche übersetzt, aber diesmal hab ich beschlossen, es andersrum zu machen und gleich auf Deutsch zu schreiben, weil's doch einfacher für mich ist.

Chapter 22: Du bist wirklich hier, Teil 2

Chapter Text

Bei den Gemächern des „verdammten Dummkopfs” angekommen, öffnete Suiren hastig die Tür und trat zur Seite, um Maomao hineinzulassen. Das Allererste, was die Apothekerin erblickte, war der im Bett liegende junge Adelige und Gaoshun, der neben ihm stand und sogleich den Kopf in ihre Richtung drehte, als er sie eintreten hörte. Er war so gefasst wie immer, sah jedoch ebenfalls äußerst besorgt aus. Verständlich, war der junge Herr doch fast wie ein Sohn für ihn.

Lediglich das flackernde Licht einiger Kerzen erleuchtete den Raum, was die bedrückende Atmosphäre, die in der Luft hing, nur noch steigerte und die abendliche Dunkelheit dazu brachte, sich wie ein Stein auf die Seelen der Anwesenden zu legen. Ein Kohlebecken sorgte für eine angenehme Wärme und doch bemerkte Maomao, dass Jinshi unter der Decke zitterte, als stünde er barfuß unter einem eisigen Platzregen. 

„Gut, dass du da bist, Xiaomao.” Der Assistent kam ihr entgegen. „Könntest du ihn dir bitte ansehen?”

„Was ist genau passiert?”, erkundigte sie sich, sich dem Bett nähernd. „Dame Suiren sagte, er sei plötzlich zusammengebrochen.”

„So ist es. Er hat gerade sein Bad beendet und ich wollte mit ihm kurz noch, bevor er schlafen geht, die Arbeit für den morgigen Tag besprechen. Und als er sich dazu Richtung Couch begeben wollte, haben auf einmal seine Knie nachgegeben.”

„A-Apothekerin…”, brachte Jinshi mit kläglicher Stimme hervor, als er Maomao erblickte, und nieste. Doch sie schenkte ihm keine Beachtung, sondern legte stattdessen die Hand auf seine Stirn, sobald sie an seiner Seite angelangt war. Diese war, wie sie bereits erwartet hatte, so heiß wie ein Stück Metall unter einer gleißenden Sonne.

„Verstehe. Hat er sich auch nicht den Kopf angeschlagen?”, fragte sie Gaoshun.

„Nein, zum Glück nicht. Ich habe sofort gemerkt, dass er fiel, und ihn gerade noch rechtzeitig aufgefangen. Dann habe ich ihn ins Bett getragen.”

„Gut, dass Ihr da wart.” Maomao bewunderte Gaoshuns schnelle Reflexe. Sie war wirklich froh darum, denn eine Beule oder eine Gehirnerschütterung waren gewiss das Allerletzte, was Jinshi in seinem jetzigen Zustand noch gebrauchen konnte.

„Nun ist Euch das Lachen wohl endgültig vergangen, nicht wahr?”, dachte sie bitter, sich über ihn beugend. In ihren Gedanken lag weder Spott noch Schadenfreude - zwar war sie alles andere als eine Heilige, jedoch keineswegs der Typ Mensch, der sich am Leid anderer erfreute, egal welchen Groll sie gegen sie auch hegen mochte. Das Einzige, was sie in diesem Moment verspürte, war Zorn. Zorn auf Jinshis Sturheit und Leichtsinn, die der Grund für seinen Zusammenbruch waren. Wieso tat er sich all dies bloß an? Zu welchem Zweck?

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich von ihren persönlichen Gefühlen hinreißen zu lassen. Sie war in erster Linie Apothekerin und hatte gerade einen Patienten vor sich, den sie behandeln musste. Alles andere war im Moment zweitrangig. Die Leviten konnte sie ihm auch später noch lesen, wenn er sich wieder besser fühlte.

Jinshi blickte aus halbgeschlossenen Augen hilflos zu ihr auf. Sein auf dem Kissen ausgebreitetes Haar war stellenweise immer noch leicht feucht vom Bad und die Wangen knallrot vom Fieber. Dazu atmete er keuchend und durch den Mund, bestimmt, weil seine Nase verstopft war.

Aktuell hatte er wirklich nichts mit dem Jinshi gemein, dem sie erst vor wenigen Stunden begegnet war.

Jedoch…

„Mist! Selbst wenn er krank ist, wirkt er noch wie ein wandelndes Pheromon”, konnte Maomao sich den Gedanken nicht verkneifen.

Wie er da so im Bett lag mit jenem Ausdruck auf seinem umwerfenden Gesicht, über welches vereinzelte Schweißtropfen liefen, der Röte und der unordentlichen Schlafbekleidung, nahm die Apothekerin an, dass eine beachtliche Anzahl von Menschen beider Geschlechter bei seinem Anblick den Wunsch verspüren würde… gewisse Dinge mit ihm anzustellen. Gut, dass sich außer ihnen Vieren niemand sonst im Raum befand. So schön zu sein, war wahrlich mehr Fluch denn Segen…

Sie drehte sich zu Gaoshun und Suiren, die nun nebeneinander standen und beunruhigt auf ihre Diagnose warteten.

„Also, Eines kann ich Euch definitiv schon verraten: was auch immer Ihr mit ihm besprechen wolltet, arbeiten wird er morgen ganz bestimmt nicht”, sagte Maomao ruhig, aber bestimmt.

Der Assistent und die oberste Zofe nickten.

„Das versteht sich von selbst”, antwortete Gaoshun. „Die Arbeit kann warten. Was jetzt Priorität hat, ist die Genesung des jungen Herrn.”

„Na wenigstens Einer, der es kapiert”, dachte Maomao und wendete sich wieder Jinshi zu, um ihn zu untersuchen.

„Öffnet bitte den Mund und streckt die Zunge heraus, Herr.”

Er gehorchte, und sie sah sich seine Zunge und seinen Rachen an, so gut wie sie es in dem schwachen Licht vermochte. Dann streifte sie wortlos die Decke von seinem Oberkörper und zog sein Schlafgewand etwas auseinander, um einen Teil seiner Brust zu entblößen, was Jinshi noch etwas heftiger erzittern und die Hände zu Fäusten ballen ließ, als seine bloße Haut mit der Luft in Berührung kam.

Schließlich drückte die Apothekerin ihr Ohr an verschiedene Stellen seiner Brust und versuchte, so gut es ging, seine Lunge abzuhören. Dabei bat sie ihn, tiefe Atemzüge zu machen und dann ein paar Mal zu husten. Jinshi zuckte bei jeder ihrer Berührungen kurz zusammen und weitete die Augen, ließ sie jedoch gewähren, ohne einen Laut des Protests von sich zu geben.

Kein Rasseln. Na wenigstens etwas.

„Habt Ihr Schmerzen beim Husten?”, erkundigte sie sich, sich wieder aufrichtend.

Jinshi schüttelte den Kopf.

„Gut.” Maomao deckte ihn wieder zu.

„Und, Xiaomao?” Suiren kam voller Sorge näher.

„Soweit ich sehe, ist es tatsächlich nur eine Erkältung”, antwortete die Apothekerin, sich eine Hand zum Kinn führend. „Aber daraus kann sich immer noch eine Bronchitis oder eine Lungenentzündung entwickeln, also ist es noch etwas zu früh, um erleichtert aufzuatmen.”

„Natürlich hat er auch früher schon Erkältungen gehabt, vor allem als Kind, ist aber bis jetzt noch nie davon zusammengebrochen, deshalb habe ich es schon mit der Angst zu tun bekommen.” Suiren lächelte sie an. „Wie gut, dass wir dich hier haben.”

Ohne dass die Apothekerin es zu sagen brauchte, tauchte die gewissenhafte oberste Zofe ein Tuch in kühles Wasser, wrang es aus und legte es dem jungen Herrn auf die Stirn. Dieser seufzte leise, als es mit seiner Haut in Berührung kam. Bestimmt fühlte es sich gut an auf seiner erhitzten Stirn und dem sicherlich stark schmerzenden Kopf.

„Überhaupt ist es nur deshalb so schlimm geworden, weil ein gewisser Jemand nicht auf mich gehört und seinen bereits angeschlagenen Körper zu sehr strapaziert hat. Und das heiße Bad hat seinem Kreislauf dann den Rest gegeben.” Maomao funkelte ihren Patienten böse an, der immer noch kein Wort erwiderte. Tja, so ganz gelang es ihr wohl doch nicht, ihren Ärger zu unterdrücken. Dann seufzte sie jedoch resigniert. „Aber nun gut. Was geschehen ist, ist geschehen. Jetzt muss er sich jedenfalls auf seine Genesung konzentrieren. Er braucht viel Schlaf und am Besten mehrere Tage Bettruhe, damit sein Körper die Krankheit effektiv bekämpfen kann.”

Ohne eine weitere Erklärung hinzuzufügen, drehte sie sich als Nächstes um und begab sich Richtung Tür.

„Gehst du… e-etwa… schon?”, hörte sie Jinshi hinter sich mit leicht belegter Stimme herausbringen und dann husten.

„Nur, um Eure Medizin zuzubereiten. Bin gleich wieder da, Eure Exzellenz.”

Und verließ schließlich den Raum.

***

In ihrem Zimmer angekommen, warf Maomao einen flüchtigen Blick auf ihren immer noch in der Ecke stehenden Korb mit Kräutern und setzte sich hastig an ihren Tisch, um sich wieder der vorhin angefangenen Erkältungsmedizin zuzuwenden.

Im Raum herrschte vollkommene Stille, denn die Apothekerin arbeitete allein und ohne einen Laut von sich zu geben, sich ganz auf ihre Tätigkeit konzentrierend, während ihr Schatten durch das Licht der auf dem Tisch brennenden einzigen Kerze an die Wand projiziert wurde. Jede ihrer Handbewegungen war routiniert, gelernt, man merkte sofort, dass sie so etwas längst nicht zum ersten Mal machte. Fast wirkte sie so, als befände sie sich nicht im kaiserlichen Palast, sondern in der Apotheke ihres Vaters, welche alljährlich von Erkältungspatienten gestürmt wurde, sobald die kalte Jahreszeit begann.

Maomao beeilte sich so gut sie konnte, denn sie wollte es unbedingt vermeiden, dass Jinshi genug Zeit bekam, um einzuschlafen, bevor sie zurückkehrte. Sie würde ihn nur ungern aufwecken müssen, um ihm die Medizin zu verabreichen. Schlaf war nämlich genau das, was er brauchte, und da wäre es äußerst unvorteilhaft, ihn dabei zu stören.

Als der Erkältungstrunk fertig war, füllte sie ihn in eine kleine Schale und den Rest für spätere Anwendungen in eine Flasche um, und begann als Nächstes, rasch Zutaten für eine Salbe herauszusuchen, welche dem jungen Herrn beim Atmen helfen sollte. Ein abschwellendes Mittel, sozusagen.

„Kampfer, Minze... und noch Lavendel- und Rosmarinöl für eine beruhigende Wirkung", murmelte sie, verschiedene Fläschchen und Päckchen auf den Tisch stellend.

Etwa eine Viertelstunde später war auch die Salbe fertig und Maomao gab sie ebenfalls in eine Schale. Dann nahm sie sich ein Tablett, stellte beide Schalen darauf, legte noch einen Löffel dazu und lief zurück zu Jinshi.

***

Mit Erleichterung feststellend, dass der junge Adelige noch wach war, stellte Maomao das Tablett auf dem Bett ab und zog sich einen Stuhl heran, um neben ihm Platz zu nehmen.

„Benötigst du Hilfe, Xiaomao?”, erkundigte sich der stets aufmerksame Gaoshun, der immer noch treu neben dem Bett stand und auf Anweisungen wartete.

Maomao warf ihm einen kurzen Blick zu. 

„Das tue ich tatsächlich, vielen Dank. Könntet Ihr ihm bitte beim Aufsitzen helfen und ihn festhalten? Ich muss ihm die Medizin verabreichen und wenn er sie im Liegen einnimmt, könnte er sich verschlucken.”

„Selbstverständlich.”

Der Assistent tat wie geheißen, fasste seinen Herrn unter den Armen und zog ihn behutsam in eine Sitzposition hoch. Währenddessen nahm Maomao die Schale mit dem Erkältungstrunk in die eine und den Löffel in die andere Hand.

„Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr aktuell in der Lage seid, aus der Schale zu trinken, Eure Exzellenz, deshalb werde ich Euch die Medizin vorsichtshalber löffelweise einflößen", erklärte sie dem jungen Adeligen seelenruhig und tauchte den Löffel in die Arznei. „Und nun macht bitte schön den Mund auf."

„G-Gut…”

Jinshi gehorchte ohne Widerworte. Zwar verzog er bei jedem Löffel das Gesicht und musste auch ab und zu würgen, doch schluckte alles brav bis auf den letzten Tropfen herunter.

„Ja, ziemlich bitter, ich weiß”, sagte Maomao während der ganzen Prozedur mit einem leicht gereizten Unterton. „Aber da müsst Ihr jetzt durch, Eure Exzellenz. Seht es als Strafe für Euren Leichtsinn an.” 

Sie wusste, dass der Geschmack stark genug war, um ihn auch mit verstopfter Nase wahrzunehmen, aber daran ließ sich eben nichts ändern. Medizin musste nicht unbedingt gut schmecken, um zu wirken.

Doch am Ende erbarmte sie sich seiner und half ihm dabei, den unangenehmen Geschmack mit etwas Wasser herunterzuspülen, welches Suiren inzwischen gebracht hatte, ihm danach mit einem Taschentuch einige danebengelaufene Tropfen von den Mundwinkeln und vom Kinn wischend.

„So, das hätten wir erstmal", meinte sie. „Im Moment sollte dies reichen und es müsste Euch schon bald etwas besser gehen. Ich habe noch mehr davon vorbereitet und werde Euch morgen früh noch eine weitere Dosis einflößen. Oder, falls nötig, auch in der Nacht, falls es doch nicht besser werden sollte." 

Danach nahm sie die zweite Schale in die Hand und stand vom Stuhl auf.

„Und nun werde ich noch eine Salbe auftragen, die Euch das Atmen erleichtern soll." Sie warf Gaoshun, der Jinshi immer noch geduldig festhielt, einen Blick zu. „Und dazu muss ich Euren Oberkörper freimachen."

Der Assistent verstand und half ihr dabei, seinen Herrn bis zum Bauchnabel zu entblößen. Dieser begann wieder stark zu zittern und seinen Mund zu verziehen.

„Ka... Kalt..."

„Ich weiß. Ertragt es", bemerkte Maomao trocken und tauchte einige Finger ihrer rechten Hand in die Salbe. Dann begann sie ihm damit gründlich die Brust einzureiben. Schon bald erfüllte der Duft nach Lavendel und Rosmarin die Umgebung.

Sie war dermaßen in ihre Tätigkeit vertieft, dass sie überhaupt nicht merkte, dass Jinshi noch etwas stärker errötete, während er trotz seines leicht getrübten Verstandes jede ihrer Bewegungen aufmerksam beobachtete. Und selbst wenn sie es gemerkt hätte, hätte sie es bestimmt bloß auf sein Fieber geschoben. 

Aber diejenige, die es sehr wohl merkte, war Suiren. Die oberste Zofe, die sichtlich ruhiger geworden war, seit sie gehört hatte, dass ihr junger Herr an keiner schweren Krankheit litt, führte sich die Hand zum Mund und lachte leise in sich hinein, während sie sich entfernte, um noch etwas Wasser für die Apothekerin zu holen.

Maomao rieb ihm auf dieselbe Art und Weise noch den Rücken ein.

„So, fertig. Und jetzt solltet Ihr schlafen", meinte sie und konnte nicht anders, als Jinshi ein wenig die Schulter zu tätscheln, bevor sie sich wieder auf den Stuhl setzte und schließlich ihre Finger im von Suiren gebrachten Wasser reinigte. Ja, trotz allem tat er ihr doch ein bisschen leid. Schließlich war sie ja kein Unmensch. Und außerdem war sie sich sicher, dass ihm dies eine Lektion gewesen war und er seinen Fehler inzwischen eingesehen hatte. Oder zumindest hoffte sie das.

Gaoshun kleidete Jinshi wieder an, legte ihn vorsichtig hin und deckte ihn zu. Dieser drehte den Kopf zu Maomao.

„Apothekerin..."

Sie sah auf.

„Ja, Herr? Braucht Ihr noch etwas?"

Er blickte sie fast schon flehentlich an und streckte dann eine seiner zitternden Hände aus, sie auf die Hand der Apothekerin platzierend, welche auf ihrem Schoß lag.

„Bleibst du noch etwas... bei mir?"

Er klang wie ein kleiner Junge, der Angst vor der Dunkelheit hatte.

Maomao war zuerst leicht erstaunt und hob eine Augenbraue, doch dann seufzte sie.

„Meinetwegen, Eure Exzellenz."

Sie nahm ihre Hand nicht weg. Auch dann nicht, als er vorsichtig begann, mit dem Daumen über ihre Finger zu streicheln, bis seine Augen sich schlossen..

***

Einige Minuten später sank Jinshi schließlich in einen tiefen Schlaf, seine Hand immer noch auf Maomaos liegend.

Als Gaoshun sah, dass er nicht mehr gebraucht wurde, verabschiedete er sich und begab sich zu seinen eigenen Gemächern, und Maomao saß immer noch auf dem Stuhl und sah schweigend zu, wie Jinshis Brust sich im gleichmäßigen Rhythmus hob und senkte. Sie hoffte wirklich, dass der junge Herr so bis zum nächsten Morgen durchschlief. Im Moment hatte sie alles für ihn getan, was sie konnte.

Währenddessen bereitete Suiren Ersatzkleidung für den jungen Herrn vor, falls dieser nachts zu sehr schwitzte und umgezogen werden müsste. Sie lächelte die Apothekerin an.

„Du solltest schlafen gehen, Xiaomao. Bestimmt hast du einen langen Tag hinter dir und bist erschöpft. Mach dir keine Gedanken, ich rufe dich schon, wenn du gebraucht wirst.”

Maomao sah zuerst sie an und dann erneut den ruhig schlafenden Jinshi. 

„Ihr habt Recht", meinte sie dann nach einer Weile. „So wie er jetzt schläft, ergibt es tatsächlich keinen Sinn für mich, hier sitzen zu bleiben und über ihn zu wachen."

Sie befreite sich vorsichtig aus seinem Griff und legte seine nun schlaffe Hand auf das Bett zurück, bevor sie aufstand, das Tablett mit den leeren Schalen nahm und sich Richtung Tür begab.

„Bitte holt mich, sobald er aufwacht. Auch wenn es mitten in der Nacht ist."

„Das werde ich.”

***

Maomao zog sich rasch um, blies die Kerze auf ihrem Tisch aus und ließ sich dann rücklings auf ihr Bett fallen, die Hände hinter dem Kopf verschränkend. Die Nacht war bereits angebrochen und fahles Mondlicht schien durch das Fenster hinein.

„Hach, bin ich müde”, dachte die Apothekerin gähnend und drehte den Kopf in die Richtung ihrer Kräuter, welche sich immer noch an Ort und Stelle befanden. „Schlussendlich bin ich doch nicht dazu gekommen, sie vor dem Schlafengehen zum Trocknen aufzuhängen. Na gut, dann hoffentlich morgen." Sie seufzte resigniert, drehte sich auf die Seite und deckte sich zu. „Aber jetzt sollte ich wirklich schlafen, wer weiß, wann Dame Suiren mich holen kommt."

Im Moment sollte die Dosis, die sie Jinshi verabreicht hatte, jedoch reichen. Zumindest war er, wie sie mit eigenen Augen gesehen hatte, friedlich eingeschlafen, da war es sehr gut möglich, dass die Medizin bis zum Morgen wirken würde. Wünschenswert wäre es auf jeden Fall.

Der junge Herr wird bestimmt in wenigen Tagen genesen und wieder zu der gewohnten himmlischen Nymphe werden, da war Maomao sich sicher. Obwohl die Tatsache, dass er vorhin zusammengebrochen war... zugegebenermaßen doch ein wenig beunruhigend war.

Die Apothekerin drehte sich verärgert auf den Bauch. Ach was, das hatte er sich ganz allein zuzuschreiben! Bei Fieber ein heißes Bad zu nehmen! Also wirklich! Geschah ihm ganz recht!

Eine Lungenentzündung hatte er, den Geräuschen seiner Lunge beim Abhören nach zu urteilen, jedenfalls glücklicherweise nicht. Aber das hieß nicht, dass er sie nicht noch bekommen könnte. Da musste man aufpassen.

Maomao nahm sich vor, ihn am nächsten Morgen noch einmal abzuhören.

Sie drehte sich auf den Rücken und begann mürrisch Richtung Decke zu starren.

So wie Jinshi mit sich selbst umging, brauchte er sich auch nicht zu wundern, wenn er krank wurde. Zwar hatte sie mittlerweile eingesehen, dass er ein ziemlich hohes Amt bekleiden musste, konnte aber trotzdem nicht begreifen, wieso er sich das alles antat. Dieser Papierkram, an dem er ständig saß, war es doch nicht wert, sich dafür zugrunde zu richten! Sie verstand ihn nicht. Kein bisschen. Wenn er so weitermachte, würde ihm eher kein langes Leben beschert sein...

Sie hatte doch selbst davon gehört. Von Menschen, die sich zu Tode arbeiteten. Die eines Tages einfach umfielen und nicht mehr aufstanden...

Maomao gab einen weiteren Seufzer von sich und setzte sich auf.

„Im Moment habe ich jedoch eine andere Frage", murmelte sie. Dann nahm sie ihr Kissen und drückte es sich ans Gesicht.

„Warum kann ich einfach nicht aufhören, an ihn zu denken!?", schrie sie in das Kissen hinein, von ihrem eigenen Gefühlsausbruch überrascht. „Es geht mich doch nichts an, was er mit seinem Körper anstellt! Wenn er sich seine Gesundheit so dringend ruinieren und sich so früh wie möglich ins Jenseits begeben will, dann soll er es doch machen! Mit mir hat das jedenfalls nichts zu tun! Ich erledige hier bloß meine Arbeit, verdammt!"

Schwer atmend und vor Zorn kochend, schmiss sie das Kissen auf das Bett zurück und raufte sich frustriert die Haare. Dann umschlang sie ihre Knie und atmete tief durch, sich zur Beruhigung zwingend und versuchend, zu ihrer gewohnten Gelassenheit zurückzukehren. Mit mäßigem Erfolg.

Nein, so war an Schlaf ganz bestimmt nicht zu denken.

Maomao hatte keine Ahnung, über wen sie sich mehr ärgerte: den unvernünftigen Jinshi oder eher über sich selbst für das Verschwenden wertvoller Schlafenszeit.

„Nein, wirklich, wieso tue ich das? Wieso denke ich ohne Ende an ihn? Ich habe ihm das gleiche Mittel gemacht, wie all den anderen Patienten auch, die mit einer Erkältung Paps’ Apotheke aufgesucht haben. Ich weiß doch, dass es wirkt."

Diesmal schwang nicht nur Gereiztheit, sondern auch Erstaunen in ihrer Stimme mit.

Ehrliches Erstaunen. Denn das war das allererste Mal, dass sie sich um einen Patienten solche Gedanken machte, und sie hatte keine Ahnung, wieso. Was unterschied ihn von den anderen?

Zwar war Maomao mit einer unbändigen Neugier gesegnet und liebte Rätsel, doch wenn es um Gefühle ging, fühlte sie sich ihnen ab und zu hilflos ausgeliefert.

Nein, nicht irgendwelche Gefühle. Sondern ihre eigenen.

Maomao blickte stirnrunzelnd auf ihre Hand, auf welche Jinshi vorhin seine gelegt hatte, bevor er eingeschlafen war. Seine große, etwas kühle Hand, die ihre Finger sanft gestreichelt und nach einigen Minuten aufgehört hatte zu zittern...

Sie tat einen erneuten tiefen Atemzug, stand auf, zog sich wieder um, nahm die Flasche mit der restlichen Erkältungsmedizin und den Löffel und verließ letztendlich das Zimmer.

Wem wollte sie hier eigentlich etwas vormachen? Dieser dickköpfige Trottel war ihr ganz offensichtlich nicht egal.

Wenn er ihr egal wäre, würde sie jetzt schlafen wie ein Stein.

***

Suiren sah kurz verwundert auf, als sich die Tür zu Jinshis Gemächern öffnete, lächelte dann aber, als sie sah, wen es zu so später Stunde dorthin verschlagen hatte.

„Lass mich raten: du konntest nicht schlafen und bist stattdessen gekommen, um nach dem jungen Herrn zu sehen, nicht wahr?"

Maomao gab ein Murren von sich, welches wohl als ein „Ja" aufgefasst werden sollte.

Chapter 23: Du bist wirklich hier, Teil 3

Notes:

Dieses Kapitel ist tatsächlich kürzer als das vorherige, aber doch länger geworden als gedacht :)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Ohne auch nur ein Wort der Erklärung für ihr Zurückkommen zu liefern, begab Maomao sich schnurstracks zum Bett des jungen Adeligen. Sie brauchte aber auch überhaupt nichts zu erklären, denn Suiren hatte ihre Beweggründe bereits selbst erraten, mit einer solchen Genauigkeit, als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte. Maomao fragte sich, ob sie tatsächlich so leicht zu durchschauen war. Na ja, wie auch immer.

Sich ihren Zorn von vorhin nicht anmerken lassend, stellte die Apothekerin die Flasche mit der Medizin auf den kleinen Tisch in der Nähe des Bettes ab, legte den Löffel dazu und näherte sich schließlich Jinshi.

Dieser lag immer noch genauso da, wie sie ihn vorhin zurückgelassen hatte, und schlief tief und fest, dabei wegen seiner verstopften Nase leichte Pfeifgeräusche von sich gebend. Aber dank der Salbe schien ihm das Atmen tatsächlich etwas leichter zu fallen. Maomao war froh, dass sie alle Zutaten dafür parat gehabt hatte und sie auf die Schnelle hatte anrühren können.

Sie nahm sich vor, Jinshi am nächsten Tag eine Mischung aus kochendem Wasser, Kamillenblüten und Salz zuzubereiten und ihn den Dampf inhalieren zu lassen, um seine Nase wieder frei zu bekommen. Aber dafür müsste erst einmal sein Fieber sinken.

„Wie geht es ihm? Ist während meiner Abwesenheit etwas vorgefallen?", sprach sie endlich und legte die Hand auf seine Stirn. Mit Erleichterung feststellend, dass diese bereits etwas weniger glühte.

„Nein, nichts, wie du siehst, schläft er immer noch ruhig. Deine Medizin wirkt wirklich wunderbar, Xiaomao.”

„Na kein Wunder, ist ja auch Paps' Rezeptur", dachte Maomao, mit Stolz an ihren Adoptivvater Luomen denkend, der ihr alles beigebracht hatte, was sie wusste.

„Ich habe den Rest mitgebracht”, sagte sie. „Dieser sollte noch für zwei oder drei Dosen reichen und dann werde ich Nachschub herstellen.”

Suiren stellte einen Krug mit frischem Wasser neben Maomaos Medizin. Für einige Augenblicke herrschte Schweigen.

„Sehr gut. Und jetzt, da du dich vergewissert hast, dass sich der Zustand des jungen Herrn nicht verschlechtert hat, kannst du ja wieder schlafen gehen, nicht wahr, Xiaomao?"

Als Antwort zog sich Maomao wieder einen Stuhl heran und nahm neben dem Bett Platz.

Suiren weitete zuerst etwas erstaunt die Augen, doch dann lächelte sie wissend.

„Oh, möchtest du etwa bei ihm bleiben?”

Maomao sagte immer noch nichts. Sie warf der obersten Zofe bloß einen Blick zu, der in deren Augen wohl mehr verriet als tausend Worte.

„Verstehe. Ich bin mir sicher, dass er sich sehr freuen wird, dich gleich beim Aufwachen zu sehen.”

***

Die Minuten vergingen in fast vollkommener Stille. Es war eine ruhige, friedliche Nacht, während der der Mond am leicht bewölkten Himmel stand und in Jinshis Gemächer hineinschien, in denen immer noch einige Kerzen brannten und die beiden schlafenden Gestalten im Raum zusammen mit dem Mond in ein sanftes Licht badeten.

Maomao neigte gefährlich weit nach vorn und war kurz davor, vom Stuhl zu fallen, auf dem sie immer noch saß, schlug dann aber die Augen auf, als Jinshi sich im Schlaf auf den Rücken drehte und die Nase hochzog. Sie brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie war.

„Bin ich also doch eingenickt", dachte sie, sich die müden Augen reibend und gähnend. „Kein Wunder nach einem solchen Tag." Sie gab ein mit leichtem Ärger durchsetztes Seufzen von sich. „Letztendlich habe ich mir sehr wohl zu viele Gedanken gemacht und sinnlos Zeit vergeudet. Ich wusste, ich hätte im Bett bleiben sollen." Zwischen ihren Augenbrauen erschien eine kleine Falte. „Aber zu spät, um sich darüber zu ärgern. Daran lässt sich auch nichts mehr ändern."

Suiren hatte sich eine Weile nach Maomaos Rückkehr aus dem Raum zurückgezogen mit der Erklärung, dass sie die beiden jungen Leute nicht stören wollte. Maomao begriff nicht ganz, was sie damit gemeint hatte (Jinshi war zu dem Zeitpunkt nämlich der Einzige gewesen, der geschlafen hatte, und den störte Suiren ganz gewiss nicht), aber sie beschloss, nicht nachzufragen.

Und so befanden sie und der junge Herr sich nun seit einiger Zeit ganz allein in seinen Gemächern.

Die Apothekerin stand auf, streckte sich ein wenig und richtete ihren Blick dann auf den jungen Adeligen im Bett. Dabei stellte sie fest, dass seine Decke ein wenig heruntergerutscht war und ein etwas stärkeres Zittern durch seinen Körper ging. Also rückte sie diese wieder zurecht und besah sich kurz sein Gesicht.

Dann schnalzte sie mit der Zunge und zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel hervor, Jinshi vorsichtig die gerötete Nase säubernd, aus der ein dünner Rotzfaden lief und im schwachen Licht glänzte. 

„Hach, wie ein kleines Kind…”

Ja, eine Inhalation wäre wahrlich nicht schlecht. Und heißer Ingwer. Der würde ihn von innen aufwärmen und auch bei der Senkung des Fiebers unterstützen.

Darüber dachte Maomao nach, während sie sich wieder hinsetzte, die Arme verschränkte und weiterhin schweigend den schlafenden Jinshi beobachtete. Nach einer Weile gähnte sie erneut und drehte den Kopf zum Fenster, sich überlegend, wie viele Stunden wohl noch bis zum Morgengrauen geblieben waren.

„Wenn ich schon hier sitze, kann ich mich auch mit etwas beschäftigen.”

Daraufhin fiel ihr ein, dass einer ihrer Röcke einen Riss hatte. Zwar hatte sie sich von Suiren Nadel und Faden geliehen, um ihn zu flicken, aber bisher leider nicht die Zeit gefunden, sich damit zu befassen, sodass es in Vergessenheit geraten war.

Na das war doch die perfekte Gelegenheit! Sie würde bloß aufpassen müssen, sich nicht in den Finger zu stechen, da das Nähen bei dem Licht und ihrer Müdigkeit zu einer kleinen Herausforderung werden würde. Aber Maomao war zuversichtlich, dass sie es hinbekommen würde. Wäre ja nicht das erste Mal.

Und falls Jinshi danach immer noch schlief, könnte sie bis zu seinem Erwachen möglicherweise selbst noch etwas schlafen. Auf dem Stuhl, wohlgemerkt. Ja, ganz genau: sie dachte gar nicht erst daran, zum Schlafen in ihr Zimmer zurückzukehren, da sie aus unerfindlichen Gründen die dumpfe Vorahnung hatte, dass sie dort erneut keine Ruhe finden und nach kurzer Zeit schon wieder in Jinshis Gemächern landen würde.

Wie sinnlos und dämlich das ihrer Meinung nach auch klingen mochte.

Die Apothekerin schüttelte den Kopf. Irgendwie schien Jinshis Unvernunft in letzter Zeit leicht auf sie abzufärben. Kam wohl davon, wenn man in derselben Residenz lebte und es tagtäglich miteinander zu tun hatte.

Sie stand auf und steuerte die Tür an, um die zum Nähen benötigten Sachen aus ihrem Zimmer zu holen.

Jedoch merkte sie beim Verlassen des Raumes nicht, dass Jinshi im Schlaf die Fäuste geballt und das Gesicht verzogen hatte.

Einige Tränen liefen aus seinen Augen und durchtränkten das Kissen.

***

In einer dunklen, stillen Ecke seiner Gemächer auf dem Boden sitzend, hob Jinshi träge den Kopf und blickte mit erschöpften Augen und leicht geöffnetem Mund Richtung Fenster. Die Sonne war gerade dabei aufzugehen und die Welt in ein warmes, orangefarbenes Licht zu tauchen.

Ein weiterer Tag hatte begonnen. Ein weiterer Tag ohne Maomao. Ein weiterer Tag unerträglicher Qualen.

Niemals enden wollenden Qualen, die ihn nicht einmal für einen Moment in Frieden ließen.

Einige Tropfen des in der vergangenen Nacht gefallenen heftigen Regens fielen immer noch vom Rande des Daches und liefen das Fensterglas herab. Genau wie Jinshis Tränen in jener Nacht seine Wangen entlanggeflossen waren. Und in der davor. Und in der davor genauso.

So viele schlaflose oder mit Albträumen versetzte Nächte, von denen die dunklen Ringe unter seinen Augen Bände sprachen.

Es schien fast so, als wolle jener Regen draußen den aktuellen Gemütszustand des jungen Adeligen veranschaulichen. Ihm sein Mitgefühl ausdrücken. Oder ihn möglicherweise sogar auch verhöhnen.

Was auch immer es war, Jinshi wollte nichts davon sehen. Er drehte den Kopf weg und richtete seinen Blick wieder auf den Boden. Es war ihm mittlerweile vollkommen egal geworden, ob die Sonne aufging oder nicht. Ohne Maomao war seine Seele sowieso in einer undurchdringlichen Finsternis gefangen, da würde es auch keinen großen Unterschied mehr machen, falls für immer Nacht herrschen sollte.

Der junge Mann wirkte mittlerweile wie ein Schatten seiner selbst: seine sonst so mit Leben erfüllten violetten Augen waren stumpf und matt, blutunterlaufen und geschwollen von dem Schlafmangel und all der Tränen, seine langen Haare hatten ihren gewohnten Glanz verloren und waren leicht zerzaust und selbst der honigsüße Tonfall war komplett aus seiner Stimme verschwunden, die kaum noch ein Wort herausbrachte.

Aber selbst in seinem aktuellen Zustand war er gnadenlos gezwungen, seiner täglichen Arbeit nachzugehen, für die er eigentlich keine Kraft mehr hatte. So wie für alles andere auch.

In Gegenwart von anderen Menschen, außer den beiden, denen er am meisten vertraute, hatte er sich zuerst auch alle Mühe gegeben, sein gewohntes umwerfendes Lächeln aufzusetzen, doch irgendwie hatte seine Maske Risse bekommen und ließ es so künstlich aussehen wie noch nie.

Ach, aber es war ja nicht so, als ob die Palastdamen sich darum scheren würden, wie er sich wirklich fühlte und ob sein Lächeln nun echt war oder bloß aufgemalt. Sie interessierten sich wie immer nur für sein Äußeres, für nichts weiter als seine Fassade.

Denn sie waren ja nicht Maomao.

Jinshi besah sich seine leicht zitternden Hände. 

Von Anfang an war er in jenem kaiserlichen Palast nichts weiter als ein Schauspieler gewesen. Denn wer kannte schon sein wahres Ich? So gut wie niemand. 

So gut wie keiner sah in ihm bloß einen Menschen. Kein sagenhaftes Himmelswesen, sondern einen Menschen.

Denn sie waren ja nicht Maomao.

Und nun hatte dieser einst makellose Schauspieler schlussendlich seine einstudierten Zeilen, diejenigen, die ihm eigentlich bereits längst ins Blut übergegangen waren, vergessen.

Die Zeilen, welche sowieso nie eine Bedeutung besessen hatten.

So wie alles andere auch.

Jinshi war klar geworden, dass er ohne die Apothekerin ein Nichts war. Ein absolutes Nichts.

Und das ausgerechnet erst nach ihrem Weggang. Als es schon zu spät war.

Nun war sie nicht mehr da und er wusste, dass er sie nirgendwo finden würde, egal wie lange er auch nach ihr suchen, egal wie viele Runden er durch den Inneren Palast drehen und egal wie oft er die Jade-Residenz besuchen würde. Sie war fort. Fort aus dem kaiserlichen Palast. Jedoch nicht aus Jinshis Kopf und auch nicht aus seinem Herzen. Es verging keine Sekunde, während der er nicht an sie dachte. Und es machte ihn vollkommen fertig. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dies alles noch durchstehen würde.

Es war so dunkel, so unfassbar dunkel und kalt... ohne Maomao fühlte sich Jinshi, als stünde er inmitten eines grausamen Schneesturms, ganz allein und kurz davor zu erfrieren, ohne zu wissen, was er machen oder wohin er gehen sollte. Ohne einen Weg zurück Richtung Sonne. Zur Sonne, deren Wärme er wohl nie wieder spüren würde.

Dieser Gedanke ließ ihn schaudern und seine linke Hand packte seine Kleidung, genau an der Stelle, wo sich sein Herz befand, als ob dieses ebenfalls bereits unwiederbringlich zu einem Eisbrocken gefroren war, sodass er niemals wieder in der Lage sein würde, ehrlich zu lächeln oder Gefühle zu haben. Gefühle außer Schmerzen, Kummer und einer schier unerträglichen Sehnsucht, der Liebe zu jemandem, den er aller Wahrscheinlichkeit nach nie wiedersehen würde.

Bis vor Kurzem hatte der junge Herr noch geglaubt, dass wahre Liebe nichts als eine Illusion war, eine Art schönes Mythos aus Romanen und anderen Geschichten. Aber kein Wunder, war er doch in der kaiserlichen Familie groß geworden, in einem „Frauengarten", wo besagte Frauen nur dazu da waren, dem Kaiser zu dienen und dessen Nachkommen zur Welt zu bringen. Es war ihre Pflicht, keine von ihnen tat es aus Liebe.

Und so hatte Jinshi sein Leben lang gedacht, dass so etwas wie Liebe eben nicht existierte. 

Bis er Maomao begegnet war und sie mit der Zeit immer besser kennengelernt hatte. Bevor er sich versehen hatte, war es auch schon um ihn geschehen.

Was genau diese Apothekerin, diese besondere und einzigartige junge Frau, während jener kurzen Zeit mit ihm angestellt hatte, vermochte er nicht zu sagen. Aber was auch immer es gewesen war... tat nun fürchterlich weh. 

Noch nie im Leben hatte er dermaßen gelitten. Als ob man ihn zusammen mit seinen Qualen für immer in eine dunkle, einsame Zelle gesperrt hätte, ohne eine Chance, jemals das Tageslicht wiederzusehen.

Jinshi war sich sehr wohl bewusst, dass er sich seinem Status nicht gerade angemessen verhielt und Suiren und Gaoshun Kummer bereitete, doch er konnte einfach nicht anders. So stark war er nun einmal nicht, wie ihm nun schmerzlich bewusst wurde. Denn er war tatsächlich bloß ein Mensch, nicht mehr und nicht weniger.

Nicht einmal seine Schreibarbeit erledigen konnte er noch. Egal wie eindringlich er auch auf die Dokumente vor sich auf dem Tisch starrte und sich zu konzentrieren versuchte, egal wie oft er sich die Schriftzeichen auf den Papieren durchlas, gelang es ihm einfach nicht, ihren Sinn zu erfassen. Als ob sein Verstand sich losgelöst hätte und zu nichts mehr imstande war, als durch Erinnerungen zu wandern.

Erinnerungen an seine Apothekerin.

Sein Körper dagegen war nun nichts mehr als eine leere Hülle. Seine Seele, sein Körper, seine Stimme... alles vollkommen nutzlos geworden.

Was hätte er nicht alles gegeben, um sie wiederzusehen... ihre wunderschönen blauen Augen auf sich gerichtet zu wissen… egal, ob sie ihn nun wie ein widerwärtiges Insekt ansah oder nicht.

Aber ein kleiner Trost war ihm trotz all dem Leid noch geblieben: das Wissen, dass er ihrem Wunsch gemäß gehandelt hatte.

„Ich tat es für sie, für sie, nur für sie allein...", murmelte er in seine triste Einsamkeit hinein. „Es war das, was sie wollte... sie ist kein Spielzeug... und war es auch nie..."

Doch trotz dieser Worte, die verzweifelt und leider so gut wie erfolglos sein gefrorenes Herz zu wärmen versuchten, war und blieb er ohne sie ein Nichts. Weder ein „wunderschöner Eunuch", noch eine „himmlische Nymphe" oder als was auch immer die anderen ihn auch bezeichnen mochten. Gar nichts. Nichts außer einer jämmerlichen, armseligen Gestalt, deren Kummer Pilze sprießen ließ.

Nichts hatte für ihn noch eine Bedeutung... alles war sinnlos ohne Maomao.

Bei diesen Gedanken begannen neue Tränen in Jinshis Augen zu brennen, was ihn dazu veranlasste, mit beiden Händen das Gesicht zu bedecken. 

Wie seltsam... und er hatte geglaubt, er hätte sie schon längst alle vergossen…

***

Ein Schluchzen entfuhr Jinshis Kehle, während er abrupt die Augen aufriss. Schwer atmend und schweißgebadet starrte er Richtung Decke. Der Kummer, den er gerade noch empfunden hatte, schnürte ihm die Kehle zu, sodass er kein Wort herauszubringen vermochte.

Der junge Adelige hob seinen fürchterlich schmerzenden und vor Fieber glühenden Kopf und sah sich verängstigt und leicht verwirrt um.

So wie es aussah, lag er in seinem Bett, so viel war ihm klar geworden. War das, was er gerade erlebt hatte, also bloß... ein Traum gewesen? Ein böser Traum, ausgelöst durch Erinnerungen an eine schmerzvolle Zeit in seinem Leben?

Er nieste und ließ den Kopf kraftlos zurück auf das Kissen fallen, als ihm nach wenigen Sekunden schwindelig wurde. Dann schloss er immer noch schnaufend die Augen. 

Welche er sogleich wieder weit aufriss, so erschrocken, dass sich vor Angst seine Pupillen verengten.

Moment mal! Wenn das Ganze also nur ein fürchterlicher Albtraum gewesen war, wo war dann Maomao?! Wieso konnte er sie nirgendwo sehen?! Hatte sie ihn etwa tatsächlich verlassen?! Das konnte doch nicht sein!

Jinshi stockte für einen Moment der Atem, als ihn die blanke Panik packte. Das Herz pochte ihm wie verrückt gegen die Rippen, so heftig, dass es beinahe wehtat.

Wo war sie?! Wo war sie bloß?!

„A-Apo... thekerin", brachte er mit erstickter Stimme hervor. Tränen liefen ihm die Wangen entlang und aus seiner Nase tropfte es. „Apothekerin… Maomao!”

Er musste sie finden!

Wie es nur ging, schaffte er es, seinen geschwächten und sich unfassbar schwer anfühlenden Körper aus dem Bett zu bekommen und wankte mit seinem vom Albtraum und Fieber immer noch vernebelten Verstand aus dem Zimmer, um nach Maomao zu suchen.

Barfuß, schniefend und am ganzen Leib wie Espenlaub zitternd.

„K-Kalt... so kalt..."

Er fror genauso, als sei er immer noch in seinem bösen Traum gefangen.

***

Maomao hatte mittlerweile alles aus ihrem Zimmer geholt, was sie brauchte, und war nun auf dem Weg zurück zu Jinshis Gemächern, unterwegs den Riss in dem zu flickenden Rock inspizierend.

„Hm, sehr groß ist er nicht, also werde ich dafür nicht sehr lange brauchen, vermute ich", dachte sie und konnte ein weiteres Gähnen nicht unterdrücken. „Und dann versuche ich wirklich, wenigstens ein bisschen zu schlafen. Wer weiß, wie lang der morgige Tag sein wird."

Auf einmal vernahm sie ein Schnaufen vor sich im Korridor und sah verwundert auf. 

Eine zerzauste Gestalt war gerade dabei, auf unsicheren Beinen in der Dunkelheit auf sie zuzuschwanken. Maomao blieb stehen und hob beide Augenbrauen, zu verblüfft, um auch nur ein Wort herauszubringen. Für einen Augenblick dachte sie, dass ihr übermüdeter Verstand ihr vielleicht einen Streich spielte.

Nach einigen Momenten fand sie jedoch ihre Stimme wieder, als sie erkannte, um wen es sich da handelte.

„Eure Exzellenz! Was macht Ihr denn hier?! Wieso seid Ihr nicht im Bett?!"

„A-Apothekerin... Du bist... wirklich hier...", hörte sie den jungen Herrn mit Mühe hervorbringen. Er hustete zwischen den Worten.

„Hä? Was meint Ihr damit?" Stirnrunzelnd eilte Maomao auf ihn zu. „Ihr müsst auf der Stelle zurück ins Bett!" 

Ihre Worte ignorierend (oder auch überhaupt nicht hörend), blieb er stehen.

„Hab dich... gefunden... D-Du bist... wirklich hier..." Seine Stimme klang so, als würde er einen Kloß im Hals haben.

„Oh, nein! Er spricht im Fieberwahn!", dachte Maomao, die Zähne zusammenbeißend, und war bereits kurz davor, ihn am Handgelenk zu packen. Sie musste ihn so schnell wie möglich zurückführen und ihm noch mehr von ihrer Medizin einflößen! So wie es aussah, war die vorherige Dosis doch nicht genug gewesen.

Doch dann... 

...schrie sie beinahe auf, als er aus heiterem Himmel auf die Knie fiel und sie so fest umarmte, dass er beinahe die Luft aus ihr herausdrückte. Die Objekte, die sie vorhin in den Händen gehalten hatte, fielen zu Boden.

„Eure Exzelle-"

„Warm... du bist s-so... warm...", schluchzte Jinshi, verzweifelt sein Gesicht an ihre schmale Schulter pressend. Seine Tränen begannen, ihre Kleidung zu durchnässen.

Die Apothekerin riss die Augen weit auf, als sie spürte, wie heiß seine Stirn war. Es gab keine Zeit zu verlieren, sie musste auf jeden Fall etwas unternehmen!

Mit anderen Worten: ihn zuallererst ins Bett zurückbekommen.

Sie musste sich nur noch überlegen, wie.

Notes:

Und hier ist das Lied, das mir für die Szene mit Jinshis Alptraum als Inspirationsquelle gedient hat:
„Sin ti no soy nada" von der spanischen Band Amaral

Link:
https://www.youtube.com/watch?v=nZzoBKbci5A&pp=ygUfYW1hcmFsIHNpbiB0aSBubyBzb3kgbmFkYSBsZXRyYQ%3D%3D:

 

Ich hab euch die Lyrics übersetzt:
Sin ti no soy nada
(Ohne dich bin ich ein Nichts)

Una gota de lluvia mojando mi cara
(Ein Regentropfen fällt auf mein Gesicht)

Mi mundo es pequeño y mi corazón pedacitos de hielo
(Meine Welt ist klein und mein Herz ist zu kleinen Eisstückchen geworden)

Solía pensar que el amor no es real
(Früher dachte ich, dass Liebe nicht existiert)

Una ilusión que siempre se acaba
(Eine Illusion, die sich stets verflüchtigt)

Y ahora sin ti no soy nada
(Und jetzt bin ich ein Nichts ohne dich)

Sin ti niña mala
(Ohne dich bin ich ein schlechter Mensch)

Sin ti niña triste
(Ohne dich bin ich ein trauriger Mensch)

Que abraza su almohada
(der sein Kissen an sich drückt)

Tirada en la cama,
(im Bett liegt)

Mirando la tele y no viendo nada
(Fernsehen schaut und gar nichts sieht)

Amar por amar y romper a llorar
(Lieben um der Liebe wegen und anfangen zu weinen)

En lo más cierto y profundo del alma
(im wahrsten und tiefsten Punkt der Seele)

Sin ti no soy nada
(Ohne dich bin ich ein Nichts)

Los días que pasan
(Die Tage, die vergehen)

Las luces del alba
(Die Lichter des Tagesanbruchs)

Mi alma, mi cuerpo, mi voz, no sirven de nada
(Meine Seele, mein Körper, meine Stimme, alles ist nutzlos geworden)

Porque yo sin ti no soy nada
(Weil ich ohne dich ein Nichts bin.)

Sin ti no soy nada
Sin ti no soy nada

Me siento tan rara
(Ich fühle mich so seltsam)

Las noches de juerga se vuelven amargas
(Die Partynächte sind zu bitteren Erlebnissen geworden)

Me río sin ganas con una sonrisa pintada en la cara
(Mein Lachen ist lustlos und das Lächeln in meinem Gesicht wie aufgemalt)

Soy sólo un actor que olvidó su guión
(Ich bin nichts als ein Schauspieler, der sein Drehbuch vergessen hat)

Al fin y al cabo son sólo palabras que no dicen nada
(Aber schlussendlich sind das auch bloß Wörter, die keine Bedeutung haben)

Los días que pasan
Las luces del alba
Mi alma, mi cuerpo, mi voz, no sirven de nada

Qué no daría yo por tener tu mirada
(Was hätte ich nicht alles gegeben, um deinen Blick auf mir zu haben)

Por ser como siempre los dos
(Damit wir beide wie früher zusammen sein können)

Mientras todo cambia
(Während sich alles um uns herum verändert)

Porque yo sin ti no soy nada
(Weil ich ohne dich ein Nichts bin)

Sin ti no soy nada
Sin ti no soy nada
Los días que pasan
Las luces del alba
Mi alma, mi cuerpo, mi voz, no sirven de nada
Qué no daría yo por tener tu mirada
Por ser como siempre los dos
Mientras todo cambia
Porque yo sin ti no soy nada
Sin ti no soy nada
Sin ti no soy nada

Chapter 24: Du bist wirklich hier, Teil 4

Notes:

Da ich diese Woche Urlaub hab, kommt hier das nächste Kapitel ein wenig früher!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

„Soll das ein Scherz sein?! Ich war doch nur ganz kurz weg! Fünf Minuten! Höchstens zehn!", regte Maomao sich gedanklich auf, während sie immer noch in Jinshis Umarmung gefangen war, kaum imstande, sich zu rühren. „Was ist bloß in meiner Abwesenheit vorgefallen?"

Sie konnte Jinshis keuchenden Atem an ihrem Hals und das heftige Pochen seines Herzens an ihrem Oberkörper spüren. Der Duft ihrer Salbe ging schwach von seinem Körper aus. Immer noch weinend, hatte er die Augen geschlossen und hielt sie einfach nur fest, mitten in der Dunkelheit des Korridors seiner Residenz kniend, seine Nase an ihrer Halsbeuge vergrabend. Es sah nicht so aus, als habe er vor, sie so bald loszulassen.

Maomao atmete tief durch und packte ihn schließlich bei den Schultern, die von der Wucht seiner Schluchzer bebten. Überhaupt zitterte er so heftig, dass es sich sogar auf Maomaos Körper übertrug. Er befand sich in einem fürchterlichen Zustand. Sie wunderte sich, wie er es überhaupt geschafft hatte, ohne Hilfe die Strecke von seinem Bett bis zu ihr zurückzulegen und dabei nicht umzufallen. Musste wohl reine Willenskraft gewesen sein.

Die Apothekerin bohrte ihm ihre Nägel in die Schultern, im Versuch, seine Aufmerksamkeit zu erregen und ihn dazu zu bringen, aus seinem Fieberwahn zu erwachen und ihr zuzuhören. Wobei sie bei seinem hohen Fieber keine allzu großen Hoffnungen hegte. Doch aktuell hatte sie einfach keine andere Wahl. Sie konnten ja nicht bis zum Morgengrauen so bleiben.

„Ihr glüht vor Fieber, Herr! Ihr müsst auf der Stelle ins Bett zurück, hört Ihr mich? Eure Exzellenz!"

Keine Reaktion. Er stammelte bloß „D-Du bist hier... A-Apothekerin… Maomao…", ohne mit dem Schluchzen aufzuhören. Um ehrlich zu sein, weinte er so heftig, dass Maomao schon Angst bekam, er würde keine Luft mehr kriegen, wenn es so weiterging. Schließlich war seine Nase immer noch verstopft.

„Beruhigt Euch, Herr. Ihr erstickt noch!"

Aber er dachte überhaupt nicht daran, sich zu beruhigen, sondern klammerte sich weiterhin an sie, so verzweifelt, als würde er im offenen Meer ertrinken.

Maomao begriff überhaupt nichts. Was zur Hölle war bloß los mit ihm?! Sie musste ihm unbedingt noch mehr von ihrer Medizin einflößen. 

Aber dazu musste sie ihn erstmal irgendwie auf die Beine bekommen. Oder sich zumindest aus seinen Armen befreien, damit sie losrennen und Gaoshun holen konnte, welcher der Einzige in der Residenz war, der die nötige Körperkraft besaß, um Jinshi zu tragen. 

Sie versuchte sich mit aller Macht herauszuwinden, seinen Griff um ihren Körper zu lockern, die Hände auf seine Brust zu stützen und ihn wegzuschieben. Alles sinnlos. Jinshi gab nicht nach. Selbst mit seinem Fieber und seinem geschwächten Zustand war der junge Herr immer noch deutlich stärker als sie.

„Uh..."

Maomao verzog leicht das Gesicht, da Jinshis Umarmung nach ihren Befreiungsversuchen sogar noch fester wurde, so fest, dass ihre Rippen langsam zu schmerzen begannen.

Wie könnte sie bloß aus diesem Schlamassel herauskommen? Der junge Adelige war gerade offensichtlich nicht er selbst, da würde es also wohl nichts bringen, an seine Vernunft zu appellieren, oder?

„Verdammt! Wenn er jetzt erneut zusammenbricht, werde ich ihn nicht allein wieder aufrichten können! Und schon gar nicht auffangen! Eher würde ich von seinem Fall mitgerissen werden!"

Zum allerersten Mal verfluchte Maomao ihre kleine Statur und körperliche Schwäche.

Die Apothekerin schloss kurz die Augen und tat noch ein paar tiefe Atemzüge, im Versuch, sich selbst zu beruhigen und sich etwas Neues zu überlegen. Wenn auch sie jetzt die Fassung verlor, wäre keinem von ihnen beiden geholfen.

Schließlich öffnete sie die Augen wieder und schnaubte. Nun gut. So wie es aussah, brachten bloße Worte und bloße Taten in dieser Situation überhaupt nichts, also musste eben ein anderer Weg her. Einer, der beides kombinierte.

Zuerst musste sie versuchen, den jungen Herrn in die Realität zurückzuholen.

Maomao bekam seinen Kopf mit beiden Händen zu fassen und schaffte es nach einiger Anstrengung schließlich, diesen von ihrer Schulter zu heben.

Jinshis Gesicht war knallrot und mit Tränen und Rotz verschmiert. 

Nun war er tatsächlich nichts weiter als bloß ein kranker junger Mann. Zwar war Maomao immer noch der Meinung, dass er sich das alles selbst eingebrockt hatte, doch aus irgendeinem Grund tat ihr bei seinem Anblick das Herz weh. Keine Ahnung, wieso.

„Eure Exzellenz", probierte sie erneut, ihn anzusprechen.

Nichts. Gut, nächster Versuch.

Ihn bei seinen heißen, nassen Wangen festhaltend, blickte Maomao ihm nun direkt in die weit aufgerissenen und vor Fieber glasigen Augen, aus solcher Nähe, dass sich ihre Nasenspitzen berührten. Nun musste er sie einfach bemerken.

„Apo... Apothekerin..."

Und tatsächlich stellte sie fest, dass er sie nun ebenfalls ansah.

Maomao spürte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel, doch sie wusste, dass es noch zu früh für Erleichterung war.

„Ganz genau, Herr. Ihr habt Recht, ich bin wirklich hier. Seht Ihr mich?"

„J-Ja..."

Jinshi blinzelte einige Male, aber er sah bereits ein kleines bisschen ruhiger aus. 

Es klappte! Er hörte endlich zu! Sie war zu ihm durchgedrungen.

„Gut. Und nun lasst mich los, Herr. Bitte."

Daraufhin schüttelte er so heftig den Kopf, dass sie Mühe hatte, diesen weiterhin festzuhalten.

„Nein! Ich... Ich lasse dich n-nicht los! Niemals wieder!"

Maomao zwang sich, ruhig zu bleiben. Wenn es gleich beim ersten Versuch geklappt hätte, wäre es ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.

Sie sah ihm erneut in die Augen und ließ dann sein Gesicht los. Er legte es nicht wieder zurück auf ihre Schulter. Na, das war ja schon mal was.

„Nur für einen Moment, Herr, damit ich Euch dabei helfen kann, wieder aufzustehen. Und Ihr braucht mich auch nicht komplett loszulassen. Hier, Ihr könnt immer noch meine Hand halten."

Die Apothekerin hob ihre linke Hand, damit er sie sehen konnte.

„Ihr könnt hier nicht bleiben, Eure Exzellenz, sonst wird Euer Fieber nur noch schlimmer. Und bestimmt tun Euch von dem harten Boden hier schon die Knie weh. Lasst uns zu Eurem Bett zurückkehren, in Ordnung? Macht Euch keine Sorgen, ich bin hier und gehe nirgendwohin."

Sie versuchte, ihre Stimme so sanft wie möglich klingen zu lassen. Zwar gelang ihr dies, ihrer eigenen Meinung nach, nicht gerade wunderbar, weil sie mit so etwas keine Erfahrung hatte, doch zu ihrer Freude schien es tatsächlich zu funktionieren.

Sie mit seinem linken Arm immer noch umschlungen haltend, hustete er, nahm dann etwas zögerlich und langsam ihre vorhin angebotene Hand und drückte sie. Sein Weinen schien auch schwächer geworden zu sein.

„W-Wirklich?"

„Wirklich."

„Ver... Versprochen?"

„Ja, ich verspreche es, Eure Exzellenz. Und nun kommt, lasst bitte los."

Maomao konnte spüren, wie ihr Geduldsfaden langsam, aber sicher immer dünner wurde. Aber sie musste sich im Zaum halten, sonst wäre alle Mühe vergebens.

Zum Glück schien Jinshi jedoch nun endlich überzeugt zu sein. Er nahm auch seinen linken Arm von ihr.

„Puh... bin ich froh, dass es geklappt hat", dachte sie, sich kurz die schmerzenden Rippen reibend. „Mein allerletzter Ausweg wäre gewesen, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, um ihn wieder zu sich kommen zu lassen, aber das wollte ich nun wirklich tunlichst vermeiden." Sie warf einen erneuten kurzen Blick auf sein Gesicht. „Er macht gerade auch so schon mehr als genug durch."

Sie ergriff seinen linken Arm, während sie mit ihrer linken Hand immer noch seine rechte hielt.

„So, und nun legt bitte Euren Arm um meine Schultern. Ich helfe Euch auf die Beine."

Gaoshun holen zu gehen, kam für die Apothekerin nicht mehr in Frage, da sie so ihr Versprechen an Jinshi brechen würde. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als weiterhin allein zurechtzukommen.

***

Mit seinem linken Arm um ihre Schultern und ihren eigenen rechten um seine Taille geschlungen, führte Maomao Jinshi Schritt für Schritt durch den Korridor. 

Dabei hielt er immer noch ihre linke Hand mit seiner rechten fest. Maomao sagte nichts dazu. Sie war einfach nur froh, dass sie ihn endlich vom Boden hochbekommen hatte.

Zwar bewegte er einigermaßen selbstständig die Füße und verlagerte auch nicht sein gesamtes Gewicht auf sie, wofür sie ihm äußerst dankbar war, doch aufgrund seiner Schwäche war sie trotzdem gezwungen, ihn quasi halb vorwärts zu schleifen.

Es war für die zierliche Apothekerin alles andere als einfach, den jungen Herrn, der bestimmt fast doppelt so viel wog wie sie, beim Gehen zu stützen, doch sie hielt eisern durch. Schließlich blieb ihr ja keine andere Wahl.

Maomao war schweißgebadet und keuchte vor Anstrengung. Ihr hing beinahe schon die Zunge aus dem Mund. Sie fühlte sich so, als stünde sie selbst kurz vor dem Zusammenbruch.

Aber so etwas durfte auf keinen Fall geschehen. Sie musste sich zusammenreißen.

„Apo... thekerin..."

„Ich.. bin hier. Nur noch... ein bisschen, Eure Exzellenz. Wir sind... bald da..."

„Morgen, wenn das alles vorbei ist, werde ich ein langes, heißes Bad nehmen", dachte sie, die Zähne zusammenbeißend und seine Taille noch ein bisschen fester umfassend. „Das habe ich mir verdient."

Die ganze Zeit über fürchtete sie, dass seine Beine unterwegs nachgaben und er erneut stürzte, doch zum Glück passierte dies nicht. Also blieb ihr zumindest das Schicksal erspart, unter seinem Körper begraben zu werden.

***

Nach einiger Zeit, die Maomao wie eine Ewigkeit vorkam, hatte sie es schließlich geschafft, Jinshi zu seinen Gemächern zu bringen und ins Bett zu bekommen, ohne dass unterwegs auch nur einer von ihnen zusammenbrach.

Sie ließ seine Hand los (seltsamerweise ließ er dies ohne Proteste zu, bestimmt, weil er inzwischen ein wenig zur Besinnung gekommen war), deckte ihn zu und stützte sich für einen Moment mit beiden Händen auf das Bett, um durchzuschnaufen. 

Am liebsten wäre die Apothekerin jetzt auf ihren Stuhl geplumpst und hätte sich ein Weilchen ausgeruht, doch dafür hatte sie keine Zeit. Zuallererst musste sie sich um Jinshi kümmern, denn ihn ins Bett gebracht zu haben, war bloß der erste Schritt gewesen. Es war noch lange nicht vorbei.

Sie streckte kurz ihre schmerzenden Muskeln und ihren Rücken durch, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rannte los, um ein neues Stück Stoff in Wasser zu tauchen, welches zwar nicht mehr ganz so kühl war, aber immer noch seinen Zweck erfüllen würde. Zum Glück hatte Suiren alles vorbereitet, bevor sie gegangen war.

Ihr Blick fiel auf die von der obersten Zofe bereit gelegte Ersatzkleidung. Eigentlich wäre es nicht schlecht gewesen, Jinshi umzuziehen, doch die Apothekerin hatte einfach nicht die Kraft dazu.

„Mao... mao...", murmelte Jinshi und hustete, den Kopf in ihre Richtung gedreht und ihr mit dem Blick folgend. Er lag aktuell so gut wie reglos da. Maomao wusste nicht genau, ob man das eher als ein gutes oder als ein schlechtes Zeichen werten sollte, doch sie war froh, dass er endlich aufgehört hatte zu weinen und etwas weniger zitterte. Bestimmt war auch er am Ende seiner Kräfte, nahm sie an. Kein Wunder.

„Ich bin hier, Herr." 

Bei all der Aufregung war ihr gar nicht aufgefallen, dass er sie beim Namen genannt hatte. Sogar mehrmals. Na ja, aber selbst wenn, hätte sie sich auch nicht wirklich darum geschert. Er war ihr Arbeitgeber, also konnte er sie eigentlich nennen, wie er wollte. Solange es nichts Peinliches war, war es ihr so gut wie egal.

Maomao wrang den Stoff aus und kehrte zum Bett zurück, wo sie die Haarsträhnen zur Seite strich, die an Jinshis verschwitztem Gesicht klebten, und ihm das feuchte Tuch auf die Stirn legte.

„M-Maomao..."

„Ja, doch! Ich bin hier!", versicherte sie ihm leicht gereizt. „Ich stehe doch direkt neben Euch."

„Wie lästig...", dachte sie stirnrunzelnd und erschöpft. „Noch schlimmer als ein kleines Kind... Wieso ist er bloß so fixiert auf mich? Noch mehr als sonst, meine ich. Ich verstehe ja, dass er Fieber hat, aber trotzdem."

Langsam begann es ihr auf die Nerven zu gehen, ständig das Gleiche zu wiederholen, doch Jinshi hatte wirklich hohes Fieber und sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass er wieder aus dem Bett stieg und sich das Ganze von vorhin wiederholte. Und diesmal ganz sicher mit schlimmerem Ausgang.

Sie drehte sich für einen Augenblick um, um die Medizin vom Tisch zu nehmen, und als sie sich wieder Jinshi zuwandte, bemerkte sie, dass seine Augen sich schlossen.

„Hey, nicht einschlafen!", fuhr sie ihn an. Der letzte Rest ihrer Geduld war nun verbraucht, sodass sie für einen Augenblick ihren Standesunterschied vergaß. „Ihr müsst erst die Medizin einnehmen!"

Jinshi schlug die Augen wieder auf und blickte sie an. Er sah so erschöpft aus, dass Maomao leichte Gewissensbisse verspürte. Aber sie konnte ihn noch nicht schlafen lassen. 

„Zur Hölle mit dem Löffel”, dachte sie und kehrte mit der Flasche in der Hand hastig zum jungen Herrn zurück. Dabei stieß sie vor lauter Eile aus Versehen den Stuhl um, der daraufhin umkippte und in der Stille der Nacht ein lautes Getöse verursachte, das im gesamten Raum widerhallte. Egal, sie würde ihn später aufheben. Jetzt hatte sie Dringenderes zu erledigen.

Maomao öffnete die Medizin, hob Jinshis Kopf an und näherte die Flasche seinem Gesicht. 

„Trinkt, Eure Exzellenz."

Jinshi hob seine zitternde Hand und legte sie auf ihren Arm, der die Flasche hielt. Maomao ließ es kommentarlos zu, obwohl sie immer noch nicht begriff, wieso er dieses seltsame Bedürfnis hatte, sie ständig zu berühren. Aber egal, Hauptsache, er trank.

 Und das tat er. Zwar würgte und hustete er dabei, sodass sie die Flasche mehrmals an seine Lippen ansetzen musste, doch schaffte es letztendlich, den Großteil der Flüssigkeit herunterzuschlucken. 

Als es vollbracht war, wischte die Apothekerin ihm Mund und Kinn sauber, stellte die nun leere Flasche auf den Tisch zurück und atmete tief durch.

„Jetzt könnt Ihr schlafen...", murmelte sie.

***

Als Jinshi endlich wieder eingeschlafen war, gestattete Maomao es sich, ihre steifen Schultern zu entspannen und einen langen Seufzer von sich zu geben. 

„Hoffentlich ist das Schlimmste jetzt überstanden", dachte sie, immer noch am Bett stehend und geistesabwesend seine Wange streichelnd. Ohne sich wirklich bewusst zu sein, was sie da tat. „Wenn Ihr vorhin doch nur auf mich gehört hättet... wäre das womöglich überhaupt nicht passiert... Ihr seid wahrhaftig ein Dummkopf, Herr..."

Ihre innere Stimme klang nun weder irritiert noch zornig... sondern einfach nur müde. Wahnsinnig müde.

Die Apothekerin drehte den Kopf zum Fenster. Der Mond stand draußen immer noch hoch am Himmel. Seit sie Jinshis Gemächer verlassen hatte, um die Nähsachen aus ihrem Zimmer zu holen, konnte höchstens eine Stunde vergangen sein. Schwer zu glauben.

„Ach ja... die Sachen. Die liegen ja immer noch im Korridor herum. Vielleicht sollte ich kurz hinlaufen und sie aufheben, damit in der Dunkelheit keiner versehentlich drauftritt und ich noch Ärger bekomme."

Zum Nähen selbst hatte sie zwar aktuell keine Energie mehr, aber zumindest das sollte sie tun.

Sie beugte sich wieder über Jinshi und musterte prüfend sein Gesicht. Und als sie sich vergewissert hatte, dass er tief und fest schlief, drehte sie sich um und schlich auf Zehenspitzen Richtung Tür.

Doch noch bevor sie diese erreicht hatte, vernahm sie hinter sich plötzlich ein gequältes Stöhnen und erstarrte auf der Stelle.

„A-Apothekerin... Maomao... N-Nicht gehen..."

„Was zum... Verdammt!" Zu behaupten, dass die Apothekerin verblüfft war, wäre zu wenig gesagt. Sie hatte doch gerade erst mit eigenen Augen gesehen, dass er sich im Tiefschlaf befand! Konnte er ihre Präsenz etwa selbst im Schlaf spüren?

Maomao drehte sich zum Bett um. Jinshi hatte sich auf die Seite gedreht und seine Hand in ihre Richtung ausgestreckt, als hätte er tatsächlich gespürt, dass sie kurz davor war, den Raum zu verlassen. Seine Finger bewegten sich, griffen ins Leere, als würde er nach etwas suchen. Nach ihr, nahm sie an.

„Nun, ich habe ihm versprochen, dass ich bei ihm bleibe, dass stimmt schon...", dachte sie mürrisch.

Sie kehrte zu ihm zurück und ergriff wieder seine Hand. Es half ja nichts.

„Ich bin hier, Herr...", murmelte sie und seufzte resigniert.

Dann würden die Sachen eben noch liegen bleiben müssen.

Apropos, liegen bleiben. Maomao drehte sich zum Stuhl, welcher vorhin umgefallen war, mit dem Vorhaben, diesen wieder aufzurichten und sich hinzusetzen, doch sie kam nicht ran. Auch dann nicht, als sie versuchte, so weit wie möglich ihren Fuß auszustrecken und das Möbelstück damit zu fassen zu bekommen und in ihre Richtung heranzuziehen. 

Die Apothekerin zuckte die Achseln. Gut, dann würde sie Jinshis Hand eben kurz nochmal loslassen müssen. Doch dann riss sie die Augen weit auf, als sie feststellte, dass sie es nicht konnte...  

Jinshi hielt ihre Hand mit eisernem Griff fest. Mit derselben Kraft, mit der er sie vorhin umarmt hatte. Jeder Versuch, sich zu befreien, schlug fehl.

„Wie stark ist dieser Kerl denn bitte?!", dachte sie aufgebracht. "Und das nicht nur im kranken Zustand, sondern auch noch im Schlaf!"

Nicht zu erwähnen, dass ihre eigene Kraft nun verbraucht war, nachdem sie ihn praktisch zum Bett geschleppt hatte.

Maomao verfluchte sich, dass sie den Stuhl nicht früher aufgehoben hatte. Sie wollte keine allzu ruckhaften Bewegungen machen, sonst würde sie den jungen Adeligen womöglich erneut aufwecken.

„Klasse. Was jetzt?", dachte sie, zum x-ten Mal die Zähne zusammenbeißend.

Maomao schnaubte. Eine weitere Welle der Erschöpfung überkam sie. Für den Rest der Nacht so stehen zu bleiben, kam definitiv nicht in Frage, das würden ihre Füße nicht durchhalten. Sich auf den Boden niederzulassen ebenso, da ihr bestimmt der Arm zum Morgengrauen abfallen würde, falls Jinshi ihre Hand bis dahin die ganze Zeit festhalten sollte.

Dann blieb ihr also nur die Möglichkeit, sich auf das Bett zu setzen. Oder nein, eigentlich gab es da noch eine...

Maomao schluckte und schielte erneut zu Jinshi. Wäre es wirklich in Ordnung? Schließlich war er immer noch ein Adeliger und sie seine Dienerin... Ach was, immerhin war er derjenige, der sie nicht loslassen wollte, also konnte sie damit argumentieren, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte und sie selbst überhaupt keine Schuld traf.

Und so hob sie mit ihrer freien Hand die Decke an und legte sich vorsichtig neben Jinshi auf den Rücken hin, sie beide danach wieder zudeckend.

Ganz recht. Sie tat es nicht, weil sie es gerne wollte. Überhaupt nicht.

In diesem Moment ließ er ihre Hand los. 

„Dieser..." Doch noch bevor sich Maomao eine Bezeichnung für Jinshi überlegen konnte, welche man nun wirklich nicht laut aussprechen dürfte, und wieder aus dem Bett zu steigen schaffte, drehte Jinshi sich auf den Bauch, schlang augenblicklich beide Arme um ihre Taille und legte den Kopf auf ihre Brust. Die Apothekerin erstarrte.

Der junge Herr gab einen Seufzer der Erleichterung von sich, zog noch ein paar Mal die Nase hoch und beruhigte sich dann schließlich komplett.

„Warm..." murmelte er leise im Schlaf. „Maomao..."

Diesmal antwortete sie ihm nicht, doch entspannte sich nach einem Moment wieder.

„Hält er mich etwa für sein Kissen?", dachte sie leicht genervt. „Ach was soll's. Zumindest sind wir jetzt nicht mehr im Korridor.”

Maomao wischte die noch verbliebenen Tränenreste von seinem Gesicht und platzierte das feuchte Tuch, das heruntergerutscht war, wieder zurück auf seine Stirn. Sie spürte seine immer noch leicht keuchende, aber trotzdem gleichmäßige Atmung und die fiebrige Hitze, die von seinem Körper ausging. Aber da sie ihm die Medizin verabreicht hatte, sollte es bald wieder besser werden.

„Jedoch glaube ich nicht, dass es so bequem ist, auf mir zu liegen." Sie dachte an ihre mehr als bescheidene Oberweite. „Scheint ihm aber nichts auszumachen."

Maomao platzierte eine Hand auf Jinshis Kopf und strich ihm leicht durchs zerzauste, aber immer noch seidig weiche Haar, welches ihm über Rücken und Schultern fiel.

„Mensch, er ist so eine Klette."

Die Apothekerin war froh, dass er zumindest nicht mit seinem gesamten Gewicht auf ihr drauflag, sondern nur mit seinem Kopf und einem Teil seines Torsos (welcher schon schwer genug war), sonst wäre sie bestimmt zerquetscht worden. Das wäre dann wirklich ein krönender Abschluss für diese lange, schwere Nacht geworden.

Außerstande, noch länger gegen die Erschöpfung anzukämpfen, und Jinshis Duft einatmend, der in der Luft hing und mit dem Geruch ihrer Salbe und ihrem Erkältungsmittel vermischt war, gähnte Maomao und schlief letztendlich ebenfalls ein.

In Jinshis Gemächern herrschte wieder eine so gut wie vollkommene Stille.

Notes:

Ich bin mir nun ziemlich sicher, dass diese Geschichte zehn Kapitel haben wird, aber selbstverständlich kann sich dies immer noch ändern. :)

Chapter 25: Du bist wirklich hier, Teil 5

Notes:

Bei der Alptraumszene im dritten Teil hab ich Jinshi ein wenig analysiert und hier ist nun Maomao an der Reihe! :)

Chapter Text

Einige Zeit später öffnete sich langsam die Tür zu Jinshis Gemächern und eine ältere Dame betrat mit leisen Schritten den Raum.

„Xiaomao! Ist alles in Ordnung? Kommst du allein zurecht mit dem jungen Herrn?", erkundigte sie sich, darauf Acht gebend, nicht allzu sehr die Stimme zu erheben, um besagten jungen Herrn nicht versehentlich aufzuwecken.

Keine Antwort. Leicht verwirrt machte Suiren einige Schritte auf das Bett zu und erblickte sogleich den umgekippten Stuhl, den sie ohne Nachzudenken wieder aufrichtete.

„Xiaomao?"

Dann fiel ihr Blick auf das Bett selbst und sie hob erstaunt die Hand zum Mund.

„Ach, du meine Güte!"

Schwach beschienen von dem durch das Fenster einfallenden Mondlicht und den immer noch brennenden Kerzen, lagen Jinshi und Maomao beide im Bett des jungen Adeligen und schliefen tief und fest. Sie auf dem Rücken und er auf dem Bauch und mit dem Kopf auf der Brust der jungen Frau, deren Hände auf seinen Schultern ruhten. Es war eine solch friedliche Szene, dass Einem vom bloßen Anblick ganz warm ums Herz wurde.

Die oberste Zofe lächelte sie sanft an.

„Ich wusste doch, dass es eine gute Idee war, die Kinder alleinzulassen."

Sie trat noch näher heran, legte die Hand auf Jinshis Stirn und nickte zufrieden, als sie feststellte, dass sein Fieber etwas gesunken war und er fast aufgehört hatte zu zittern.

Dann wischte sie ihm behutsam die Nase mit einem Taschentuch sauber, richtete die Bettdecke, die leicht heruntergerutscht war, holte frisches Wasser und verließ die Gemächer wieder, in der Absicht, die beiden weiterschlafen zu lassen.

„Maomao...", murmelte Jinshi im Schlaf, während sich die Tür hinter Suiren schloss.

***

Maomao verzog das Gesicht, als aus nächster Nähe ein Geräusch an ihr Gehör drang, als würde jemand die Nase hochziehen. Auf ihrem Oberkörper lag etwas Schweres und Warmes. Sie begann sich zu rühren und schlug langsam die Augen auf, ihren Blick schlaftrunken über die Umgebung schweifen lassend, so aussehend, als begreife sie nicht ganz, wo sie sich befand.

Der Dunkelheit nach zu urteilen, war es immer noch tief in der Nacht.

Die Apothekerin rieb sich die Augen und als sie daraufhin etwas den Kopf hob und den mit offenem Mund schlafenden Jinshi auf sich liegen sah, fiel ihr alles wieder ein.

Das Allererste, was sie tat, war, beinahe einem Reflex gleich, die Hand auf seine Stirn zu legen und seine Temperatur zu prüfen. Und gleich darauf erleichtert aufzuatmen.

„Puh, das Fieber ist endlich ein wenig gesunken", dachte sie, den Kopf wieder zurück aufs Kissen sinken lassend. „Ein Glück... letztendlich hat meine Medizin doch gewirkt. Die erste Dosis war eventuell bloß zu niedrig gewesen."

Der junge Adelige lag immer noch genau so da, wie zu dem Zeitpunkt, als sie eingeschlafen war: mit dem Kopf auf ihrer Brust und die Arme um ihre Taille geschlungen, als wäre sie tatsächlich nichts weiter als ein großes Kissen.

Maomao runzelte die Stirn, als sie daran zurückdachte, wie sie in jene mehr oder weniger missliche Lage hineingeraten war.

„Aber ich hoffe doch sehr, dass er mich am Morgen loslässt. Sonst verpasse ich ihm tatsächlich noch eine Ohrfeige. Soll er mich doch danach bestrafen, wenn er will, mir egal, genug ist genug."

Als hätte Jinshi irgendwie ihre Gedanken gespürt, zuckte er im Schlaf kurz zusammen und verzog leicht das Gesicht, danach die Arme noch etwas enger um sie schließend.

Maomao schnaubte und streichelte ihm durchs Haar, ihm eine Strähne hinters Ohr streichend.

„Gut, gut, schon verstanden. Dann eben keine Ohrfeige. Aber eine ordentliche Standpauke werde ich Euch halten, Eure Exzellenz, darauf könnt Ihr Euch verlassen. Ungeschoren kommt Ihr mir nicht davon."

Daraufhin erst fiel ihr auf, dass ihm ein dünner Speichelfaden aus dem Mund und zum wiederholten Male Rotz aus der Nase lief, und spürte Feuchtigkeit an ihrem Oberkörper. Sie wollte gar nicht erst wissen, wie ihre Kleidung aktuell genau aussah. Am Morgen in ihrem Zimmer angekommen, würde sie sich als Allererstes umziehen und ihre dreckigen Sachen zur Schmutzwäsche tun. Die mussten dringend gewaschen werden, bevor sich noch jemand mit seiner Erkältung ansteckte. 

Aber nun ja, in ihrem Fall war es möglicherweise bereits schon viel zu spät, so nah wie sie ihm gewesen war und immer noch blieb.

Sie nahm sich vor, ihm später auf jeden Fall am nächsten Tag heißes Ingwerwasser zu machen und auch selbst davon zu trinken, um ihre Abwehrkräfte zu stärken. Ach ja, und Suiren und Gaoshun, die ebenfalls Kontakt zum Kranken gehabt hatten, würde sie auch welches geben.

„Klasse. Zuerst macht er mich zu seinem Kissen und jetzt auch noch zu seinem Taschentuch. Schon wieder", dachte sie gereizt, sich an die Umarmung im Korridor erinnernd, während der er ihr sein verweintes und rotznäsiges Gesicht an die Schulter gedrückt hatte. Dann seufzte sie jedoch und zog mit einiger Mühe ein Taschentuch aus ihrem Ärmel, um ihm zum x-ten Mal das Gesicht sauberzuwischen. 

Tja, so wirklich sauer war sie darüber eigentlich nicht. Schließlich war sie Apothekerin und seit Jahren Assistentin ihres Vaters und dies bei Weitem nicht das erste Mal, dass sie die Körperflüssigkeiten eines Patienten auf ihre Kleidung und Hände abbekommen hatte. Von Blut bis zum Erbrochenen war da alles dabei gewesen, also waren Tränen, Rotz und Speichel ihrer Meinung nach eigentlich nicht ganz so schlimm im Vergleich dazu.

„Und die Inhalation darf ich auch nicht vergessen. Wenn ich mir so seine Atmung anhöre, muss seine Nase immer noch ziemlich dicht sein. Außerdem muss auch etwas gegen seinen Husten getan werden, nicht, dass der wirklich noch zur Lungenentzündung wird."

Egal wann und egal wo, Maomao war und blieb immer noch Apothekerin, die sich Gedanken um mögliche Behandlungsmethoden ihrer Patienten machte. Mit der Tatsache, dass eben dieser Patient ihr doch etwas (oder auch ein wenig mehr als nur etwas) wichtiger war als die anderen, hatte sie sich auch schon längst abgefunden. Der beste Beweis dafür war, dass sie nun in seinem Bett lag und er verrotzt und fiebernd auf ihr schlief. Und ihr das, um ehrlich zu sein, nicht so wirklich etwas ausmachte, wie sie zu ihrer eigenen Verwunderung feststellen musste.

Jedoch verstand sie immer noch nicht ganz, wieso ihr das so wenig ausmachte, schließlich hatte sie ihn ganz zu Beginn - welch Ironie - für einen extrem schleimigen und widerlichen Typen gehalten, in dessen Nähe sie sich nicht einmal aufhalten wollte.

Vielleicht lag es ja daran, dass sie ihn nun deutlich besser kannte als damals und wusste, dass er trotz seines nervigen, aufdringlichen und oft auch kindischen Charakters doch ein ziemlich gutes Herz hatte. Zwar war er genau wie sie noch lange kein Heiliger, aber auch er hatte, wie sie zugeben musste, durchaus seine guten Seiten.

Oder es lag an ihrer Erschöpfung, wer weiß. Ach, aber eigentlich hatte sie nicht die geringste Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. War ja auch nicht so wichtig. Wichtig war, dass sie den jungen Herrn wieder gesund bekam und das so bald wie möglich.

„Als ich ihn zurück zum Bett führte, war sein Husten ziemlich schlimm gewesen", sinnierte sie demnach unbeirrt weiter. „Wenn er aufwacht, muss ich ihm auf jeden Fall nochmal die Lunge abhören. Unter den Kräutern, die ich gestern gesammelt habe, war auch Thymian dabei. Tee aus Thymianblättern hilft sehr gut gegen Husten und ist außerdem entzündungshemmend."

Während ihr all diese Gedanken durch den Kopf gingen, spürte Maomao eine erneute Welle der Erschöpfung und gähnte, kurz davor, erneut einzuschlafen. Schließlich blieb noch Zeit bis zum Tagesanbruch, da wäre es höchst unklug, diese nicht zum Ausruhen zu nutzen.

„Na ja, zumindest schläft er jetzt wieder ruhig...", dachte sie noch.

Jedoch...

„Mm... M-Maomao...", hörte sie plötzlich, gefolgt von einem leisen Wimmern, was sie für einen Moment erstarren ließ. Sie blickte zu Jinshi und stellte fest, dass dieser angefangen hatte, neue Tränen zu vergießen, welche ihm über das Gesicht liefen und auf ihrer Kleidung landeten. Sein Zittern war auch wieder etwas stärker geworden.

Die Apothekerin hätte beinahe ein lautes Murren ausgestoßen, welches sie sich im letzten Moment verkniff.

„Mist! Zu früh gefreut... Nein... bitte nicht schon wieder...", dachte sie beinahe schon flehend. „Hört das denn niemals auf?"

Oh nein, hoffentlich würde Jinshis Fieber nicht schon wieder steigen! Da sie ihm vorhin die gesamte Medizin verabreicht hatte, war davon nämlich aktuell nichts mehr übrig, also müsste sie im Bedarfsfall aufstehen und neue machen. Was die Gefahr in sich barg, dass er in ihrer Abwesenheit schon wieder das Bett verließ und weiß-der-Geier wohin wanderte und sie ihn danach wieder zurückschleifen müsste. Zwar hatte sie ein wenig Schlaf abbekommen und fühlte sich bereits besser, doch für so etwas hatte sie trotzdem aktuell keine Kraft.

Ganz zu schweigen davon, dass er sie so fest hielt, dass sie sich kaum bewegen konnte und nicht einmal aufstehen könnte, wenn sie es wollte...

Also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu versuchen, ihn so gut es ging zu beruhigen.

Maomao schnaubte zum wiederholten Male. Oh ja, Jinshi war wahrhaftig der anstrengendste Patient, den sie jemals hatte.

Sie legte die Arme um seinen Hals und drückte seinen Kopf noch etwas fester an ihren Körper.

„Ich bin hier, Eure Exzellenz. Bitte hört auf zu weinen...", murmelte sie müde und begann dann mit einer Hand sanft seine Schulter zu streicheln und mit der anderen seine Wange. „Ich bin hier, wirklich hier... Schließlich habe ich es Euch versprochen..."

Nach einer Weile hörte er schließlich auf zu wimmern.

Maomao stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und begann, den wieder ruhig schlafenden Jinshi schweigend zu betrachten, ohne mit dem Streicheln aufzuhören. Nur um ganz sicher zu gehen, dass er auch ruhig blieb.

Sie fragte sich, ob Suiren und Gaoshun ihren Herrn jemals in einem solch hilflosen, erbärmlichen Zustand gesehen hatten. 

„Bestimmt", dachte sie. „Schließlich kennen die beiden ihn schon sehr viel länger als ich." Sie glaubte nicht, dass sie tatsächlich die Einzige sein sollte, der er sein wahres Wesen so offen zeigte. Aber wer wusste das schon?

Für sie jedenfalls war dies das erste Mal.

Oder nein, nicht ganz.

Die Apothekerin näherte ihre Hand seinem Auge und nahm mit dem Zeigefinger eine Träne auf, die in seinem Augenwinkel verblieben war. Dann hob sie ihren feucht glänzenden Finger und betrachtete ihn eine Weile lang im Mondlicht.

Sich unwillkürlich an die Nacht erinnernd, an der sie zum allerersten Mal Jinshis Tränen gesehen hatte.

***

Es war eine sternenklare Nacht. Maomao saß draußen und betrachtete nachdenklich den Mond, welcher in der Dunkelheit auf sie herabschien. Ein wirklich großartiger Anblick, beinahe, als wäre er dafür geschaffen, um mit einem Glas Wein am Fenster zu sitzen und ein Gedicht über die Schönheit der Natur zu verfassen.

Die Apothekerin gähnte. Sie war vorhin rausgegangen, weil sie nicht schlafen konnte, aber nun hatte sich die Müdigkeit dann doch eingestellt. Ach, wie gerne würde sie nun aufstehen und zurück auf ihr Zimmer gehen. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie das auch längst getan...

...aber sie saß nun einmal auf dem Schoß eines betrunkenen Jinshi, der sie fest umklammert hielt und einfach nicht loslassen wollte. Sie warf ihm einen bösen Blick zu, den er jedoch nicht sehen konnte, da er die Augen geschlossen hielt, den unteren Teil seines Gesichtes an ihre Schulter gedrückt.

Aber da er immer noch Tränen vergoss, beschloss sie, erstmal nichts mehr zu sagen, sondern abzuwarten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Sie konnte zwar Vieles sein, aber herzlos war sie gewiss nicht. 

„Aber er sollte wirklich nicht zu lange hier draußen sitzen", dachte sie. „Es ist einfach zu kalt dazu. Egal, ob er mich auf seinem Schoß hält oder nicht."

Zwar hatte sie keine Ahnung, was mit dem jungen Adeligen genau los war, doch konnte instinktiv spüren, dass er ihr gerade eine seiner verwundbarsten Seiten zeigte. Maomao war zwar nicht sehr bewandert, was Gefühle anging, doch sie hatte so ihre Zweifel, dass so viele Leute seine Tränen gesehen hatten. Ein Adeliger konnte nicht einfach so in der Öffentlichkeit weinen, so viel verstand selbst sie.

War sie überrascht, seine Tränen zu sehen? Selbstverständlich, aber irgendwie auch wieder nicht.

„Schließlich ist er trotz allem auch nur ein Mensch. Und Menschen weinen eben."

Jedoch begriff sie nicht, warum er weinte. War das wirklich nur, weil er betrunken war oder steckte möglicherweise etwas mehr dahinter? 

Maomao hob den Blick wieder Richtung Himmel und gab einen Seufzer von sich. Wie auch immer. Was in seinem Leben vorging, ging sie nun wirklich nichts an, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie es tatsächlich wissen wollte.

Aber eine Frage war trotzdem noch geblieben.

„Warum ausgerechnet ich, Eure Exzellenz?", flüsterte sie vor sich hin. „Warum vertraut Ihr mir so sehr?"

Dies war eine Tatsache, die sie am wenigsten verstand, denn ihrer Meinung nach hatte sie nun wirklich nichts Besonderes an sich. Sie war nichts weiter als eine einfache Dienerin, deren Leben so wenig wert war, dass es ihr mit einem einzigen Befehl eines Höhergestellten jederzeit genommen werden konnte. So wie Jinshi es war.

Ganz zu schweigen davon, dass noch nie zuvor jemand Trost bei ihr gesucht und sie deshalb nicht die geringste Ahnung hatte, was sie damit anfangen sollte. Sie hatte keine Erfahrung darin, andere Menschen zu beruhigen, ihnen Wärme zu schenken. Genau deshalb konnte sie auch nichts weiter tun, als einfach auf Jinshis Schoß sitzen zu bleiben, sich umarmen zu lassen und zu hoffen, dass er sich von allein wieder einkriegte.

Und während Maomao da so saß, versuchte sie sich zu erinnern, wann sie selbst das letzte Mal geweint hatte. Sie konnte es nicht.

Aber das war kein Wunder. Schließlich war sie als Baby, bevor sie von Luomen adoptiert worden war, die meiste Zeit komplett allein gelassen worden, da ihre Schwestern im Freudenhaus sie zwar sehr gern hatten, aber nun mal ihren Job erledigen mussten und sich nicht ständig um sie kümmern konnten. Niemand war gekommen, wenn sie geweint hatte, also hatte sie irgendwann ganz damit aufgehört.

So hatte man es ihr jedenfalls erzählt. Und Maomao wusste, dass es die reinste Wahrheit war. Natürlich war sie ihren Schwestern aber nicht böse deswegen, diese hatten ja keine andere Wahl gehabt.

Und was ihre Mutter anging… Maomao schluckte schwer. Nein, über diese Frau wollte sie nun wirklich nicht nachdenken.

Luomen war ein sehr sanfter Mann, der sie im Arm getragen hatte, als sie klein gewesen war, und ihr Zuneigung geschenkt hatte, doch alles, was sie in ihrer Kindheit durchgemacht hatte, hatte auch er nicht wiedergutmachen können. Viele ihrer Emotionen blieben demnach tief in ihrem Inneren verschlossen und erblickten kaum das Tageslicht. Wenn überhaupt.

„Ach, aber eigentlich ist Weinen so sinnlos. Es macht die Dinge auch nicht besser," dachte sie, während Jinshis Tränen weiterhin auf ihrem Nacken und ihrer Schulter landeten. Ohne es zu merken, legte sie beide Hände auf seine, welche sich immer noch auf ihrem Bauch befanden.

„Deshalb hört bitte auf, Eure Exzellenz...", sagte sie leise.

Einige Augenblicke später weiteten sich ihre Augen, als ihr auffiel, dass Jinshis Körper leicht zitterte.

„Verdammt, er friert! So wird er ganz sicher noch krank!", dachte sie und versuchte erneut, seinen Griff zu lockern. Ohne Erfolg.

„Eure Exzellenz! Lasst mich los! Ihr müsst wieder zurück! Es ist viel zu kalt, um hier draußen ohne Mantel herumzusitzen!"

„Dann musste mich eben noch'n wenig mehr wärmen", brachte er trunken hervor, vergrub seine Nase an ihrer Schulter und drückte sie noch ein wenig fester.

Maomao schnaubte. Oh, wie sie es hasste, sich mit Betrunkenen herumzuplagen!

„Bist so warm...", nuschelte er an ihrem Ohr und verstummte dann.

Die Apothekerin drehte den Kopf zu ihm und stellte fest, dass er eingenickt war.

„Na klasse. Genau das, was mir noch gefehlt hat", grummelte sie.

***

Aus ihren Erinnerungen erwachend, drückte Maomao Jinshi unbewusst noch etwas enger an sich, als befänden sie sich nicht in einem warmen Bett, sondern immer noch draußen unter freiem Himmel, wo sie ihr Bestes tat, um seiner Bitte nachzukommen und ihn so gut sie konnte vor der Kälte zu schützen.

„Weinen ist immer noch sinnlos..." flüsterte sie erschöpft. „Also nutzt Eure Energie lieber, um wieder gesund zu werden, Eure Exzellenz, statt sie auf diese Weise zu verschwenden."

Richtung Decke blickend, gab die Apothekerin schließlich einen Seufzer von sich.

„Na ja, aber zumindest ist er diesmal nicht betrunken", dachte sie und korrigierte sich kurz darauf selbst, während sie erneut seiner immer noch leicht schnaufenden Atmung lauschte. „Nein. Besser betrunken als krank."

Ganz genau: er tat ihr sehr wohl leid. Nach all dem, was geschehen war, ergab es nun wirklich keinen Sinn mehr, dies zu leugnen. Es machte ihr definitiv etwas aus, ihn so leiden zu sehen.

Und während sie da immer noch in Gedanken versunken war, spürte sie plötzlich, dass Jinshi sich erneut zu rühren begann. Etwas genervt die Wangen aufblasend, machte Maomao sich bereit, ihn schon wieder beruhigen zu müssen, sich fragend, ob sie in dieser Nacht wohl noch die Gelegenheit bekommen würde, bis zum Morgengrauen wenigstens noch ein bisschen zu schlafen.

Doch die Worte, die er daraufhin im Schlaf murmelte, ließen sie vor Schock so heftig erstarren, dass sie beinahe eine Minute lang keinen Muskel rühren konnte.

„Uh... du b-bist die Eine... die Einzige für mich..."

Maomao riss die Augen so weit auf, wie ihre Lider es zuließen, spürend, wie ihre Atmung für einen Augenblick aussetzte. Sie sah so aus, als hätte jemand vor ihren Augen ihre gesamten Heilkräuter in Brand gesetzt. Zwar war Jinshi glücklicherweise nicht so weit gekommen, das gefürchtete „L"-Wort auszusprechen, doch ihr Bauchgefühl, welches sich im Falle einer herannahenden Gefahr oft einschaltete, sagte ihr, dass er genau dies gemeint haben musste. Ihr Magen zog sich zusammen. Am liebsten wäre sie davongerannt und hätte sich unter ihrer eigenen Bettdecke versteckt, doch da sie immer noch unter dem jungen Herrn lag, war ihr dies verwehrt.

Die Apothekerin schüttelte heftig den Kopf. Sie musste sich beruhigen, sonst lief sie noch Gefahr, Jinshi aufzuwecken! Selbst wenn sie diese Worte von ihm gehört hatte, hatte sie doch überhaupt keine Beweise, dass er damit tatsächlich sie gemeint hatte! Genau, ganz bestimmt sprach er von einer ganz anderen Frau!

Gekonnt die Tatsache ignorierend, dass er die ganze Nacht nach niemand anderem als ihr gerufen hatte. Aber das musste doch nicht unbedingt zusammenhängen, oder? Oder?!

„D-Die Einzige für mich... Maomao..."

Mist!

Vor Panik und Verzweiflung keuchend, versuchte die Apothekerin nach weiteren plausiblen Erklärungen zu suchen. Das Fieber! Genau, das Fieber! Er sprach immer noch im Fieberwahn! Das musste es sein!

Gekonnt die Tatsache ignorierend, dass besagtes Fieber längst nicht mehr so hoch war.

Doch nach einiger Zeit gelang es ihr mit Mühe, sich wieder zu fassen, und sie gab mit einem langen Seufzer auf, sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn wischend.

„Bitte tut Euch das nicht an, Eure Exzellenz", murmelte sie kraftlos. „Ihr habt die falsche Person gewählt..."

Erneut die Hände auf seine Schultern legend, drehte sie dann den Kopf zur Seite und starrte eine Weile lang die Wand an, ohne sich zu bewegen oder ein Geräusch von sich zu geben.

„Warum ich? Warum ausgerechnet ich?", wisperte sie in die Dunkelheit hinein. „Es gibt so viele andere Frauen, die Ihr stattdessen haben könntet..."

Sie fühlte sich so, als hätte sie jemand in einen Käfig gesteckt und den Schlüssel weggeworfen.

Für einen kurzen Moment lag so etwas wie Melancholie, man könnte sogar sagen, Traurigkeit in ihrem Blick. Als würde sie an alles Mögliche denken und gleichzeitig doch an nichts Konkretes.

Bis sie sich auf einmal mit beiden Händen kräftig auf die Wangen klatschte und wieder zu sich kam. Ihre Atmung war inzwischen auch wieder zur Normalität zurückgekehrt.

Ohne zu wissen, was sie sonst tun sollte, begann sie erneut, Jinshis Haar zu streichelnd, darum betend, dass er keine weiteren solchen Dinge von sich gab. Er seufzte leise im Schlaf, blieb jedoch zum Glück still.

Trotzdem stellte sich Maomao immer noch die Frage, was sie mit seinen vorhin ausgesprochenen Worten anstellen sollte. Sollte sie dieses Gebrabbel eines schlafenden, kranken Typen überhaupt ernst nehmen? 

Die Apothekerin schluckte. Vielleicht sollte sie einfach, um unnötige Schwierigkeiten zu vermeiden, so tun, als hätte sie gar nichts gehört. 

Ja, das wäre das Beste.

Ein Glück, dass er das Ganze im Schlaf gesagt hatte. Da würde er sich wohl kaum später daran erinnern. Hoffentlich.

Und mit diesem Gedanken spürte Maomao, wie sie erneut von ihrer Erschöpfung überwältigt wurde.

„Zuerst vernachlässigt er seine Gesundheit und wird krank... und jetzt auch noch das... Es ist wirklich... so anstrengend mit ihm...", dachte sie noch, bevor sie wieder in einen tiefen Schlaf fiel, ihre Hände zu Fäusten ballend.

Chapter 26: Du bist wirklich hier, Teil 6

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Jinshi verzog den Mund und grummelte leise, als ihm ein Sonnenstrahl direkt ins Gesicht schien. Eine seltsame Schwere in seinen Gliedern spürend, versuchte er, die störende Morgensonne zu ignorieren und weiterzuschlafen, doch diese dachte überhaupt nicht daran, ihn in Ruhe zu lassen. Wie lästig.

Zwar nicht mehr schlafend, aber immer noch mit geschlossenen Augen, lag er eine Weile lang einfach nur da und dachte an gar nichts. Sein Kopf pochte fürchterlich, aber zumindest glühte er nicht mehr so schrecklich wie zuvor. 

Der junge Adelige entspannte seine gerunzelte Stirn, als ihm bewusst wurde, dass er mit dem Oberkörper auf etwas wunderbar Warmem und Weichen lag, und drückte sich unbewusst noch enger daran, die Nase hochziehend, welche sich unangenehm wund anfühlte. Sie war noch immer verstopft, sodass er, wie bereits am Vortag, überhaupt nichts riechen konnte.

Jedenfalls nichts außer dem Trunk, den Maomao ihm gegen seine Erkältung eingeflößt hatte. Dessen Geschmack war so stark und fürchterlich gewesen, dass Jinshi allein bei der Erinnerung daran eine Grimasse zog. Aber solange er half, konnte der junge Adelige schlecht dagegen protestieren, und er hatte es auch nicht vor. Schließlich war er kein Kind mehr. Mal ganz davon zu schweigen, dass er seiner Apothekerin vollkommen vertraute und wusste, dass sie ihm kein Gift unterjubeln würde (wenn schon, dann eher sich selbst).

Er gähnte und streckte leicht den Rücken durch. Auch wenn es ihm missfiel, war es nun einmal Morgen und leider viel zu hell zum Schlafen. Zwar würde er an jenem Tag nicht arbeiten müssen (wenn er es trotzdem versuchte, würde Maomao ihn bestimmt höchstpersönlich ans Bett fesseln), aber er war es nun einmal gewohnt, jeden Tag früh aufzustehen. Da konnte selbst die Erkältung nicht viel daran ändern.

Und während er so darüber nachdachte, fielen ihm endlich die regelmäßigen Bewegungen und das rhythmische Geräusch auf, beides ausgehend von diesem gemütlichen Etwas, auf dem er lag. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Ach, war das angenehm... am liebsten wollte er für alle Ewigkeit so bleiben.

Jedoch...

Moment mal! Seit wann atmete sein Kissen denn und besaß einen Herzschlag?!

Jinshi riss auf der Stelle die Augen auf. All die Schläfrigkeit war schlagartig von ihm abgefallen.

Ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren, hob er rasch den Kopf und wurde dafür mit einem Schwindelgefühl belohnt, welches er so gut es ging zu ignorieren versuchte.

„Apothekerin!", dachte er, seinen Augen kaum trauend und sich mit einer Hand an den Kopf fassend. „Aber was...? Wie...?" Seine Gedanken überschlugen sich und sein Herz begann wie wild zu pochen.

Nachdem er es irgendwie geschafft hatte, sich zu beruhigen, rollte er von Maomao herunter und auf die Seite, krampfhaft versuchend, sich zu erinnern, wie und wann sie in seinem Bett gelandet war.

Leider vergeblich.

Maomao selbst schlief währenddessen immer noch tief und fest, überhaupt nicht ahnend, was neben ihr gerade vor sich ging. Ihr Mund zuckte zwar kurz, doch im Großen und Ganzen ließ sie sich nicht von seinen Bewegungen stören. Sie musste wirklich erschöpft sein.

Während er mit immer noch gerötetem Gesicht neben ihr lag und ihr schlafendes Profil betrachtete, konnte Jinshi schließlich spüren, wie seine Anspannung allein von ihrem Anblick nach und nach wich. Seine Hand streckte sich wie von allein aus und streichelte vorsichtig ihre Wange.

Tja, die Erklärung konnte auch warten, bis die Apothekerin aufwachte. Der Tatsache nach zu urteilen, dass sie beide angezogen waren, konnte der junge Herr wenigstens ausschließen, dass etwas Unanständiges zwischen ihnen passiert war. Zumindest hoffte er das, denn falls etwas von dieser Art geschehen sollte, würde er sich doch ziemlich gern daran erinnern können, vielen Dank aber auch!

Sich auf seinen Ellenbogen abstützend, hob er den Oberkörper an. Langsam begannen nun doch, einzelne Erinnerungen zu ihm zurückzukehren. Zwar waren sie ziemlich vage, was bestimmt an seinem Fieber lag, aber immer noch besser als nichts.

Da war die Erinnerung daran, wie er, von Angst zerfressen und trotz seines Schwindels und Fiebers, aufgebrochen war, um nach Maomao zu suchen, dann, wie er sie verzweifelt umarmt, und als Nächstes noch, wie sie ihn zurück zum Bett geführt hatte... Danach kam nichts mehr, ganz egal, wie sehr er sich auch bemühte. Bestimmt hatte er da bereits geschlafen und nichts mehr mitbekommen.

Doch die wenigen Dinge, an die er sich erinnern konnte, reichten bereits, um ein schlechtes Gewissen bei ihm auszulösen. Er gab ein Seufzen von sich.

„Da habe ich dir ganz schön viel Mühe bereitet, was?", murmelte er, ihr langsam durchs Haar streichelnd. „Tut mir leid." 

Sein Blick wurde von leichter Traurigkeit getrübt. Er machte eine kleine Pause, daran zurückdenkend, wie oft sie ihn schon wegen seines Überarbeitens ermahnt hatte, und beschloss schließlich zum allerersten Mal jene Gefühle in Worte zu fassen, die ihn jedes Mal überkamen, wenn er ihre Vorwürfe hörte, jedoch bisher tief in seinem Inneren verborgen waren. 

„Ob du es glaubst oder nicht, aber ich weiß sehr wohl, dass meine Gesundheit wichtiger ist als die Arbeit, aber... ich wurde mein ganzes Leben lang dazu angehalten, hart zu arbeiten, anderen nur meine guten Seiten zu zeigen... den Schein zu wahren, was auch immer geschieht. Mir war es nie so richtig gestattet, mich um mein eigenes Wohlergehen zu kümmern. Deshalb kann ich nicht anders und werde mich wohl auch in naher Zukunft nicht wirklich ändern können. Bitte hab Geduld mit mir, ja?" 

Jinshi rieb seinen schmerzenden Kopf und legte ihn neben ihrem auf das Kissen. Als Nächstes umarmte er die Apothekerin erneut, seine Wange an ihre pressend, jedoch vorsichtig genug, dass er sie nicht aufweckte. Ein kleines Lächeln zierte nun seine Lippen.

„Später bekommst du von mir eine große Flasche Wein als Entschädigung für den ganzen Ärger. Aber nicht alles auf einmal austrinken, ja?”

Mit diesen Worten verstummte er wieder und beschloss, aktuell einfach nur die Zeit mit ihr zu genießen, so lange diese auch anhalten mochte.

Es war so schön, neben ihr zu liegen, zu wissen, dass sie bei ihm war. So wahnsinnig beruhigend... 

Im Moment war Jinshi trotz seiner Erkältung und immer noch leicht erhöhten Temperatur wunschlos glücklich.

Doch als würden sie es genau darauf abzielen, diesen perfekten Moment zu zerstören, kamen ihm nach einigen Augenblicken Erinnerungen an seinen Albtraum, Fragmente des unerträglichen Schmerzes und der tiefen Sehnsucht, an denen er sowohl im Traum als auch vor nicht allzu langer Zeit auch in der Wirklichkeit gelitten hatte. Sie bohrten sich einem spitzen Eispfahl gleich direkt in sein Herz, als wollten sie es durchstoßen. Ein eiskalter Schauder lief über den Rücken des jungen Herrn, so heftig, dass ihm eine Sekunde lang der Atem stockte.

Jinshi biss die Zähne zusammen, schmiegte sich unbewusst noch etwas enger an die Apothekerin und gab sofort einen Seufzer der Erleichterung von sich, als er spürte, wie das Eis zu schmelzen und die fürchterliche Kälte zu weichen begann.

„Wie warm sie doch ist!", dachte er, die Augen schließend und den leisen Atemzügen der jungen Frau lauschend. „So wunderbar warm..."

Wenig später legte sich plötzlich etwas auf seinen Arm, der Maomaos Körper umschlungen hielt und er öffnete leicht verblüfft die Augen, sich fragend, was das denn sein könnte.

Und stellte fest, dass dieses Etwas ihre Hand war.

„Ich bin hier, Eure Exzellenz…” murmelte Maomao leise im Schlaf. „Wirklich hier… nicht weinen...”

Jinshi hatte das Gefühl, als sei es nun sein Herz, welches gleich schmelzen würde.

„Ja, das bist du", wisperte er überglücklich, ein leises Lachen von sich gebend. „Du bist richtig unglaublich, weißt du das? Beruhigst mich sogar im Schlaf, also wirklich..."

Aber das wirklich Unglaubliche war, wie geschützt er sich in ihrer Nähe fühlte. Eine ganz schön komische Vorstellung, um ehrlich zu sein, wenn man an ihren Größenunterschied dachte.

Tja, aber komisch oder nicht, es war nun einmal die reine Wahrheit, die ihm erst jetzt so richtig bewusst wurde.

Obwohl er körperlich so viel größer und so viel stärker war, fühlte er sich sicher in ihren Armen, so sicher wie er sich im Leben noch nie gefühlt hatte. Als würde diese zierliche junge Frau mit ihrer inneren Stärke seine Seele beschützen, fast schon eine Barriere errichten, die kein einziger Albtraum durchdringen konnte. Allein ihre Anwesenheit ließ jedes Fünkchen Angst im Nu verschwinden.

Selbst wenn er bis an sein Lebensende suchen würde, würde er niemals einen anderen Menschen finden können, der so war wie sie.

Er fühlte sich so wohl an ihrer Seite, dass er ihr mit einer schier unfassbaren Leichtigkeit und ganz ohne Nachzudenken die menschlichsten und am tiefsten verborgenen Seiten seines Wesens offenbarte. Seiten, die er noch niemandem zuvor gezeigt hatte. Denn er wusste, dass Maomao sie einfach als Tatsache, als ein Teil von ihm akzeptieren würde, ohne etwas zu hinterfragen. Und ohne ihn dafür zu verurteilen.

Egal, wie schlimm besagte Seiten auch sein mochten.

Sie war einer von nur ganz wenigen Menschen, in deren Gesellschaft er einfach nur er selbst sein konnte, ohne sich verstellen zu müssen.

Jinshi lächelte sie liebevoll an, zog seinen Arm vorsichtig weg und nahm dann ihre Hand, diese sanft drückend.

„Danke, dass du die Einzige bist, die über die Fassade hinausblickt..."

Er musste gähnen und fühlte, dass seine Augen kurz davor waren, sich erneut zu schließen. Die Wärme, die von Maomaos Körper ausging, machte ihn trotz des hellen Sonnenlichts langsam aber sicher schläfrig. Nein, bitte nicht! Diese Gelegenheit, seiner Apothekerin derart nahe zu sein, war so selten, da konnte er sie doch nicht mit Schlafen verschwenden! Jede Sekunde musste genossen werden!

Jinshi kämpfte mit aller Kraft gegen den Schlaf an, zwang seine Augen, offen zu bleiben. Sein Kopf pochte erbarmungslos und er drückte die Stirn an Maomaos Schulter, bis der Schmerz ein wenig nachgelassen hatte. Dann legte er ihre Hand behutsam aufs Bett und schlang erneut den Arm um sie.

Wie sehr wünschte er sich, dass die Zeit stehenblieb, damit sie beide für immer so zusammen sein konnten.

Nach einer Weile nahm er die Stirn wieder von ihrer Schulter und beobachtete sie erneut beim Schlafen. Sie sah so friedlich aus. Ihr Mund war leicht geöffnet und die kleinen Hände zu Fäusten geballt.

„Schau dich nur an... wie niedlich du bist..."

Er hatte Lust, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, doch dann fiel ihm ein, dass dies wegen seiner Erkältung höchstwahrscheinlich keine so gute Idee war und verwarf sie. Tja, es war ihm eben nicht bewusst, dass dies auch keinen Unterschied mehr machen würde, da er sie durch den engen Kontakt bestimmt schon längst angesteckt hatte. Aber gut.

Und so blieb er weiterhin neben ihr liegen, sie einfach im Arm haltend und sich Mühe gebend, das Kratzen, welches er schon seit seinem Aufwachen im Hals spürte, so gut es ging zu ertragen und seinen Husten zu unterdrücken oder zumindest leise genug zu halten, um die Apothekerin nicht aufzuwecken.

Bis jetzt gelang ihm dies auch ganz gut, jedoch...

...begann seine Nase auf einmal zu kribbeln und er konnte nicht anders, als zu niesen. So laut, dass es im ganzen Raum widerhallte.

Maomao begann sich zu rühren.

Jinshi gab einen Seufzer der Enttäuschung von sich. Da konnte man nichts machen. Auch der schönste Traum musste irgendwann enden.

Die Apothekerin murrte leise und schlug schließlich die Augen auf. Sich diese reibend, drehte sie noch leicht benommen den Kopf zur Seite. Der junge Adelige setzte ein kleines Lächeln auf, als ihre Blicke sich trafen.

„Guten Morgen”, sagte er mit seiner durch den Schnupfen leicht nasalen Stimme, als wäre es für sie beide die normalste Sache der Welt, im selben Bett aufzuwachen.

Etwas die Stirn runzelnd, erwiderte Maomao seinen Gruß. Da sie nicht so aussah, als wolle sie ihm Erklärungen liefern, wie genau sie in seinem Bett gelandet war, beschloss auch er, trotz seiner Neugier erstmal nicht nachzufragen, sondern es einfach als Tatsache hinzunehmen.

Stattdessen streckte sie auf der Stelle die Hand aus und befühlte seine Stirn. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, war sie erleichtert, dass sich diese längst nicht mehr so heiß anfühlte.

„Wie fühlt Ihr Euch, Herr?”, fragte sie.

„Schon deutlich besser und das alles dank dir.”

Maomao sagte nichts dazu, sondern drehte sich prompt auf die Seite und begann, an seiner Kleidung herumzunesteln, um seine Brust freizulegen. Der junge Herr fühlte leichte Nervosität in sich aufsteigen, doch ließ sie ohne ein weiteres Wort gewähren. Nach ihrem engen Kontakt wäre alles andere ja auch irgendwie absurd gewesen.

„Und nun haltet bitte kurz still, Eure Exzellenz. Ich werde jetzt erneut Eure Lunge abhören.”

Jinshi spürte ein Kribbeln im Magen, als sie ihr Ohr an seine Brust zu drücken begann und ihm ab und zu Anweisungen gab, tiefer zu atmen oder einige Male zu husten. Während er schweigend ihren Bitten nachkam, legte er die Hände auf ihren schmalen Rücken und schloss die Augen, um es einfach zu genießen. Da er sich deutlich besser fühlte als am Vorabend, als sie dies das erste Mal gemacht hatte, konnte er das ja.

Viel zu schnell war es vorbei. Maomao nahm das Ohr von seiner Brust und blickte ihm ins Gesicht. Sie protestierte nicht dagegen, dass der junge Adelige sie erneut umschlungen hielt, demnach beschloss er, dies auszunutzen und sie erstmal noch nicht loszulassen.

„Zum Glück höre ich auch jetzt keine verdächtigen Geräusche in Eurer Lunge, aber da Ihr immer noch hustet, werde ich Euch heute im Laufe des Tages als Mittel dagegen Tee aus Thymianblättern zubereiten”, begann sie ihm zu erklären. „Und eine Inhalation, um Eure Nase freizubekommen und heißes Ingwerwasser. Außerdem werde ich noch mehr von der Erkältungsmedizin von gestern herstellen, für den Fall, dass Euer Fieber wieder steigt.”

Jinshi verzog bei der Erwähnung des Letzteren zwar ganz kurz eine angewiderte Miene, konnte jedoch nichts anderes tun als einzuwilligen.

„In Ordnung. Tu alles, was du für nötig hältst, Apothekerin. Ich verlasse mich da ganz auf di-.”

Er verstummte abrupt, als er Maomaos eindringlichen Blick auf sich bemerkte, und spürte, wie ihm erneut heißer wurde. Diesmal jedoch nicht vom Fieber.

Sich aus Jinshis Umarmung befreiend, im Bett aufsitzend und sich die Hand zum Kinn führend, studierte sie mit einem leichten Stirnrunzeln gründlichst sein Gesicht, so als wolle sie seine Seele, sein Innerstes ergründen. Das war zwar nicht das erste Mal, dass sie so etwas tat, doch wenn es passierte, verschlug es dem jungen Adeligen stets die Sprache.

Jinshis Augen weiteten sich leicht. Einige Schweißtropfen liefen ihm die Schläfe entlang.

„W-Was ist denn?”, brachte er schließlich heraus.

„Nichts,” antwortete sie gelassen. „Ich habe mich bloß die ganze Zeit gefragt, wie Euer Zustand sich letzte Nacht so plötzlich und so drastisch verschlimmern konnte. Ich habe Euch doch bloß für wenige Minuten allein gelassen. Meiner Meinung nach habe ich nichts übersehen, als ich Euch gestern Abend untersucht habe, aber es kann natürlich sein, dass ich mich irre.”

Jinshi wendete verlegen den Blick ab. Auch wenn er sich in Maomaos Gegenwart wahnsinnig wohl fühlte und es ihm leicht fiel, ihr sein wahres Ich zu offenbaren, war ihm sein nächtliches Verhalten im Nachhinein doch ein wenig peinlich. Selbst vor ihr.

Maomao hob eine Augenbraue, als sie seine Reaktion sah, sagte jedoch nichts mehr.

„Ähm, nun… ich hatte einen schrecklichen Albtraum…”

„Einen Albtraum? Und nur deswegen hattet Ihr solch ein hohes Fieber?”

Der junge Herr beschloss, ganz ehrlich mit ihr zu sein, und sah ihr nun selbst in die Augen.

„Ich träumte davon, wie du mich verlassen hast…”

Maomaos Augen weiteten sich leicht, doch sie fasste sich schnell wieder.

„Ach so, verstehe”, meinte sie bloß. „Deshalb habt Ihr Euch also so an mich geklammert und nach mir gerufen.” Sie klang weder überrascht noch verärgert, sondern einfach nur so, als würde für sie alles nun einen Sinn ergeben. Oder als beträfe es sie gar nicht.

Um ganz ehrlich zu sein, hatte Jinshi keine Ahnung, ob er über ihren nüchternen Tonfall froh sein sollte oder nicht. Ein bisschen verletzte ihn ihre scheinbare Gleichgültigkeit aber schon.

Danach herrschte eine Weile lang Stille.

Diese war dem jungen Herrn ein wenig unangenehm, deshalb beschloss er, das Thema zu wechseln und der Apothekerin nun selbst eine Frage zu stellen, die ihn brennend interessierte.

„Sag mal… wie bist du eigentlich in meinem Bett gelandet?”

Maomao funkelte ihn an, als wäre er ein Stück schimmliges Brot. 

„Ihr habt mich im Schlaf bei der Hand gepackt und wolltet nicht loslassen. Da Ihr viel stärker seid als ich, konnte ich mich nicht befreien und hatte keine andere Wahl”, erklärte sie trocken.

Jinshi schoss wieder die Schamesröte ins Gesicht.

„Oh, das tut mir leid… sonst aber habe ich nichts im Schlaf getan, oder?”

„Nein, Herr.”

Zwar war Jinshi keineswegs entgangen, dass sie bei seiner Frage heftig zusammengezuckt war und einen Augenblick brauchte, um zu antworten. Doch er beschloss, nicht nachzuhaken, um sie nicht unnötig zu reizen.

Als wäre nun die Apothekerin diejenige, die gerne das Thema wechseln wollte, holte sie tief Luft. Der junge Adelige sah ihrem Gesicht an, dass gleich eine neue Standpauke kommen würde. Nun gut, die hatte er verdient, das sah er ein.

Und er sollte mit seiner Vermutung Recht behalten.

„Ihr habt gestern nicht auf mich gehört und nun seht, was Ihr davon habt! Wenn Ihr Euch rechtzeitig hingelegt hättet, wie ich es Euch empfohlen habe, wäre das alles vielleicht überhaupt nicht passiert. Ihr seid störrischer als ein Esel, Eure Exzellenz.”

Und natürlich nahm sie wie immer kein Blatt vor den Mund, was denn auch sonst?

„Das sagt ja genau die Richtige”, dachte Jinshi, zog es jedoch vor, den Mund zu halten. Stattdessen seufzte er.

„Gut, du hast Recht. Tut mir leid.”

Maomao entspannte ihre Gesichtszüge wieder und seufzte ebenfalls. Falls sie erstaunt sein sollte, dass er diesmal so leicht nachgab, ließ sie es sich nicht anmerken.

„Schon in Ordnung. Was geschehen ist, ist geschehen. Jedenfalls reicht es nicht aus, wenn Ihr nur heute im Bett bleibt, Herr. Mindestens zwei oder drei Tage müssen es schon sein, wenn nötig, auch eine Woche.”

Der junge Adelige setzte sich nun ebenfalls im Bett auf. Sein Mund stand leicht offen vor Verblüffung.

„Was? Aber…”

Doch noch bevor Jinshi seinen Satz beenden konnte, streckte Maomao plötzlich die Hand aus und packte ihn am Unterkiefer. Kräftig. Dann starrte sie ihm direkt in seine violetten Augen, mit einem Blick, der fast schon demjenigen ähnelte, mit dem sie damals Gemahlin Lihuas Zofe nach ihrer Ohrfeige bedacht hatte.

Ein höchst gefährlicher Blick.

„Habe ich da etwa ein „Aber" gehört? Ich verstehe. Mit anderen Worten: Ihr wollt unbedingt, dass ich Eure nächste Mahlzeit mit ein wenig Abführmittel garniere, nicht wahr?", knurrte sie fast schon, kniff die Augen bedrohlich zusammen und bohrte ihm ihre Nägel in die Haut, diese beinahe zerkratzend. Es war mehr als offensichtlich, dass sie die Nase gehörig voll hatte. So voll, dass sie allem Anschein nach für einen Moment vergessen hatte, dass er ihr Arbeitgeber war.

Jinshi schluckte. Er war dermaßen eingeschüchtert, dass er es nicht wagte, auch nur einen Muskel zu rühren.

„N-Nein...", brachte er schließlich hervor.

„Jetzt habe ich sie ernsthaft wütend gemacht, was?", dachte er, während ihm ein Schauder über den Rücken lief.

Die Apothekerin stieß daraufhin ein „Hmpf" aus, doch so wie es aussah, hatte sie seine Antwort einigermaßen zufriedengestellt, da sie ihn wieder losließ. 

Doch kaum hatte Jinshi aufgeatmet, warf sie einen erneuten, diesmal weit weniger gefährlichen Blick auf sein Gesicht, runzelte die Stirn, zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel hervor und wischte ihm schließlich die immer noch etwas laufende Nase sauber. So routiniert und mit solch einer Selbstverständlichkeit, als hätte sie dies bereits tausend Mal gemacht. Und na ja, wenn man auf die vergangene Nacht zurückblickte... war dies eigentlich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt.

Als das erledigt war, stieg sie aus dem Bett.

„Gut. Ich gehe jetzt, um mich für meine heutigen Aufgaben vorzubereiten. Später komme ich vorbei, um nach Euch zu sehen und Euch die Medikamente vorbeizubringen, die ich vorhin erwähnt habe. Falls Ihr mich brauchen solltet, gebt bitte Dame Suiren oder Gaoshun Bescheid."

Und mit diesen Worten verbarg sie die Hände in den Ärmeln, verbeugte sich kurz und ging.

Jinshi saß noch einige Zeit verdattert auf dem Bett, als müsse er immer noch verdauen, was gerade geschehen war. Dann fasste er sich ans heftig pochende Herz und als er wieder zu sich gekommen war, ließ er sich mit dem Gesicht voran aufs Bett fallen und vergrub es im Kissen, dort, wo Maomaos Kopf erst vor Kurzem gelegen war. Obwohl er im Moment nichts riechen konnte, wusste er ganz genau, dass es ihren Duft nach Kräutern tragen musste.

„Es gibt keine Medizin auf der Welt, die besser ist als du, Apothekerin", murmelte er mit einem glückseligen Lächeln.

Nach einer Weile drehte er sich schließlich auf die Seite und rieb sich den Unterkiefer, an dem er immer noch den festen Druck ihrer dünnen Finger spüren konnte. 

„Irgendwie hatte ich das Gefühl, als wollte sie mir eine Ohrfeige verpassen", fügte er schließlich hinzu. „Um ehrlich zu sein, hätte ich es mir fast schon gewünscht..."

Währenddessen, im Korridor:

„Hm, da habe ich vielleicht doch ein wenig zu dick aufgetragen,” dachte Maomao sich noch, während sie endlich die Sachen aufhob, welche sie nachts fallengelassen hatte.

Notes:

Also dann, die nächsten Kapitel werden nicht jede Woche, sondern alle 10 Tage hochgeladen.
Immerhin hab ich sechs Wochen lang fast pausenlos an dieser Geschichte gearbeitet (Immer noch schwer zu glauben, dass sie jetzt schon fast 50 Seiten hat!)
Meinen Notizen zufolge bleiben dieser Geschichte noch vier Kapitel 😊

Und außerdem hab ich eine Idee für ein Crossover mit einem anderen Fandom und werde eventuell ein paar Einfälle dazu sammeln.

Chapter 27: Du bist wirklich hier, Teil 7

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Dünnen, durchsichtigen Fäden gleich fiel ein kalter Regen auf die Erde nieder und durchtränkte sie, während ein eisiger Wind das bunte Laub von den Bäumen blies und durch die Luft segeln ließ.

Es war definitiv nicht mehr lang bis zum Winter. Nicht mehr lang, bis jener Regen sich in Schnee verwandeln und die Landschaft weiß färben würde.

Das lange Haar vom Wind leicht zerzaust, spazierte Jinshi gelassenen Schrittes unter seinem Regenschirm durch den Äußeren Palast, dabei so gut es ging Acht gebend, nicht in Pfützen zu treten, damit sein Gewand keine Spritzer abbekam.

Er hatte gerade eine Angelegenheit im Inneren Palast erledigt und war nun auf dem Weg zurück in seine Residenz, wo Gaoshun mit dem gewohnten Papierkram auf ihn wartete.

Aber Jinshi hatte es nicht besonders eilig. Ein paar Minuten mehr würde sein Assistent gewiss noch warten können. Eine Ermahnung würde der junge Adelige problemlos in Kauf nehmen. Wäre ja nicht das erste Mal.

Jene paar Minuten nutzte er, um kurz stehenzubleiben und den Duft des Regens einzuatmen, seine Lungen mit der frischen, kalten Luft zu füllen, die leicht im Gesicht brannte und seine Wangen rötete. Da seine Nase endlich wieder frei war, konnte er erneut nach Herzenslust tief durchatmen und die Gerüche um sich herum wahrnehmen. Was für ein Segen!

Nicht umsonst sagte man, dass man die Dinge im Leben erst dann wahrhaftig zu schätzen lernte, wenn man sie verlor.

Wie wahr jene Worte waren, hatte Jinshi bereits mehrfach am eigenen Leib erlebt. Eine Erfahrung, die er wirklich ungern wiederholen wollte.

Nach einem kurzen Blick hoch zum wolkenverhangenen Himmel, setzte der als „himmlische Nymphe" bekannte Mann ein kleines Lächeln auf und führte seinen Weg fort. Weder das schlechte Wetter noch die Aussicht auf einen Berg von Papierkram konnten seine Laune derzeit trüben.

Er musste zugeben, dass er sich dank Maomaos sorgfältiger Pflege einfach großartig fühlte und vor Energie nur so strotzte. Möglicherweise war sein Gesundheitszustand aktuell sogar noch besser als vor der Erkältung. Die Apothekerin war wahrhaftig eine Meisterin ihres Fachs. Nicht, dass er jemals daran gezweifelt hätte.

Zwei Tage waren vergangen, seit der junge Herr seine Arbeit wiederaufgenommen hatte. Letztendlich hatte er drei Tage im Bett verbringen müssen, bis seine Erkältung so weit auskuriert war, dass Maomao ihm endlich erlaubt hatte, seine Gemächer zu verlassen. Da er nun wirklich kein Abführmittel in seinem Essen vorfinden wollte, hatte er brav alles getan, was sie ihm gesagt hatte (Auch wenn er sich schon irgendwie heimlich gewünscht hätte, sie würde ihm erneut diesen bedrohlichen Blick schenken. Manchmal fragte er sich wirklich, ob mit ihm vielleicht etwas nicht stimmte. Hm, naja...).

Der junge Herr lachte leise in sich hinein, als er sich an die vielen Arzneien erinnerte, die sie ihm während jener drei Tage zubereitet und eingeflößt hatte. Ein Mittel gegen Fieber, eins gegen Husten, eins, um seine Abwehrkräfte zu stärken, die Inhalationen... sie hatte nichts ausgelassen und alles hatte hervorragend gewirkt. Wenn diese junge Frau etwas tat, dann tat sie es gründlich, das musste man ihr lassen.

Nicht zu vergessen, dass ihre bloße Präsenz bereits ein Medikament an sich war...

Jinshi ließ einen kleinen Seufzer los. Leider hatte sie seit dem einen Mal nicht mehr in seinem Bett geschlafen, aber er sah ein, dass dies nun wirklich ein wenig zu viel verlangt wäre. Schließlich hatte sie auch so schon alles getan und sich so viel Zeit genommen, um ihn wieder gesund zu bekommen. Wofür er ihr wirklich zutiefst dankbar war.

Er grinste bei der Erinnerung daran, wie sie vor Freude gestrahlt hatte, als er ihr nach seiner Genesung als Ausdruck besagter Dankbarkeit die versprochene Flasche Wein überreicht hatte. Eine große Flasche. Fast zwei Liter. Als Suiren ihm dann am nächsten Morgen berichtet hatte, dass eben jene Flasche nun vollkommen leer auf dem Tisch der Apothekerin stand, konnte der junge Adelige sich nicht zurückhalten und war in ein schallendes Gelächter ausgebrochen, bis ihm die Tränen kamen. Da hatte sein kleiner Trunkenbold wohl nicht widerstehen können, was?

Als Maomao wenig später seine Gemächer betreten und ihm mit gerunzelter Stirn einen guten Morgen gewünscht hatte, war er immer noch am Lachen gewesen. 

Aber trotz aller Dankbarkeit hatte er es sich trotzdem nicht nehmen lassen, während seiner im Bett verbrachten Tage im Beisein der Apothekerin regelmäßig über Langeweile zu klagen. Wie denn auch nicht, wenn ihm komplettes Nichtstun seit seiner Kindheit fast gänzlich unbekannt war und sich die Zeit im Bett daher unheimlich in die Länge zog? 

Meistens hatte Maomao ihn als Antwort darauf angefunkelt, als sei er eine fette Fliege, die um sie herumsummte und ihr den letzten Nerv raubte, doch wenn keine anderen Aufgaben auf sie warteten, hatte sie mit einem Seufzer einen Stuhl herangezogen und sich zu ihm neben das Bett gesetzt. Dann unterhielten sie sich miteinander und Jinshi hielt dabei stets ihre Hand, diese sanft streichelnd. Maomao hatte dies ohne Widerworte zugelassen, als wäre es für sie in der Zwischenzeit zu etwas vollkommen Normalem geworden.

Während jener Momente konnte die Zeit für Jinshi gar nicht langsam genug vergehen.

Der peinliche Vorfall aus der ersten Nacht hatte sich glücklicherweise nicht wiederholt, jedoch hatte Jinshi später von Suiren mitbekommen, dass Maomao trotzdem jeden Abend, nachdem er bereits eingeschlafen war, vorbeigekommen war, um seine Temperatur zu prüfen und sich zu vergewissern, dass er auch wirklich tief und fest schlief, bevor sie selbst schlafen ging.

Als Jinshi dies gehört hatte, war ihm vor Verblüffung der Mund aufgeklappt und sein Herz erneut kurz davor gewesen, vor Rührung zu schmelzen.

Sein Lächeln wurde breiter, als er sich an weitere gemeinsame Momente während seiner Erkältungstage erinnerte.

Zum Beispiel, wie er die Tatsache ausgenutzt hatte, dass sie jeden Morgen und Abend gekommen war, um ihm die Lunge abzuhören, um die Arme um sie zu schließen und sie fest an sich zu drücken. Zwar hatte Maomao dabei immer etwas gezappelt und gemault, dass er sie nicht stören solle, weil ihr sonst einige verdächtige Geräusche in seiner Lunge entgehen könnten. Doch gewehrt hatte sie sich nicht.

Oder den Moment, als seine Nase nach mehreren Inhalationen endlich frei wurde: 

***

„Apothekerin!" 

Maomao hob das Handtuch von Jinshis Gesicht, das sie auf seinen Kopf platziert hatte, damit er, im Bett sitzend, den Dampf der von ihr zubereiteten Kamillen-Salz-Inhalation einatmen konnte.

„Was ist los, Herr?"

Er strahlte sie an und zog das Handtuch nach unten, bis es auf seinen Schultern lag.

„Es wirkt! Meine Nase ist wieder frei! Ich kann endlich wieder normal atmen!"

Ohne eine Miene zu verziehen, nahm die Apothekerin das Tablett mit der Schüssel, welche die Mixtur enthielt, und stellte sie auf den Tisch neben dem Bett.

„Kein Wunder", meinte sie gelassen. „Dies ist ein ziemlich effektives Mittel bei Erkältungen." Plötzlich hielt sie jedoch inne, als sie spürte, wie Jinshis Hand an ihrem Ärmel zupfte. Sie drehte sich erneut zu ihm um und sah ihn fragend an.

Er lächelte immer noch.

„Könntest du dich bitte zu mir setzen?"

Maomao runzelte die Stirn angesichts jener Bitte, die scheinbar aus heiterem Himmel kam, und hob eine Augenbraue. Ihr Blick wurde leicht misstrauisch. „Was heckt er jetzt schon wieder aus?", stand beinahe schon auf ihrem Gesicht geschrieben.

„Wozu?"

„Bitte!"

Sie sah ihn noch einige Augenblicke lang an und seufzte dann, im Begriff, die Hand nach dem Stuhl auszustrecken.

Doch Jinshi hielt sie immer noch am Ärmel fest. Er klopfte mit der anderen Hand neben sich auf das Bett.

„Nein, hier."

Was folgte, war ein weiterer misstrauischer Blick, durchmischt mit Genervtheit. Doch schlussendlich sagte die Apothekerin nichts dazu, sondern tat wie geheißen und nahm auf dem Bett Platz. 

„Gah!"

In der nächsten Sekunde weiteten sich auch schon ihre Augen, als Jinshi sie in die Arme schloss und seine Nase an ihrem Hals vergrub, um ihren Geruch tief einzuatmen.

„Hach, immer noch der gleiche Duft nach Kräutern..."

„Eure Exzellenz!" empörte sich Maomao und packte ihn an den Schultern. „Was soll das?!" Wäre sie eine Katze gewesen, hätte sie ihn jetzt bestimmt angefaucht und gekratzt.

„Entschuldige, ich freue mich bloß so, dass ich wieder riechen kann! Bitte lass mich noch ein wenig so bleiben! Nur ganz kurz!"

Sie verzog für einen Augenblick das Gesicht, schnaubte dann aber und nahm die Hände von seinen Schultern.

„Meinetwegen." Mehr sagte sie nicht.

Jedoch glitt während jener Umarmung Jinshis Kopf langsam nach unten, bis er letztendlich auf ihrem Schoß landete. Maomao erstarrte kurz und öffnete erneut den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders.

Während der junge Adelige die Stirn an ihren Bauch drückte, vernahm er einen weiteren Seufzer von der Apothekerin und spürte dann, wie sie sich wieder entspannte. Dann legte sie eine Hand auf ihren Kopf und fing zu seinem großen Glück und Erstaunen an, sein Haar zu streicheln.

„Wie ein Kleinkind...", hörte er sie murmeln, während er einige Minuten später auf ihrem Schoß einschlief, mit einem breiten Lächeln auf seinem Gesicht, erneut beruhigt durch das Streicheln und ihre Wärme.

***

So gesehen war die Erkältung also im Großen und Ganzen und wenn man den ersten Tag außer Betracht ließ, überhaupt nicht so schlimm gewesen. Selbstverständlich zog er es vor, gesund zu sein, aber wenn er eines Tages erneut krank werden sollte, hoffte er, dass Maomao sich wieder um ihn kümmern würde.

Und während er da so in Erinnerungen schwelgend seines Weges ging, mit einem Gesichtsausdruck, der so gar nicht zu dem schlechten Wetter passte, drehte er den Kopf auf einmal zur Seite und seine Augen weiteten sich.

In etwa einem Dutzend Metern Entfernung erspähte er den Rücken seiner süßen Apothekerin, die auf dem Boden kniete, und blieb erneut stehen, sich mit der freien Hand kurz die Augen reibend, als könne er nicht so recht glauben, was er da sah. Es war fast so, als hätte er sie mit seinen Erinnerungen heraufbeschworen.

Aber was tat sie denn da im strömenden Regen?

Leicht besorgt machte Jinshi ein paar Schritte auf sie zu und konnte nun erkennen, dass sie mit beiden Händen in der Erde herumbuddelte.

So wie es aussah, war sie gerade dabei, eine Pflanze herauszuziehen.

Der junge Herr runzelte die Stirn. Hach, Maomao und ihre Pflanzen! Er wusste genau, wie sehr sie ihre Heilkräuter liebte (Oh, und wie er das wusste!), aber das war doch kein Wetter, um welche pflücken zu gehen! Was dachte sie sich bloß dabei?!

Um ehrlich zu sein, hatte er kürzlich mitbekommen, wie sie vor sich hinmurmelte, dass sie einige Heilkräuter im Äußeren Palast pflanzen müsste. Nun, solange sie den Kaiserpalast nicht in einen riesigen Kräutergarten verwandelte, hatte Jinshi überhaupt nichts dagegen einzuwenden. Vor allem nicht, nachdem er sich dank der Medizin, die die Apothekerin aus eben jenen Kräutern hergestellt hatte, von seiner Erkältung erholt hatte. Da wäre es ziemlich nützlich, einige mehr direkt in der Nähe wachsen zu haben.

Aber das hieß noch lange nicht, dass er zulassen würde, wie sie ihretwegen die eigene Gesundheit schädigte!

Energisch eilte Jinshi auf sie zu und öffnete bereits den Mund, um sie auszuschimpfen und ihr zu befehlen, sich auf der Stelle nach drinnen zu begeben.

Doch als er nahe genug war, um ihr Gesicht sehen zu können...

...blieben ihm all die Worte, die er zu ihr sagen wollte, im Halse stecken.

Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen und seine Wangen wurden rot. Diesmal nicht von der Kälte.

Maomaos Gesicht zierte ein Ausdruck reinster Glückseligkeit, als würde sie sich gerade im Paradies befinden. Ihr Mund war zu einem breiten, ehrlichen Lächeln gebogen und die tiefblauen Augen strahlten wie ein wolkenloser Himmel, der von der Sonne erleuchtet wurde. Im Moment sah sie für ihn so wunderschön aus wie eine echte himmlische Nymphe. Eine noch echtere als er selbst.

Jinshi kam es so vor, als wäre sein Herz von einem Blitz getroffen worden und hätte für einen Augenblick aufgehört zu schlagen.

Zwar war dies beileibe nicht das erste Mal, dass er sie dermaßen glücklich sah (man brauchte nur an ihr Benehmen zu denken, als er damals erschienen war, um sie loszukaufen, und ihr dieses seltsame Insekt mitgebracht hatte), aber so eine heftige Faszination verspürte er bei ihrem Anblick zum allerersten Mal. 

Von diesem besagten Anblick beinahe schon magisch angezogen wie ein Nachtfalter von einer brennenden Laterne, bewegten sich seine Füße fast wie von selbst, bis er direkt hinter ihr stand. Sein Verstand war wie leergefegt, sodass er keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte. Zumindest keinen, der nichts mit Maomao zu tun hatte.

Er beugte sich etwas vor, um zuzusehen, was sie da tat. Immer noch vollends damit beschäftigt, die Wurzeln der Pflanze aus der Erde zu bekommen, schien sie seine Präsenz überhaupt nicht bemerkt zu haben. Nun, wie denn auch, wenn sie so wirkte, als befände sie sich in einer Welt, in der es außer ihr und der Pflanze nichts und niemanden mehr gab? Da war eben kein Platz mehr für Jinshi.

Der junge Herr spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen, als ihm dieser Gedanke kam, und seufzte. Wenn sie ihn eines Tages so ansehen würde wie sie ihre Kräuter ansah, dann wäre er wirklich der glücklichste Mann auf Erden.

Er schüttelte leicht den Kopf, um die unangenehmen Gedanken zu verscheuchen, und konzentrierte sich wieder auf ihr Gesicht und ihre Handbewegungen, seinen Schirm über sie haltend, um sie vor dem Regen abzuschirmen.

Ein kleines Lächeln schlich sich wieder in sein Gesicht, als er sah, wie sie einen kleinen Regenwurm, der auf einem Blatt der Pflanze herumkroch, ohne mit der Wimper zu zucken in die Hand nahm und auf die Erde setzte, bevor sie weitergrub. Ihre Hände und ihr Rock waren bereits voller Erde und Schlamm. 

Jinshi wollte sich nicht einmal ausmalen, wie seine oberste Zofe Suiren darauf reagieren würde. Ein bisschen tat ihm die Apothekerin jetzt schon leid, auch wenn sie natürlich selbst schuld war. 

Aber er musste zugeben, dass es ihn faszinierte, wie Dinge, die viele als wertlos oder sogar als widerlich betrachteten, für Maomao wahre Schätze waren. Sie war wirklich eine ganz besondere junge Frau. In allerlei Hinsicht.

Und noch faszinierender fand er es, dass sie selbst dreckig und durchnässt die schönste Frau war, die er jemals gesehen hatte. Auch wenn sie sich selbst als unscheinbar bezeichnete, war Jinshi der Meinung, dass sie jede der aufgetakelten Palastdamen bei Weitem übertraf. Keine von denen konnte mit Maomao mithalten. Allein ihre Augen waren... etwas.

Er erinnerte sich noch ganz genau, wie er sie zum allerersten Mal ohne ihre Sommersprossen bei der Gartenfeier damals gesehen hatte und von ihrem Aussehen so verblüfft war, dass es ihm kurz die Sprache verschlagen hatte.

Egal, was für eine Art von Schönheit sich auch um ihn herum befinden mochte, Jinshis Augen sahen einzig und allein Maomao. Genau wie sie aktuell nichts als diese Pflanze vor sich sah, sah er nichts anderes als Maomao, sich nichts sehnlicher wünschend, als eine eigene kleine Welt zu errichten, in der er mit ihr zusammen sein konnte. Nur mit ihr allein.

Auf einmal zerriss jedoch ein lautes Niesen die Luft und holte den jungen Herrn abrupt aus seinen Tagträumen und in die Realität zurück. Es waren ungefähr fünf Minuten vergangen, seit er sich ihr genähert hatte.

Sein Blick fiel wieder auf Maomao und sein Mund öffnete sich vor Schreck. Er war von ihrem Anblick derart fasziniert gewesen, dass er erst jetzt merkte, wie durchnässt sie war und wie sehr sie vor Kälte zitterte.

Fassungslos von seiner eigenen Dämlichkeit, biss er die Zähne zusammen. Er war ein Idiot! Wie konnte er so etwas Offensichtliches nicht schon früher bemerken?! Hach, aber das konnte man von Maomao selbst, die so vertieft in ihre Pflanze war, ebenfalls behaupten...

Er packte sie mit der freien Hand beim Arm.

„Hey, Apothekerin! Was bitte machst du hier draußen bei diesem Regen und auch noch ohne Regenschirm?! Du bist ja klatschnass!"

Maomao zuckte zusammen und riss die Augen auf, als sie seine Stimme aus nächster Nähe vernahm, und kehrte ebenfalls auf den Boden der Tatsachen zurück, als sie ganz plötzlich auf die Füße gezerrt und zum Aufstehen gezwungen wurde. In einer Hand hielt sie die herausgezogene Pflanze.

So wie es aussah, hatte sie tatsächlich erst jetzt mitbekommen, dass Jinshi hinter ihr stand.

Sie drehte den Kopf in seine Richtung.

„Eure Exzellenz? Oh, es regnet ja. Habe ich überhaupt nicht gemerkt,” meinte sie mit einem gelassenen Gesichtsausdruck, in den Himmel hochblickend.

Er sah sie vollkommen entgeistert an. Als würde er seinen Ohren nicht trauen.

„Was?! Du hast es nicht gemerkt?! Willst du mich auf den Arm nehmen?!"

Ja, diese junge Frau war wahrhaftig mehr als nur einzigartig. Was in Momenten wie diesen leider nicht immer etwas Gutes bedeuten musste.

„Nun, ich habe diese Pflanze entdeckt und dann..."

Jinshi zog an ihrem Arm und brachte sie dazu, sich zu ihm umzudrehen.

„Vergiss die Pflanze! Komm her!", befahl er und legte den offenen Regenschirm kurz auf den Boden, um seinen Umhang auszuziehen und ihr um die Schultern zu legen. „Schau dir nun an, wie du frierst! Und beschwerst dich, dass ICH meine Gesundheit vernachlässige! Tsk!" Vor Wut mit der Zunge schnalzend, hob er seinen Schirm wieder auf und nahm die Apothekerin bei der Hand. „Lass uns nach Hause gehen und dich ins Trockene bringen!" 

Und eilte los. Maomao, die offenbar eingesehen hatte, dass er Recht hatte, ließ sich ohne Widerworte wegführen, doch Jinshi machte so große Schritte, dass sie auf ihren deutlich kürzeren Beinen kaum mit ihm mithalten konnte.

Während er sie so hinter sich herzerrte, kam ihm eine Art Déjà-Vu. Ach ja, während der Gartenfeier damals hatte er ja genau dasselbe getan. Nachdem sie die vergiftete Suppe verkostet hatte.

Jinshi gab einen gereizten Seufzer von sich. Nicht zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, wie sehr sie ihn manchmal trotz aller Gefühle und all seiner Zuneigung zu ihr mit ihren Aktionen in den Wahnsinn trieb. 

Ganz plötzlich kam ihm eine Idee und er blieb so abrupt stehen, dass sie nicht rechtzeitig bremsen konnte und mit ihm zusammenstieß. Maomao rieb sich stirnrunzelnd die Nase, mit der sie gegen seinen Rücken geknallt war.

„Eure Exzellenz! Was ist de-”

Doch noch bevor sie zu Ende sprechen konnte, sah Jinshi sich rasch um, und als er sich vergewissert hatte, dass draußen keiner in der Nähe war (was sicherlich am starken Regen lag), drehte er sich schweigend und mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck zu ihr um und umschlang aus heiterem Himmel ihre Taille. 

Dann klemmte er sich Maomao unter den Arm und begann erneut, mit raschen Schritten voranzueilen. Die Apothekerin protestierte und strampelte mit den Beinen. Der junge Herr festigte seinen Griff um sie, damit sie nicht fiel.

Während des ganzen Prozesses wurden sein Arm und seine Hüfte nass, doch er kümmerte sich nicht darum.

„Hör auf, so zu zappeln”, ermahnte er sie in einem strengen Tonfall. „So geht es eben schneller. Du bist bis auf die Knochen durchnässt, wir haben keine Zeit zu verlieren!”

Maomao gehorchte und hielt still. Sie mochte der Meinung sein, dass er übertrieb, doch hatte wohl eingesehen, dass sie in jener Situation sowieso nichts ausrichten konnte, also ließ sie ihn eben gewähren.

Endlich hatte der junge Herr den Eingang seiner Residenz erreicht und schmiss seinen nassen Regenschirm achtlos auf den Boden, sich nicht darum scherend, ob man ihn dafür tadeln würde oder nicht. 

Er stellte die vor Kälte zitternde Maomao, (die immer noch diese vermaledeite Pflanze in der Hand hielt), auf den Boden und schloss seinen Umhang, den sie derzeit trug, noch etwas enger um ihren Körper. Sie zog die Nase hoch.

„Warte kurz hier", wies er sie an. „Ich gehe Suiren holen, damit sie sich um dich kümmert. Du brauchst dringend ein heißes Bad und trockene Kleidung."

Und mit diesen Worten sprintete Jinshi davon, um nach seiner obersten Zofe zu suchen.

Hinter sich hörte er die Apothekerin noch ein paar Mal laut niesen.

Jinshi hatte ein ganz mieses Gefühl dabei.

Notes:

Ich wette, ihr könnt euch bereits ausmalen, was danach kommt :)

Chapter 28: Du bist wirklich hier, Teil 8 (1)

Notes:

Ihr wundert euch bestimmt, warum die Fortsetzung früher als gewöhnlich kommt und „Teil 8 (1)" heißt, nicht wahr?
Nun, mir ist beim Schreiben des 8. Teils bei einer Stelle der Gedanke gekommen: „Wow, das wäre aber ein toller Cliffhanger!" Aber das Problem war, dass besagter „Cliffhanger" sich mitten im Kapitel befand...
Also hab ich einfach beschlossen, das Kapitel in zwei Teile aufzuteilen! Der zweite kommt an diesem Wochenende, aller Wahrscheinlichkeit nach am Sonntag!

Und überhaupt ist es sogar leichter für mich, mehr, aber dafür kürzere Kapitel zu schreiben! Also denk ich, dass ich mit dem neunten genauso verfahren werde!

Chapter Text

Auch am darauffolgenden Tag schüttete es draußen wie aus Eimern.

In Jinshis Schreibstube herrschte eine bedrückende Stille. Die einzigen Geräusche waren das heftige Trommeln der Regentropfen gegen das Fenster und die gelegentlichen Seufzer des jungen Herrn selbst. Letzterer saß, die Wange auf die Handfläche gestützt, wie so oft an seinem Schreibtisch und hielt seinen Pinsel in der anderen Hand, mürrisch auf das vor sich liegende Dokument starrend, ohne es richtig wahrzunehmen.

Weder er noch Gaoshun, der wie immer hinter ihm stand, gaben auch nur ein Wort von sich.

  Aber selbst wenn der Assistent etwas gesagt hätte, bezweifelte er, dass Jinshi ihm überhaupt zuhören würde, denn dieser schien gerade offensichtlich mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Oder besser gesagt: bei einem gewissen Jemand.

„Sie und ihre Pflanzen", grummelte der junge Herr schließlich nach einer Weile, damit das Schweigen brechend. „Als ob die Dinger es wert sind, seine eigene Gesundheit so aufs Spiel zu setzen..." Dann gab er ein Schnauben von sich. „Aber warum überrascht mich das eigentlich? Schließlich reden wir hier von jemandem, der freiwillig Gift nimmt. Und es auch noch genießt..."

Dass Maomao ihm bezüglich seiner Arbeit ähnliche Vorwürfe machte, „vergaß” er dabei ganz beiläufig.

Gaoshun sagte nichts dazu. Überhaupt klang es eher so, als würde Jinshi mit sich selbst sprechen, demnach beschloss der Assistent, sich nicht einzumischen und ihn einfach vor sich hinschimpfen zu lassen. 

Auf dem Schreibtisch stand ein Becher mit Tee, doch da Jinshi ihn nicht angerührt hatte, war er mittlerweile eiskalt geworden. 

Genauso kalt wie die Atmosphäre im Raum selbst trotz des brennenden Kohleofens war.

Jinshi legte den Pinsel hin, biss die Zähne zusammen und barg das Gesicht für einen Moment in den Händen. Danach drehte er sich zu seinem Assistenten um und blickte diesen erschöpft an.

Seine Augenringe waren der beste Beweis dafür, wie schlecht er vergangene Nacht geschlafen hatte.

„Gaoshun."

„Ja, Herr?"

Denn er war krank gewesen.

Krank vor Sorge.

Um Maomao.

Seine Augenbrauen sackten nun nach unten, was seinem unfassbar schönen Gesicht einen Ausdruck tiefen Kummers verlieh.

„Das ist alles meine Schuld."

Und mit diesen Worten sprach er genau das aus, was ihn gerade am meisten quälte.

Das letzte Mal, als er die Apothekerin vor dem Schlafengehen gesehen hatte, hatte sie zwar gelegentlich vor sich hingeschnieft und geniest, nach dem heißen Bad jedoch eigentlich ganz gut ausgesehen. Dieselbe Maomao wie immer, mochte man meinen.

Und obwohl sie ihm ausdrücklich versichert hatte, dass sie in Ordnung war, hatte Jinshi es sich nicht nehmen lassen, ihr trotz ihres gereizten Blickes die Hand auf die Stirn zu legen und ihre Temperatur höchstpersönlich zu überprüfen. 

Die Tatsache, dass sie nicht fieberte, hatte ihn tatsächlich ein wenig aufatmen lassen, doch irgendwie wurde er trotzdem das unangenehme Gefühl nicht los, dass dies bloß die Ruhe vor dem Sturm war.

Und leider hatte er mit jener Vorahnung punktgenau ins Schwarze getroffen:

***

Als der nächste Morgen angebrochen war, nahm Jinshi dankend sein Frühstück von Suiren entgegen, machte jedoch keine Anstalten mit dem Essen zu beginnen, sondern schaute sich stirnrunzelnd in seinen Gemächern um.

Die oberste Zofe wusste genau, nach wem er suchte. Auch sie wirkte leicht verwundert.

„Hm, Xiaomao ist aber spät dran heute", meinte sie. „Normalerweise müsste sie schon längst da sein, um ihre Anweisungen für den Tag entgegenzunehmen. Sonst war sie stets pünktlich." Sie warf dem nun besorgt aussehenden Jinshi einen Blick zu. „Ich gehe kurz zu ihr, um nachzusehen, was los ist. Bitte esst derweil, junger Herr."

Der junge Adelige tauchte den Löffel in seinen Reisbrei, starrte jedoch bloß darauf, ohne ihn zum Mund zu führen. Sein Appetit hielt sich nach der fast komplett schlaflosen Nacht sehr in Grenzen. Trotzdem zwang er sich nach einer Weile, ein paar Bissen zu sich zu nehmen.

Doch seine Besorgnis schnürte seine Kehle dermaßen zu, dass er nur mit Mühe schlucken konnte.

 Die Zeit verging. Suiren war immer noch fort. 

Der vollkommen angespannt dasitzende Jinshi hatte bereits begonnen, gedanklich die Sekunden zu zählen, bis er es nach etwa fünf Minuten nicht mehr aushielt und sein Frühstück beiseite stellte, um aufzustehen und selbst nachsehen zu gehen.

Und gerade als er den Löffel neben der Schüssel ablegen wollte, kam Suiren zurück und blickte ihn bedrückt an.

„Junger Herr. Xiaomao hat Fieber. Sie wird heute und eventuell auch die nächsten Tage im Bett bleiben müssen."

Der Löffel fiel Jinshi aus der Hand. Er riss die Augen weit auf und sprang auf die Füße.

„Ich wusste es! Ich… Ich wusste es doch! Ich muss zu ihr!"

Er wollte bereits aus dem Raum eilen, doch Suiren stellte sich vor die Tür.

„Sie hat mich gebeten, Euch nicht zu nah an sie heranzulassen, damit Ihr Euch nicht wieder ansteckt. Und da bin ich ganz ihrer Meinung. Ihr dürft nicht erneut erkranken, junger Herr."

Jinshi erstarrte und sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, welcher der älteren Dame im Herzen wehtun musste. Er öffnete bereits den Mund, um zu widersprechen, doch dann schloss er ihn wieder, ballte die Hände zu Fäusten und senkte den Kopf.

Sein Blick war unergründlich.

„Bitte kümmere dich um sie, Suiren...", sagte er bloß leise. Seiner Stimme war anzuhören, wie viel Mühe es ihn kostete, sich zusammenzureißen.

Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln.

„Selbstverständlich, junger Herr. Das versteht sich von selbst. Ich habe ihr Wasser gebracht und dabei geholfen, frische Kleidung anzuziehen. Sie schläft jetzt wieder, aber ich werde ihr später auch etwas zu essen bringen."

„Danke dir."

„Sie hat zwar gemeint, dass sie ganz gut allein zurechtkommt und ich mir keine Umstände machen soll, weil sie bloß eine einfache Dienerin ist, aber natürlich werde ich sie nicht einfach sich selbst überlassen."

Jinshi hob den Blick wieder und gab dann einen Seufzer von sich.

„Ja... das klingt ganz nach ihr. Hör bloß nicht auf sie, Suiren..."

In diesem Moment erschien Gaoshun, um Jinshi zur Arbeit zu begleiten.

***

„Ja, genau. Meine Schuld. Meine", murmelte er nun, in seiner Schreibstube sitzend, den Kopf auf den Schreibtisch legend und mit leerem Blick vor sich hinstarrend.

„Bitte gebt Euch nicht die Schuld, Herr", antwortete Gaoshun mit leichtem Mitgefühl in der Stimme und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Es war Xiaomaos eigene Entscheidung, im Regen Kräuter sammeln zu gehen. Damit habt Ihr nichts zu tun."

„Schon, aber wenn ich sie nicht mit meiner Erkältung angesteckt hätte, wäre sie möglicherweise selbst nach diesem Regen nicht krank geworden... Sie hat eine ziemlich robuste Gesundheit..."

„Ich weiß, Herr. Und eben deshalb wird sie auch schnell wieder gesund, Ihr werdet schon sehen. Wenn Xiaomao jetzt hier wäre, würde sie Euch bestimmt sagen, dass es sinnlos sei, sich über etwas den Kopf zu zerbrechen, was man sowieso nicht mehr ändern kann. Ihr kennt sie ja."

„Oh, und wie ich sie kenne."

Jinshis Lippen zierte nun ein bitteres Lächeln. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sein Assistent hatte Recht und er wusste dessen Versuch, ihn aufzumuntern, auch wirklich zu schätzen, doch die Schuldgefühle hielten sein Herz gerade in einem solch eisernen Griff, dass Worte da leider keine große Wirkung hatten. Sie würden erst dann wieder verschwinden, wenn er mit eigenen Augen sah, dass Maomao wieder vollkommen gesund und ganz die Alte war.

Bis dahin würde er sich quälen müssen.

Und auf seine Arbeit würde er sich jetzt ganz sicher auch nicht konzentrieren können. Vollkommen unmöglich.

Dies schien Gaoshun, der seinen Herrn wunderbar kannte, ebenfalls eingesehen zu haben. Und weil er ihn so gut kannte, wusste er auch genau, was Jinshi aktuell am liebsten tun würde.

Der Assistent seufzte und rieb sich kurz den Nasenrücken, bevor er erneut das Wort ergriff:

 „Ich sehe, dass Ihr gerade nicht vorankommt, Herr. Wie wäre es, wenn Ihr eine kleine Pause macht und kurz nach Xiaomao seht? Danach werdet Ihr Euch bestimmt besser fühlen."

Kaum hatte er diese Worte vernommen, hob Jinshi auf der Stelle den Kopf vom Tisch und stand so abrupt auf, dass er den Teebecher beinahe zu Boden gefegt hätte.

***

Jinshi hatte der kranken Apothekerin bereits am Vormittag einen kurzen Besuch abstatten dürfen, nachdem er es geschafft hatte, Suiren nach dem Frühstück zu überreden, ihn wenigstens für ein paar Minuten zu ihr zu lassen, um selbst zu sehen, wie es ihr ging. Sein Hauptargument war gewesen, dass er andernfalls den ganzen Tag keinen Frieden finden würde.

Natürlich wusste er da bereits, dass seine Unruhe durch nur einen Besuch nicht vollständig gelindert werden würde. Aber das verschwieg er, sonst würde Suiren es sich möglicherweise anders überlegen.

Nervös an seinen in den breiten Ärmeln verborgenen Fingern herumdrehend, schritt er somit, gefolgt von Suiren und Gaoshun, zu Maomaos Zimmer. Es kostete ihn beinahe seine gesamte Selbstbeherrschung, keine allzu schnellen Schritte zu machen oder gar loszurennen.

Ein Glück, dass er in seiner eigenen Residenz und in der alleinigen Gegenwart seiner Bediensteten zumindest nicht gezwungen war, seine übliche Maske aufzusetzen. 

Maomao lag, den Rücken zu ihm gedreht, im Bett. Zwar konnte er aufgrund dieser Position ihr Gesicht nicht sehen, doch den regelmäßigen Bewegungen ihres Brustkorbes nach zu urteilen, musste sie tief und fest schlafen. Es war ein mehr oder weniger friedlicher Schlaf, wie er mit Erleichterung feststellte.

Ihren Atemgeräuschen zufolge musste ihre Nase verstopft sein. So wie bei ihm damals. Er nahm sich vor, Suiren darum zu bitten, ihr später auch so eine Inhalation vorzubereiten.

 Jinshi schluckte. Ganz leise, um sie nicht zu stören, machte er ein paar Schritte auf sie zu, um sie sich näher anzusehen.

So im Bett liegend, sah Maomao so unfassbar klein und zerbrechlich aus, dass Jinshis Herz zu schmerzen begann und er einen fast schon unwiderstehlichen Drang verspürte, sie in die Arme zu schließen und zu beschützen. Doch dann packte er mit der rechten Hand seinen linken Unterarm und bohrte sich fast schon die Nägel in die eigene Haut, um wieder zu sich zu kommen und sich zusammenzureißen. Der körperliche Schmerz bot eine willkommene, wenn auch nur kleine Ablenkung von dem seelischen.

Sich leicht über Maomao beugend, betrachtete er ihr vom Fieber gerötetes Gesicht und den im Schlaf zitternden, zierlichen Körper. Ihre Hände waren wie so oft zu Fäusten geballt. Sie zuckte leicht, als würde sie seine Gegenwart spüren.

Der junge Herr seufzte. Selbst wenn er besagtem Drang nachgeben sollte, vor einer Erkältung konnte er seine kleine Apothekerin sowieso nicht beschützen. Im Gegensatz zu ihr, die sich während seiner eigenen Erkrankung so wunderbar um ihn gekümmert hatte und zu jedem einzelnen seiner Symptome das passende Mittel kannte, war er in jener Hinsicht vollkommen nutzlos. 

Er konnte so gut wie nichts für sie tun. So gut wie nichts, um ihr Leid zu lindern.

Dieser Gedanke trieb dem jungen Herrn beinahe die Tränen in die Augen.

Dies war das allererste Mal in seinem Leben, dass er einen geliebten Menschen in solch einem Zustand erleben musste. Das erste Mal, dass er dermaßen starke Gefühle für jemanden hegte, um sich solche Sorgen zu machen, dass sie ihn innerlich auffraßen.

Es war einfach nicht mit Worten zu beschreiben.

Seinen Schmerz mit Mühe herunterschluckend, griff er nach der Bettdecke, die ein wenig heruntergerutscht war, und deckte Maomao bis zum Kinn zu.

Als Nächstes wollte seine Hand sich nach ihrem Gesicht ausstrecken, um ihr behutsam über die Wange zu streicheln. Doch hielt mitten in der Bewegung inne, als er darafhin Suirens Stimme hinter sich vernahm. 

„Bitte nicht zu nah, junger Herr."

Ach ja, richtig. Da war ja was.

Aber um ehrlich zu sein, war es ihm so ziemlich egal, ob er sich anstecken würde oder nicht. Denn er zog es tausend Mal vor, selbst krank zu sein, als Maomao krank zu sehen. 

Ersteres war zwar unangenehm, doch Letzteres einfach nur die reinste Tortur.

Wenn ihm jemand angeboten hätte, Maomaos Erkältung von ihr zu nehmen und auf ihn zu übertragen, hätte er ohne zu zögern eingewilligt.

Ach, wie gern hätte er etwas für sie getan, ihr irgendwie geholfen...

***

Doch dieses Mal, kurz vor seinem zweiten Besuch, war die böse Vorahnung, das mulmige Gefühl in seinem Magen wiedergekommen und das stärker als je zuvor. Und es wurde immer schlimmer, je mehr er sich ihrem Zimmer näherte.

So schlimm, dass er sogar befürchtete, sich vor Beunruhigung gleich übergeben zu müssen.

Es war so, als würden Alarmglocken in seinem Inneren schrillen. Eine überwältigende Angst, dass seiner Apothekerin in seiner Abwesenheit etwas zugestoßen war.

Im Versuch, sich nichts anmerken zu lassen, hoffte Jinshi, dass Gaoshun, der wie immer in einigem Abstand hinter ihm herschritt, nichts von seinem inneren Kampf mitbekam. Aber da dieser Mann zu den Menschen gehörte, die ihn am besten kannten, war er sich da nicht so sicher.

„Ganz ruhig. Du musst dich beruhigen", redete er sich selbst gedanklich ein, während er tiefe Atemzüge machte. „Die Apothekerin ist in Ordnung. Sie liegt jetzt ganz sicher immer noch im Bett und schläft tief und fest. Und ihr Fieber ist bestimmt auch schon gesunken. Genau. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst."

Doch es half nichts. Er konnte sich einfach nicht beruhigen.

Mit leicht bebender Hand öffnete Jinshi schließlich die Tür zu ihrem Zimmer...

...und kurz darauf hallte sein herzzerreißender Schrei durch die gesamte Residenz.

„MAOMAO!!!"

Die Apothekerin lag regungslos und mit geschlossenen Augen zwischen dem Bett und dem Tisch auf dem Boden. Ihr Körper zitterte wie Espenlaub.

Chapter 29: Du bist wirklich hier, Teil 8 (2)

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

„MAOMAO! Was hast du bloß?! Maomao!”

Jinshis Stimme überschlug sich förmlich vor Panik. Er hatte es so eilig, zur Apothekerin zu gelangen, dass er mit dem Fuß beinahe am Bett hängen geblieben und selbst der Länge nach zu Boden gestürzt wäre. Bei ihr angekommen, fiel er schließlich auf die Knie und hob die regungslose und schwer atmende Maomao in seine Arme, sie verzweifelt an sich drückend. Als ihr Kopf auf seiner Schulter landete und er spürte, wie sehr sie vor Fieber glühte, stockte dem jungen Herrn für einige Augenblicke der Atem. Er küsste sie erschrocken auf die Wange.

Daraufhin begann sie sich leicht zu rühren und ein winziger Hoffnungsschimmer gesellte sich zur fürchterlichen Angst, welche Jinshis weit aufgerissene Augen erfüllte. Ihr Herz klopfte heftig gegen seine Brust und sein Herz gegen ihre.

„Maomao! Was ist mit dir?! Was... Was ist passiert?! Maomao! Hey! Öffne die Augen! Bitte öffne deine Augen!!!"

Jeder Überrest der Fassung, welche er sein Leben lang bewahren musste, war nun spurlos verschwunden. Falls die Damen aus dem Inneren Palast ihn in seinem derzeitigen Zustand erleben würden, fiele es ihnen bestimmt schwer zu glauben, dass dieser Mann derselbe sein sollte, der ihnen jedes Mal ein honigsüßes Lächeln schenkte und so unnahbar war wie ein himmlisches Wesen.

Jinshis Stimme klang so, als würde er vor Angst um Maomao jeden Moment den Verstand verlieren. Oder einen Herzanfall erleiden. Die kranke junge Frau nun mit einem Arm festhaltend, griff er nach ihrer Schulter und begann, sie zu schütteln.

„Öffne die Augen, ich flehe dich an! Maomao!"

Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass ihm Tränen über das Gesicht liefen.

„Meine Güte, was ist denn hier passiert, junger Herr?!"

Suiren kam auf der Stelle angeeilt. Bestimmt hatte sie seinen Schrei vorhin mitbekommen und alles stehen und liegen gelassen.

Doch Jinshi antwortete ihr nicht. Und nicht nur das: er schien ihre Frage überhaupt nicht mitbekommen zu haben. Die Einzige, die er im Moment hörte und sah, war Maomao, welche er immer noch ganz außer sich vor Angst darum anflehte, die Augen zu öffnen, während er sich mit ihr im Arm erhob und unruhig im Zimmer auf und ab zu laufen begann.

„Unser Herr konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren, also habe ich ihm gestattet, kurz nach Xiaomao zu sehen", erklärte Gaoshun an seiner Stelle. „Aber als wir eintraten... fanden wir sie am Boden liegend vor."

Suiren hob erschrocken die Hand zum Mund und weitete die Augen. Sie sah genauso aus wie der Assistent vorhin beim Betreten des Raumes. Die beiden hatten ihren Herrn noch nie so schreien gehört. Niemals. Nicht einmal, als er noch ein Kind gewesen war.

„Ich habe doch erst vor einer knappen halben Stunde nach ihr gesehen...", murmelte die oberste Zofe. „Sie lag in ihrem Bett und schlief." Sie machte einen Schritt auf Jinshi zu und streckte die Hand aus, wohl in der Absicht, ihn aufzuhalten. „Junger Herr! Ihr solltet-"

Doch Gaoshun unterbrach die ältere Dame, indem er ihr die Hand auf die Schulter legte. Sie drehte sich zu ihm um und sah, wie er bekümmert den Kopf schüttelte.

„Das wird nichts bringen. Im Moment bekommt er nichts um sich herum mit."

Suiren warf ihm einen Blick zu und setzte dann den gleichen Gesichtsausdruck an wie er.

„Ihr habt Recht. Dann hole ich kurz kühles Wasser und ein Tuch für Xiaomaos Stirn."

Und mit diesen Worten eilte sie wieder davon.

Währenddessen lief Jinshi immer noch im Zimmer herum, Maomaos zitternden Körper eng an sich drückend.

Auf einmal erfüllte ein Husten den Raum.

Der junge Herr blieb abrupt stehen und begann, der Apothekerin vorsichtig auf den Rücken zu klopfen, bis sie mit dem Husten aufhörte.

„Maomao!"

Mit einiger Mühe öffnete Maomao endlich die Augen und hob langsam den Kopf von seiner Schulter. Sie wirkte, als sei sie kaum bei Bewusstsein und begreife nicht, wo sie sich befand.

„Eure... Exzellenz...?" Ihre Stimme klang leise und leicht heiser.

Jinshi stützte mit einer Hand ihren Kopf, damit dieser nicht wieder zurück auf seine Schulter fiel, presste seine Stirn an ihre und blickte ihr direkt in die halbgeschlossenen und vor Fieber glasigen Augen. Noch immer liefen Tränen seine Wangen herab.

„Apothekerin! Maomao! Ich bin hier! Siehst du mich?"

Sie blinzelte ein paar Male und erwiderte dann zu seiner Erleichterung seinen Blick. Doch nach einigen Augenblicken runzelte sich auf einmal ihre Stirn.

„Geht... weg..." 

„Was?"

Der junge Herr starrte sie fassungslos an, kaum glaubend, was er da gerade gehört hatte. Und noch verblüffter wurde er, als er spürte, wie sie beide Hände auf seine Brust legte, ihre noch verbliebene Kraft zusammennahm und ihn wegzuschieben versuchte.

„Ihr werdet... wieder… krank...", stieß sie noch hervor und wurde wieder von einem kurzen Hustenanfall durchgeschüttelt.

Jinshi riss die Augen so weit auf, wie es seine Augenlider zuließen. Er war für einen kurzen Moment vollkommen sprachlos.

„Wie... Wie kannst du in einem solchen Moment bloß an mich denken?!" Er ließ ihren Kopf los und drückte sie wieder mit beiden Armen verzweifelt an seinen Körper. „Hör auf! Hör auf damit! Ich gehe nirgendwohin!"

Mit diesen Worten nahm er auf dem Bett Platz und setzte Maomao auf seinen Schoß, so dass sie seitwärts saß und ihr Kopf nun an seine Brust gepresst war. Dann hob er sein äußeres Gewand an und wickelte sie darin ein, wie in eine Decke. 

„Nein...", protestierte sie noch schwach. „Geht weg..." 

Jinshi hörte nicht auf sie. Stattdessen begann er, ihr mit einer Hand sanft den Rücken zu reiben, bis er spüren konnte, wie ihre angespannten Muskeln sich allmählich entspannten und sie sich kraftlos an ihn lehnte.

Er schloss sein Gewand noch enger um sie, ganz deutlich spürend, wie heftig sie immer noch zitterte. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie die arme Apothekerin auf dem kalten Boden gefroren haben musste.

Dann griff er behutsam nach ihrem Kinn und hob es so an, dass sie ihm mit ihren müden Augen ins Gesicht blickte.

„Apothekerin...", sprach er sie liebevoll an. „Sag mal, was ist denn eigentlich passiert? Warum bist du aufgestanden?" Inzwischen war sein Tränenfluss versiegt und er selbst deutlich ruhiger geworden. Auch wenn er sich trotzdem immer noch fürchterliche Sorgen um sie machte und ihm das Herz heftig gegen die Rippen pochte.

„M-Medizin..." brachte Maomao heraus.

Jinshi sah sie fragend an.

„Medizin?"

Die Apothekerin hob eine ihrer zitternden Hände und zeigte mit dem Finger auf den Tisch. Der junge Adelige blickte dorthin und entdeckte einige kleine Schüsseln mit einer dunklen Flüssigkeit. Einige Augenblicke später fiel bei ihm schließlich der Groschen.

„Warte, ist das etwa dieses Erkältungsmittel, das du auch mir damals gemacht hast? Ich kann es bis hierher riechen."

Maomao nickte.

„Ach so, ich verstehe! Du hast gemerkt, dass es dir schlechter ging, und wolltest deine Medizin nehmen, nicht wahr? Aber dann bist du unterwegs zusammengebrochen."

Wieder ein Nicken.

„So war das also..."

„Xiaomao hat mir heute Morgen erzählt, dass sie es letzten Abend für alle Fälle zubereitet und bereits in einzelne Dosen aufgeteilt hat, junger Herr", meinte Suiren, die inzwischen zurückgekommen war und den Behälter mit dem Wasser ebenfalls auf den Tisch stellte.

Der junge Adelige war froh darum, wusste er doch genau, wie gut jenes Mittel wirkte.

„Sehr gut! Dann lass mich dir eine davon geben, Apothekerin."

Wenig später war Jinshi damit beschäftigt, seiner Apothekerin das Mittel mit einem Löffel einzuflößen, während Suiren ihr ein feuchtes Tuch auf die heiße Stirn platzierte, ihr mit einem Taschentuch die leicht laufende Nase sauberwischte und dann begann, Maomaos Hosenbeine und Ärmel hochzukrempeln, um nachzusehen, ob sie sich beim Sturz möglicherweise verletzt hatte. Aber glücklicherweise war da nichts.

Maomao ließ alles klaglos über sich ergehen. Sie rührte sich kaum, während sie nach und nach die Medizin aus dem Löffel trank und herunterschluckte.

Währenddessen stand Gaoshun an der Tür und wartete auf mögliche Anweisungen. Maomaos Zimmer konnte man nicht gerade als groß bezeichnen, demnach würde es mit einer vierten Person im Raum nun wirklich eng werden.

„Bald wird es dir besser gehen", murmelte Jinshi, während er die nun leere Schüssel beiseite stellte und der Apothekerin als Nächstes dabei half, ein Glas Wasser zu trinken.

Einige Minuten später gab Maomao ein Gähnen von sich und schlief letztendlich vollkommen erschöpft und an Jinshis Körper gelehnt ein. Dieser umarmte sie wieder, legte das Kinn auf ihren Kopf und atmete tief durch, ohne ein Wort zu sagen. So blieb er einige Zeit. Dann hob er sie vorsichtig von seinem Schoß, gab ihr einen Kuss auf die Schläfe, legte sie ins Bett und deckte sie gut zu.

In seinen Augen lag eine gewisse Erleichterung, als er sie wieder tief und fest schlafen sah, jedoch auch eine ziemliche Angespanntheit. Diese war der Ungewissheit geschuldet, was sie alle noch in nächster Zeit erwarten könnte.

Währenddessen seufzte Maomao leise im Schlaf und drehte sich auf die Seite, sich zusammenrollend wie ein kleines Kätzchen.

***

Das einzige Geräusch im Zimmer war Maomaos regelmäßige, leicht schnaufende Atmung. Jinshi saß immer noch auf ihrem Bett und strich ihr langsam über den Kopf. In seinem Blick, mit dem er sie bedachte, lag eine tiefe, unbeschreibliche Zuneigung, jedoch war diese durchmischt mit Traurigkeit und schlechtem Gewissen. 

Die beiden waren in das rot-orangene Licht der untergehenden Sonne getaucht, deren Strahlen durch das Fenster in den Raum eindrangen.

Es wirkte wie die Szene in einem Gemälde.

Schlussendlich gab Jinshi ein Seufzen von sich, holte vorsichtig eine von Maomaos Händen unter der Decke hervor und drückte sie.

„Suiren. Gaoshun."

Die Beiden, die vor der Tür standen und ihm schweigend zusahen, horchten beim Klang seiner Stimme auf der Stelle auf.

„Ja, Herr?"

Der junge Adelige hob den Blick und schaute sie an.

„Ich werde heute Nacht bei ihr bleiben."

Seine Augen und seine Stimme waren erfüllt mit unerschütterlicher Entschlossenheit.

Suiren und Gaoshun waren für einen Moment sprachlos.

„Aber Herr..."

„Zur Hölle mit der Arbeit", unterbrach Jinshi seinen Assistenten, noch bevor dieser zu Ende sprechen konnte. „Die kann warten. Ich erledige sie schon morgen, keine Sorge."

„Und was, wenn Ihr Euch wieder erkältet?", meldete sich nun Suiren zu Wort.

„Auch das ist mir egal."

„Xiaomao wird sicherlich nicht erfreut sein, wenn Ihr Euch bei ihr ansteckt."

Jinshi schüttelte den Kopf.

„Ich weiß. Aber nach dem, was passiert ist, kann ich sie nicht einfach so allein lassen." 

Ganz genau. Selbst krank würde er sich ohne jedes Nachdenken der Arbeit zuwenden und diese, wie es seiner lebenslangen Gewohnheit entsprach, über die eigene Gesundheit stellen. Doch wenn Maomao diejenige war, die krank war, war er bereit, ihr zuliebe alles stehen und liegen zu lassen.

Suiren runzelte leicht die Stirn.

„Ich fürchte, ich kann das nicht erlauben, junger Herr."

Jinshi wurde wütend, als er diese Worte vernahm. Er hatte größten Respekt vor seiner obersten Zofe, die ihn großgezogen hatte und einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben war, und widersprach ihr nur selten. Doch in diesem Fall ging es nicht anders.

Er zeigte mit der freien Hand auf die schlafende Maomao, im Versuch, seine Stimme nicht allzu sehr zu heben, damit er sie nicht versehentlich aufweckte.

„Suiren! Schau nur, wie sie zittert! Wie kannst du von mir bloß erwarten, sie jetzt allein zu lassen?! Was, wenn sie erneut stürzt und sich diesmal verletzt?! Du kannst nicht rund um die Uhr auf sie aufpassen!"

Seine Stimme bebte beinahe vor unterdrückter Verzweiflung und durch seinen Körper fuhr ein leichter Schauder, als er jene Worte aussprach. Er ergriff die Hand der Apothekerin nun mit seinen beiden, dem Assistenten und der Zofe zu verstehen gebend, dass er sich nicht von der Stelle rühren würde, auf keinen Fall. Und mit roher Gewalt würde ihn selbstverständlich keiner von dort fortzerren.

Beide wirkten ratlos, als würden sie sich den Kopf zerbrechen, was sie tun sollten. Jinshi warf ihnen einen trotzigen Blick zu.

„Schluss jetzt!", zischte er und seine Augen blitzten vor Autorität. „Ihr werdet mich bei ihr bleiben lassen. Das ist ein Befehl eures Herrn! Wollt ihr euch mir etwa widersetzen? Wenn ja, werde ich euch bestrafen, darauf könnt ihr Gift nehmen!"

Nun wirkte er mehr denn je wie ein Mitglied der kaiserlichen Familie.

Suiren und Gaoshun sahen sich gegenseitig an. Selbstverständlich erteilte Jinshi ihnen regelmäßig Befehle, doch er war kein Mensch, der gerne seinen hohen Status betonte und hatte sie in seinem ganzen Leben so gut wie nie spüren lassen, dass sie bloß einfache Bedienstete waren. Demnach musste es ihm wirklich ernst sein.

Und natürlich konnten sie sich seinen Befehlen nicht widersetzen, egal, ob mit Bestrafung oder ohne.

Also blieb ihnen nichts Anderes übrig, als demütig den Kopf zu senken.

„Sehr wohl, Herr."

Wenig später brachte Suiren ihm seine Schlafbekleidung und half ihm beim Umziehen.

„Wenn Ihr etwas brauchen solltet, junger Herr, dann wendet Euch bitte an mich", meinte sie mit einem leisen Seufzen.

Jinshi warf seiner obersten Zofe einen Blick zu. Er hatte seine Gesichtszüge entspannt und wirkte nun wieder wie der Junge, den sie kannte.

Das Herz der älteren Dame zog sich zusammen, als ihr bewusst wurde, wie fürchterlich erschöpft er aussah. Noch erschöpfter als er es nach der Arbeit je war. Er musste sich immer noch unglaubliche Sorgen um die Apothekerin machen.

„Danke dir, Suiren, das werde ich. Ich... habe eine Bitte an dich..."

„Ja, junger Herr?"

Jinshi machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr.

„Falls ich wirklich erneut krank werden sollte... dann halte die Apothekerin bitte von mir fern. Ich werde sie nicht noch einmal anstecken. Auf keinen Fall."

„Verstanden..."

***

Schlussendlich wurden der junge Herr mit der Apothekerin allein gelassen. Inzwischen war die Dunkelheit angebrochen und auf dem Tisch brannte eine einsame Kerze.

Jinshi stand einige Augenblicke lang einfach nur da. Dann kam er näher und hob Maomaos Bettdecke an. Ihr Bett war deutlich kleiner als sein eigenes und eigentlich etwas eng für zwei Leute, somit war es keine sehr einfache Aufgabe, sich neben sie hineinzuquetschen, doch zu guter Letzt schaffte er es. Gut, dass Maomao selbst so klein war. Er würde bloß aufpassen müssen, nachts nicht herauszufallen.

„Mmm..."

Die Apothekerin schien seine Bewegungen zu spüren und begann, sich, immer noch auf der Seite liegend, ein wenig im Schlaf zu rühren. Jinshi schlang die Arme um sie und drückte seine Brust an ihren Rücken.

„Psst. Schlaf", flüsterte er ihr ins Ohr.

Maomao entspannte sich wieder.

Der junge Herr hatte nun begriffen, dass es sehr wohl etwas gab, was er für sie tun konnte:

„Du hast mich warmgehalten und jetzt bin ich an der Reihe..."

Notes:

Gut, und nun brauch ich ein-zwei Tage, um meine Notizen für das nächste Kapitel zu ordnen, und mach dann weiter! 😄
Der nächste Upload kommt voraussichtlich in einer Woche und ja, das neunte Kapitel wird wieder geteilt. Der Menge an Notizen nach zu urteilen, die ich dafür gesammelt hab, könnten es nicht nur zwei, sondern sogar drei Teile werden!

Ach ja, das nächste Kapitel wurde wieder von einem Lied inspiriert!

Chapter 30: Du bist wirklich hier, Teil 9 (1)

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Ein sintflutartiger, eiskalter Regen fiel zum wiederholten Male auf die Hauptstadt von Li herab, diesmal begleitet von einem bedrohlich klingenden Donner, welcher die nächtliche Stille zerriss. Der kräftige Wind brach einige dürre Zweige von den Bäumen ab. 

Im dunklen Zimmer der Zofe eines gewissen jungen Herrn begann sich nach einem besonders lauten Donnergrollen eine der beiden auf dem schmalen Bett schlafenden Gestalten leicht zu regen und gab schließlich ein leises Murren von sich, verstimmt durch das abrupte und unsanfte Erwachen.

Die verschlafenen Augen langsam aufschlagend, starrte Jinshi zunächst etwas orientierungslos in der Dunkelheit vor sich hin, und schloss sie dann wieder, wohl in der Absicht, erneut einzuschlafen.

Ein beruhigender, vertrauter Duft lag in der Luft und zauberte ein kleines Lächeln auf sein Gesicht. Es war der Duft nach Kräutern, einer, der ihn stets an Maomao erinnerte und im Moment so intensiv war, als würde er sich direkt in einem Kräutergarten befinden.

Augenblick mal! 

Jinshis Augen öffneten sich auf der Stelle wieder.

Oh, stimmt ja! Er befand sich ja gerade in Maomaos Zimmer, also war das weder seine Einbildung noch ein Traum: er war tatsächlich umgeben von Kräutern. Und nicht nur in ihrem Zimmer, sondern sogar in ihrem Bett.

Und als ihm ein leichter Hauch von Maomaos Erkältungsmittel in die Nase stieg und ihn leicht das Gesicht verziehen ließ, fiel ihm auch der Grund ein, weshalb er eigentlich in Maomaos Bett lag. Alle Schläfrigkeit war ganz plötzlich vergessen.

„Maomao!", dachte Jinshi leicht alarmiert und senkte den Blick, stieß jedoch sogleich einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sah, dass sie immer noch so dalag wie zuvor: leicht zusammengerollt mit dem Rücken zu ihm und tief und fest schlafend. Sein rechter Arm war um ihre Taille geschlungen und ihr Kopf ruhte nun auf seinem linken wie auf einem Kissen.

Ohne Nachzudenken und fast schon reflexartig hob er seine rechte Hand und legte sie auf ihre Stirn.

„Das Fieber ist ein wenig gesunken... puh, ein Glück. Ich hatte gestern solche Angst um sie...", dachte er.

Ein eiskalter Schauder lief über seinen gesamten Körper, als er sich daran erinnerte, wie er sie am vergangenen Abend bewusstlos am Boden liegend vorgefunden und dann mit ihr im Arm durch eben dieses Zimmer gelaufen war, sie verzweifelt anflehend, die Augen aufzumachen. 

Zum Glück hatte sie schlussendlich auf sein Flehen reagiert, denn wenn nicht, dann...

...wollte er sich nicht einmal vorstellen, was dann geschehen wäre.

Es wäre schlimmer gewesen als jeder Albtraum.

Dieser schreckliche Gedanke ließ ihn für einen Moment vor Furcht erstarren und dann erzittern.

„Hoffentlich ist das Schlimmste jetzt überstanden..."

Er nahm die Hand wieder von Maomaos Stirn und steckte sie wieder unter die Decke, sie auf der schmalen Schulter der Apothekerin platzierend.

Daraufhin fiel ihm auf, dass sie nun nicht unter einer, sondern unter zwei Decken lagen.

„Suiren war hier", dachte er. Er war wirklich dankbar für die zusätzliche Decke, denn in Maomaos Zimmer war es nach Anbruch der Nacht doch merklich kühl geworden. Sein linker Fuß, der aufgrund von Platzmangel fast schon aus dem Bett heraushing, war jedenfalls eiskalt. Er bemühte sich, ihn so gut es ging unter die Decken zu bekommen.

Danach fiel sein Blick wieder auf die schlafende Apothekerin. Jinshi zog vorsichtig seinen Arm unter ihrem Kopf weg, um sie wieder zu umarmen.

„Ich wusste gar nicht, dass es in einem Bedienstetenzimmer nachts so kalt werden kann." 

Natürlich, woher denn auch? Schließlich war dies das erste Mal in seinem Leben, dass er in einem solchen Zimmer schlief. 

„Warum hat sie mir nichts gesagt?" Jinshi runzelte die Stirn, als ihm dieser Gedanke kam. „Ich hätte ihr auf der Stelle ein Kohlenbecken oder eine zweite Decke gegeben. Das wäre doch überhaupt kein Problem gewesen."

Er blies leicht irritiert die Wangen auf und drückte sein Kinn an ihren Kopf, ihr mit dem Zeigefinger in die Wange pieksend. Ganz leicht, um sie nicht aufzuwecken.

„Du! Ja, du! Warum sagst du mir nie etwas? Ich habe dich doch aufgefordert, dich an mich zu wenden, falls dir etwas nicht passen sollte, oder? Sogar mehrmals habe ich das. Warum tust du es also nicht? Etwa, weil ich dir nicht erlaubt habe, in den Stall umzuziehen? Mensch..."

Beim Gedanken daran, dass sie, hätte er sich nicht zu ihr gelegt, die Nacht in ihrem fiebernden Zustand in dieser Kälte verbracht hätte, wurde ihm ganz anders.

Traurigkeit trübte seinen Blick.

„Aber andererseits... Hätte ich auch irgendwie selbst drauf kommen sollen, nicht wahr? Immerhin ist jetzt fast Winter und ich bin ihr direkter Arbeitgeber und somit für sie verantwortlich. Ich wünschte, ich wäre auch so aufmerksam wie Gaoshun..."

Und die Schuldgefühle waren prompt wieder da. Ach, verdammt...

Der junge Herr hatte keine Ahnung, was er jetzt denken sollte, also schüttelte er einfach den Kopf und machte sich eine gedankliche Notiz, sich später um das Problem zu kümmern und dafür zu sorgen, dass Maomao im Winter nachts nicht mehr frieren muss.

Apropos, frieren...

Erst jetzt fiel Jinshi so richtig auf, dass Maomao immer noch zitterte. Er schalt sich gedanklich einen Idioten, denn er hatte sich ja extra zu ihr gelegt, um auf sie aufzupassen und sie zu wärmen.

Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich Vorwürfe zu machen. Jinshi gab einen leisen Seufzer von sich.

„Dir ist immer noch kalt, nicht wahr?", murmelte er und ließ die Apothekerin los, um seine Schlafkleidung etwas auseinanderzuziehen und seine Brust zu entblößen. Dann drehte er Maomao vorsichtig zu sich um, sodass sie nun mit dem Gesicht zu ihm lag, und drückte sie schließlich eng an seine bloße Haut. „Komm her. Du brauchst Wärme." 

Dann deckte er sie wieder bis zum Kinn zu, steckte die Hand unter die Decke und begann, ihr sanft den Rücken zu streicheln, um sie zu beruhigen und sicherzugehen, dass sie durch die ganzen Bewegungen nicht aufgewacht war.

„Psst, Maomao. Alles wird gut…”

Mit einem kleinen Lächeln stellte er fest, dass ihr Zittern tatsächlich etwas schwächer wurde und ihre kleinen Fäuste, die nun gegen seine Brust gepresst waren, sich lockerten. 

„Hach, sie ist ja so süß..."

Doch schon bald legte sich ein Schatten über jenes Lächeln, bis dieses schließlich ganz verschwand. Ein Gedanke, so bitter wie Maomaos Erkältungsmittel, bahnte sich seinen Weg durch den Verstand des jungen Herrn.

„Als Apothekerin musstest du dich um unzählige kranke Leute kümmern, vermute ich mal", sagte er leise und warf einen kurzen, bekümmerten Blick auf die zierliche junge Frau, die gerade hilflos in seinen Armen schlief. „Und auch hier am Kaiserlichen Hof hast du schon so vielen geholfen. Mich mit eingeschlossen." Er drückte sie noch ein wenig enger an sich. „Aber... wer wird sich eigentlich um dich kümmern? Ich meine, Suiren tut ja, was sie kann, aber du musstest dir sogar selbst deine Medizin herstellen, oder? Bestimmt hast du schon am Vorabend gespürt, dass du wahrscheinlich krank wirst und alles vorbereitet... obwohl du mir versichert hast, dass alles in Ordnung ist..."

Er schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief durch. Dann öffnete er sie wieder. Sein Blick war nun erfüllt mit Entschlossenheit, fast genauso wie zu dem Zeitpunkt, als er verkündet hatte, dass er die Nacht bei ihr verbringen würde.

„Wer sich um dich kümmern wird? Na, das liegt doch wohl auf der Hand: ich. Ich bin zwar weder Arzt noch Apotheker, weswegen ich dir nur eingeschränkt helfen kann, aber... ich werde es auf jeden Fall versuchen! Ich werde dir alles geben, was ich dir nur zu geben vermag!"

Und als wolle er jenes Versprechen besiegeln, küsste er ihre fieberheiße Stirn.

„Ja, ganz genau! Ich werde für dich da sein, ob du es nun willst oder nicht, du kleines, störrisches Ding. Das hast du nun davon, dass du mir verschwiegen hast, wie schlecht es dir ging. Du wirst nicht noch einmal fallen, weil ich nämlich da sein werde, um dich aufzufangen!"

Und mit diesen Gedanken machte er wieder die Augen zu und lag einfach nur da, die Lippen an ihre Stirn gedrückt haltend und ihren Atem an seiner Haut spürend, der ihn leicht kitzelte.

Dieses Gefühl erinnerte ihn daran, wie sie ihm während seiner Erkältung regelmäßig die Lunge abgehört hatte, um auszuschließen, dass er sich eine Lungenentzündung eingefangen hatte. Bevor Maomao eingeschlafen war, hatte sie ziemlich gehustet, vielleicht sollte er deshalb auch mal...

Jinshi öffnete schlagartig die Augen und lief knallrot an, sich das Gesicht mit einer Hand bedeckend. Um ehrlich zu sein, war er so rot, dass er beinahe schon in der Dunkelheit leuchtete.

Auf keinen Fall! Was dachte er sich da bloß?! Allein die Vorstellung, sein Ohr gegen ihren entblößten Oberkörper zu drücken, war einfach... absurd! Er hatte doch überhaupt keine medizinischen Kenntnisse und nicht die geringste Ahnung, nach welcher Art von Geräuschen er überhaupt Ausschau halten sollte!

Mal ganz zu schweigen davon, dass Maomao ihm mit dem Besen, mit dem sie seine Residenz kehrte, bestimmt den Schädel spalten oder ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen würde, sollte sie jemals davon Wind bekommen oder während der Prozedur aufwachen. Oder beides. Zwar genoss er ihre bösen Blicke sehr, doch dass sie ihn ernsthaft hasste, wollte er selbstverständlich nicht.

Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Die Apothekerin zuckte einige Male in seiner Umarmung, als hätte sie seine Gedanken im Schlaf instinktiv gespürt.

„Ganz ruhig, ich werde so etwas natürlich nicht tun, keine Sorge", flüsterte er ihr zu und begann erneut, liebevoll ihren Rücken zu reiben, während er seine Nase in ihrem leicht zerzausten Haar vergrub und ihren Duft einatmete, im Versuch, sowohl sie als auch sich selbst zu beruhigen.

Nach einer Weile gab Maomao einen leisen Seufzer von sich und entspannte ihren Körper wieder. Jinshi war froh, dass ihm das Beruhigen gelungen war.

„Nach deiner Genesung werde ich dir noch eine Flasche des Weins vom letzten Mal schenken. So schnell, wie du den getrunken hast, muss er dir ja ziemlich geschmeckt haben", murmelte er mal wieder vor sich hin. „Ach ja, und einen eigenen kleinen Kräutergarten gewähre ich dir auch. Alles, was du willst... werde bloß schnell wieder gesund. Bitte."

Jinshi gähnte, als er seine angesammelte Erschöpfung wieder zu spüren bekam, und nickte zum zweiten Mal ein.

Doch bevor er die Gelegenheit bekam, in einen tieferen Schlaf zu sinken, erreichte seine Ohren auf einmal ein Geräusch, das ihn auf der Stelle die Augen aufschlagen und jeden Gedanken an Schlaf komplett vergessen ließ.

Es war ein winziges, ganz leises Wimmern, welches die Stille im Raum erfüllte. Nur ein einziges, doch es zerriss Jinshis Herz wie ein tödlicher Pfeil. Es tat mehr weh, als ein Messer in den Körper gerammt zu bekommen.

Sein Atem stockte für einen Moment.

„Apothekerin? Maomao, was hast du denn?"

Diesmal war seine Stimme etwas lauter als ein Flüstern und enthielt einen leicht unsicheren, verängstigten Unterton.

Die Apothekerin gab ihm keine Antwort. Sie musste sich immer noch im Tiefschlaf befinden.

Jinshi senkte den Blick und hätte vor Schock beinahe aufgeschrien.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Tränen, welche aus den geschlossenen Augen der Apothekerin herausflossen.

Maomao weinte im Schlaf.

Und in genau diesem Moment krachte erneut Donner und zuckte hell ein Blitz am Himmel, als wolle Letzterer die perfekte Atmosphäre für diese Szene schaffen.

Notes:

Ich bin mir immer noch unsicher, wie viele Teile dieses Kapitel letztendlich haben wird, aber das entscheide ich dann während der Arbeit am nächsten. :)

Chapter 31: Du bist wirklich hier, Teil 9 (2)

Notes:

Und hier kommt der nächste Part!

Ich hatte eigentlich vor, den Rest des Kapitels in einem Rutsch zu schreiben, hatte aber nicht die Energie dazu, also bekommt das neunte Kapitel eben doch drei Teile! Sorry! :)

Oh, und hier kommt das wunderschöne Lied, welches mir für dieses Kapitel als Inspiration gedient hat:
The Tenors - Anchor Me
https://m.youtube.com/watch?v=T7NDTH2kbYM&pp=ygUUdGhlIHRlbm9ycyBhbmNob3IgbWU%3D

Chapter Text

Auf jenes Wimmern hin folgte ein weiteres und dann noch eins und noch eins. Sie alle waren ziemlich leise, um ehrlich zu sein, kaum hörbar, doch in Jinshis Ohren klangen sie sogar noch lauter als der Donner, der draußen immer noch durch die Nacht grollte und auch lauter als das wütende Wehen des Windes und das Trommeln des Regens gegen das Fenster direkt neben dem Bett.

Fassungslos und fast schon wie gelähmt sah Jinshi zu, wie Maomaos Tränen unaufhörlich über ihr Gesicht rollten, und spürte, wie einige davon auf seine Brust gelangten und der Rest das Bettlaken durchtränkte. Ein paar Augenblicke lang war er außerstande, auch nur einen Muskel zu rühren, und sein Verstand war wie leergefegt.

Der junge Herr fühlte sich vollkommen überwältigt und hilflos angesichts des gänzlich unerwarteten Anblicks ihrer Tränen. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, was er tun sollte, und spürte, wie er langsam, aber sicher begann, in Panik zu verfallen. Fast genau so wie am vergangenen Abend.

„Maomao… Maomao! Was hast du bloß?!”

Auf einmal löste sich seine Starre wieder und er fasste Maomao unter die Knie, im Begriff, sie hochzuheben und mit ihr im Arm zu Suiren zu eilen.

Noch nie im Leben hatte er einen weinenden Menschen trösten müssen und kam sich daher vollkommen verloren vor.

Doch dann hielt er urplötzlich inne und senkte den Blick. 

Maomaos dünne Finger hielten seine Kleidung fest. So, als wolle sie ihm unbewusst zu verstehen geben, dass er an Ort und Stelle bleiben sollte. 

Dass sie ihn brauchte.

Ihr Gesicht war vor Qual verzerrt. Jinshi riss Augen und Mund weit auf.

Dann hob er, ohne ein Wort von sich zu geben, seine rechte Hand…

…und verpasste sich selbst eine schallende Ohrfeige.

Der Klaps hallte klar und deutlich im dunklen Raum wider.

Jinshis Wange war knallrot und brannte, aber dafür war er jetzt wieder vollkommen klar im Kopf. Und wütend auf sich selbst.

„Was zur Hölle tue ich hier eigentlich?!”, regte er sich in Gedanken auf. „Sie braucht jetzt meinen Trost! Meinen! Ich habe ihr doch gerade erst versprochen, für sie da zu sein, da kann ich doch nicht beim ersten Anflug eines Problems gleich zu Suiren rennen! Was für ein Heuchler wäre ich dann bitte?”

Erfüllt mit neuer Entschlossenheit, zog er die weinende Apothekerin noch enger an sich heran und begann, sie abermals zu küssen und ihr liebevolle Worte ins Ohr zu flüstern, in der Hoffnung, dass diese sie erreichten.

„Hast du gerade einen bösen Traum? Du armes Ding… Psst, hab keine Angst. Niemand wird dir etwas tun. Ich bin hier und werde dich beschützen!”

Sie hatte ihn schon so viele Male mit ihrer bloßen Präsenz getröstet und war sein stützender Pfeiler gewesen, demnach war es an der Zeit, dass er nun zu ihrer Stütze wurde.

Maomaos kleine, bebende Hände klammerten sich immer noch verzweifelt an seine Kleidung. Jinshi legte seine eigene, große und warme, auf eine der ihren und streichelte sie zärtlich, wie schon so oft, mit dem Daumen.

Diesmal nicht, um Trost zu erhalten, sondern, um Trost zu spenden.

Doch ihr Griff blieb fest.

Im Versuch, das daraufhin wiederaufkeimende Gefühl der Unruhe zu verdrängen, schluckte Jinshi und tat einige tiefe Atemzüge. Er hatte eingesehen, dass er zuerst selbst zur Ruhe kommen musste, um Maomao anständig trösten zu können. Denn wie sollte sie sich beruhigen, wenn direkt an ihrem Ohr sein Herz wie verrückt pochte?

Schlussendlich kam ihm eine Idee. Maomao die Hand auf den Rücken drückend, richtete er sich vorsichtig und langsam in eine sitzende Position auf und platzierte die schlafende Apothekerin erneut auf seinen Schoß, sie gegen seinen Oberkörper lehnen lassend. Ihr Wimmern hatte noch immer nicht nachgelassen und ihr tränennasses Gesicht wurde kurz von einem neuen, am Himmel zuckenden Blitz erhellt. 

Jinshis Herz zog sich zusammen. Er atmete noch einmal tief durch und strich ihr besorgt über den Pony, bevor er sie in die Decken wickelte und beide Arme um sie schlang.

Als Nächstes drehte der junge Herr den Kopf leicht zur Seite und sein Blick fiel auf den Tisch und die verbliebene Medizin, die darauf stand. Vielleicht sollte er Maomao aufwecken und ihr noch etwas davon einflößen? 

Doch nach einigem Überlegen verwarf er diese Idee wieder, da er keine Ahnung hatte, ob das die richtige Entscheidung wäre. Schließlich war sie hier die Apothekerin, nicht er, und er hatte ihr außerdem erst am vergangenen Abend eine Dosis zu trinken gegeben. Möglicherweise wäre eine weitere ja schon eine Überdosis und würde für sie gefährlich werden? Und falls er sie aufwecken sollte, um nachzufragen, würde sie aufgrund ihres derzeitigen Zustands eventuell nicht in der Lage sein, ihm zu antworten.

Deshalb beschloss er, lieber kein unnötiges Risiko einzugehen und erstmal mit dem Trösten fortzufahren. 

Er gab der Apothekerin einen Kuss auf die Nase und ließ einen schwermütigen Seufzer los, für einen Augenblick die Augen schließend. 

Um ehrlich zu sein, fiel es ihm immer noch ein wenig schwer zu glauben, dass er sie tatsächlich weinen sah. Es kam ihm irgendwie surreal vor, fast schon wie eine Halluzination.

Der junge Herr zuckte ob dieser absurden Überlegungen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Warum bin ich eigentlich so überrascht? Du bist doch auch nur ein Mensch", murmelte er, die Wange auf ihren Kopf legend.

Maomao war genauso wenig ein übernatürliches Wesen wie er selbst. Status, Herkunft und all diese Dinge mal beiseite, waren sie beide einfach nur Menschen. Und auch wenn sie ihre nicht besonders oft zeigte, hatten Menschen nun einmal Gefühle, Menschen weinten. 

Also brauchte er sich nun wirklich nicht so sehr zu wundern. 

Ganz genau. Schließlich hatte Maomao es ihm selbst gesagt: egal, was die Leute von Jinshi dachten und als was sie ihn auch bezeichnen mochten, er war keine himmlische Nymphe, sondern ein Mensch. Und selbstverständlich galt das Gleiche auch für sie: egal, wie einzigartig und besonders sie in seinen Augen war und egal, wie sehr er sie insgeheim für ihre Klugheit und Tapferkeit bewunderte, auch sie war bloß ein Mensch.

Und obwohl er das die ganze Zeit gewusst hatte und Maomao auch ständig zurechtwies, wenn sie seiner Meinung nach zu weit ging und mit ihren „Experimenten" ihre Gesundheit und mit dem Konsum von Gift sogar ihr Leben aufs Spiel setzte, hatte er doch von Zeit zu Zeit den unbewussten Eindruck, als sei diese kleingewachsene junge Frau unerschütterlich und unbezwingbar. Als könne nichts und niemand ihr etwas anhaben. Was natürlich vollkommener Unsinn war...

Hart im Nehmen war sie sehr wohl, wie er im Laufe der Zeit erkannt hatte. Aber unbezwingbar? Nein, das noch lange nicht.

„Weißt du, um ehrlich zu sein, glaube ich, dich irgendwie verstehen zu können...", murmelte er nach einer Weile, während er eine seiner Hände auf ihren Kopf legte und ihr Haar zu streicheln begann. „Immerhin weiß ich ganz genau, was es heißt, ständig die eigenen Gefühle unterdrücken zu müssen, weil sich außer Suiren und Gaoshun eigentlich nie jemand um meine Gefühle geschert hat und ich mein Leben lang den hohen Adeligen und später noch den schönen Eunuchen spielen musste. Und irgendwann ist dann der Punkt erreicht, wo man nicht mehr in der Lage ist, vor anderen Leuten zu weinen, egal, wie elend es Einem geht. Oder überhaupt zu weinen. Man schluckt seine Tränen herunter und irgendwann kommt dann der Tag, an dem alles wieder hochkommt. Ist es... ist es für dich vielleicht genauso?”

Der junge Adelige fragte sich, wie viele Leute außer ihm die Apothekerin überhaupt jemals so hilflos, so verletzlich erlebt hatten. Sehr wenige, nahm er an. Vermutlich nur diejenigen, die sie großgezogen hatten... 

So wie in seinem Fall.

Auch er hatte seine verletzliche Seite außer Maomao bisher nur Suiren und Gaoshun gezeigt.

Jinshi hatte den Eindruck, als verstünde er Maomao nun besser als je zuvor. Man könnte behaupten, dass ihre Tränen ihm die Augen geöffnet hatten.

Doch trotz all jenes Verstehens, konnte er es kaum ertragen, sie so zu sehen.

„Hab keine Angst, Maomao... ich bin hier... wirklich hier..."

Er hatte keine Ahnung, ob sie seine Gegenwart im Schlaf wirklich spüren konnte. Hoffentlich tat sie es.

Ihr Gesicht war an ihn gepresst und ihre Tränen liefen seine nackte Brust herab. 

Sie krank zu sehen, tat bereits unfassbar weh. Doch sie auch noch weinen zu sehen und dazu ohne zu wissen, wovon sie gerade träumte und was genau sie so sehr quälte, war wirklich die Hölle auf Erden. Jinshi hatte das Gefühl, als würde sein Herz jeden Moment anfangen zu bluten.

„Alles ist gut, Maomao... psst... Du bist nicht mehr allein. Ich bin bei dir."

Sie hatte ohne jedes Zögern seine menschlichsten Seiten akzeptiert, also war es nur gerecht und selbstverständlich, dass er auch ihre akzeptierte. Und er war mehr als bereit dafür.

Im Moment waren sie weder Adeliger und Bürgerliche noch Herr und Dienerin. Sondern einfach nur zwei Menschen, die einander brauchten.

Er spürte ihren beschleunigten Herzschlag an seinem Körper, während er sie fest im Arm und auf seinem Schoß hielt und sanft die Tränen von ihren Augenwinkeln küsste. Als wolle er sie von dem befreien, was ihr Schmerzen zufügte. Sie aus der einsamen, furchteinflößenden Dunkelheit heraus- und ins warme Licht ziehen.

Sein Licht.

Nach einiger Zeit hob Jinshi letztendlich den Kopf und schluckte leicht. Dann näherte er sich mit einer leichten Röte auf den Wangen ihrem Ohr. Einen Spitznamen hineinflüsternd, den er bisher noch nie gewagt hatte, tatsächlich auszusprechen.

„Hörst du mich... Xiaomao? Bitte lass mich dein Anker sein... zumindest für heute Nacht..."

Währenddessen wütete draußen immer noch das heftige Gewitter. Als würde es den Kampf darstellen, der gerade in Maomaos Innerem ausgetragen wurde.

Einige Minuten später wickelte Jinshi die beiden Decken noch etwas fester um Maomao, hob sie leicht hoch und begann sie letztendlich vorsichtig in seinen Armen zu wiegen, als sei sie ein Kind.

„Psst. Nicht weinen, meine Kleine… meine kleine Katze... nicht weinen...", wisperte er ihr zwischen seinen Küssen zu.

Chapter 32: Du bist wirklich hier, Teil 9 (3)

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Die Zeit verging.

Begleitet vom Lärm des immer noch anhaltenden Gewitters, wiegte Jinshi Maomao weiterhin unermüdlich in seinen Armen, sie eng an seinen Körper gedrückt haltend. Er tat sein Möglichstes, um die arme Apothekerin zu trösten, doch ihre Tränen flossen genauso unaufhaltsam wie der strömende Regen draußen vor dem Fenster.

Der junge Herr spürte eine leichte Frustration in sich aufsteigen, gab jedoch nicht auf. Seine tiefen Gefühle für Maomao und sein Versprechen, für sie da zu sein, ließen nicht mal den kleinsten Gedanken daran zu. Falls es nötig wäre, war er gerne bereit, sogar bis zum Morgengrauen so mit ihr zu sitzen.

„Ngh..."

Nach einem weiteren, fast schon ohrenbetäubenden Donner gab die Apothekerin ein erneutes klägliches Wimmern und ein gequältes Stöhnen von sich.

Jinshi drückte einen Kuss auf ihre Stirn und legte dann seine Wange dort ab, die Augen schließend.

„Psst, meine Xiaomao... hab keine Angst..."

Das Stöhnen verstummte nach einer Weile, doch stattdessen vernahm er nun ein Schniefen, welches ihn daran erinnerte, dass Maomaos Nase ja immer noch verstopft sein musste. Er öffnete die Augen wieder und stellte tatsächlich fest, dass ihre Nase ein wenig lief.

Daraufhin hörte Jinshi kurz mit dem Wiegen auf und wischte sie ihr vorsichtig sauber. Mit seinem Ärmel, da er aktuell kein Taschentuch bei sich trug. Die eleganteste Lösung war das zwar nicht gerade, aber das war dem jungen Adeligen im Moment so ziemlich egal. Er würde alles tun, um ihr Erleichterung zu verschaffen, und sei es auch nur ein wenig.

Als Nächstes fuhr er mit dem Beruhigen fort.

Maomao klammerte sich währenddessen immer noch fest an seine Kleidung, mit aller Kraft, die ihr geblieben war. Jinshi hoffte, dass ihr dies zumindest ein kleines Gefühl von Sicherheit vermittelte.

Er wollte, dass sie sich mit ihm genauso sicher fühlte wie er mit ihr. Und dafür tat er sein Bestes.

Doch während er da so mit ihr saß und besorgt in ihr verweintes Gesicht blickte, wurde ihm letztendlich klar, dass er eigentlich kaum etwas über sie wusste. Weder darüber, wie sie aufgewachsen war und welche Art von Leben sie im Freudenviertel überhaupt geführt hatte... noch was sie alles durchmachen musste...

Jawohl. Jinshi hatte nicht die geringste Ahnung darüber, doch dem nach zu urteilen, was er bis jetzt gesehen und gehört hatte, musste jenes Leben wahrlich alles andere als ein einfaches gewesen sein.

Der junge Herr wollte sich nicht einmal vorstellen, was passiert wäre, wenn er sie damals nicht aus dem Freudenhaus freigekauft hätte. Ein eiskalter Schauer lief über seinen Rücken, als er sich daran erinnerte, wie unfassbar knapp jenes wimmernde und zitternde Geschöpf in seinen Armen dem Schicksal entronnen war, als Kurtisane arbeiten zu müssen.

„Nur über meine Leiche...", murmelte er mit erstickter Stimme und gab ihr noch einen Kuss.

Und während er sie immer noch so gut es ging, wärmte und beruhigte, kam ihm der Gedanke, dass dies eigentlich nicht das erste Mal war, dass er sich Fragen über ihre Vergangenheit stellte.

Zum allerersten Mal hatte er dies getan, nachdem sie Worte an ihn gerichtet hatte, welche ihn bis ins tiefste Innere erschüttert hatten. Worte, die er niemals vergessen würde:

***

„Falls Ihr mich eines Tages hinrichten sollt, dann tut dies bitte mit Gift."

Wie er es auch drehte und wendete und trotz aller Erschöpfung nach der Arbeit, konnte Jinshi in der Nacht, nachdem er diese Worte vernommen hatte, einfach nicht einschlafen.

Nachdem er sich stundenlang erfolglos hin und hergewälzt hatte, stieß er schließlich ein Schnauben aus und gab auf, sich auf den Rücken legend und die Arme hinter dem Kopf verschränkend. Mit mürrischer Miene starrte er dann eine Weile lang still Richtung Decke.

Wie kam sie bloß darauf, so etwas aus heiterem Himmel von sich zu geben? Und auch noch in einem solch ruhigen Tonfall...

Manchmal waren ihm die Gedankengänge jener Apothekerin ein vollkommenes Rätsel... Ha! Manchmal? Wohl eher die meiste Zeit! Noch nie im Leben hatte er einen Menschen getroffen, der so schwierig zu verstehen war! Zwar liebte er es, dass sie anders war als die anderen Palastdamen und überhaupt anders als jede Frau, die er jemals getroffen hatte, aber ab und zu war sie für ihn ein wahrhaftiges Buch mit sieben Siegeln.

Jinshi seufzte und wendete seinen Blick leicht zur Seite ab. Seine Gesichtszüge entspannten sich und seine Augenbrauen krümmten sich nach unten. Traurigkeit legte sich wie ein Schatten über seine Augen, seine Iris um einige Farbtöne verdunkelnd.

Er spürte ein leichtes Stechen in der Brust, welches ihm ein wenig das Atmen erschwerte.

Glaubte sie etwa wirklich, dass sie in seinen Augen derart unbedeutend sei? Nur eine von den unzähligen Bediensteten des Kaiserhofes? Dass er einfach so ihr Leben wegwerfen würde, ohne auch nur zu versuchen, sich für sie einzusetzen? Für sie zu kämpfen?

Vertraute sie ihm etwa kein bisschen? Dachte sie tatsächlich so von ihm? 

Die Augen des jungen Herrn weiteten sich, als er einsah, dass all jene Fragen höchstwahrscheinlich mit „Ja" beantwortet werden konnten.

Denn um ehrlich zu sein, hatte er so gut wie nie etwas getan, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Vielleicht außer der Haarnadel, die er ihr beim Gartenfest geschenkt hatte. Aber so weit er es mitbekommen hatte, hatte Maomao sowieso keine Ahnung von deren genauen Bedeutung...

Jinshi blies genervt die Wangen auf. Und wenn schon! Egal ob sie Ahnung hatte oder nicht, er wollte jedenfalls, dass sie sich auf ihn verließ und sich an ihn wendete, wenn sie Hilfe brauchte. An IHN! Und nicht an irgendeinen dahergelaufenen Militäroffizier, den sie erst vor Kurzem kennengelernt hatte…

Den sie erst vor Kurzem kennengelernt hatte? Moment… traf das nicht auch irgendwie auf sie beide zu?

Wer war er eigentlich überhaupt für sie? Bloß der Aufseher des Inneren Palastes, der ihr ab und zu den Auftrag gab, Dinge für ihn herauszufinden? Sonst nichts?

Ja, so wie es aussah, war das wohl alles… sie wusste nichts über ihn. Aber selbstverständlich, woher denn auch?

Daraufhin wurde ihm genau in diesem Moment klar, dass er auch über ihr Leben so gut wie nichts wusste. 

Mit einem Kloß im Hals erinnerte er sich an den Zeitpunkt, an dem sie ihm verraten hatte, weshalb sie sich Sommersprossen aufmalte, und zuckte zusammen, die Hände krampfhaft zu Fäusten ballend.

Als eine solch zierliche junge Frau in einem Freudenviertel zu leben, war wirklich keine ungefährliche Sache.

Und mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er gab ein ersticktes Japsen von sich.

Maomaos Leben war ihr sehr wohl wichtig, weshalb sie auch alle möglichen Maßnahmen traf, um es nicht zu verlieren, aber da sie in einem solch gefährlichen Viertel aufgewachsen war, war sie sich wohl ganz genau bewusst, dass sie jederzeit sterben könnte. Und sah diese Tatsache als etwas ganz Natürliches.

So wie es aussah, hatte niemand jemals um ihr Leben gekämpft, deshalb kam es ihr wohl auch nicht einmal in den Sinn, dass dies jemand wollen würde!

Sie konnte sich nie sicher sein, ob sie den nächsten Tag erleben würde, deshalb traf sie für alle Fälle Vorkehrungen. Um ehrlich zu sein, konnte sich keiner dessen sicher sein, egal ob Adeliger oder nicht, denn das Leben war ein überraschend zerbrechliches und vergängliches Ding, das einfach so von einem bösen Dritten ausgelöscht werden konnte. Oder von einer Krankheit, einem Unfall… alles konnte passieren. Ein Augenblick und schon konnte man aufhören zu existieren.

Doch für sie bestand sogar ein höheres Risiko als für andere… schon allein wegen ihrer Tätigkeit als Giftvorkosterin.

Deshalb war sie sich auch bewusst, wo ihre Grenzen lagen und trug Dinge wie Brechmittel mit sich herum.

Und tatsächlich… falls ein Befehl kommen sollte, sie warum auch immer hinzurichten, würde sie nichts dagegen tun können. Und das wusste sie ganz genau.

Aber was war mit ihm? Würde er etwas dagegen tun können?

Es geht nicht darum, ob er es tun würde, sondern, ob er es könnte, was? Genau das hatte sie zu ihm gesagt.

Und tatsächlich: von sich aus würde er ihr so etwas selbstverständlich niemals antun. Aber was war, wenn der Kaiser den Befehl dazu geben würde? 

Würde Jinshi wirklich alles Mögliche tun und sich sogar gegen den Herrscher selbst auflehnen, um Maomao zu retten?

Der junge Herr tat einen tiefen Atemzug.

Ja, das würde er.

Würde er auch sein eigenes Leben für sie riskieren?

Ja, selbst das.

Und er wollte, dass sie es wusste und ihn nicht mit den anderen hohen Adeligen in einen Topf schmiss.

Aber irgendwie… war er nicht in der Lage gewesen, auch nur ein Wort davon über die Lippen zu bringen, als sie dagestanden war und gedankenverloren jene Blumenvase betrachtet hatte.

Welch ein Feigling er doch war…

***

Mit einem tiefen Seufzer kehrte Jinshi in die Gegenwart zurück und warf einen beinahe schon verzweifelten Blick auf die leidende Maomao.

„Gut, dann sage ich es eben jetzt…" Er bewegte das Gesicht nach unten, bis ihre Nasenspitzen sich fast berührten. „Ich lasse nicht zu, dass du hingerichtet wirst. Weder mit Gift noch mit sonst etwas! Niemals! Egal, was ich dafür tun muss! Du bist mir wirklich sehr wichtig! Weitaus wichtiger als du denkst!”

Als Nächstes hob er den Kopf wieder und blickte hinaus in die verstürmte, finstere Nacht. Sein Magen zog sich vor Beklemmung zusammen und in seinen violetten Augen lag ein feuchter Schimmer, als würde er gleich selbst anfangen zu weinen.

Trotz all seiner Überlegungen ließen ihn ihre Worte von damals immer noch nicht los... Was bitteschön hatte dieses arme Ding alles durchmachen müssen, um derart verstörende Gedanken zu hegen? So explizit über den eigenen Tod nachzudenken?

Der junge Adelige wandte seinen traurigen Blick wieder der Apothekerin zu. Nun, er war sich sicher, dass Maomao darüber ganz gewiss nicht sprechen wollen würde. Aber was auch immer es war, er wollte es trotzdem gerne wissen. 

Alles. Er wollte alles über sie wissen.

Vielleicht würde sie ihm ja eines Tages genug vertrauen, um es ihm zu erzählen. Irgendwann in der Zukunft.

Jinshis Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als Maomao plötzlich ein besonders langes Stöhnen von sich gab und im Schlaf mit den Beinen zu strampeln begann, sodass er ein wenig Mühe hatte, sie weiterhin festzuhalten.

„Maomao! Was ist los?!"

Jinshi bekam es mit der Angst zu tun, doch er zwang sich mit aller Mühe, die Ruhe zu bewahren, die Apothekerin so fest er konnte, an sich drückend.

„Psst... nicht weinen... alles ist gut... ich bin hier..."

Diesmal zitterte seine Stimme ein wenig. Wie oft hatte er jene Worte bereits wiederholt und doch schienen sie so gut wie keine Wirkung zu haben... Aber was konnte er denn sonst noch für sie tun? Was bloß?!

In dem Moment spürte er, wie ihre linke Hand seine Kleidung losließ und sich streckte, als wolle sie nach etwas greifen. 

Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, setzte Jinshi Maomao wieder auf seinen Schoß und nahm fast schon wie aus einem Reflex jene Hand, sie zärtlich, aber dennoch fest drückend. Dann hob er sie zu seinen Lippen und begann, sie zu küssen. Jeden Finger einzeln.

Maomao zuckte kurz zusammen, als einer seiner Küsse auf ihrem kleinen Finger landete, und hörte auf der Stelle mit dem Strampeln auf.

Jinshi blinzelte einige Male verwundert und drückte noch einen Kuss auf ihren kleinen Finger. Was dann folgte, verlieh ihm ein Gefühl, als würde ihm ein riesiger Stein vom Herzen fallen.

Maomaos Wimmern wurde leiser und ließ endlich nach. Auch wenn sie sich mit der anderen Hand immer noch an seinen Ärmel klammerte.

Jinshi nahm an, dass es sich bei ihrem linken kleinen Finger wohl um eine Art empfindliche Stelle handeln musste, denn keiner seiner bisherigen Küsse war derart effektiv gewesen. Neuen Mut schöpfend, wiederholte er die Prozedur immer und immer wieder, mit seinem freien Arm die Taille der Apothekerin umschlingend, um sie auf seinem Schoß zu halten.

Letztendlich hatte sie sich so weit beruhigt, dass auch ihre rechte Hand ihn losließ und nun schlaff an ihrer Seite herunterhing.

„Uuh..."

Jinshi platzierte einen letzten Kuss auf ihren Finger und blickte Maomao erneut ins Gesicht, sobald er jenen Laut von ihr vernahm.

Sie hatte die Augen leicht geöffnet und schaute nun in seine Richtung. Aber ob sie ihn tatsächlich sah oder nicht, ließ sich nur schwer sagen, da ihr Blick verriet, dass sie irgendwo in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen schwebte.

Der junge Herr weitete die Augen, schluckte jedoch all seine Unruhe und neu aufgekommene Besorgnis herunter und schenkte ihr schließlich sein liebevollstes Lächeln.

„Maomao? Bist du wach? Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte er leise und sanft, immer noch ihre Hand haltend.

Aber Maomao reagierte nicht auf seine Worte, sondern blinzelte bloß. Dann hustete sie einige Male und gähnte.

Zwar hatte sie nun aufgehört zu weinen, doch ihre Wangen glänzten noch von all den vergossenen Tränen.

Jinshi schwieg einige Sekunden lang, aber dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben.

Daraufhin ließ er Maomaos Hand los und fasste die Apothekerin unter den Armen, sie hochhebend und an sich drückend, sodass ihr Kopf auf seiner Schulter ruhte. Erfreut und erleichtert stellte er fest, dass ihre Stirn bereits nicht mehr so dermaßen heiß war und ihr Körper auch weniger zitterte.

Maomao sprach kein Wort. Sie gab jedoch ein weiteres breites Gähnen von sich. 

Der Anblick war so zuckersüß, dass Jinshi lächeln musste.

„Du bist vollkommen erschöpft, nicht wahr?", wisperte er ihr zu. „Kein Wunder, nach einem solchen Albtraum. Jetzt ist alles wieder gut… schlaf. Schlaf, mein Kleines.”

Diesmal schien die Apothekerin ihn tatsächlich gehört zu haben, denn sie ließ sich dies nicht zweimal sagen und schloss wieder die Augen. Oder möglicherweise hatte auch ihre Erschöpfung gesiegt.

Jinshi legte sich langsam mit ihr zusammen ins Bett zurück, seitwärts, so wie sie bisher auch gelegen waren, wischte ihr vorsichtig die verbliebenen Tränen vom Gesicht und küsste erneut ihre Hand und dann noch ihre Stirn.

„Du bist wirklich die Einzige für mich... Ich liebe dich so sehr, Maomao...", murmelte er, während er sie beide ordentlich zudeckte.

Die an seiner Brust wieder friedlich schlafende Maomao betrachtend, wurde auch er langsam, aber sicher von seiner Müdigkeit eingeholt und schloss ebenfalls die Augen.

Und am Ende fielen sie beide erneut in einen tiefen Schlaf.

Währenddessen hatte auch das Gewitter draußen aufgehört und die Wolken hatten sich verzogen. Mondlicht schien nun auf die nassen Dächer und Straßen der Stadt herab.

***

Als der Morgen bereits angebrochen war und die Sonne durch das Fenster in den Raum hineinschien, begann Maomao sich zu regen. Das Allererste, was sie beim Aufwachen spürte, waren pochende Kopfschmerzen, welche sie die Stirn runzeln ließen, und eine leichte Benommenheit. Doch sie musste zugeben, dass es ihr erheblich besser ging als am Vortag. 

Da ihre Lider sich nach so viel Schlaf etwas schwer anfühlten, beschloss sie, die Augen erstmal geschlossen zu halten.

„Mein Fieber scheint endlich gesunken zu sein", dachte sie und zog leicht die Nase hoch. „Aber meine Nase ist immer noch zu. Gut, dann werde ich später eine Inhalation vorbereiten."

Ohne ihren feinen Geruchssinn kam sich die Apothekerin zugegebenermaßen leicht verloren vor.

Und so wurde ihr erst dann klar, dass sie sich nicht allein im Bett befand, als sie regelmäßige Bewegungen und ein rhythmisches Geräusch wahrnahm und spürte, dass sie an etwas angenehm Warmes gepresst war. Etwas wirklich Warmes. Um ehrlich zu sein, hatte sie solch eine Wärme bisher noch nie beim Aufwachen gespürt.

Oder Moment, doch, hatte sie. Ein Mal, als...

Umgehend öffnete Maomao die Augen und stellte fest, dass sie in den Armen eines tief und fest schlafenden Jinshi lag. Schon wieder. Deshalb war ihr das Bett also so seltsam eng vorgekommen.

Die Augen der Apothekerin weiteten sich für einen Moment vor Verwirrung.

„Hä? Was macht er denn hier? Ich habe doch gebeten, ihn nicht zu nah an mich heranzulassen... Wenn er jetzt wieder krank wird, geht die ganze Geschichte doch von vorne los. Kann er mich nicht einmal jetzt in Ruhe lassen?"

Sie verzog genervt das Gesicht und befreite ihre linke Hand, welche er im Schlaf hielt, um leicht an seiner Wange zu ziehen und ihn so anzufunkeln, als sei er eine dicke, fette Raupe. Wie schade, dass er gerade nicht in der Lage war, diesen Blick zu genießen.

„Hatte er etwa noch einen Albtraum? Mensch…”

In ihr regte sich ein dezenter Wunsch, seinem Leben ein Ende zu setzen, doch leider war sie gerade noch zu schwach dazu. Also ließ sie ihn los und entspannte ihre Gesichtszüge wieder.

„Urgh… aber ich hatte sehr wohl einen… den Traum hatte ich schon lange nicht mehr… muss wohl am Fieber liegen…”

Maomao erschauderte heftig bei der Erinnerung an ihren schrecklichen Albtraum, drückte ihr Gesicht unbewusst zurück an Jinshis Brust und schmiegte sich noch etwas enger an ihn, bevor sie überhaupt richtig begriff, was sie da eigentlich tat.

„Er ist so warm…", schoss ihr folgender Gedanke durch den Kopf, während sie erneut die Augen schloss und seinem Herzschlag lauschte. „Ich schätze, wir können noch ein wenig länger so bleiben…”

Keine Ahnung, wieso, aber irgendwie fühlte sie sich seltsam wohl in seinen Armen. Seine Wärme erinnerte sie an jene, welche sie im Traum gespürt hatte, gleich, bevor dieser sich aufgelöst hatte. Eine Wärme, die zuerst an ihrem kleinen Finger begonnen und sich dann über ihren gesamten Körper ausgebreitet hatte, sie umschließend wie ein schützender Kokon.

Was davor oder danach passiert war, wusste sie nicht mehr. Wahrscheinlich ein tiefer, traumloser Schlaf. Sie griff wieder nach seiner Hand...

Doch plötzlich riss sie ganz weit die Augen auf, als sie begriff, was sie da alles machte.

„Was zur Hölle tu ich da eigentlich?! Habe ich etwa doch noch Fieber?!” Ihre Stimme klang beinahe schon panisch in ihren Gedanken.

Auf der Stelle versuchte sie sich, aus seiner Umarmung herauszuwinden. Doch sein Arm hielt ihre Taille fest umschlungen.

Auf einmal spürte sie jedoch, wie eben jener Griff sich lockerte und seine Hand langsam und beruhigend ihren Rücken zu streicheln begann. 

„Hab keine Angst, Xiaomao… ich bin hier…”

Maomao erstarrte. Sie war so perplex von seinem Gemurmel, dass sie sogar ihren Ärger vergaß.

Und während sie da lag und darüber nachsann, was sie nun am Besten tun sollte, hörte sie ein Gähnen und blickte auf, feststellend, dass Jinshi die Augen aufgeschlagen hatte.

Also musste ihr Gezappel ihn sehr wohl aufgeweckt haben. 

Sie sahen sich einen Augenblick lang gegenseitig an.

„Oh, bist du jetzt wach, Apothekerin?”, erkundigte er sich schlaftrunken und schenkte ihr ein kleines Lächeln. „Hast du gut geschlafen? Wie geht es di- aaah!”

So wie es aussah, hatte Jinshi in seinem verschlafenen Zustand vergessen, dass er nicht in seinem eigenen Bett lag, und wollte sich auf den Rücken drehen…

Und so verlor er sein Gleichgewicht und fiel heraus, zusammen mit Maomao, die sich immer noch in seinen Armen befand. 

Was für ein wunderbarer Start in den Tag!

Notes:

Ich glaube, ihr könnt euch alle denken, wovon Maomaos Albtraum gehandelt hat, nicht wahr?

So! Und nun bleibt nur noch der Epilog! :)
Zwar kann ich noch nicht genau sagen, wie lang der wird, aber aufteilen werd ich ihn wohl eher nicht.
Morgen mach ich ne Pause und fahre dann am Dienstag mit dem Schreiben fort!

Chapter 33: Du bist wirklich hier, Epilog

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Es war merklich kälter geworden in den letzten Tagen und statt Regen schwebten nun die ersten Schneeflocken vom bewölkten spätherbstlichen Himmel.

Die wieder vollkommen genesene Maomao hockte mit einem breiten Lächeln und vor Freude geröteten Wangen vor einem kahlen kleinen Stück Land und summte zufrieden vor sich hin, immer noch kaum glaubend, dass besagtes Stück Land tatsächlich ihr gehörte. Ihr ganz allein.

Während sie sich noch von ihrer Erkältung erholt hatte, hatte Jinshi nämlich eines Tages ihr Zimmer betreten und aus heiterem Himmel verkündet, dass er ihr einen eigenen kleinen Kräutergarten direkt hinter seiner Residenz errichten ließ.

Die Apothekerin war so verblüfft gewesen, dass ihr die Worte fehlten. Zwar hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie er auf so etwas überhaupt gekommen war, war aber viel zu glücklich gewesen, um sich über solche Nichtigkeiten den Kopf zu zerbrechen. Ein Kräutergarten, nur für sie allein! Am liebsten wäre sie damals aus dem Bett gesprungen und auf der Stelle hinausgerannt, um einen Blick darauf zu werfen und sich davon zu überzeugen, dass es kein Traum war, aber Jinshi, der ihre Absicht selbstverständlich erahnte, hatte sie auf der Stelle aufgehalten und ihr befohlen, liegen zu bleiben. Nach draußen ließ er sie erst, als sie wieder vollkommen gesund geworden war, und auch nur, nachdem er ihr das Versprechen abgerungen hatte, sich nicht zu lange in der Kälte aufzuhalten.

Und nun hockte sie also da und gab sich wundervollen Tagträumen über all die Schätze hin, welche sie in jener Erde einpflanzen würde. Ach, wenn doch nur bereits Frühling wäre!

„Vielleicht sollte ich ja öfter krank werden, wenn es danach solche unerwarteten Überraschungen gibt”, dachte Maomao und grinste. Wenn Jinshi hier wäre und ihre Gedanken lesen könnte, hätte er sie jetzt bestimmt an Ort und Stelle umgebracht. Und das ganz ohne Gift.

„Und? Gefällt er dir?", vernahm sie auf einmal eine nur allzu bekannte, honigsüße Stimme hinter sich und zuckte zusammen. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

Na, wenn man vom Teufel spricht.

Maomao hob den Kopf und erblickte direkt über sich das lächelnde Gesicht eines gewissen jungen Herrn, der sich in ihre Richtung gebeugt hatte. Doch sie war aktuell dermaßen glücklich, dass sie sogar vergaß, genervt zu sein.

„Ja, sehr. Vielen Dank, Herr!" 

Sie stand auf und drehte sich zu ihm um, um sich vor ihm zu verbeugen.

Jinshi richtete sich wieder auf und tätschelte ihr mit einem kurzen Lachen den Kopf, bevor er die Hände in seinen weiten Ärmeln verbarg.

Doch plötzlich wich sein Lächeln einem ernsten Gesichtsausdruck.

„Das freut mich sehr, aber dass du mir ja keine Kräuter mehr im strömenden Regen pflückst, hörst du? Tu mir so etwas nie wieder an! Sonst bekomme ich vor Sorge noch graue Haare. Oder Haarausfall", ermahnte er sie in einem strengen Tonfall.

Maomao hob eine Augenbraue und warf ihm einen seltsamen Blick zu.

Daraufhin biss Jinshi die Zähne zusammen, funkelte sie böse an und begann schließlich, an ihrer Wange zu ziehen. Die Apothekerin ergriff reflexartig sein Handgelenk.

„Hey! Was stellst du dir da gerade vor?!"

„Nifts, Ferr..."

Der junge Adelige blickte ihr noch ein paar Momente lang in die Augen, schnaubte dann und ließ ihre Wange wieder los. Doch bevor sie ihre Hand von seinem Handgelenk nehmen konnte, legte er rasch seine zweite darauf, um sie aufzuhalten.

„Oh, deine Hände sind ja kalt, Apothekerin."

Nun war aller Ärger aus seinen Gesichtszügen verschwunden und in seiner Stimme schwang leichte Besorgnis mit. Er nahm sie bei ihren beiden Händen und hockte sich vor ihr hin.

„Komm her."

Daraufhin zog er leicht, sodass sie einen Schritt auf ihn zu machte, hob ihre kleinen Hände zum Mund und hauchte seinen warmen Atem darauf, bevor er sie vorsichtig rieb und mit seinen großen vollständig umschloss.

Maomao runzelte die Stirn. Sie fand, dass er mal wieder leicht übertrieb, beschloss jedoch, diese Meinung für sich zu behalten, da sie nach seinem großzügigen Geschenk nun wirklich keinen Streit anfangen wollte. Zumal sie zugeben musste, dass sich die Wärme seiner Hände nach der kalten Herbstluft ziemlich angenehm anfühlte.

Nach einer Weile richtete er sich wieder auf und ließ sie los.

„Komm, gehen wir rein ins Warme, damit es keine weiteren Krankheitsfälle gibt."

Maomao hatte nichts dagegen einzuwenden. Schließlich hatte sie den zukünftigen Garten bereits ausgiebig inspiziert und pflanzen konnte sie dort zu dieser Jahreszeit sowieso noch nichts. Daher trottete sie brav hinter ihm her.

„Wie geht es Eurem Ellenbogen, Herr?", fragte sie.

Jinshi lächelte sie wieder an und klopfte sich mit der rechten Hand leicht auf den linken Ellenbogen.

„Alles wieder gut. Er schmerzt nicht mehr und ich kann ihn ganz normal wieder bewegen."

Er hatte sich jenen Ellenbogen an Maomaos Bett aufgeschlagen, als er vor einigen Tagen herausgefallen war. Maomao, die sich während des Sturzes in seinen Armen befunden hatte und daher unversehrt geblieben war, hatte die verletzte Stelle untersucht und Jinshi daraufhin angeboten, ihm eine Salbe zu machen. Zwar hatte er ihr versichert, dass er auch ohne zurechtkommen würde, da die Apothekerin ja noch krank war, und sie, ohne auch nur ein Widerwort zu akzeptieren, hochgehoben und wieder ins Bett gelegt, doch am Ende hatte ihre Sturheit gesiegt und sie durfte die Salbe zubereiten und auf seinen Ellenbogen auftragen. Jedoch im Bett sitzend.

„Verstehe. Verzeiht mir, Herr."

„Wieso entschuldige ich mich eigentlich?", dachte sie. „Selbst schuld, wenn er in mein Bett gestiegen ist. Ich habe ihn jedenfalls nicht darum gebeten.”

Jinshi selbst schien ihre Gedanken zu teilen.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Das ist doch nicht deine Schuld.”

„Sag ich doch.”

Aber um ehrlich zu sein, wunderte Maomao sich schon, wieso er sich in jener Nacht eigentlich zu ihr gelegt hatte. Als sie diese Frage mal in Suirens Gegenwart ausgesprochen hatte, hatte sie von der älteren Dame bloß folgende Worte zu hören bekommen: „Für dich würde der junge Herr alles tun, Xiaomao.”

Maomao musste zugeben, dass sie jene Aussage nicht so recht verstanden hatte und vor allem nicht, was diese mit ihrem Bett zu tun hatte.

Doch bevor ihre Gedanken eine Richtung einschlagen konnten, die ihr nun wirklich äußerst missfiel, erklang aus der Ferne plötzlich Musik. Zwar nicht besonders laut, aber dennoch klar und deutlich hörbar.

„Oh, das ist wohl eine Probe für die nächste Gartenfeier, die im Frühling stattfinden soll”, meinte Jinshi, in die Richtung blickend, aus der besagte Musik kam.

„Ach, ist dem so?", antwortete die Apothekerin gelangweilt. 

Auf einmal blieb der junge Herr ganz plötzlich stehen. Maomao tat es ihm leicht verwirrt nach.

„Was ist denn los, Eure Exzellenz?"

Jinshi blickte sich um, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich allein waren, und sah sie an. Sein Gesicht wurde nun von einem breiten Lächeln geziert.

Maomao hatte ein ganz mieses Gefühl dabei. Aber vielleicht irrte sie sich auch.

„Ich kenne da einen anderen Weg, um uns aufzuwärmen."

Nein, sie irrte sich nicht. Was heckte dieser Kerl nun schon wieder aus?

„Es ist nichts Schlimmes, also mach nicht so ein Gesicht, ja?"

Oh, also waren ihr ihre Gedanken mal wieder anzusehen gewesen. Maomao entspannte ihre Gesichtszüge wieder, darauf hoffend, dass er mit seiner Aussage Recht behielt.

Immer noch lächelnd, streckte Jinshi die rechte Hand in ihre Richtung aus.

„Diese Musik erinnert mich an einen westlichen Tanz, den ich vor Jahren mal lernen musste, und… möchtest du vielleicht mit mir tanzen, Apothekerin?"

Maomao schaute auf die angebotene Hand und danach in sein Gesicht. Seine Augen strahlten so sehr vor Vorfreude und in seiner Stimme lag ein solch fröhlicher Tonfall, dass es nur eine Antwort gab, die sie ihm geben konnte.

„Nein."

Und diese Antwort war klipp und klar.

Jinshis Lächeln verschwand auf der Stelle. Nun sah er so enttäuscht aus wie ein trauriger Welpe, der die Ohren hängen ließ.

„Hat er etwa tatsächlich geglaubt, ich würde ja sagen?", dachte Maomao, ehrlich erstaunt. Für so naiv hätte sie ihn nicht gehalten.

Jinshi blies die Wangen auf und verschränkte die Arme.

„Und ich dachte schon, wir wären uns nähergekommen. Wir haben sogar miteinander geschlafen. Zwei Mal."

Maomaos Mund und Auge zuckten, als sie diese Worte vernahm.

„Herr, ich bitte Euch, keine Dinge von Euch zu geben, die Andere missverstehen könnten."

„Na, das sagt ja genau die Richtige", meinte er schmollend und eindeutig verstimmt. „Du Königin der Missverständnisse."

Er gab ein Schnauben von sich und schritt wieder los, die Arme immer noch verschränkt haltend.

„Gut, dann lass uns eben reingehen."

Maomao seufzte. Sie gab es nicht gerne zu, aber er hatte tatsächlich Recht: nähergekommen waren sie sich. Aber da sie Arm in Arm geschlafen hatten, war dies unvermeidlich gewesen. 

Und noch ungerner gab sie zu, dass sich angesichts seiner Enttäuschung doch ein wenig und gegen ihren Willen ihr schlechtes Gewissen geregt hatte.

Schließlich biss Maomao die Zähne zusammen, tat einen tiefen Atemzug und packte ihn am Ärmel. Sie hoffte wirklich, dass sie die Entscheidung, die sie getroffen hatte, nicht bereuen würde.

„Hmph, ist ja gut! Dann tanzen wir eben. Seht es als Dank für den Kräutergarten, den Ihr mir geschenkt habt."

„Was, wirklich?!"

Der junge Adelige blieb erneut stehen und drehte sich wieder zu ihr um. Jetzt sah er aus wie ein Hündchen, das vor Freude mit dem Schwanz wedelte. Seine Augen strahlten wieder so sehr, dass jeder außer Maomao bestimmt in Ohnmacht gefallen wäre.

Maomao sah ihn an, als sei er ein toter Käfer, um seinen Enthusiasmus ein wenig zu bremsen. Leider brachte dies jedoch nichts.

„Aber lasst mich Euch eine Warnung geben: meiner Meinung nach bin ich zu kleingewachsen, um mit Euch zu tanzen, Herr."

Er winkte ab.

„Ach, das sehen wir schon noch. Lass es uns versuchen, ja?"

„Ist gut."

Jinshi kam näher und nahm sie bei der Hand, während er die andere auf ihrer Hüfte platzierte.

„So, und jetzt musst du mir deine andere Hand auf die Schulter legen", wies er sie an und beugte sich leicht nach unten, um ihr entgegenzukommen.

Maomao musste sich ein wenig strecken, aber sie tat es. Sein vertrauter Geruch nach Sandelholz stieg ihr in die Nase.

„Ich habe zwar tanzen gelernt im Freudenhaus, aber Paartänze gehörten nicht dazu."

„Haha! Nur keine Sorge, ich werde dich führen!"

Und so begann ihr Tanz unter dem freien Himmel hinter Jinshis Residenz.

Oder eher irgendetwas, was einem Tanz ähnelte.

„Au!", gab Jinshi nach einer Weile von sich, als Maomao ihm zum fünften Mal auf die Zehen trat. Aus Versehen, natürlich! Schließlich war er nicht ihr Cousin Lahan, dem sie regelmäßig die Zehen quetschte, wenn er etwas sagte oder tat, was ihr missfiel.

„Verzeihung, Eure Exzellenz."

Maomao hatte wirklich Mühe, aufzupassen, wo sie hintrat. Denn wenn sie sich auf ihre Füße konzentrierte, stieß sie mit der Stirn gegen Jinshis Brust, was auch nicht sonderlich schön war.

Letztendlich blieb der junge Herr stehen und kratzte sich leicht am Kopf, immer noch Maomaos Hand haltend.

„Hm, wie es scheint, ist unser Größenunterschied hier tatsächlich ein Problem."

„Genau das habe ich Euch gesagt, Herr."

„Ah, er hat's endlich kapiert", dachte Maomao. „Dann wird er mich jetzt wohl in Ruhe la-"

Doch zu früh gefreut! Jinshi setzte augenblicklich ein weiteres strahlendes Lächeln auf, als ihm eine Idee gekommen zu sein schien.

„Dann lass uns mal das Problem beheben!"

„Hä? Bitte, was?"

Und bevor unsere Apothekerin sich versah, verlor sie auch schon den Boden unter den Füßen, als Jinshi sie auf einmal mit einem Arm hochhob, mit der anderen Hand immer noch die ihre haltend. 

„Eure Exzellenz! Was tut Ihr da?!", empörte sich Maomao und packte ihn an der Schulter. Sie konnte ihm nun direkt in die Augen sehen, ohne den Kopf heben zu müssen.

„Ich habe mich bloß um unser kleines Größenproblem gekümmert, damit du mir nicht mehr auf die Füße treten kannst", meinte er kichernd. 

Maomao so tragend, dass sie quasi auf seinem Unterarm saß und die Melodie leise mitsummend, begann er schließlich allein die Tanzschritte durchzuführen, die er vorhin mit ihr durchgegangen war. Aus der Ferne mochte es tatsächlich so aussehen, als würden sie beide zusammen tanzen. Einige Schneeflocken landeten auf ihrer Kleidung und Haaren.

„Das ist so dämlich", dachte Maomao, während sie sich an seiner Schulter festhielt und ihm mürrisch ins breit lächelnde Gesicht blickte. Sie hoffte sehr, dass keiner sie so sah, sonst wäre das wirklich peinlich geworden.

Er vollführte einige Drehungen mit ihr, doch Angst zu fallen hatte die Apothekerin nicht. Jinshi hielt sie fest und sie wusste instinktiv, dass er sie niemals fallen lassen würde.

Plötzlich merkte sie, dass er ihren Blick erwiderte und dann aus heiterem Himmel seine Stirn an ihre drückte, welche nun beide eine normale Temperatur hatten. Der junge Herr sah in ihre blauen Augen. Sein Blick verriet, dass sie wie so oft die Einzige war, die er sah, und dass er die Welt um sich herum bereits vergessen hatte.

„Apothekerin..."

Als Nächstes begann er liebevoll, seine Nase gegen ihre zu reiben. 

Maomao erstarrte für einen Augenblick, zu verblüfft, um auch nur einen Laut von sich zu geben. Dann kam sie wieder zu sich, nahm die Hand von seiner Schulter...

...und schnipste ihre Finger gereizt gegen seine Nase.

„Autsch!"

Doch zu ihrem Erstaunen wurde Jinshi überhaupt nicht sauer, sondern begann zu lachen und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ich bin ja so froh, dass du wieder ganz die Alte bist!"

Maomao war genervt wie sonst was, doch sie musste zugeben, dass auch sie froh war, dass es ihm wieder gut ging. Sie zog einen glücklichen und gesunden Jinshi einem kranken und weinenden offensichtlich ganz deutlich vor.

Ersterer klammerte nicht so stark und verteilte auch keinen Rotz auf ihrer Kleidung. Na ja, auch wenn man über den ersten Punkt ab und zu auch streiten könnte.

Die beiden blickten einander erneut in die Augen...

...und gaben gleichzeitig ein Niesen von sich.

„Oh nein, nicht schon wieder!" riefen sie im Chor.

Notes:

Und hiermit ist die längste Fanfic, die ich je geschrieben hab, beendet!
Vielen Dank fürs Lesen!
Ich hab keine Ahnung, ob ich je wieder eine so lange Fanfic schreiben werde, aber mal sehen, was die Zukunft bringt! :)
Ich hab mehrere Monate fast ununterbrochen an dieser Geschichte gearbeitet (mit vielleicht einem Tag Pause zwischen den Kapiteln, wenn überhaupt), also werde ich jetzt eine Pause einlegen. Vielleicht für eine Woche oder auch zwei.

Danach hab ich vor, einige Monate lang vielleicht einmal pro Woche oder alle zwei Wochen ein Drabble zu schreiben (weniger als 1000 Wörter, höchstens 1500) und dann wieder längere Texte. Aber diese Pläne können sich eventuell noch ändern, das kann ich aktuell noch nicht sagen.

Falls ihr irgendeine Bitte oder Idee für ein JinMao-Drabble habt, lasst es mich gerne wissen! Ich trage sie dann in meine Ideenliste ein, wenn sie mir gefällt! (Aber bitte kein +18)

Chapter 34: Bloß ein Kratzer

Summary:

Eines Tages hatte Jinshi das Pech, sich in den Finger zu schneiden. Wie gut, dass seine geliebte Apothekerin zur Stelle war!

Notes:

Eine kleine Geschichte über Jinshi, Maomao und eine winzige Wunde. :)

Chapter Text

Es war ein weiterer, ganz gewöhnlicher Tag in der Residenz des jungen Adeligen Jinshi, dessen unfassbar liebreizendes Äußeres ihm die Titel „wunderschöner Eunuch" und „himmlische Nymphe" des Kaiserpalastes eingebracht hatte.

Die Apothekerin Maomao, die erst vor Kurzem von ihm aus dem Freudenhaus freigekauft und zu seiner neuen Dienerin gemacht worden war, war wie so oft mit den täglichen Putzarbeiten beschäftigt. Gerade stand sie im Korridor auf den Knien und wischte den Staub vom unteren Teil einer der Türen, so schweigsam und unscheinbar, dass man sie leicht übersehen könnte, wenn man nicht auf sie achtete.

Doch auf einmal hörte sie Schritte und drehte den Kopf leicht zur Seite. Ihr Arbeitgeber Jinshi ging an ihr vorbei und blieb in einigen Metern Entfernung stehen. Er blätterte in einigen Dokumenten herum und murmelte etwas vor sich hin.

Sein üblicher Papierkram, so wie es aussah.

„Wie es scheint, braucht er mich aktuell nicht", dachte Maomao, die ihn mittlerweile gut genug kannte, um nicht eine Sekunde daran zu zweifeln, dass er ihre Präsenz sehr wohl wahrgenommen hatte. Sie wandte sich wieder der Tür zu und beschloss, ihm keine Beachtung zu schenken, sondern einfach mit ihrer eigenen Arbeit fortzufahren. „Ach, wie schön."

Doch dann...

„Au!"

„Was ist passiert, Herr?", erkundigte sie sich in einem gelassenen Tonfall, ohne den Blick von der Tür abzuwenden. Sie nahm an, dass es äußerst unhöflich wäre, ihn nach jenem Aufschrei weiterhin zu ignorieren.

„Nichts. Ich habe mich bloß am Papier geschnitten", antwortete Jinshi ohne jede Spur von Überraschung, plötzlich ihre Stimme gehört zu haben. Wie vermutet hatte er also gemerkt, dass sie da war.

Er hatte vor, sich den rechten Zeigefinger in den Mund zu stecken, hielt jedoch inne, als er ihre Frage vernahm.

Die Apothekerin legte den Putzlappen auf den Boden, wischte sich die Hände kurz an ihrem Rock ab und stand schließlich auf. Als sie auf Jinshi zuging, sah sie, dass ein kleiner Blutstropfen seinen Finger herabfloss.

„Lasst mich mal sehen, Eure Exzellenz."

„Lass mal, das ist doch bloß ein Kratzer. Daran sterbe ich schon nicht", witzelte er und schenkte ihr ein Lächeln. Nicht das künstliche, das die anderen Palastdamen zu Gesicht bekamen, sondern das ehrliche, das Maomao bevorzugte.

„Ich würde Euch trotzdem empfehlen, die Wunde vorsichtshalber zu desinfizieren. Auch wenn sie noch so klein ist, könnte eine Infektion auftreten, wegen der man Euch im schlimmsten Fall den Finger oder sogar die ganze Hand abschneiden müsste. Und wenn es zu einer Blutvergiftung kommt, könnt Ihr sehr wohl daran sterben."

Maomao sah aus und klang, als erzähle sie ihm bloß, wie das Wetter in den nächsten Tagen wird.

Jinshis Lächeln verschwand auf der Stelle. Sein umwerfend schönes Gesicht wurde bleich wie ein Laken und er starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an.

„Ups", dachte Maomao, ohne eine Miene zu verziehen. „Das hätte ich wohl besser für mich behalten."

„Ver-Verstehe...", brachte er mit einiger Mühe hervor. Offensichtlich hatte er nicht die geringste Ahnung, was er sonst sagen sollte.

„Geduldet Euch bitte ein wenig, Herr, ich habe etwas Antiseptikum dabei."

Und mit diesen Worten begann sie in ihren Ärmeln herumzukramen und ein Päckchen nach dem anderen herauszuziehen. Ein Mittel gegen Husten, eins gegen Bauchschmerzen, ein Brechmittel, Verbandszeug... ach, da war ja das Desinfektionsmittel! Als sie das kleine Fläschchen endlich aufgespürt hatte, stopfte sie alles andere wieder zurück.

Jinshi währenddessen sah ihr neugierig und leicht erstaunt zu.

„Ich wusste ja gar nicht, dass du so viel mit dir herumträgst. Bist du eine Art wandelnder Medikamentenschrank?"

„Ich bin Apothekerin, Herr. Also wäre die Bezeichnung tatsächlich nicht ganz verkehrt. Schließlich muss ich stets vorbereitet sein, falls meine Fähigkeiten gebraucht werden."

Nachdem sie sich zuerst kurz die eigenen Hände desinfiziert hatte, da sie ja gerade noch einen dreckigen Putzlappen gehalten hatte, nahm sie Jinshi ohne zu zögern bei der Hand und spürte sogleich, wie er zusammenzuckte. Daraufhin blickte sie in sein Gesicht auf und runzelte die Stirn, als sie feststellte, dass seine Wangen gerötet und die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst waren. Seine andere Hand hielt die Dokumente so fest, dass er sie beinahe zerknüllte.

„Habe ich Euch wehgetan, Eure Exzellenz?"

„Nei-Nein. Mach weiter."

Aus irgendeinem Grund klang seine Stimme äußerst angespannt.

Maomao kam der Gedanke, welch ein Rätsel jener Mann doch für sie darstellte. Die ganze Zeit legte er ihr mal die Hand auf die Schulter, mal tätschelte er ihr den Kopf oder umarmte sie sogar, doch wenn sie diejenige war, die ihn berührte, selbst mit nur einem Finger, wurde er ganz plötzlich nervös und führte sich auf wie eine verschämte Jungfrau vor der Hochzeitsnacht. 

Aber da sie wie stets nicht den geringsten Wunsch hegte, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen, seufzte sie bloß und beschloss, an gar nichts zu denken und einfach nur seinen Finger zu desinfizieren.

Jedoch konnte sie es sich nicht verkneifen, den Kopf zu heben, als sie seinen intensiven Blick auf sich spürte. 

Seine violetten Augen sahen sie mit einer solchen Bewunderung und Verehrung an, als sei sie der größte Schatz auf Erden.

Nun, so etwas zu ignorieren war selbstverständlich schwierig. Maomao schluckte und...

...schaute ihn an, als sei er ein Wurm, der zuerst in einer Regenpfütze ertrunken und dann in der Sonne getrocknet war.

Natürlich, was denn auch sonst? Schließlich kannte sie sich nicht wirklich gut mit Gefühlen aus und wusste deshalb nicht, was sein Blick zu bedeuten hatte.

Oder vielleicht doch, wollte dies aber nicht zugeben.

Als Jinshi ihren Blick sah, errötete er noch stärker, bis er einer reifen Kirsche glich. Dazu spürte die Apothekerin noch, dass seine Hand zu zittern und zu schwitzen begonnen hatte.

Oje! Sie hatte ja ganz vergessen, wie sehr er es liebte, so von ihr angesehen zu werden.

Mist...

„Ich habe keine Lust, mich mit all diesem Unsinn zu befassen", dachte sie, ein wenig das Gesicht verziehend. Und ließ dann letztendlich seine Hand los.

„So, fertig."

Doch der junge Adelige reagierte nicht auf ihre Worte, sondern starrte sie weiterhin reglos an. Wie in Trance.

„Eure Exzellenz?"

Maomao verengte die Augen, schnalzte mit der Zunge und hob ihre eigene Hand, um damit vor seinem Gesicht herumzuwedeln.

„Meine Güte, der tut ja so, als hätte ich ihm den Finger abgebissen", dachte sie irritiert. 

„Eure Exzellenz!"

„J-Ja?"

„Ich bin fertig."

„Oh, danke dir..."

Er kam endlich wieder zu sich und senkte die Hand. Sein Gesicht war jedoch immer noch knallrot.

Maomao fand, dass er jetzt irgendwie traurig und enttäuscht aussah. Aber vielleicht bildete sie es sich auch nur ein.

***

Ein wenig später betrat Gaoshun die Schreibstube seines Herrn, um die fertigen Dokumente abzuholen und neue vorbeizubringen, und sah Jinshi am Fenster stehen.

Auf einmal weiteten sich die Augen des Assistenten vor Schreck.

„Herr! Was in aller Welt habt Ihr mit diesem Messer vor?!"

„Nichts! Absolut gar nichts!", antwortete Jinshi und verbarg das Messer, mit dem er sich gerade in den Finger schneiden wollte, hastig hinter seinem Rücken.

Na gut, dann würde er sich eben etwas anderes einfallen lassen müssen, damit Maomao ihn erneut bei der Hand nahm…

Chapter 35: Haltet den Dieb! Teil 1

Summary:

Unsere Apothekerin Maomao beschließt, einen Apfel aus dem Obstgarten zu steh- ähem, „auszuleihen". Doch leider bekommt ihr Vorhaben eine äußerst unerwartete Wendung...

Notes:

Das ist immer noch ne Kurzgeschichte, aber da ich bereits sehen kann, dass sie länger wird als ich dachte, hab ich entschieden, sie in zwei Teile aufzuteilen. Ja, ich weiß, ich hab verkündet, dass ich erstmal nur kurze Drabbles schreiben werde, aber dieses Vorhaben ist ein wenig misslungen 😂

Chapter Text

Die Apothekerin Maomao, welche vor Kurzem von ihrem Arbeitgeber Jinshi an Gemahlin Gyokuyou „verliehen" worden war, um angesichts der erneuten Schwangerschaft der Dame wieder als deren Zofe zu arbeiten, spazierte unbeschwert und mit einem neutralen Gesichtsausdruck durch den Inneren Palast. Weder die übrigen Palastdamen noch die Eunuchen schenkten der zierlichen jungen Frau auch nur die geringste Beachtung. Was Maomao mehr als nur recht war.

Nach einer Weile nahm sie die Hände aus den Ärmeln und streckte unterwegs kurz die Arme durch, um die leichte Trägheit loszuwerden, welche ihr das Sitzen unter der Sonne mit Xiaolan vorhin beschert hatte. Bewaffnet mit Süßigkeiten war sie nämlich an jenem Tag aufgebrochen und hatte sich mit ihrer Lieblingslabertasche getroffen, um von ihr die aktuellen Neuigkeiten des Palastes zu erfahren. Nun befand sie sich auf dem Rückweg.

Ein kleines, fast schon kaum ersichtliches Lächeln huschte über Maomaos Gesicht, als sie an das lebhafte jüngere Mädchen dachte. Normalerweise gingen ihr Menschen, die zu viel redeten, extrem auf die Nerven, aber was Xiaolan betraf, fand sie deren Redseligkeit zu ihrer eigenen Überraschung gar nicht mal so schlimm. War das etwa, wie es sich anfühlte, eine Freundin zu haben? 

Dies fragte sich die Apothekerin, die so etwas bisher noch nie gekannt hatte, während sie vor sich hinschritt.

Schließlich gähnte Maomao ausgiebig und nahm die Arme wieder herunter. Und vergaß sofort all ihre Grübeleien über Freundschaft und dergleichen, als ihr auf einmal etwas Bestimmtes ins Auge fiel. Auf ihrem Gesicht erschien der gleiche verzückte Ausdruck, den die anderen Hofdamen aufsetzten, sobald sie Jinshi erblickten.

Nur war der Grund für Maomaos Begeisterung selbstverständlich nicht der wunderschöne Aufseher des Inneren Palastes (Das hättet ihr wohl gern, was?), sondern die violetten Blumen, die am Wegesrand in aller Ruhe vor sich hinwuchsen.

„Lavendel!", hauchte Maomao, als hätte sie gerade einen seltenen Schatz entdeckt und stürzte sich sogleich mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen auf die armen, wehrlosen Pflanzen, ganz wie eine hungrige Katze, die sich auf ihre Futterschüssel wirft. Den angenehmen Duft des Gewächses einatmend, begann sie eifrig, dessen Ähren abzuzupfen, bis ihre beiden Hände voll waren.

Einige Eunuchen, die gerade Eimer mit Wasser schleppten, sahen verwundert in ihre Richtung, doch Maomao war dies herzlich egal. Sollten sie doch schauen, sie tat (diesmal) nichts Unerlaubtes!

„Diese Pflanze wirkt beruhigend, fiebersenkend und hilft bei Verdauungsproblemen", murmelte sie lächelnd, während sie ein Stück Schnur aus ihrer Kleidung hervorzog, um ihre Ausbeute zusammenzubinden und sich in einen ihrer Ärmel zu stopfen. „Schade nur, dass ich gerade keinen Korb dabeihabe, sonst hätte ich mehr mitnehmen können. Aber was soll's, komme ich eben ein andermal wieder."

Neben dem Lavendel entdeckte die Apothekerin noch Liebstöckel, von dem sie am liebsten auch einige Blätter abgepflückt hätte. Aber da dieser eine krampflösende Wirkung hatte und frühzeitige Wehen auslösen konnte, ließ sie lieber die Finger davon. Solch eine Pflanze hatte in der Nähe der schwangeren Gemahlin Gyokuyou nichts verloren.

Sich den Standort des Lavendels einprägend, führte die Apothekerin schlussendlich ihren Weg fort. Zwar mit leichtem Bedauern, aber da die Pflanzen in der Zwischenzeit ja nicht weglaufen würden, war dies schon in Ordnung so.

Doch bevor Maomao in die Jaderesidenz zurückkehrte, beschloss sie, unterwegs einen „Umweg" zu nehmen und dem kaiserlichen Obstgarten einen kurzen Besuch abzustatten, um sich eine kleine „Zwischenmahlzeit" zu gönnen. Da sie als Zofe und vor allem Giftverkosterin der Gemahlin nicht gerade viel zu tun hatte, musste sie sich mit dem Heimkommen nämlich nicht allzu sehr beeilen.

Dies würde längst nicht das erste Mal sein, dass sie solch eine unverschämte Schandtat beging, und natürlich wusste sie, dass es eigentlich Diebstahl war, aber ein-zwei Früchte weniger würden wohl kaum auffallen, oder?

Jene Gedanken hegte Maomao ohne eine Spur schlechten Gewissens, während sie den Obstgarten erreichte und betrat.

Als unsere Apothekerin die prallen, reifen Äpfel an den Ästen eines besonders hohen Apfelbaumes hängen sah und ihren betörenden Duft wahrnahm, lief ihr auf der Stelle das Wasser im Mund zusammen und sie beschleunigte ihre Schritte.

Nachdem sie sich kurz umgeschaut hatte, um ganz sicherzugehen, dass sie auch wirklich allein war, blieb sie direkt unter dem Baum stehen. Ja, die Äpfel waren wirklich prächtig, aber leider hingen sie zu hoch und waren vom Boden aus unmöglich zu erreichen. Vor allem nicht für die kleingewachsene Maomao.

„Na gut, dann habe ich eben keine andere Wahl", dachte sie achselzuckend und zog sich die Schuhe aus, um besser klettern zu können…

Zum Glück war ihre Beinwunde endlich vollständig verheilt und nur eine dünne Narbe war zurückgeblieben.

***

Währenddessen stand Jinshi mit hinter dem Rücken verschränkten Händen am offenen Fenster seiner Schreibstube und blickte missmutig auf das schöne sonnige Frühherbstwetter hinaus. Eine leichte Brise erfrischte ihm das wunderschöne Gesicht, das diesmal bar jeden Lächelns war.

„Eingepfercht in dieser Schreibstube, gleitet währenddessen draußen das Leben vorbei", murmelte er und gab einen tiefen Seufzer von sich. Zwar war Jinshi keineswegs ein Dichter, doch nach dem stundenlangen Papierkram überkam selbst ihn das Verlangen, ein wenig zu philosophieren.

Doch dann erschien ein kleines Lächeln auf seinen Lippen und er ballte die Hände entschlossen zu Fäusten. Wenn er den Rest schnell erledigte, hätte er bestimmt ein wenig Zeit, um sich in die Jaderesidenz zu begeben und eine gewisse Apothekerin zu besuchen. Seit sie nicht mehr in seiner Residenz lebte, spürte er ihre Abwesenheit nämlich mehr als deutlich und vermisste sie schrecklich.

 Allein beim Gedanken an Maomao wurde ihm so warm ums Herz, dass er sogar seine angesammelte Müdigkeit vergaß. Es war noch früher Nachmittag, also könnte er es sehr wohl noch schaffen!

„Ich habe Euch neue Dokumente gebracht, Herr”, vernahm er jedoch daraufhin Gaoshuns Stimme hinter seinem Rücken und ließ enttäuscht den Kopf hängen, als er aus dem Augenwinkel den Berg an Papieren erspähte, den sein Assistent in den Armen trug.

Und so löste sich sein Traum schließlich in Luft auf und all seine Hoffnungen wurden gnadenlos zerstört.

„Leg sie einfach zu den anderen", antwortete der junge Adelige, bemüht, seine Gefühle nicht durchscheinen zu lassen, damit er keinen Tadel bekam. Ach, es war ja so lästig, dass er sich in Anwesenheit von anderen stets unter Kontrolle halten musste! Maomao war wirklich die Einzige, bei der er wirklich ganz er selbst sein konnte.

„Sehr wohl."

Bei der Vorstellung daran, dass er sie an jenem Tag wohl doch nicht mehr zu Gesicht bekommen würde, biss er sich frustriert auf die Unterlippe. Aber es half ja nichts...

Der junge Herr klopfte sich leicht auf die Wangen, um sich selbst aufzumuntern, und setzte sich schließlich zurück an seinen Schreibtisch, um die neuen Papiere in Angriff zu nehmen. Als Gaoshun sich zum Fenster begab, um es zu schließen, nutzte Jinshi die Gelegenheit, um den lästigen Dokumenten einen solch bösen Blick zuzuwerfen, als hätten diese seine Familie ermordet.

„Also gut, was haben wir denn hier?"

Er nahm einen Schluck Tee, um seine Kehle zu befeuchten und schnappte sich das oberste Blatt aus dem Stapel. Woraufhin sich seine Stirn runzelte und er sich entnervt und mit einer anmutigen Geste durchs Haar fuhr.

„Beschwerde aus dem Inneren Palast", lautete der Titel. Na wunderbar, genau das, was er jetzt brauchte!

„Wer hat sich denn jetzt schon wieder ungebührlich verhalten?", murmelte Jinshi mit einem leicht gereizten Unterton und überflog den Text. Seine Stirn runzelte sich daraufhin noch mehr, was Gaoshun selbstverständlich nicht entging. 

„Was steht dort geschrieben, Herr?", erkundigte sich der Assistent und trat etwas näher zu Jinshi heran. 

 „Es wurde festgestellt, dass aus dem kaiserlichen Obstgarten in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Früchte verschwinden. Zwar sehr kleine Mengen, aber immerhin... Hach, als ob ich nicht schon genug Arbeit hätte..."

Jinshi stützte seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und massierte sich den Nasenrücken, einen weiteren tiefen Seufzer ausstoßend und Gaoshuns leicht missbilligenden Blick ignorierend.

Gab es im Inneren Palast wirklich jemanden, der dreist genug war, um das Obst des Kaisers zu stehlen?

Jinshi und Gaoshun warfen sich gegenseitig einen wissenden Blick zu, sich an die getrockneten Kakifrüchte erinnernd, welche sie mal in der Jaderesidenz hängen gesehen hatten.

Ja, allerdings. So eine Person gab es sehr wohl...

„Ich werde mir mal kurz den „Tatort" ansehen", entschied der junge Adelige zu guter Letzt und erhob sich, den Kopf zu Gaoshun drehend. „Und du kannst hier schon einmal die fertigen Dokumente sortieren und wegbringen."

„Jawohl, Herr."

Die Hände in den weiten Ärmeln verbergend, verließ Jinshi mit ernstem Gesicht die Schreibstube, um sich zum Obstgarten zu begeben. Zwar hegte er bereits einen starken Verdacht, wer der Täter in diesem Fall sein könnte und hätte diesen am liebsten laufen lassen und die ganze Sache vergessen, aber da es zu seinen Pflichten gehörte, musste er der Angelegenheit trotzdem nachgehen.

Nichtsdestotrotz war er froh um die Gelegenheit, der stickigen Schreibstube für einige Zeit zu entkommen und ein wenig frische Luft schnappen zu können. 

Und vielleicht... aber nur vielleicht würde es ihm ja auch gelingen, den gemeinen Obstdieb in flagranti zu erwischen.

Dieser Gedanke zauberte ihm ein leichtes Grinsen auf die Lippen.

***

Ohne zu ahnen, dass ihr schon sehr bald eine äußerst unerwartete Begegnung bevorstand, kletterte Maomao seelenruhig den Stamm des großen Apfelbaumes hoch und setzte schließlich einen Fuß auf einen dicken Ast, den Arm so weit es ging ausstreckend, um einen der Äpfel zu fassen zu bekommen. Und natürlich darauf Acht gebend, dabei das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

„Gnn..."

Vor Anstrengung lief ihr der Schweiß das gerötete Gesicht herab und sie biss die Zähne zusammen. Nur noch ein wenig... ein kleines bisschen...

Endlich schlossen ihre Finger sich um den Apfel und schafften es, ihn vom Zweig zu reißen.

„Geschafft!"

Mit einem triumphierenden Lächeln zog die Apothekerin den Arm wieder zurück und wollte ihn bereits um den Baumstamm schlingen, um, den Apfel in der Hand haltend, sicher wieder auf den Boden zu gelangen, ihre Beute einzustecken und dann eiligst das Weite zu suchen, bevor sie noch entdeckt wurde...

„Ah!"

Doch dann rutschte ganz plötzlich das kleine Bündel mit den Lavendel-Ähren aus ihrem Ärmel und landete...

...leider nicht auf dem Boden, sondern auf einem der niederen Äste, wo er in den Blättern des Apfelbaumes hängenblieb.

„Verdammt!"

Die klügste Entscheidung wäre jetzt bestimmt, das Bündel zu vergessen und später einfach neuen Lavendel pflücken zu gehen, denn schließlich hatte sie sich ja eingeprägt, wo dieser wuchs. Das wäre das Beste, richtig?

Oh nein, nicht mit Maomao! Sie, die leidenschaftliche Apothekerin, würde niemals Heilkräuter zurücklassen können, sonst würden die Gedanken an diese Kräuter sie bis in den Schlaf verfolgen!

Und so setzte sie zuerst einen Fuß auf den besagten Ast, vorsichtig testend, ob dieser ihr Gewicht aushielt, und dann den anderen, sich währenddessen an einem anderen, dünneren Ast festhaltend, so gut, wie sie es mit dem Apfel in der Hand vermochte.

Mit kleinen Schritten arbeitete sie sich schließlich zu der Stelle vor, wo die Blumen gelandet waren.

Aber als sie sich langsam bücken wollte, um den verlorenen Schatz aufzuheben...

...brach auf einmal der Ast, an dem sie sich festhielt, mit einem lauten Knacken ab und ließ sie den Halt verlieren.

„Das wird bestimmt ein oder zwei Knochenbrüche geben...", dachte Maomao noch, bevor sie fiel.

***

Aber drehen wir die Zeit doch mal einige Minuten zurück.

Als Jinshi den Obstgarten betrat, fiel ihm etwas unter einem der großen Apfelbäume auf. Neugierig und leicht erstaunt trat er näher, um sich dieses „Etwas" genauer anzusehen.

Es handelte sich um ein Paar Damenschuhe. 

Der junge Herr schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„Hätte nicht gedacht, dass sie tatsächlich eine Spur hinterlassen würde. Wenn es denn ihre Schuhe sind. Aber da bin ich mir ziemlich sicher", murmelte er. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. „Moment! Barfuß hat sie diesen Ort wohl kaum verlassen. Wenn ihre Schuhe also hier stehen, dann muss sie..."

Er blickte zur Baumkrone hoch...

„Autsch!"

...nur um daraufhin ein Knacken zu vernehmen und von einem abgebrochenen Ast direkt am Kopf getroffen zu werden. Zum Glück jedoch nicht heftig genug, um eine Verletzung oder Beule zu hinterlassen.

Mal ganz zu schweigen davon, dass er einen ziemlich harten Schädel besaß, wovon Maomao sich angesichts seiner Kopfnuss nach ihrem Tanz auf der Mauer selbst überzeugen hatte können...

„W-Was war das denn? Wieso ist der denn so plötzlich abgebrochen?"

Sich die pochende und leicht gerötete Stirn reibend, ging Jinshi in die Hocke, um den Ast zu inspizieren. Einige Äpfel hingen immer noch daran. Einer war zwar beim Aufprall zerplatzt, aber der Rest hatte den Fall unbeschadet überstanden.

Auf einmal hörte der junge Adelige seltsame Geräusche über sich und sprang mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen blitzschnell zurück auf die Füße, als er aufsah und einen rasch von oben kommenden Schatten erblickte. Fast schon reflexartig streckte er beide Arme aus.

Genau noch rechtzeitig, um die herabstürzende Maomao aufzufangen...

Sie landete mit einer solchen Wucht in seinen Armen, dass Jinshi beinahe in die Knie ging, doch er schaffte es im allerletzten Moment noch, sein Gewicht so zu verlagern, dass es ihn nicht von den Füßen riss.

Einige Augenblicke lang starrten sich die beiden einfach nur vollkommen verblüfft an, ohne den leisesten Schimmer, was sie sagen sollten. Wenn sie bei einer Theateraufführung mitgespielt hätten, hätte es für diese Szene von vorhin bestimmt tosenden Applaus vom Publikum gegeben.

„Seid gegrüßt, Eure Exzellenz." Maomao war die Erste, die ihre Stimme wiederfand. 

Jinshi weitete die Augen noch etwas mehr, aber dann fasste auch er sich wieder.

„Oho. Seit wann fallen denn hier Apothekerinnen vom Himmel?"

Er schenkte ihr ein süßes Lächeln. Doch seine Augen erreichte es nicht.

Maomao begriff auf der Stelle, dass sie in gewaltigen Schwierigkeiten steckte. Sie schluckte schwer und versuchte sich instinktiv aus seinem Griff zu winden, wie eine Katze, die einen Bissen vom Teller ihres Herrchens stibitzt hatte und damit entkommen wollte. Vergeblich.

„Hey! Hiergeblieben, du kleiner Langfinger!"

Der junge Herr umschlang den Bauch und die Knie der zappelnden Apothekerin und drückte sie fest an sich, bis sie ihre Niederlage einsah und sich beruhigte.

„Und? Hast du mir nicht noch etwas zu sagen?"

Jinshis Lächeln war verschwunden, als er seiner lieben Apothekerin erneut in die Augen blickte. Maomao konnte die vor Wut pulsierende Ader auf seiner Schläfe sehen. Schweiß tropfte ihr vor all der Anspannung von der Stirn.

„Danke, dass Ihr mich aufgefangen habt, Herr."

Der junge Adelige war für einen Moment erstaunt, doch fasste sich schnell wieder.

„Das meinte ich nicht! Was hast du da oben getrieben?!"

„Oje, schöne Menschen sehen wirklich angsteinflößend aus, wenn sie zornig sind", dachte Maomao und wendete den Blick ab. Ach, wie schade, dass sie im Moment nicht die Möglichkeit hatte, zu ihrer beiden Entspannung etwas Weihrauch anzuzünden oder Tee zu kochen. Der verlorene Lavendel wäre für diesen Zweck wie geschaffen gewesen.

Vielleicht sollte sie ja so tun, als wüsste sie nicht, worauf er hinauswollte. Zwar hatte sie so ihre Zweifel, dass es tatsächlich funktionieren würde, aber einen Versuch war es allemal wert.

„Nichts, Herr. Bloß ein paar Kletterübungen, um in Form zu bleiben."

Doch Jinshi ließ sich ganz wie erwartet nicht darauf ein.

„Aber sicher. Und der Apfel da ist auch ganz von allein in deine Hand gelangt, nicht wahr?"

Er deutete mit dem Kinn in die Richtung des Apfels, den die Apothekerin die ganze Zeit in ihrer Hand festgehalten und nicht einmal während ihres Sturzes losgelassen hatte.

Sie blickte auf die Frucht und begann auf der Stelle, die Überraschte zu spielen. Welch andere Wahl blieb ihr denn sonst noch?

„Huch? Wo kommt der denn her?"

Bloß klang ihre Stimme leider so eintönig, als würde sie den Satz von einem Blatt ablesen. Tja, an ihren schauspielerischen Fähigkeiten musste sie demnach noch ein wenig feilen.

Als Jinshi ihre Worte vernahm, begann sein linkes Auge zu zucken.

„Sag mal, für wie dämlich hältst du mich eigentlich?!"

Er stellte sie vor Ärger schnaubend auf die Füße und stemmte eine seiner Hände in die Hüfte, mit der anderen Maomaos Schulter festhaltend, damit sie nicht wieder abzuhauen versuchte. Aber das hatte sie sowieso nicht vor, denn sie wusste ja, wie zwecklos es war.

Sie musterte den jungen Adeligen einige Sekunden lang und öffnete dann den Mund. Aber bevor sie auch nur einen Laut von sich geben konnte, hob Jinshi den Zeigefinger.

„Das war eine rhetorische Frage!", fuhr er sie an.

Maomao schloss den Mund wieder.

Als Nächstes senkte sie den Blick, sich krampfhaft überlegend, wie sie aus dem Schlamassel herauskommen könnte. Dabei fiel ihr Blick erneut auf den Apfel in ihrer Hand und ihr kam eine Idee…

Chapter 36: Haltet den Dieb! Teil 2

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Stirnrunzelnd sah Jinshi zu, wie Maomao geistesabwesend auf den Apfel in ihrer Hand blickte und sich dann ganz plötzlich ihre Augen weiteten, als sei ihr eine Idee gekommen. Zwar war er immer noch ziemlich sauer auf sie, aber insgeheim auch gespannt, was sie wohl als Nächstes vorhatte. Hoffentlich etwas Originelleres als jene fürchterlichen Ausreden, die man hundert Meilen gegen den Wind riechen konnte…

Er wartete, doch Maomao sagte nichts. Stattdessen zog sie sich schweigend die Schuhe an, bückte sich und riss einen Apfel von dem abgebrochenen Ast, der Jinshi vorhin auf den Kopf gefallen war, sodass sie nun in jeder Hand einen hielt. Dann wischte sie die Früchte an ihrem Rock sauber und hielt eine davon dem jungen Adeligen hin. Immer noch, ohne auch nur ein Wort von sich zu geben. 

Jene Geste überrumpelte ihn so sehr, dass er sogar ihre Schulter losließ. Na so etwas, wer hätte das gedacht? Die Apothekerin war doch immer wieder für eine Überraschung gut.

Ganz genau. So sah Maomaos Entschluss aus. Wenn ihr schon jeder Fluchtweg abgeschnitten war und Ausreden auch nichts brachten, dann gab es nur einen Weg, wie sie sich aus dieser brenzligen Lage retten konnte: Sie musste Jinshi auf ihre Seite ziehen und zu ihrem Komplizen machen!

Und wenn sie ihm den Apfel höchstpersönlich in den Mund stopfen müsste!

Jinshi, der sich inzwischen wieder gefasst hatte, schnaubte leise und verschränkte die Arme, eine Augenbraue hebend.

„Ach, und jetzt auch noch ein Bestechungsversuch, was?”

Seine Stimme klang zwar immer noch streng, aber auch mit einem leicht belustigten Unterton. Um ehrlich zu sein, konnte er bereits spüren, wie sein Zorn langsam, aber sicher verrauchte, so sehr amüsierte ihn das Ganze. Selbstverständlich hatte er Maomaos Vorhaben sofort durchschaut, wäre ja nicht das erste Mal, dass er von Palastdamen (und Herren) „Geschenke” bekam, im Versuch, sich bei ihm einzuschmeicheln. Bloß hatte keine von ihnen es jemals auf eine solch direkte und unverblümte Weise getan und dazu noch mit einem komplett neutralen Ausdruck im Gesicht, als sei es die natürlichste Sache der Welt.

Kein Wunder, denn zu so etwas war einzig und allein Maomao fähig.

Wie überaus dreist!

 Doch gegen seinen Willen merkte er, wie ihm angesichts ihrer Geste das Herz dahinschmolz.

Und wie… unfassbar niedlich!

Oh.

So wie es aussah, hatte sie ihn bereits um ihren kleinen Finger gewickelt. Und das mit Leichtigkeit.

Jinshis Mundwinkel bewegten sich unwillkürlich nach oben, während er krampfhaft versuchte, sein Lächeln zu unterdrücken. Doch Maomao, die gerade mit fest aufeinandergepressten Lippen zu Boden blickte, bekam davon sowieso nichts mit.

Der junge Adelige rang mit sich selbst. Er durfte sie nicht ungeschoren davonkommen lassen, er durfte es einfach nicht! Anfangs hatte er es zwar vorgehabt, aber nicht mehr nach dem, was gerade eben passiert war! Was wäre, wenn sie noch einmal von solch einem Baum fiel und er nicht da wäre, um sie aufzufangen? Er mochte es sich nicht einmal vorstellen. Allein der Gedanke war zu schrecklich.

Schließlich räusperte sich Jinshi, in der Bemühung, ein möglichst ernstes Gesicht aufzusetzen, womit er Maomaos Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkte. Er sah, wie sie nervös schluckte, als sie den Kopf hob und ihm erneut in die Augen blickte.

Jinshi schwieg noch einige Augenblicke…

…und nahm ihr dann zu guter Letzt den angebotenen Apfel aus der Hand.

„Nun gut, ich werde diesmal darüber hinwegsehen.”

Verdammt sei seine Schwäche! Und Maomaos Niedlichkeit!

Als sie seine Worte vernahm, war Maomao bereits im Begriff, erleichtert aufzuatmen, doch Jinshi war noch nicht fertig.

„Aber nur ausnahmsweise! Falls ich dich noch einmal hier erwische, kommst du mir nicht mehr so leicht davon! Dann bekommst du mehrere Wochen Hausarrest mit einem Verbot, die Jaderesidenz zu verlassen!” Er sah auf das entsetzte Gesicht der Apothekerin, bevor er fortfuhr. „Glaub nicht, ich wüsste nicht, dass du diejenige bist, die sich ab und zu an den Früchten hier „bedient". Die getrockneten Kakifrüchte in der Jaderesidenz sind mir jedenfalls sehr gut in Erinnerung geblieben!”

Maomao sah ihn entgeistert an. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie nicht geglaubt, dass er ihr schon damals auf die Schliche gekommen war.

„Hält sie mich also doch für dämlich", dachte er stirnrunzelnd. „Na warte, das zahle ich dir heim..." 

Hm, vielleicht sollte er ja noch einmal über jenes Gesetz zur Einführung eines Mindestalters für den Alkoholkonsum nachdenken. Ein kaum sichtbares Grinsen schlich sich auf seine Lippen.

Maomao verbeugte sich vor ihm.

„Verstanden, Eure Exzellenz. Bitte nehmt meine aufrichtige Entschuldigung an.”

Ihr Tonfall ließ jedoch starke Zweifel an der „Aufrichtigkeit” ihrer Entschuldigung aufkommen. Jinshi schüttelte leicht den Kopf, sich dazu entschließend, dieses kleine, aber feine Detail zu ignorieren. Schließlich war er so etwas bereits von ihr gewohnt. Ob ihr das Ganze nun wirklich leidtat oder nicht, solange sie solche Aktionen in Zukunft bleiben ließ, war dies für ihn gut genug.

Der junge Herr seufzte leise. Oh ja, seine liebe Apothekerin hatte wirklich Glück, dass er der Aufseher war und kein Anderer. Sonst hätte sie jetzt sicherlich ihr blaues Wunder erlebt. Vor allem nach ihrem Bestechungsversuch.

Jedoch flüsterte ihm eine leise innere Stimme zu, dass sie bei einem Anderen gewiss gar nicht erst auf so etwas gekommen wäre. Und zwar nicht, weil sie Jinshi für dumm hielt…

…sondern, weil sie ihm… vertraute?

***

„Gut, dann lass uns die Äpfel gleich hier essen.”

Maomao hatte nichts gegen den Vorschlag einzuwenden und so saßen die beiden einige Minuten später auch schon im Schatten des Baumes direkt auf dem Gras und ließen sich das durch „illegale Mittel angeeignete” Obst schmecken, während der warme Wind ihnen leicht das Haar zerzauste.

Eigentlich gehörte sich so etwas nicht für einen Adeligen wie Jinshi, aber da außer ihnen keiner in der Nähe war, war ihm dies so ziemlich egal. Bloß würde Suiren ihn bestimmt später tadeln, wenn er mit Grasflecken auf der Kleidung heimkommen sollte. Ach, was soll's. Das war es wert.

Der junge Herr war über dieses improvisierte Picknick mit Maomao so dermaßen glücklich, dass einige Menschen von seinem Strahlen bestimmt erblindet wären. 

Wer hätte gedacht, dass jener Tag eine solch unerwartete Wendung einschlagen würde? Da bekam er nicht nur die Gelegenheit, für eine Weile dem lästigen Papierkram zu entfliehen und das schöne Wetter zu genießen, sondern sogar noch, Zeit mit seiner Apothekerin zu verbringen, die er so sehr vermisst hatte (und die gerade vollkommen unbeeindruckt von seinem strahlenden Lächeln neben ihm saß und an ihrem Apfel kaute).

Auch wenn er den verstörenden Gedanken, wie sehr Maomao sich bei ihrem Sturz hätte wehtun können, trotz allen Glücks immer noch nicht abschütteln konnte…

Während Jinshi seinen Apfel aß, betrachtete er seine freie Hand, die noch immer leicht zitterte. 

Nein, obwohl er beschlossen hatte, Maomao laufen zu lassen, musste eine weitere und ausführliche Standpauke immer noch sein. Schließlich wollte der junge Herr ganz sichergehen, dass sie es auch wirklich kapierte und nicht noch einmal versuchte. Auch wenn man es bei ihr nie wissen konnte. Aber die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt.

„Apothekerin.”

Er berührte sie kurz am Rücken, woraufhin sie den Kopf zu ihm drehte und ihn ansah. Sein Lächeln war erneut verschwunden.

„Ja, Herr?"

„Mach so etwas nie wieder. Ich meine es ernst.”

Maomao runzelte die Stirn. „Ach, fängt er etwa schon wieder damit an?", stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. 

Jinshi verengte beim Anblick ihres Gesichtsausdrucks kurz die Augen, fuhr jedoch ungerührt fort.

„Es ist nicht so, dass ich zu geizig wäre, um dir ein paar Äpfel zu gewähren. Darum geht es nicht und das weißt du. Es sind bloß Äpfel und ich hätte dir liebend gern alles gegeben, was du nur willst. Nun ja... fast alles.”

Seinem Gesicht nach zu urteilen dachte er jetzt bestimmt an Gifte.

„Aber diese Bäume hier gehören nun einmal dem Kaiser und ich muss dir wohl kaum extra erklären, dass du dir nicht einfach so fremdes Eigentum nehmen darfst. Vor allem nicht das des Kaisers! Du musst zuerst um Erlaubnis fragen, so wie jeder andere auch. Ich lasse dir wirklich Vieles durchgehen, das weiß ich selbst, aber in Wahrheit gelten die Regeln auch für dich. Vergiss das nicht." 

Jinshi nahm einen weiteren Bissen von seinem Apfel, bevor er weiterschimpfte.

„Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dich jederzeit an mich wenden kannst, falls du etwas brauchst? Zwar dienst du jetzt wieder Gemahlin Gyokuyou, aber dein eigentlicher Arbeitgeber bin immer noch ich! Ja, du hast wahrhaftig Glück, dass ich derjenige bin, der in dieser Angelegenheit ermittelt, andernfalls hättest du jetzt bestimmt schon eine Strafe bekommen. Und zwar mehr als bloßen Hausarrest, das kann ich dir sagen!”

„Ich werde es nie wieder tun, Eure Exzellenz."

Versicherte Maomao, während sie heimlich darüber nachdachte, dass sie nächstes Mal ihre Spuren besser verwischen müsste.

Tja…

Jinshi schnaubte.

„Das will ich doch schwer hoffen. Ich möchte nicht, dass du wegen ein paar gestohlener Früchte in Schwierigkeiten gerätst.”

Nun war Maomao an der Reihe, die Augen zu verengen, während sie ihm beim Essen zusah.

„Oh, aber sicher. Trotzdem hattet Ihr offensichtlich kein Problem damit, eine dieser „gestohlenen Früchte" von mir anzunehmen, nicht wahr?", dachte sie mürrisch. Aber da sie ihn damit erfolgreich auf ihre Seite ziehen hatte können, konnte sie sich natürlich nicht beklagen.

Auch nachdem sie ihre Zwischenmahlzeit beendet hatten, blieben Maomao und Jinshi noch auf dem Gras sitzen. 

Die zwischen den Ästen des Baumes hindurchscheinende Sonne löste wieder Trägheit bei der Apothekerin aus. Sie streckte sich erneut.

Und hielt ganz plötzlich mitten in der Bewegung inne, als sie Jinshis große Hand auf ihrem Kopf spürte.

„Hast du etwa tatsächlich geglaubt, dass ein Apfel genug ist, um mich die ganze Sache vergessen zu lassen?", meinte er in einem verspielten Tonfall und schlang einen Arm um sie. „Wenn ja, irrst du dich aber gewaltig. Hm, ich denke, ich werde dich doch bestrafen. Damit du deine Lektion auch wirklich lernst.”

Maomao erstarrte und schluckte heftig, nicht wissend, ob er es ernst meinte oder nicht. Mist! Sie hatte nicht gedacht, dass er es sich noch anders überlegen könnte! War ihr Plan letztendlich also doch gescheitert? Sie sah aus wie eine Katze, der vor Schock das Fell zu Berge stand.

Doch bevor sie sich daran machen konnte, sich etwas Neues einfallen zu lassen, lachte Jinshi laut auf und zog sie ganz nah an sich heran.

Die Apothekerin war nun mit dem Rücken an seinen Körper gepresst. Ein leichter Apfelduft ging von ihm aus.

„Und hier kommt die Strafe!", wisperte er ihr ins Ohr…

…und kniff sie in die Wange.

Maomao ließ die Luft heraus, die sie vorhin in angespannter Erwartung angehalten hatte und zog ein Gesicht, als hätte sie in etwas Verdorbenes gebissen, was Jinshi jedoch nicht sehen konnte, da er ihr mit einem breiten Lächeln sein Kinn auf den Kopf gelegt hatte. 

Die Apothekerin war versucht, ihn für diesen kleinen, aber gemeinen Scherz zu hauen, hielt sich jedoch zurück, da sie wusste, dass dies keine guten Folgen für sie haben würde. Und so schluckte sie ihren Ärger herunter und versuchte, sich zu entspannen. Na ja, immerhin war dies besser als Hausarrest…

Die Minuten vergingen, doch der junge Herr machte keinerlei Anstalten, sie loszulassen. Da es draußen aber immer noch recht warm war, wurde es Maomao jedoch schon bald zu heiß in seinen Armen. Sie begann zu zappeln, im Versuch, sich zu befreien, aber das bewirkte bloß das genaue Gegenteil: Jinshi umarmte sie nur noch kräftiger. 

„Habe ich dich vorhin erschreckt?", fragte er leise und aus heiterem Himmel. Der fröhliche Tonfall war gänzlich aus seiner Stimme verschwunden. „Ja? Habe ich das? Gut. Kannst du dir vorstellen, welchen Schrecken du mir eingejagt hast, als ich dich ganz plötzlich fallen sah?! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du vorsichtiger sein sollst?!”

Er klang wieder verärgert, doch diesmal schwang auch ein solcher Schmerz in seinem Tonfall mit, dass seine Stimme beinahe brach. Wie damals, als er nach der Rettungsaktion während des Rituals ihr verletztes und geschwollenes Gesicht gestreichelt hatte.

Jinshi biss die Zähne zusammen. Maomao konnte spüren, wie er zitterte, und legte instinktiv die Hände auf seinen Arm, mit dem er sie umschlungen hielt. Da sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte, beschloss sie zu schweigen.

Als all die unangenehmen Gefühle, die er bisher mehr oder weniger erfolgreich zurückhalten konnte, nun doch aus ihm herausbrachen, schloss der junge Herr die Augen und vergrub seine Nase in ihrem Haar, ihren vertrauten Duft einatmend.

„Es ging mir von Anfang an nicht um die Äpfel, sondern einzig und allein um dich!", murmelte er mit erstickter Stimme. „Ist dir eigentlich klar, dass du dir während deines Sturzes das Genick hättest brechen können?! So ein Apfel ist das doch nicht wert!” Er umarmte sie sogar noch fester, fast schon so, als hätte er Angst, dass sie sich gleich in Luft auflöste. „Und das, nachdem deine Beinverletzung endlich verheilt ist und du bei deinem Tanz beinahe von der Mauer gestürzt wärst! Wann lernst du es endlich?! Wann?! Du bringst mich eines Tages wirklich noch ins Grab!”

Maomaos Augen waren weit aufgerissen. Solch einen heftigen Gefühlsausbruch hatte sie nun wirklich nicht erwartet. In Ermangelung einer besseren Idee, beschloss sie letztendlich, sich mit dem Kopf an seine Brust zu lehnen und ihm einfach schweigend zuzuhören, sich dabei etwas hilflos und verloren vorkommend. Seine Körperwärme ließ sie schwitzen, doch diesmal ertrug sie es. Zumindest weinte er diesmal nicht, wofür sie ihm immens dankbar war.

„Wenn ich doch jetzt bloß meinen Lavendel hätte…”, dachte sie frustriert. „Dann könnte ich ihm die Blumen unter die Nase halten, damit er daran riecht und sich beruhigt… zumindest ein bisschen.”

Sie konnte ja nicht ahnen, dass, wenn ihr eigener Duft, der normalerweise Jinshis persönliches Beruhigungsmittel war, schon so gut wie nichts brachte, es der Lavendel erst recht nicht schaffen würde.

Und vor allem hätte sie nie gedacht, dass ihre Tat solche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Dass Andere sich Sorgen um sie machten, war immerhin noch etwas relativ Ungewohntes für sie… vor allem solche Sorgen wie Jinshi…

Maomao konnte spüren, wie sehr sein Herz raste.

 „Es tut mir leid, Eure Exzellenz."

Diesmal meinte sie es ehrlich.

Man konnte über sie behaupten, was man wollte, aber herzlos war sie ganz bestimmt nicht.

Maomao gab einen leisen Seufzer von sich. Vielleicht sollte sie doch ausnahmsweise mal auf Jinshi hören und das Stehlen ein für alle Mal sein lassen. Er hatte Recht. Ein bloßer Apfel war das Ganze hier tatsächlich nicht wert.

Aber zuvor gab es etwas, was sie noch dringend erledigen musste. Und wenn Jinshi schon da war, um sie notfalls wieder aufzufangen, dann wäre das doch in Ordnung, oder?

***

Währenddessen hielt Letzterer die Apothekerin immer noch fest in seinen Armen. So überwältigt von der Erleichterung, dass sie wohlauf und unversehrt war, dass ihm davon sogar etwas schwindelig wurde. All seine Angst, all seine Sorge um sie, welche er damals nach dem Ritual durchgestanden hatte, waren wieder hochgekommen, und alles, was er tun konnte, war, sich an Maomao zu klammern und warten, bis es vorbei sein würde. Erinnerungen an eine bewusstlose und mit Verbänden umwickelte Maomao blitzten vor seinem inneren Auge auf. Er wollte sie nie wieder so sehen müssen!

Auf einmal spürte er jedoch, wie sie den Kopf bewegte, und stellte fest, dass sie nach oben blickte.

Für einen Moment seinen erbärmlichen seelischen Zustand vergessend, tat der junge Herr es ihr leicht verwirrt nach, sah jedoch nichts außer Ästen, Blättern und Äpfeln.

„Was ist denn los, Apothekerin?”

„Einige meiner Heilkräuter sind im Baum hängen geblieben, Herr", erklärte Maomao und deutete auf einen der Äste. Jinshi blickte in die angegebene Richtung und entdeckte nun in der Tat ein kleines Bündel zwischen den Blättern.

„Jetzt sehe ich sie auch.”

„Das ist Lavendel, der eine beruhigende Wirkung hat.”

„Ach?”

„Ich werde Euch einen Tee daraus kochen, dann geht es Euren Nerven bestimmt besser.”

„Oh, danke dir. Moment, was?!”

Seine vorübergehende Ablenkung und Verwirrung ausnutzend, befreite Maomao sich rasch aus seiner Umarmung und lief los, sich unterwegs erneut die Schuhe ausziehend.

Und kaum hatte Jinshi sich versehen, hatte sie sich auch schon wieder an den Baumstamm geklammert. Mit einer nur allzu deutlichen Absicht. Er sprang umgehend auf die Füße und eilte zu ihr hin.

„Apothekerin! Was hast du jetzt schon wieder vor?! Hast du mir vorhin etwa nicht zugehört?! Komm zurück! Auf der Stelle! Ich brauche keinen Tee!”

„Ich muss sie trotzdem holen gehen!”

„Nichts da!”

„Eure Exzellenz!”

„Nein! Auf keinen Fall!”

Wutentbrannt packte Jinshi sie am Kragen und zerrte sie vom Baumstamm weg, ganz so wie eine Katze ein kleines Kätzchen packte. Dann hielt er sie an beiden Armen fest, sie damit bewegungsunfähig machend.

Maomao biss die Zähne zusammen. Nein, keine Chance. Er war viel zu stark für sie.

„Ich möchte doch bloß meinen Lavendel holen! Danach werde ich nie wieder einen Fuß in diesen Obstgarten setzen, versprochen!", erhob nun auch sie entgegen ihrer sonst schier unerschütterlichen Art die Stimme.

„Du wirst nicht noch einmal auf diesen Baum klettern und das ist mein letztes Wort!” Jinshi sah so aus, als wolle er sich am liebsten vor Verzweiflung die Haare raufen, doch leider hatte er im Moment beide Hände voll. „Argh! Du machst mich noch verrückt!”

Ihre Schreie hallten durch den menschenleeren Garten.

Etwas außer Atem begann Maomao sich krampfhaft zu überlegen, wie sie Jinshi doch noch umstimmen könnte. Doch dann hörte sie ihn auf einmal resigniert seufzen und spürte im nächsten Moment auch noch, wie er ihre Taille umfasste und sie hochhob.

Und bevor sie wusste, wie ihr geschah, saß sie auch schon auf seiner Schulter.

Die Apothekerin blinzelte verwirrt. Sie begriff überhaupt nichts mehr.

„Eure Exzellenz? Was bitte tut Ihr da?”

Jinshi, der sie nun mit einer Hand festhielt, räusperte sich und kratzte sich mit der freien Hand verlegen an der Wange. Sein Gesicht war gerötet.

„Diese Blumen sind dir wichtig, nicht wahr? Na los, hol sie schon. Sobald ich dir den Rücken zukehre, wirst du doch sowieso wieder auf diesen Baum klettern, egal, ob ich es dir verbiete oder nicht, ich kenne dich doch. Wenn es um Heilkräuter geht, gibt es für dich eben kein Halten.”

Maomao fühlte sich ertappt. Als hätte er ihre Gedanken gelesen.

„Aber danach hältst du dich besser an das Versprechen, welches du mir vorhin gerade gegeben hast.”

Den letzten Satz sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

„In Ordnung, Herr.”

„Ich hätte dieses Bündel ja selbst für dich geholt, jedoch fürchte ich, dass der Ast mein Gewicht nicht aushält", fügte der junge Herr noch leise, fast schon murmelnd hinzu. „Also müssen wir es so machen.”

Maomao verschlug es daraufhin ganz ehrlich die Sprache. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie auf ihn herab, als würde sie ihren Ohren nicht trauen.

Jinshi, der Adelige, wäre für sie, eine Dienerin, auf einen Baum geklettert? Sollte das ein Scherz sein?! Aber sie musste zugeben, dass es nicht nach einem geklungen hatte…

Als Jinshi feststellte, dass die Apothekerin immer noch keine Anstalten machte, sich zu rühren, runzelte er leicht verwirrt die Stirn, gab dann aber plötzlich ein leises Lachen von sich.

„Was denn, haben dich meine Worte etwa so entsetzt, dass du erstarrt bist? Warte, das haben wir gleich.”

Und mit diesen Worten begann er, einen von Maomaos nackten Füßen zu kitzeln.

Bald schon war das Gelächter der Apothekerin im gesamten Garten zu hören. Sie lachte so heftig, dass sie knallrot anlief und kaum noch Luft bekam, während ihr Lachtränen über die Wangen liefen und sie heftig mit den Beinen strampelte. 

 Jinshi, der sie gnadenlos weiterkitzelte und überhaupt nicht daran dachte, so bald damit aufzuhören, stimmte in ihr Lachen mit ein.

Endlich hatte sein Beruhigungsmittel namens Maomao seine volle Wirkung entfaltet.

Doch schließlich wurde es der Apothekerin zu bunt, sodass sie die Zähne zusammenbiss und Jinshi einen Klaps auf den Hinterkopf verpasste, noch bevor ihr überhaupt so richtig bewusst wurde, was sie da tat.

„Au!”

Als sie diesen Ausruf hörte, kam sie schlagartig wieder zu sich.

„Oh nein, was habe ich nur getan?!", schoss ihr umgehend durch den Kopf. „Jetzt habe ich ihn bestimmt wieder verärgert.”

„Entschuldigt, Herr. Mir ist die Hand ausgerutscht.”

Doch zu ihrer Überraschung wurde Jinshi überhaupt nicht wütend, sondern stieß ein amüsiertes Schnauben aus und ließ sogar ihren Fuß in Frieden.

„Die Hand ausgerutscht, was? Wer’s glaubt. Wie auch immer, nun hol jetzt schon deine Pflanzen. Oder willst du, dass ich es mir noch anders überlege?”

Auf seinem Gesicht erschien ein freches Grinsen, das ihn um mehrere Jahre jünger aussehen ließ.

Maomao schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, Herr, bitte nicht!”

Sie streckte sich so gut es ging nach oben, während Jinshi sie nun mit beiden Händen festhielt, damit sie nicht herunterfiel.

Er begann, sie anzufeuern.

„Na komm, Apothekerin. Noch ein bisschen!”

Endlich bekam sie den Ast mit einiger Anstrengung und mit beiden Händen zu fassen.

„Gut gemacht", lobte der junge Herr. „Und jetzt kräftig schütteln!”

Dies musste sich die Apothekerin nicht zweimal sagen lassen. Sie schüttelte, bis ihr die Armmuskeln wehtaten.

Zu guter Letzt löste sich das Bündel mit dem Lavendel und fiel (zusammen mit noch ein paar Äpfeln) auf die Erde.

„Geschafft!”

Jinshi rieb sich kurz die Stirn, wo er (selbstverständlich) von einem der herabfallenden Äpfel getroffen worden war, und ging dann, Maomao immer noch auf seiner Schulter haltend, langsam in die Hocke, um den Lavendel aufzuheben und ihn der Apothekerin zu reichen. Diese bekam auf der Stelle ganz leuchtende Augen und stopfte sich ihren Schatz umgehend wieder in den Ärmel, um ihn nicht erneut zu verlieren.

„Vielen Dank, Eure Exzellenz!”

Der junge Adelige lächelte ob der überschwänglichen Freude in ihrer Stimme und fasste Maomao schließlich unter den Armen, um sie von seiner Schulter zu nehmen.

Die Apothekerin hätte erwartet, zurück auf den Boden gestellt zu werden, doch stattdessen erblickte sie ein Paar wunderschöner violetter Augen, welche direkt in ihre blauen sahen.

Jinshi hielt sie auf der Höhe seines Gesichtes.

„Na, bist du jetzt zufrieden, meine kleine Unruhestifterin?”

Sein Tonfall war zwar leicht spöttisch, aber trotzdem sanft, während er liebevoll die junge Frau betrachtete, welche ihn schier zur Verzweiflung trieb, ihm jedoch auch den höchsten Seelenfrieden schenkte, den er je verspürt hatte.

Diese Apothekerin war wahrhaftig zur selben Zeit sein Gift und seine Medizin.

Ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, küsste er Maomao auf die Stirn.

„Oje, Apothekerin, jetzt sind mir doch glatt die Lippen ausgerutscht", witzelte er und grinste sie an.

„Eure Exzellenz!", protestierte die Apothekerin und begann, empört mit den Beinen zu strampeln.

Doch es brachte nichts. Maomaos Füße baumelten hilflos über dem Boden, während sie den jungen Herrn anfunkelte, als sei er ein Haufen Abfall. Ach, wie gern hätte sie ihm jetzt einen Tritt ins Knie verpasst! Aber das durfte sie natürlich nicht. Sie konnte sich bereits glücklich schätzen, dass er ihr den Klaps von vorhin so bereitwillig verziehen hatte.

Jinshi, währenddessen, bemerkte ihren mürrischen Gesichtsausdruck und lachte erneut in sich hinein, sich dazu entschließend, zu seinem nächsten Besuch der Jaderesidenz einen großen Obstkorb mitzunehmen.

Damit seine arme Katze nicht ohne Äpfel auskommen musste.

Notes:

Vielen Dank an Nachtbluete von fanfiktion.de für die Idee, Jinshi und Maomao ein cutes Picknick haben zu lassen! Ist zwar ein recht improvisiertes, aber immer noch ein Picknick! :)

Für die Light Novel-Leser unter euch: ja, ich weiß, dass Jinshi erst in Band 6 herausfindet, dass Maomao kitzelig ist, aber ich wollte unbedingt eine solche Szene hier einfließen lassen!

Okay, die nächste Story kommt dann in, sagen wir mal, zwei oder drei Wochen. Ich weiß nämlich noch nicht genau, welche ich als Nächstes schreibe.

Chapter 37: Ein kleines bisschen Trost

Summary:

Während der Suche nach jedem möglichen Hinweis zu Maomaos Verbleib, raubte Jinshis Sorge um sie ihm langsam beinahe den Verstand. Doch er ahnte nicht, dass jemand dies bemerkte... ein höchst unerwarteter Jemand... [Die Story enthält Spoiler für alle, die nur den Anime kennen], [Manga: Kapitel 73, Light Novel: Band 4, 10. Kapitel]

Notes:

Einer meiner Leser hier bat mich zu Beginn des Jahres, eine Geschichte darüber zu schreiben, wie sehr Jinshi unter Maomaos Entführung leidet. Und endlich bekam ich die Inspiration dafür! Und zwar so viel, dass mir gleich die Idee für eine zweite Kurzgeschichte dazu einfiel. Ich werd sie gleich nach dieser hier schreiben! :)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Hilflos und fast schon verloren stand Jinshi zusammen mit Gaoshun in der Jaderesidenz und sah schweigend zu, wie Gemahlin Gyokuyous Zofen sich um ihre Herrin scharten. Die Frauen versuchten gerade gemeinsam, die Zeichen auf dem Stück Papier zu entziffern, welches Maomao als Hinweis zurückgelassen hatte.

Da der junge Herr wusste, dass er ihnen eher keine große Hilfe sein würde, beschloss er, sie nicht zu stören und verhielt sich still.

Das Herz klopfte ihm fast schon bis zum Hals. Jenes Papierchen war bisher der einzige Anhaltspunkt, den sie hatten. Maomaos Schicksal hing davon ab!

Jinshi biss die Zähne zusammen und richtete den Blick für einen Moment zu Boden, aufmerksam den Stimmen der Frauen lauschend. Seine Hände, welche er in seinen weiten Ärmeln verborgen hielt, zitterten leicht, während eine Lawine aus bitterer Verzweiflung und schmerzhafter Hoffnungslosigkeit seinen Körper begrub. Eine Lawine, der er nicht entkommen konnte.

Ein unfassbar schrecklicher, fast schon lähmender Gedanke breitete sich in seinem Kopf aus. Was... was wenn es ihnen trotz aller Bemühungen nicht gelingen sollte, Maomaos Hinweis zu verstehen? Was sollten sie dann tun? Aufgeben kam selbstverständlich nicht in Frage, auf gar keinen Fall, aber...

Jinshi wusste es nicht. Er wusste es einfach nicht. Und jene Erkenntnis raubte ihm schier den Verstand.

Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, während er seine erneut aufkeimende Panik mühsam herunterzuschlucken versuchte. Am allerliebsten wäre er jetzt an Ort und Stelle höchstpersönlich losgezogen, um jeden Winkel der Hauptstadt nach der Apothekerin abzusuchen. Nein, nicht nur der Hauptstadt. Der ganzen Nation. Nein, der ganzen Welt. Tag und Nacht. Ohne zu ruhen. Aber das konnte er leider nicht. 

Selbst wenn er es täte, würde es möglicherweise Jahre dauern. Und wer wusste schon, in welcher Situation sich Maomao derzeit befand...

„Wo bist du bloß, Apothekerin?", dachte er verzweifelt. „Bitte sei wohlauf. Ich flehe dich an... bitte sei wohlauf!"

Der junge Adelige spürte ein Brennen in seinen Augen und atmete scharf aus. Das war knapp gewesen! Beinahe wäre ihm seine Eunuchenmaske vom Gesicht gerutscht. Schon wieder. Im allerletzten Moment hatte er sich noch fassen und ihren Fall verhindern können, doch so richtig an Ort und Stelle halten konnte er die Maske nicht mehr. Trotz aller Bemühungen rutschte sie und rutschte. 

Denn seine Sorge und Angst um Maomao waren einfach zu groß, zu überwältigend. Wie eine dicke Eisenkette, welche ihm Brust und Kehle zuschnürte und das Atmen erschwerte. Seine Handgelenke fesselte und ihn davon abhielt, die Maske mit dem honigsüßen und falschen Lächeln auf seinem Gesicht zu halten.

Jinshi kannte jene Kette bereits, denn es war nicht das erste Mal, dass er so etwas durchmachte. Nein. Das erste Mal war gewesen, als Maomao nach dem Vorfall während des Rituals blutend und mit einer geschwollenen Gesichtshälfte in seinen Armen das Bewusstsein verloren hatte. 

An jenem Tag hatte er begriffen, was richtige Angst war und wie wahre Hilflosigkeit sich anfühlte. 

Die Ungewissheit kennengelernt, die die schlimmste Qual auf Erden war.

Und nun war all das wieder zurückgekommen. Heftiger als je zuvor. Zu viel für ihn. Viel zu viel.

Letztendlich hatte Maomao Recht gehabt. Er war tatsächlich nichts weiter als ein Mensch. Und Menschen hatten ihre Grenzen, es gab Dinge, die sie trotz aller Kraft einfach nicht durchstehen konnten. 

Noch ein wenig, dann würde seine Maske Risse bekommen und endgültig zu Boden fallen, den wahren Jinshi darunter offenbarend. Den Jinshi, der kein Eunuch, sondern ein Mitglied der kaiserlichen Familie war. Den Jinshi, den man im Inneren Palast bisher so noch nie gesehen hatte.

Noch ein bisschen... ein kleines bisschen und jene Maske würde zerbrechen... und er zusammen mit ihr.

„Bruder!"

Doch seine quälenden Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er aus heiterem Himmel eine helle Kinderstimme vernahm. Der junge Adelige nahm die Hände aus den Ärmeln und blickte verwundert auf.

Und nicht nur er. Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf Prinzessin Lingli, welche eben noch zu den Füßen ihrer Mutter mit Bauklötzen gespielt und den Erwachsenen keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Nun hatte sie sich jedoch aufgerichtet und schaute direkt zu Jinshi, die winzigen Händchen zu Fäustchen geballt. 

Und bevor die anderen sich versahen, lief sie auf einmal los und direkt auf ihn zu, die Ärmchen in seine Richtung ausgestreckt. Sie war so überraschend schnell auf ihren kurzen Beinchen, dass die Zofen viel zu langsam reagierten und es nicht schafften, sie rechtzeitig aufzuhalten.

Die Kleine prallte gegen Jinshis Knie und plumpste sogleich auf ihre eigenen. Doch stand umgehend wieder auf und umschlang unbeholfen seine Beine, so gut wie sie es nur konnte.

„Bruder! Umarmen!", verriet sie lautstark ihre Absicht.

„Prinzessin! Seine Exzellenz hat heute keine Zeit zum Spielen.” 

Die oberste Zofe Hongniang hatte endlich ihre Stimme wiedergefunden und auch die hochschwangere Gemahlin Gyokuyou war von der Couch aufgestanden. Doch Lingli ignorierte sie. Stattdessen schaute sie mit ihren großen, unschuldigen Augen zu Jinshi auf, die Lippen fest aufeinandergepresst.

Dieser erwiderte ihren Blick. Immer noch leicht perplex, starrte er auf das kleine Mädchen, ohne so recht zu wissen, was er tun sollte. Er konnte die Wärme ihres winzigen Körpers an seinen Beinen spüren.

Hongniang hatte sich inzwischen in Bewegung gesetzt und eilte auf sie zu, in der deutlichen Absicht, die Kleine hochzuheben und fortzutragen. Und um ehrlich zu sein, hatte Jinshi nicht wirklich etwas dagegen. Doch er hob trotzdem die Hand.

„Wartet."

Die Zofe blieb gehorsam stehen.

Als Nächstes ging Jinshi langsam in die Hocke und legte seine Hand behutsam auf den Kopf der kleinen Prinzessin. Zuerst hatte auch er vor, ihr sanft, aber bestimmt mitzuteilen, dass er gerade tatsächlich keine Zeit zum Spielen hatte, doch als er sich ihr Gesicht genauer anschaute, stellte er überrascht fest... dass Lingli überhaupt nicht so aussah, als wolle sie spielen. Sondern als ob sie jeden Moment anfangen würde zu weinen.

Es war etwas ungewöhnlich, kein Lächeln im Gesicht des sonst so fröhlichen Kindes zu erblicken.

Bei dem Anblick spürte Jinshi einen leichten Stich im Herzen. Zwar hatten ihn Kinder nie besonders interessiert, doch er musste zugeben, dass er sie inzwischen ziemlich liebgewonnen hatte, jene niedliche kleine Prinzessin, die ihn aus unerfindlichen Gründen für ihren großen Bruder hielt (auch wenn er ihr langsam mal beibringen sollte, ihn „Onkel” zu nennen).

Gemahlin Gyokuyou wusste um diese Zuneigung zwischen den beiden, hatte sie doch selbst gesehen, wie Jinshi während seiner Besuche in der Jaderesidenz ab und zu mit Lingli spielte oder sie auf seinem Schoß hielt. Sie setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder hin. Möglicherweise schien sie zu glauben, dass ihre Tochter ihn, den sie selbst ironischerweise als eine Art jüngeren Bruder ansah, ein wenig von seiner Sorge um Maomao ablenken könnte.

Auch Gaoshun und die Zofen waren nun still und blickten den jungen Herrn und die Kleine mit bekümmerter Miene an. 

Jinshi zwang sich zu einem kleinen Lächeln. In der Hoffnung, dass es zumindest ein bisschen natürlich aussah.

„Na, was ist denn los, Prinzessin? Was hast du denn?"

Er strich ihr mit dem Daumen sanft über die weiche, runde Wange.

„Umarmen!", ließ Lingli nicht locker und hob beide Ärmchen. Jinshi gab daraufhin einen leisen Seufzer von sich, sich fragend, wieso sie sich denn mit ihrem Wunsch ausgerechnet an ihn wenden musste, wenn sie doch direkt neben ihrer Mutter gesessen war. Er hatte sie wirklich gern, aber es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Er musste all seine Zeit und Kraft in die Suche nach Maomao stecken.

Und doch konnte er nicht anders, als die Prinzessin auf den Arm zu nehmen und an seine Brust zu drücken. Vielleicht war es ja sein Herz, welches nach einer kurzen Ablenkung vom Schmerz schrie, der es beinahe schon entzweizubrechen drohte.

Lingli klammerte sich nun mit einem ihrer Händchen an seinen Ärmel, während sie ihm immer noch ins Gesicht blickte. Jinshi kannte sich nicht wirklich mit Kleinkindern aus, doch ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien sie zu spüren, dass irgendetwas nicht stimmte.

Er klopfte ihr leicht auf den Rücken. Doch was er als Nächstes vernahm, ließ ihn beinahe zur Statue erstarren.

„Mao?”, fragte die Kleine auf einmal mit dünner Stimme.

Jinshi starrte sie vollkommen perplex und mit offenem Mund an. Das konnte doch nicht sein! Begriff das Mädchen etwa tatsächlich, was gerade vor sich ging? Nein, nein, ganz unmöglich! Da interpretierte er bestimmt zu viel hinein. Sicherlich meinte sie gar nicht die Apothekerin, sondern die Katze.

Oder?

Da er keine Ahnung hatte, wie er nun am Besten reagieren sollte, blickte er hilfesuchend zu den Frauen.

„Irre ich mich oder fragt sie gerade tatsächlich nach dem Verbleib der Apothekerin?"

„Nein, Ihr irrt Euch nicht", antwortete Dame Gyokuyou leise. „Das tut sie."

Immer noch leicht ungläubig und beide Augenbrauen hebend, sah er erneut zu dem Kind.

„Meinst du das Kätzchen, Prinzessin?", fragte er vorsichtshalber nach.

Lingli schüttelte den Kopf.

Oh, tatsächlich.

„Sie hat auch uns bereits mehrmals wegen Maomao gefragt", meinte Hongniang mit trauriger Stimme. „Wir wussten jedoch nicht, was wir ihr antworten sollten, deshalb haben wir stattdessen stets versucht, sie mit Spielzeug abzulenken."

„Verstehe…”

„Mao?”, wiederholte Lingli und schnappte sich nun mit ihrer anderen Hand eine von Jinshis Haarsträhnen, wie um zu zeigen, dass sie kein Schweigen als Antwort akzeptieren würde.

Der junge Adelige gab einen weiteren leisen Seufzer von sich. Nun, er war nicht der Einzige, der sich Sorgen um die Apothekerin machte. Natürlich nicht. Jeder hier tat es. So wie es aussah, selbst die Kleine.

„Nein, Kleines, Mao ist aktuell nicht hier. Sie musste gehen”, murmelte er. Er wollte Lingli zwar nicht anlügen, doch die ganze Wahrheit konnte er ihr auch nicht sagen. Das wäre deutlich zu viel für ein Kind. „Aber du musst dir keine Sorgen machen, sie kommt wieder. Zwar kann ich dir nicht sagen, wann, aber sie kommt wieder." („Ganz bestimmt", fügte er in Gedanken hinzu.)

Jinshis Stimme klang, als wolle er eher sich selbst mit diesen Worten überzeugen. Und sie laut auszusprechen, tat ihm auch irgendwie gut.

„Oh.”

Mehr sagte Lingli nicht. Jinshi fragte sich, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte. Aber auch wenn nicht, eine andere Antwort konnte er ihr sowieso nicht geben.

Die Kleine zupfte noch ein wenig an seinem Ärmel und blickte dann wieder auf.

„Sorgen?”, fragte sie plötzlich, mit dem Zeigefinger auf sein Gesicht deutend.

Seine Augen weiteten sich erneut vor Erstaunen, doch dann wurde ihm klar, dass seine Stirn wohl gerunzelt sein und sie möglicherweise dies meinen musste. Er machte einen tiefen Atemzug. Wenn das wirklich stimmte, wäre das eine ganz schöne Überraschung. Dann bedeutete dies, dass jenes winzige Wesen, welches noch nicht einmal richtig sprechen konnte, bereits mehr begriff als so mancher Erwachsene.

Die Erkenntnis, dass er, so wie es aussah, so gut wie nichts vor ihr verbergen konnte, brachte ihn beinahe zum Lächeln. Es war fast schon wie bei Maomao, welche ihn mal überhaupt nicht und mal besser verstand als jeder Andere.

 Sein Herz begann wieder zu schmerzen. Jeder Gedanke an seine Apothekerin tat so weh...

„Ja, du hast Recht. Ich mache mir Sorgen…”, gab er schließlich leise zu. Leugnen brachte sowieso nichts. „Und wie ich das tue..."

Seine Stimme brach beinahe.

Auf einmal spürte er Gaoshuns Hand auf seiner Schulter und drehte den Kopf, um in das äußerst besorgte und auch leicht erschrockene Gesicht des Assistenten zu blicken. Hm? Warum sah ihn der Mann bloß so an?

„Herr... Ihr weint..."

„Ach, wirklich?"

Tat er das? Lingli nun mit einer Hand festhaltend, fuhr Jinshi sich mit den Fingern der anderen über die Wange und fühlte sogleich Nässe. Ohne dass er es bemerkt hatte, hatten seine Augen sich während des Sprechens mit Tränen gefüllt, welche ihm nun unaufhaltsam über das Gesicht liefen. Der Damm war gebrochen.

„Also ist meine Maske letztendlich doch gefallen, nicht wahr?”, murmelte er erschöpft und legte sich die Hand auf die Augen, als wolle er die Welt nicht mehr sehen. Seine Worte klangen nicht einmal mehr überrascht und eher wie eine Feststellung als eine richtige Frage. Na, kein Wunder. War ja klar, dass so etwas früher oder später passieren musste, es war bloß eine Frage der Zeit gewesen.

Doch die bebende Stimme des Kleinkindes brachte ihn dazu, sie wieder aufzudecken.

„Bruder?!”

Er senkte den Blick und stellte fest, dass nun auch über die Wangen der Kleinen Tränen liefen. Jinshi zog die Nase hoch, im Versuch sich zu beruhigen, doch er konnte es einfach nicht. Obwohl ihn das schlechte Gewissen plagte, ein solch kleines Kind mit seinem Schmerz belastet zu haben, konnte er einfach nicht aufhören zu weinen.

„Habe ich dich erschreckt?.. Tut mir leid..."

Heftig schluchzend drückte er sie enger an sich. Zwar hatte er nicht die geringste Ahnung, wie man ein Kind tröstete, doch er würde sein Bestes tun.

„Nicht weinen...", brachte er heraus, von der Heftigkeit seines eigenen Weinens am ganzen Körper bebend, was seinen Worten offensichtlich jeden Sinn raubte.

Linglis Tränen durchtränkten seine Kleidung und seine liefen ihm das Kinn herab und tropften auf ihr Haar.

Die Gemahlin, die Zofen und der Assistent betrachteten die Szene voller Kummer, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Die Augen der Frauen schimmerten feucht und Gaoshun beschloss sogar, seinen Herrn nicht für sein Benehmen zu tadeln. 

Da Jinshi es nicht zu schaffen schien, die Prinzessin zu beruhigen, trat Hongniang näher und wollte sie ihm erneut abnehmen, doch er schüttelte den Kopf, dem Kind liebevoll über den Rücken streichelnd und sie in seinen Armen wiegend.

Auf einmal streckte die Kleine ihren Körper und ihre Ärmchen aus und umschlang ganz fest seinen Hals.

„Bruder... umarmen... nicht weinen...", wimmerte sie.

Als Jinshi diese Worte vernahm, riss er weit die verweinten Augen auf.

Oh. Jetzt hatte er begriffen.

Diejenige, die die ganze Zeit eine Umarmung gebraucht hatte, war nicht Lingli...

...sondern er.

Und die Kleine schien es gespürt zu haben und war zu ihm gerannt, im Versuch, ihm wenigstens ein kleines bisschen Trost zu spenden.

Notes:

In dieser Fanfic machte ich erneut Gebrauch von meinem Headcanon, dass Lingli in der Lage ist zu spüren, wer Jinshi wirklich ist.
Ich liebe ihn einfach, also kann es sehr wohl sein, dass ich irgendwann noch was dazu schreibe. :)

Chapter 38: Bitte sei wohlauf

Summary:

Ganz allein und schlaflos in seinen dunklen Gemächern im Bett liegend, klammerte sich Jinshi an jedes Fünkchen Hoffnung, das er in seinem Inneren noch zu finden schaffte. Hoffnung, dass seine entführte Apothekerin in Ordnung und unversehrt war... [Spoiler für diejenigen, die nur den Anime kennen!, Manga: nach Kapitel 73, Light Novel: Band 4, nach Kapitel 10]

Notes:

Für die richtige Atmosphäre empfehle ich folgendes Lied:
Andrea Bocelli - Pero te extraño
Link: https://m.youtube.com/watch?v=7Og79cjbgnM&pp=ygUlYW5kcmVhIGJvY2VsbGkgcGVybyB0ZSBleHRyYW5vIGx5cmljcw%3D%3D
Aber einen Sonfic würd ich den Text nicht nennen, weil ich mich erst dann an das Lied erinnert hab, als die Geschichte bereits fertiggeschrieben war (jedoch passt es so wunderbar dazu!).

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Es war eine vollkommen stille, mondlose Nacht, mit einem Himmel so dunkel, als hätte jemand ein riesiges Tintenfass umgeworfen und dessen Inhalt darauf verschüttet. Als sei die gesamte Welt unwiederbringlich in Finsternis versunken.

Und genau genommen stimmte dies auch. Die Welt WAR in Finsternis versunken.

Jinshis Welt.

So gut wie reglos lag der junge Adelige auf seiner Seite im Bett. Sein Brustkorb bewegte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus, sodass man meinen könnte, dass er tief und fest schlafe, doch dem war nicht so. Das träge Blinzeln seiner halbgeschlossenen Augen strafte diesen Eindruck Lügen. Sie waren auf einen unbestimmten Punkt in der Dunkelheit gerichtet.

Jinshis Oberkörper war bis zur Taille unbedeckt und bebte leicht trotz der angenehm warmen Temperatur im Raum, doch er machte keinerlei Anstalten, die halb vom Bett und fast bis zum Boden herabhängende Decke zu nehmen und über sich zu ziehen. Als ob er sein eigenes Zittern gar nicht wahrnehmen könnte. Oder überhaupt irgendetwas außer seiner unbeschreiblichen Sorge und Sehnsucht nach Maomao, welche ihn Tag und Nacht heimsuchten und von innen her zerfraßen.

Mutterseelenallein lag er da in seinen geräumigen Gemächern und hielt ein Kissen im Arm. Sich wünschend, stattdessen die Apothekerin umarmt zu halten.

Der Zettel, den Maomao hinterlassen hatte, lag auf einem Tisch im Raum, direkt neben einer fast komplett heruntergebrannten und nun gelöschten Kerze. Erst vor Kurzem war Jinshi noch dort gesessen und hatte das Stück Papier in beiden Händen gehalten, es im Licht jener Kerze so eindringlich anstarrend, als würde er erwarten, dass es jeden Moment zu sprechen begann und ihm Maomaos Aufenthaltsort verriet.

Es war ihr einziger, kostbarer Hinweis! Sie mussten diese Shisui unbedingt aufspüren, so schnell wie möglich, sie mussten...

Jinshis Finger rührten sich und gruben sich so tief in das Kissen, dass durch seine Nägel beinahe das Material aufgerissen und Löcher entstanden wären. Genau wie sie sich in seine Handfläche gebohrt hatten, nachdem er die Jaderesidenz verlassen hatte.

Ein leiser Schluchzer entfuhr seiner Kehle.

„Bitte sei wohlauf...", murmelte er mit kraftloser Stimme in die Stille der Nacht hinein und drückte das Kissen enger an sein schmerzendes Herz. Doch es verschaffte ihm kein bisschen Erleichterung.

Langsam verlor er den Verstand vor Angst und Sorge um die Apothekerin. Seit jenem Tag, an dem er erfahren hatte, dass Maomao nicht in die Jaderesidenz zurückgekehrt war, konnte er weder richtig essen noch schlafen, sodass er inzwischen sogar ein wenig an Gewicht verloren, seine Augen dunkle Augenringe zierten und sein langes, seidiges Haar, welches nun leicht zerzaust auf dem Bett ausgebreitet war, etwas von seinem Glanz eingebüßt hatte. Aber was zur Hölle kümmerte ihn das, wenn aktuell sowieso keine Maomao bei ihm war, die ihn für das Vernachlässigen seiner Gesundheit ausschimpfen konnte?

Während jedes Bissens, den er aß, während jeder Minute, die er schlief, könnte er einen wichtigen Hinweis versäumen, der ihn möglicherweise zu Maomao führen würde. Und allein die Vorstellung war schier unerträglich für ihn.

 Ständig und unaufhörlich drehten sich seine Gedanken um sie allein. Um sie und die Bemühungen herauszufinden, wo sie sich befand und was nun genau vorgefallen war.

Jinshis allergrößter und einziger Wunsch war, sie zu finden und zurückzubringen. Oder zumindest zu wissen, dass sie in Sicherheit war. 

Jinshis Hände zuckten. Am Allerliebsten wäre er jetzt aufgestanden und hätte die Suche fortgeführt, doch er hatte Suiren und Gaoshun nun einmal versprochen, dass er versuchen würde, wenigstens ein bisschen zu schlafen. Die beiden hatten nicht mehr mitansehen können, was er sich selbst antat, und ihn schlussendlich bei den Armen gepackt und ins Bett gezerrt, ohne auch nur ein Widerwort zuzulassen. Aber um ehrlich zu sein, hatte Jinshi auch nicht allzu sehr Widerstand geleistet, da er zum einen nicht genug Kraft dazu hatte und zum anderen genau wusste, dass sie sich bloß Sorgen machten und es nur gut mit ihm meinten. Maomao hätte an ihrer Stelle bestimmt das Gleiche getan.

Es tat ihm wirklich leid, dass er den beiden Menschen, die ihn großgezogen hatten, solchen Kummer bereitete, doch er konnte einfach nicht anders.

„Herr, wenn Ihr Xiaomao finden wollt, müsst Ihr bei Kräften bleiben. Wäre sie jetzt hier, hätte sie Euch sicherlich böse angefunkelt und dafür getadelt, dass Ihr Euren Körper an seine Grenzen bringt", hatte Gaoshun versucht, ihn zur Vernunft zu bringen.

Jinshis Mundwinkel bewegten sich einige Millimeter nach oben. Ganz genau! Und dann hätte sie ihm bestimmt etwas zu Essen gebracht, ihm ein Schlafmittel gemacht, ganz genau aufgepasst, dass er es auch wirklich aß und trank und bei ihm geblieben, bis er eingeschlafen wäre. Als sei es die natürlichste Sache der Welt. Zwar konnte Maomaos Fürsorge Einem auf dem ersten Blick eventuell etwas rauh vorkommen, doch sie war stets ehrlich. Niemals gespielt. Jinshi spürte dies.

„Sie ist robust und kann auf sich aufpassen, Herr. Und das wisst Ihr besser als jeder Andere."

Ja, robuster als sie aussah auf jeden Fall, das stimmte schon... Eine junge Frau mit einem starken Geist und einem gewissen Widerstand gegen Gifte. Aber trotz allem änderte dies nichts an der Tatsache, dass ihr Körper immer noch klein und zierlich war. Bei einem physischen Angriff hätte sie keinerlei Chance.

Der junge Adelige schluckte heftig, als er sich an das Gespräch zu diesem Thema in der Jaderesidenz erinnerte. 

Er wollte sie beschützen, er musste sie beschützen, er...

...konnte sie nicht beschützen. Er war vollkommen nutzlos.

Und seine aktuelle Erschöpfung machte ihn nur noch nutzloser als sonst.

Jinshi rollte sich auf dem Bett zusammen und vergrub sein fürchterlich bleiches, aber immer noch wunderschönes Gesicht im Kissen, ein ersticktes Wimmern von sich gebend, als ihn mal wieder die blanke Panik durchfuhr.

Jedes Mal, wenn ihm der Gedanke kam, dass seine Apothekerin verletzt oder im allerschlimmsten Fall tot! sein könnte, während er im Kaiserlichen Palast herumsaß und Zeit verschwendete, begann sein Körper wie Espenlaub zu zittern und seine Atmung setzte für einen Augenblick aus.

Als sie während des Vorfalls beim Ritual verletzt worden war, war es ebenfalls die reinste Hölle gewesen, doch zumindest... zumindest hatte er da gewusst, wo sie war, und konnte sie sehen... konnte sie in seinem Bett schlafen, ihr die allerbeste Behandlung zukommen lassen... wenigstens irgendetwas für sie tun...

Sein Gesicht verzerrte sich zu einem Ausdruck tiefsten Schmerzes.

Was für ein Idiot er doch gewesen war! Hatte geglaubt, dass sie sich im Inneren Palast in Sicherheit befand! Pah, von wegen! Man hatte sie ihm direkt vor der Nase wegentführt! Fürchterliche Schuldgefühle plagten ihn: Wieso konnte er nicht besser auf sie aufpassen? Wieso konnte er sie nicht beschützen? Das... Das war doch seine Aufgabe! Er war für sie verantwortlich! Natürlich wusste er, dass Maomao kein Kind mehr war und tatsächlich auf sich selbst aufpassen konnte, aber trotzdem...

„Warum sie? Warum ausgerechnet sie?", brachte er hervor. „Warum musste ausgerechnet sie entführt werden? War es ihre Intelligenz? Die Tatsache, dass sie neugieriger ist als ihr guttut?"

Aber was auch immer es war... schlussendlich hatte er nicht für sie da sein können. Und für Reue war es bereits sowieso viel zu spät.

Er erinnerte sich erneut an den Moment, als ihn die Nachricht erreicht hatte, dass Maomao unauffindbar war. Es hatte sich so angefühlt, als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Als ob Jinshi jemand einen Teil von ihm genommen hätte.

„Bitte sei wohlauf...", wiederholte er.

Zwar war Jinshi trotz der Tatsache, dass er ab und zu religiöse Rituale und Zeremonien durchführen musste, nicht gerade ein gläubiger Mensch, doch seine Verzweiflung war so groß, dass er, ohne es auch nur bewusst wahrzunehmen, nun die Hände zum Gebet faltete, in der Hoffnung, dass die Götter, welche auch immer es sein mochten, sein Flehen erhörten und Maomao nichts passierte.

Der junge Herr blinzelte wiederholt. Eine einzelne Träne rollte über seine Wange, während er sich nach seinem Gebet erneut an das Kissen klammerte.

Nein! Er hatte keine Zeit zum Weinen, sondern musste weiterhin sein Bestes geben, um sie zu finden! Und wenn er dafür ein für alle Mal seine Eunuchenmaske wegwerfen müsste, die er sechs Jahre lang getragen hatte, dann würde er das tun. Für sie würde er alles tun. Alles!

Und mit diesem Gedanken fiel er endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, als sein Körper nicht mehr länger gegen die fürchterliche Erschöpfung ankämpfen konnte.

Notes:

Und so sehen meine weiteren Pläne aus:
- da der 21. Oktober ein besonderes Datum für mich ist, hab ich vor, an dem Tag eine besondere Geschichte hochzuladen

- bis dahin werd ich nur kurze Drabbles hochladen (diesmal ernsthaft! Zumindest ist das so geplant, haha)

Chapter 39: Eine kleine Racheaktion

Summary:

Eines Abends saß Maomao in ihrem Zimmer und genoss die Zeit mit ihren Kräutern. Zu dumm, dass Jinshi genau da beschloss, ihr einen Besuch abzustatten...

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Von Ohr zu Ohr grinsend und vor Freude fast schon hüpfend, betrat Maomao eines schönen Herbstabends ihr Zimmer in Jinshis Residenz. Oh, endlich! Endlich war sie mit dem Polieren des ganzen Silbergeschirrs fertig geworden und hatte von der obersten Zofe Suiren die Erlaubnis erhalten, sich bis zum nächsten Morgen zurückzuziehen.

Die von all dem Putzen geröteten Hände vor überwältigender Vorfreude zu Fäusten ballend, steuerte die Apothekerin schnurstracks die Kräuter an, welche sie vor einigen Tagen gesammelt und zum Trocknen aufgehängt hatte. Und nun waren diese trocken genug und bereit, weiterverarbeitet zu werden!

Maomao schnappte sich eine Handvoll und hielt sie sich an die Nase, tief den wunderbaren Duft einatmend. Dann zündete sie eine Kerze an, griff mit der freien Hand nach Mörser und Stößel, streifte sich die Schuhe ab und plumpste mit einem seligen Seufzer aufs Bett, um ihre Schätze zu zermahlen.

Im Moment wirkte sie wie der Inbegriff der Glückseligkeit...

...aber leider war es jenem Eindruck nicht vergönnt, allzu lange zu währen.

Schon bald hörte sie ein Klopfen an ihrer Tür, welches abrupt ihre traute Zweisamkeit mit ihren geliebten Kräutern unterbrach. Gefolgt von einer nur zu bekannten Stimme.

„Apothekerin? Bist du da?"

Maomao seufzte enttäuscht und funkelte die Tür böse an, so als wolle sie die Person auf der anderen Seite mit ihrem Blick durchbohren. Lebwohl, du wunderbare Ruhe!

„Es ist doch schon spät. Was will er denn jetzt schon wieder?", grummelte sie. 

Doch da sie nichts weiter als eine einfache Zofe war und auch noch in seinem Haus lebte, gab es nur eine Antwort, die sie ihrem Besucher geben konnte.

„Bitte kommt herein, Eure Exzellenz."

Eine Sekunde später öffnete sich die Tür auch schon und ein leicht zerzauster und missgelaunter Jinshi offenbarte sich Maomaos Augen. Ihre Blicke trafen sich.

Er sagte kein Wort.

Maomao ebenso wenig.

Da es ziemlich unhöflich wäre, in der Gegenwart ihres adeligen Arbeitgebers sitzen zu bleiben, stellte sie Mörser und Stößel beiseite und wollte sich erheben. Doch bevor sie das schaffte...

...verengte Jinshi die Augen, ging mit langen Schritten auf sie zu...

...und ließ sich mir nichts dir nichts auf ihr Bett fallen, den Kopf auf ihrem Schoß platzierend und die Arme um ihre Taille schlingend.

Die Apothekerin erstarrte für einen Augenblick vor Überraschung und runzelte dann die Stirn. Aber letztendlich machte sie keine Anstalten, ihn von sich herunterzuschubsen.

„Eure Exzellenz, was..."

„Apothekerin, mein Kopf tut weh...", unterbrach er sie in einem wehleidigen Tonfall und blickte mit großen Augen kläglich zu ihr auf. Wie ein kleiner Junge.

Maomao seufzte und entspannte ihre Gesichtszüge.

„Wie es aussieht, hat die himmlische Nymphe für heute Feierabend", dachte sie. „Na gut, so ist es sowieso einfacher, sich mit ihm zu unterhalten."

„Ich habe da ein Schmerzmittel. Wenn Ihr es mich bitte kurz holen lasst..."

Sie versuchte erneut, aufzustehen, doch der junge Herr packte sie an der Kleidung und hielt sie zurück.

„Nicht nötig. Mein Schmerzmittel ist bereits hier."

Maomao hob eine Augenbraue, als sie diese Worte vernahm, gab jedoch schlussendlich auf und setzte sich wieder hin.

Jinshi umarmte sie noch fester und drückte die Oberseite seines Kopfes an ihren warmen Bauch.

„Aah, viel besser", sagte er mit einem zufriedenen Seufzer und einem Lächeln im Gesicht, als liege er auf dem gemütlichsten Kissen der Welt.

Maomao ließ sich davon nicht beeindrucken.

„Wie Ihr meint, Herr," antwortete sie in einem neutralen Tonfall. Sich hatte sich bereits an seine Berührungen gewöhnt und zuckte davon nicht mehr zusammen.

„Lass mich einfach noch ein wenig so bleiben, in Ordnung?"

Maomao sagte nichts dazu, sondern gab bloß ein Schnauben von sich. Sie nahm ihren Mörser, platzierte ihn auf Jinshis Schulter und fuhr seelenruhig mit dem Zerstoßen ihrer Kräuter fort. Jinshi lachte leise und beschloss, dies als ein „Ja" aufzunehmen.

Er legte ihr die Hände auf den Rücken und gähnte ausgiebig.

„Ein harter Arbeitstag heute, Herr?", erkundigte sich Maomao, ohne die Augen von ihren Kräutern abzuwenden.

„Das kann man wohl sagen."

„Habt Ihr Euch etwa schon wieder überarbeitet?" Ihre Stimme klang leicht vorwurfsvoll.

„Mmh. Hatte keine andere Wahl... Eine Menge Papiere, die angeblich nicht bis morgen warten konnten... Von wegen!" Er schloss für einen Moment seine violetten Augen und gähnte erneut. Dann fiel sein Blick auf ihre kleine Hand, die den Stößel hielt. „Oh? Trägst du etwa Nagellack? Und auch noch lilafarbenen."

„Ich habe einen Brief von meinen Schwestern aus dem Freudenhaus bekommen, in dem sie mich bitten, welchen von einer anderen Farbe als sonst herzustellen. Anscheinend soll ein neuer Modetrend im Freudenviertel entstehen. Also habe ich welchen gemacht und muss ihn nun selbst ausprobieren, bevor ich ihn an sie schicke."

Die Apothekerin zuckte die Achseln, doch da sie sich über jede Gelegenheit freute, etwas Neues aus Pflanzen zu machen, sah sie keinen Grund, sich zu beschweren, und tat es demzufolge auch nicht.

„Verstehe. Steht dir gut."

Ein zarter Rosaton zierte seine Wangen, als er ihr dieses Kompliment gab.

„Vielen Dank."

Danach sagte keiner von beiden auch nur ein Wort. Jinshi lag einfach nur da und Maomao konzentrierte sich voll und ganz auf ihre Kräuter, im Versuch, seine Gegenwart so gut es ging zu ignorieren. Was gar nicht so einfach war, wenn man als Kissen herhalten musste.

Doch ungefähr eine Viertelstunde später kam die vollkommene Stille der Apothekerin dann doch etwas verdächtig vor. Sie beschloss nachzusehen.

Jinshi schlief tief und fest, den Kopf immer noch auf ihrem Schoß und den Mund leicht geöffnet, aus dem ein dünner Speichelfaden lief. Maomao spürte seine ruhige, gleichmäßige Atmung.

Maomao biss die Zähne zusammen und sah ihn an, als sei er ein riesiger Käfer, der in ihr Zimmer hereingeflogen und auf ihren Kräutern gelandet war. Toll. Ganz toll. Sie wusste zwar, wie müde er war, war ja auch nicht zu übersehen gewesen, aber trotzdem...

Die Apothekerin hob die Hand, in der Absicht, ihn wachzurütteln und ihm zu sagen, dass er gefälligst in seinem eigenen Bett schlafen sollte, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne...

...bevor sie sie schließlich auf seinen Kopf legte und mit ihren dünnen Fingern durch sein weiches, seidiges Haar fuhr. Langsam und behutsam. Mit einer Sanftheit, die ziemlich ungewöhnlich für sie wirkte.

„Na gut", gab sie sich letztendlich gedanklich geschlagen, auf die dunklen Ringe unter seinen mandelförmigen Augen schielend. „Dann lasse ich ihn eben ein wenig schlafen. Er ist erschöpft und braucht es."

Immerhin war Maomao ja kein herzloses Monster. Zwar mochte sie Emotionen nicht so ausgeprägt empfinden und ausdrücken wie andere Leute, doch trotz ihrer nicht gerade einfachen Kindheit wusste sie, was Mitgefühl war. Alles dank ihres Adoptivvaters.

Die nun fein zermahlenen Kräuter beiseitestellend, streckte die Apothekerin kurz ihre Arme durch und gähnte ebenfalls. Auch bei ihr hatte sich im Laufe des Tages Müdigkeit angesammelt, weshalb sie ganz gerne auch bald schlafen gehen würde.

„Aber nach einer Stunde oder so wecke ich ihn auf. Ich habe keineswegs vor, die ganze Nacht so zu sitzen."

Als sie ihre Arme wieder herunternahm, fiel ihr Blick plötzlich auf die kleine Dose mit Nagellack, welche sie am Morgen benutzt und dann auf dem Bett zurückgelassen hatte, und ein gemeines Grinsen erschien auf ihren Lippen. Ihr war eine gewisse Idee gekommen. Wie wäre es mit einer kleinen Rache dafür, dass er ihre wertvolle Freizeit gestört hatte?

Da sie Jinshi mittlerweile ziemlich gut kannte, war sie sich sicher, dass er sie dafür nicht hinrichten würde, also gab es keinen Grund, sich eine solch einzigartige Gelegenheit entgehen zu lassen.

Und so griff sie nach der Dose, stellte diese neben sich ab, schnappte sich einen Pinsel und nahm zu guter Letzt eine von Jinshis Händen, sie vorsichtig hochhebend, um ihn nicht aufzuwecken. Sie konnte die Schwielen an seinen langen Fingern spüren und sich den Gedanken nicht verkneifen, wie schön warm seine große, kräftige Hand doch war.

Als Nächstes tauchte sie den Pinsel in den Nagellack und machte sich ans Werk...

Einige Minuten später war Maomao bereits so sehr in ihre Tätigkeit vertieft, dass sie nicht einmal merkte, dass Jinshi aufgewacht war und schläfrig und leicht verwirrt zu ihr hochblickte. Bis ihm schließlich klar wurde, was sie da eigentlich tat, und er beinahe losgelacht hätte.

„Und jetzt noch die andere Hand, wenn du schon dabei bist", meinte er fröhlich und klopfte ihr mit der freien auf den Rücken.

So urplötzlich seine Stimme zu vernehmen, jagte der Apothekerin einen solchen Schrecken ein, dass sie seine Hand losließ. Was der junge Herr umgehend ausnutzte, um seinen Zeigefinger in den Nagellack zu tauchen und ihr ein wenig davon auf die Nase zu schmieren. Ein breites Grinsen zierte seine Lippen, als er sie danach erneut ganz fest umarmte.

„Eure Exzellenz!"

„Hahahaha! Eine kleine Strafe für dich!"

***

Etwa eine halbe Stunde später beschloss Jinshi endlich, sich zu seinem eigenen Bett zu begeben, und verließ das Zimmer der Apothekerin. Ein Liedchen vor sich hinsummend, während er unterwegs glücklich seine wunderschön lackierten Nägel bewunderte.

Seine Kopfschmerzen waren spurlos verschwunden.

Notes:

Die Idee zu diesem Drabble kam mir mithilfe dieser zwei Prompts, die ich im Internet gefunden hab:
- A gets in trouble at work, all they can think about is going home and collapsing into B's arms

- A casually takes B's hand to look at the nail polish or rings they're wearing while B is talking to someone

Chapter 40: Ein ganz besonderer Erythrozyt

Summary:

Der Neutrophil J-0180 hat in seinem Leben schon ziemlich viele rote Blutkörperchen gesehen. Aber noch nie ein solch besonderes und einzigartiges wie MAO1530.

Notes:

Und hier kommt ein kleines Crossover mit der Serie "Cells at Work!"

Ich hab aus Jinshi und Maomao Personifikationen von Zellen gemacht! :)

Ist aber nicht wirklich nötig, die andere Serie zu kennen, um die Geschichte zu verstehen.

Chapter Text

Es war ein weiterer gewöhnlicher Tag im menschlichen Körper, wo alle Zellen sich wie immer anstrengten und ihr Bestes gaben.

Genau wie die kleingewachsene Erythrozyten-Dame, die seelenruhig einen Karren mit einer Kohlenstoffdioxid-Kiste durch ein Blutgefäß vor sich hinschob.

„Jetzt muss ich das hier noch zur Lunge bringen und kann mich dann ein wenig ausruhen. Endlich", murmelte sie und blieb für einen Moment stehen, um ihre rote Kappe mit der Aufschrift „MAO1530" zurechtzurücken.

So wie jeden Tag arbeitete sie auch heute allein, doch dies machte ihr nicht im Geringsten etwas aus, da sie sowieso kein Bedürfnis nach Gesellschaft verspürte. MAO war eben von Natur aus nicht besonders gesprächig und bevorzugte Stille.

Und genau deshalb und aufgrund der Tatsache, dass sie kaum jemals lächelte, hielten die anderen Zellen sie oft für unfreundlich und gleichgültig, doch sie irrten sich. Sie war keine schlechte Zelle, es war bloß, dass sie ihre Emotionen nicht so gut ausdrücken konnte.

„Oh, sieh mal einer an! Da treffen wir uns also wieder!", vernahm sie plötzlich eine fröhliche männliche Stimme, so süß wie Honig.

Das rote Blutkörperchen erstarrte und drehte sich auf der Stelle um, in die Richtung zurückeilend, aus der es gerade gekommen war. So tuend, als hätte es nichts gehört.

„Hey, ignorier mich nicht!"

Und bevor MAO sich versah, war ein langhaariger Neutrophil auf sie zugelaufen und hatte sich ihr so in den Weg gestellt, dass sie mit ihrem Karren nicht durchkam.

Die Erythrozyten-Dame gab einen tiefen Seufzer von sich.

Der Name jenes Neutrophilen lautete J-0180 und er wurde von allen anderen Zellen im Organismus, ganz egal welchen Typs (und Geschlechts), als „Prinz des Körpers" bezeichnet, da er so unfassbar schön war, als sei er irgendeinem Zellenmärchen entsprungen. Wohin er auch ging, begleiteten ihn stets bewundernde Blicke und verträumte Seufzer. Selbst wenn er von Kopf bis Fuß mit Bakterienblut beschmiert war.

Nicht dass MAO1530 sich darum scheren würde.

„Dass wir uns ständig über den Weg laufen, muss wohl Schicksal sein", meinte er mit einem solch strahlenden Lächeln auf den Lippen, dass jede Zelle auf der Stelle ohnmächtig geworden wäre. Jede außer ihr.

Anstatt in Ohnmacht zu fallen, hob das rote Blutkörperchen das Gesicht... und sah ihn an, als sei er ein stinkendes Bakterium, das quer über die Gefäßwand verschmiert worden war.

Aus irgendeinem Grund wurden die Wangen des Neutrophils daraufhin leicht rot.

„Oder eher ein Fluch", dachte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und schnaubte genervt.

Seit dem Tag, an dem das weiße Blutkörperchen sie vor einem Pneumokokken gerettet hatte, klebte er an ihr wie der reinste Blutegel. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wieso sie in einem Körper mit so vielen Leukozyten und Erythrozyten ausgerechnet ohne Ende auf jenen nervigen Neutrophilen stoßen musste.

Doch zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie sich bereits irgendwie an seine Präsenz gewöhnt. Ach, wie auch immer, so oder so war es an der Zeit, ihrer langerwarteten Pause Lebwohl zu sagen, was?

Und so führte MAO1530 ihren Weg Richtung Lunge in der Gesellschaft des Neutrophilen fort, der wohl, da es in letzter Zeit nicht sehr viele Bakterienangriffe gegeben hatte, aktuell zu viel Freizeit besaß. Hach, wie lästig... Die beiden redeten unterwegs. Aber eigentlich redete bloß J-0180 und MAO hörte ihm zu. Oder auch nicht, wer weiß.

Irgendwann sahen sie etwas auf dem Gefäßboden herumliegen. Wie es sich herausstellte, ein totes Bakterium.

Das weiße Blutkörperchen runzelte die Stirn.

„Wie es aussieht, hat einer meiner Kollegen vergessen, dieses Ding zu entsorgen. Gut, dann muss ich wohl selbst..."

Doch bevor er zu Ende sprechen konnte, hatte die Erythrozyten-Dame sich bereits hingehockt und ein Stückchen des Erregers abgebissen.

„Hm... nicht giftig... schade", murmelte sie, nachdenklich kauend.

Dem Neutrophilen klappte vor Schreck die Kinnlade herunter.

„Was treibst du da!? Wie oft soll ich dich noch daran erinnern, dass du ein Erythrozyt bist!? Du kannst keine Bakterien essen!"

Sie zog daraufhin ein kleines Päckchen aus ihrer Tasche hervor.

„Kein Grund zur Sorge, ich habe Ihnen ja bereits erklärt, dass ich sie schon seit meiner Kindheit esse, also wird es mir nichts anhaben können. Außerdem bin ich dadurch sogar immun gegen kleine Mengen an bakteriellen Toxinen geworden. Und für den Fall der Fälle habe ich dieses Brechmittel hier dabei."

Ihr nicht zuhörend, riss der Neutrophil ihr umgehend das Päckchen aus der Hand und stopfte ihr dessen Inhalt in den Mund.

„Spuck es auf der Stelle aus!"

Ähm, und was als Nächstes passierte... sollte lieber nicht detailliert beschrieben werden... (aus Rücksicht auf die Leser, die möglicherweise gerade am Essen sind.)

Einige Minuten später kniete MAO schon auf dem Boden einer leeren Kapillare, in die sie der Neutrophil in aller Eile gebracht hatte, damit sie das Gefäß, durch das andere Zellen unterwegs waren, nicht beschmutzte. Sie wischte sich die Reste des Erbrochenen von den Lippen.

„Das war nun wirklich nicht nötig gewesen...", grummelte das rote Blutkörperchen genervt und erhob sich.

„Doch, war es. Du bist kein Phagozyt, wer weiß schon, was dieses Zeug mit deinem Körper hätte anstellen können", erwiderte J-0180 und funkelte sie mit verschränkten Armen böse an.

Ohne diesen Einwand mit einer Antwort zu würdigen, blickte MAO1530 auf einmal auf und sah ihm in die Augen, als wolle sie direkt in seinen Zellkern oder seine Seele starren. Der Neutrophil schluckte.

„Könnte ich Sie vielleicht um einen Gefallen bitten, Herr Neutrophil?"

Ihre Worte verblüfften ihn.

„Wieso bist du auf einmal so ernst geworden?"

Sie ignorierte ihn erneut und fuhr einfach fort.

„Ich möchte Sie bitten, mich nicht in die Milz zu schicken, wenn ich nicht mehr arbeiten kann. Bitte töten Sie mich stattdessen mit Gift, damit ich wenigstens ein allerletztes Mal dieses angenehme Kribbeln genießen kann."

Der Leukozyt konnte seinen Ohren kaum trauen. Er war vollkommen schockiert.

„W-Was redest du denn da!? Dich töten!? Aber... ich könnte nie..."

„Keine Zelle kann ewig leben", erklärte sie ihm ruhig. „Und wenn ich eines Tages nicht arbeiten kann, dann werde ich diesem Körper nicht mehr von Nutzen sein. Dann muss ich eliminiert werden, ob Sie es nun wollen oder nicht. So lautet eben die Realität und ich bin bloß ein rotes Blutkörperchen. Eines von vielen. Ich bin ersetzbar."

J-0180 starrte sie bloß mit weit aufgerissenen Augen und komplett sprachlos an.

Doch auch wenn er es nicht zugeben wollte, tief in seinem Inneren wusste er, dass sie sehr wohl Recht hatte.

Schließlich senkte er den Kopf, die violetten Augen von leichter Traurigkeit verdunkelt.

„Verstehe... Gut, einverstanden."

Das rote Blutkörperchen verbeugte sich vor ihm.

„Vielen Dank."

Was danach folgte, war ein nicht sehr angenehmes Schweigen.

Bis auf einmal eine seltsame Flüssigkeit vom Himmel zu tropfen begann und zu einem wahren Platzregen anwuchs.

Sobald MAO begriffen hatte, worum es sich da handelte, änderte sich ihre gesamte Haltung und ihre Augen leuchteten vor Freude auf.

„Oh! Das ist ja Alkohol! Endlich! Ich habe ihn so sehr vermisst!"

Und da rannte sie auch schon in den Alkoholregen hinaus, vor Glück beinahe tanzend.

„Oh ja, du bist wirklich jemand ganz Besonderes", murmelte der Neutrophil mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, während er sie beobachtete. „Der einzigartigste Erythrozyt, dem ich je im Leben begegnet bin..."

Chapter 41: Eine unerwartete Begegnung (Neufassung)

Summary:

Es war sehr spät und der (wieder mal) überarbeitete Jinshi war endlich unterwegs zu seinem Bett. Aber er hätte niemals geahnt, worauf er unterwegs stoßen würde…

(Komplette Neufassung meiner allerersten Apothekerin-Fanfic)

Notes:

Also dann, heute ist der 21. Oktober und hier kommt die besondere Geschichte, die ich euch Lesern für diesen Tag versprochen hab! Ich hab über einen Monat daran gearbeitet!

Heut ist ein besonderer Tag für mich, weil:

- es mein Geburtstag ist

- und ebenso der Tag, an dem ich meine allererste JinMao-Fanfic hochgeladen hab, vor genau einem Jahr (die englische Version zumindest, die deutsche kam einen Tag später)

Und so hab ich mich entschlossen, besagte Fanfic komplett umzuschreiben und mit neuen Ideen und all der Erfahrung zu versetzen, die ich innerhalb des Jahres beim Schreiben gewonnen hab.

Viel Spaß beim Lesen! :)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Ein Gähnen unterdrückend und vor Erschöpfung kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, schleppte Jinshi sich durch die Korridore seiner Residenz zu seinen persönlichen Gemächern und seinem Bett, welches bereits ungeduldig auf ihn wartete. Beinahe schon wie ein wunderschönes Gespenst, das durch die Welt der Sterblichen wandert.

Es war bereits Nacht und das vollkommen stille Gebäude in vollständige Dunkelheit gehüllt, erleuchtet lediglich durch den gedämpften, orangefarbenen Schein der Kerze, die Jinshi in seiner mit Tinte befleckten Hand hielt, um sich den Weg zu weisen. Selbstverständlich kannte er sein eigenes Zuhause in- und auswendig und konnte sich dort auch im Dunkeln wunderbar zurechtfinden, doch er wollte trotzdem kein Risiko eingehen, in seinem müden Zustand über irgendetwas zu stolpern.

Unterwegs rieb er sich die Augen. Seine Lider fühlten sich so schwer an, dass sie sich beinahe schon von allein schlossen. Ein leichter Schauer durchfuhr seinen Körper, als seine Gedanken zu dem Berg an Papierkram abschweiften, der am nächsten Tag schon wieder auf ihn warten würde. Jener Berg schien einfach nicht kleiner zu werden, ganz egal wie sehr Jinshi auch daran schuftete. Es war die reinste Magie.

Der junge Herr seufzte und rieb sich nun eine seiner Schultern, die nach all den Stunden am Schreibtisch ziemlich steif geworden waren. Das war garantiert die allerletzte Art von Magie, die er in seinem Leben nötig hatte...

Erpicht darauf, zumindest die allerwichtigsten Dokumente vor dem Schlafengehen fertigzustellen und trotz seiner Absicht, eigentlich ausnahmsweise mal ein wenig früher Feierabend zu machen, hatte er nach und nach jedes Zeitgefühl verloren und als er wieder zu sich kam, war es draußen bereits stockdunkel geworden. Wunderbar, nicht? Er hatte sich schon wieder überarbeitet und das, obwohl er Maomao doch versprochen hatte, besser auf seine Gesundheit Acht zu geben und genügend zu schlafen. Urgh!

Der junge Adelige nahm die Kerze nun in die linke Hand und beäugte stirnrunzelnd seine rechte, die von all dem Schreiben leicht zitterte. Er konnte den missbilligenden Seufzer der Apothekerin beinahe schon hören, den sie bei seinem Anblick bestimmt von sich gegeben hätte, als habe sie es mit einem störrischen Kind zu tun, bei dem Hopfen und Malz verloren war. Sicherlich begleitet von einem Blick, als sei er eine widerliche Nacktschnecke, die vor ihren Füßen herumkroch und eine Schleimspur hinterließ. Oder ein armseliger Wurm.

Jinshis Wangen färbten sich leicht rot und er räusperte sich, als er sich bei dem Gedanken erwischte, dass er gegen einen solchen Blick eigentlich nichts einzuwenden hätte. Nein, um ehrlich zu sein, freute er sich sogar regelrecht darauf. Ein wenig. Aber nicht, weil er ein Masochist war, das natürlich nicht! Er hatte bloß all die verträumten, verzückten Blicke satt, die ihm all die anderen Frauen (und auch einige Männer), die von seinem Aussehen verzaubert waren, stets zuwarfen. Maomaos Blicke waren in der Hinsicht einfach eine angenehme Abwechslung für ihn.

Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. Ganz recht. Maomao war hier die große Ausnahme... die Einzige, die mehr in ihm sah als bloß ein schönes Gesicht.

Apropos, Maomao... jetzt da er an sie dachte, fiel ihm auf, dass er sie den ganzen Tag lang kaum zu Gesicht bekommen hatte. Eigentlich nur am Morgen, als sie wie immer in seinen Gemächern erschienen war, um ihm einen guten Morgen zu wünschen und von seiner obersten Zofe Suiren die Anweisungen für den Tag entgegenzunehmen.

War sie möglicherweise damit beschäftigt gewesen, Medizin herzustellen oder Kräuter zu sammeln? (Auch wenn er sie ein paar Mal vor sich hingrummeln gehört hatte, dass im Äußeren Palast viel zu wenige Heilkräuter wuchsen, konnte man nie wissen, ob es ihr nicht doch irgendwie gelungen war, welche aufzuspüren).

Oder hatte die gnadenlose Suiren die arme Apothekerin gar unter einer Lawine an Hausarbeit begraben?

„Sie lässt sie manchmal wirklich fast zu Tode schuften, was?", witzelte er und lachte leise, während er um eine Ecke bog.

Doch sobald er dies tat, ließ der Anblick, der sich vor ihm auftat, das Lachen in seiner Kehle ersterben und brachte ihn dazu, die Stirn zu runzeln.

„Was ist das denn?", murmelte er erstaunt.

Einige Meter vor ihm war da etwas auf dem Boden und gegen die Wand gelehnt.

Jinshi blieb für einige Augenblicke zögernd stehen, doch letztendlich gewann seine Neugier und er trat näher heran, um das „Etwas" mit seiner Kerze anzuleuchten und herauszufinden, worum es sich handelte. Doch dabei bemerkte er, dass es kein Etwas, sondern eher ein Jemand war...

Seine Augen öffneten sich so weit wie es seine Lider erlaubten, und er war auf einen Schlag hellwach.

„Maomao!"

Jinshi war dermaßen erschrocken, dass er sie sogar, ohne es zu merken, beim Namen nannte.

Er stürmte auf die Apothekerin zu und ließ sich mit einer solchen Hast neben ihr auf die Knie fallen, dass der plötzliche Windstoß die Kerze flackern und beinahe aus seiner Hand rutschen ließ. Er konnte vor Panik kaum denken und kalter Schweiß lief ihm über das Gesicht.

Die junge Frau saß mit geschlossenen Augen und dem Rücken gegen die Wand auf dem Boden. Ihr Mund war leicht geöffnet.

„M-Maomao... was ist passiert?"

Mit einem riesigen Kloß im Hals streckte der junge Herr eine seiner bebenden Hände in ihre Richtung aus. Der allererste Gedanke, der ihm bei Maomaos Anblick kam, war eine schreckliche Vermutung, eine Angst, die ihn unbewusst seit dem Tag begleitete, als er zum ersten Mal mit angesehen hatte, wie sie Gift konsumierte: die Angst, dass sie eines Tages versehentlich eine tödliche Dosis einnehmen würde. Denn egal wie immun und widerstandsfähig ihr Körper auch sein mochte, Maomao war immer noch ein Mensch und Gift war Gift. Eine größere Menge könnte selbst sie umbringen.

Jinshi schluckte schwer.

Nicht doch! War solch ein Fall... nun etwa tatsächlich eingetreten?

Was nun?! Sollte er sie zum Hofarzt bringen? Oder war es dafür bereits zu spät? Ah, oder vielleicht könnte er sie ja immer noch retten, wenn er sie dazu brachte, das Zeug zu erbrechen!

Der junge Adelige stellte die Kerze (mit der er sich vor lauter Panik beinahe den eigenen Ärmel angesengt hatte) auf den Boden und machte sich bereit, seine Finger in Maomaos Rachen zu stecken.

Aber dann fielen ihm auf einmal die sachten Bewegungen ihres Brustkorbs auf, woraufhin er innehielt und genauer hinsah. Einige Sekunden später stellte er sich schließlich auf alle Viere und hielt vorsichtig das Ohr an ihre Brust. Die regelmäßigen Geräusche, die von innen zu hören waren, ließen seine Knie beinahe weich werden vor Erleichterung.

Maomao atmete und ihr Herz schlug. Die Apothekerin war definitiv am Leben.

Sie befand sich bloß im Tiefschlaf.

Seine Muskeln entspannten sich und er drückte die Stirn an die Wand, womit er sich das ihm ins Gesicht fallende Haar zerzauste. Mit einem tiefen Seufzer und beinahe laut loslachend. Sein Körper zuckte immer noch leicht vom Adrenalin und seine Erleichterung war so überwältigend, dass ihm davon fast schon schwindelig wurde.

„Da hast du dir aber einen tollen Schlafplatz ausgesucht, Apothekerin..."

Er klopfte ihr leicht vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger auf die Nase. Maomao verzog ein wenig das Gesicht, wachte jedoch nicht auf.

Auf dem blanken Boden im Korridor zu schlafen, also wirklich... nur Maomao war zu so etwas imstande. War sie tatsächlich so dermaßen müde gewesen, dass sie es nicht einmal mehr ins Bett geschafft hatte? Aber andererseits war Jinshi auch nicht wirklich übermäßig erstaunt darüber, hatte er sich nämlich bereits mehr oder weniger an ihre untypische Persönlichkeit gewöhnt.

Auch wenn er zugeben musste, dass solch eine Aktion selbst für sie ungewöhnlich war.

„Sie ist doch nicht etwa krank, oder?", dachte er und spürte einen neuen Anflug von Besorgnis in seinem Inneren. Jedoch nicht zu vergleichen mit der blanken Panik von vorhin.

Jinshi nahm neben ihr auf dem Boden Platz und legte die Hand auf ihre Stirn, um ihre Temperatur zu prüfen.

Kein Fieber. Puh.

Hm, aber was war es denn dann? Als er sich wieder beruhigt hatte, warf der junge Herr einen erneuten Blick auf ihr sommersprossiges Gesicht und hob einige Sekunden später eine Augenbraue, als ihm ein neuer Einfall kam.

Könnte es sein... dass sie betrunken war?

Aber dann schüttelte er den Kopf. Nein, nicht einmal Maomao war dreist genug, sich einfach so ohne Erlaubnis an seinen Alkoholvorräten zu bedienen. Na ja, zumindest glaubte er das... Und außerdem besaß er sowieso nicht genug davon, um bei diesem kleinen Trunkenbold eine solche Wirkung hervorzurufen. Er lächelte schwach bei der Erinnerung daran, wie er mal mit ihr zusammen getrunken und sie, ohne mit der Wimper zu zucken oder danach auch nur beim Gehen zu schwanken, ganze sechs Gläser eines kräftigen Schnapses in sich hineingeschüttet hatte, während er selbst bereits beim vierten an seine Grenzen gekommen war.

Er beugte sich leicht in ihre Richtung und schnupperte. Nein, nach Alkohol roch sie nicht. Nur nach Kräutern, so wie immer.

Jinshi umschlang seine Knie und betrachtete die Apothekerin im leicht flackernden Kerzenlicht, sich selbst ebenfalls gegen die Wand lehnend.

War es also doch Überarbeitung? So wie in seinem Fall auch? Sollte er vielleicht mal mit Suiren reden und sie um ein wenig Nachsicht gegenüber Maomao bitten?

Er seufzte leise und seine große Hand streckte sich unbewusst erneut nach ihrem Gesicht aus. Ach, welch Ironie: nachdem sie ihn so viele Male fürs Überarbeiten getadelt hatte, war sie nun selbst vor Erschöpfung zusammengebrochen.

Jinshi beschloss, die Apothekerin am nächsten Tag in seine Gemächer rufen zu lassen und ihr einige Fragen zu stellen.

Und während sich sein Blick und Verstand so langsam in ihren entspannten Gesichtszügen verloren, begann er, mit dem Daumen über ihre Wange zu streicheln, unbewusst zwar, aber immer noch vorsichtig genug, um sie nicht aufzuwecken. Irgendwie kam es ihm ziemlich seltsam vor, sie so berühren zu können, ohne dass sie zusammenzuckte oder ihm einen Blick zuwarf, vor dem einige Palastdamen bestimmt vor Angst kreischend weggerannt wären.

Obwohl ihm zugegebenermaßen aufgefallen war, dass sie sich bereits an seine Gegenwart gewöhnt zu haben schien.

Maomao seufzte leise im Schlaf und bewegte leicht die Hände.

Jinshis Mund krümmte sich zu einem Lächeln. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er sie zum allerersten Mal schlafend sah.

Er blickte sie sanft an.

Wie süß sie doch war...

Nun, um ehrlich zu sein, hatte er sie beinahe von Anfang an süß gefunden, aber jetzt wo sie so friedlich schlief und mal ausnahmsweise nicht die Stirn runzelte, war sie es mehr denn je.

Aber es war trotzdem ein Jammer, dass er bis zum nächsten Morgen warten musste, um ihre wunderschönen Augen wiederzusehen.

Die „himmlische Nymphe" änderte ihre Position und setzte sich im Schneidersitz hin, im Versuch, dabei so leise wie nur möglich zu sein. Jinshis Erschöpfung war wie weggeblasen. Hach, am liebsten wäre er stundenlang so sitzen geblieben und hätte sie einfach nur beim Schlafen beobachtet. Sich wünschend, dass jener Moment niemals enden möge.

Maomao wirkte so klein und verletzlich... dass Jinshi von einem fast schon überwältigenden Verlangen erfasst wurde, sie zu beschützen... auch wenn sie ihm bereits mehrmals bewiesen hatte, dass sie weder empfindlich noch zerbrechlich war. Und besser nicht unterschätzt werden sollte.

Jinshi kratzte sich am Kopf, gedanklich schätzend, wie viele Liter Alkohol wohl in jenes kleine Geschöpf neben ihm hineinpassen mochten, und grinste schließlich bei der Erinnerung an das Kakao-Aphrodisiakum, welches sie mal für ihn hergestellt hatte. Weder er noch die übrigen Anwesenden hatten ihren Ohren trauen können, als sie ihnen vollkommen ruhig und nüchtern erklärt hatte, dass die restliche Schokolade eigentlich ihr Abendessen hätte werden sollen!

Ganz zu schweigen von all den Malen, als sie sich Dinge in den Mund gesteckt hatte, die eigentlich nicht für den menschlichen Verzehr geeignet waren, und nicht nur keinen Schaden davongetragen, sondern es anscheinend sogar noch genossen hatte.

Zuerst hatte der junge Herr gedacht, dass wohl etwas mit ihrem Kopf nicht stimmte, aber dann begriff er, dass es einfach nur ihre Art war.

Eine Art wie keine andere.

Jawohl. Maomao war vollkommen einzigartig, so einzigartig, dass er sich sicher war, sein gesamtes Leben lang keinen anderen solchen Menschen zu finden wie sie. Er vermutete, dass ihr Kennenlernen wohl Schicksal sein musste und obwohl er sich für diesen Gedanken im Grunde leicht schämte, war er irgendwie auch denjenigen dankbar, die sie entführt und in den Inneren Palast gebracht hatten, denn andernfalls hätten sich ihre Wege bestimmt nicht gekreuzt.

Immer noch leicht gedankenverloren die schlafende Apothekerin bewundernd, rückte Jinshi etwas näher zu ihr heran. Wie gern hätte er den Arm um sie gelegt, doch er fürchtete, dass sie davon aufwachen würde, also hielt er sich zurück.

Doch sobald jener Gedanke in seinem Verstand aufblitzte, zuckte der junge Adelige ganz plötzlich zusammen und wäre beinahe aufgesprungen, als er aus heiterem Himmel etwas Warmes an seinem Arm spürte. Mit weit aufgerissenen Augen und roten, glühenden Wangen starrte er Maomao an, deren Körper im Schlaf zur Seite geneigt und deren Kopf nun gegen seinen linken Arm gelehnt war.

Einige Augenblicke lang war er so perplex, dass in seinem Kopf gleichzeitig ein heilloses Durcheinander und eine gähnende Leere herrschten. Es kam ihm so vor, als sei nun er derjenige, der träumte. Langsam streckte er die rechte Hand aus und legte sie vorsichtig auf ihren Kopf.

Nein, Jinshi träumte nicht. Die angenehme Wärme, die von Maomaos Körper ausging, war keinesfalls eine Einbildung.

„Oh, hält sie meinen Arm etwa für ein Kissen?", brachte er kaum hörbar hervor und lächelte erneut.

Und fuhr ihr dann mit den Fingerspitzen sanft durchs Haar.

„Hach, wie weich es ist... Huch?"

Auf einmal ertasteten seine Finger etwas in ihrem Haar und zogen es heraus. Einige kleine Blätter und einen winzigen Zweig. Jinshi hob sich Letzteren vors Gesicht und besah ihn sich stirnrunzelnd.

„Wo hat sie sich jetzt schon wieder herumgetrieben?", murmelte er, als sei Maomao eine Katze, die draußen herumgestreunt und soeben wieder nach Hause zurückgekehrt war. „Also hat sie doch Heilkräuter gefunden, was?" Und so wie er Maomao kannte, war er sicher, dass sie besagten Kräutern zuliebe ohne Zögern in das dreckigste Loch hineingekrabbelt wäre.

Er konnte es im schwachen Kerzenlicht nicht sehr gut erkennen, doch bestimmt war ihre Kleidung gerade auch nicht die sauberste. Jinshi seufzte. Was soll's, das konnte auch bis zum nächsten Tag warten. Schlaf war wichtiger.

„Hast du ein Glück, dass ich derjenige war, der dich gefunden hat, und nicht Suiren..." 

Und während er ihr in Gedanken versunken zusah, richtete sich sein Blick auf einmal auf den eigenen Schoß. Da lag etwas. Der junge Herr hob es neugierig auf.

„Und das sind dann wohl die Kräuter, hinter denen sie her war, nehme ich mal an", schlussfolgerte er mit einem belustigten Schnauben und drehte das Kräuterbündel zwischen seinen Fingern herum, glücklich, dass er vorhin richtig geraten hatte. Tja, nicht dass dies so wahnsinnig schwierig gewesen wäre.

Nicht wirklich wissen wollend, um was für Kräuter es sich da genau handelte, stopfte er sie in Maomaos Ärmel zurück, aus denen sie höchstwahrscheinlich herausgefallen waren, als die Apothekerin sich an ihn gelehnt hatte. Und dann saß er einfach nur lautlos da und sah ihr erneut beim Schlafen zu. Es war ein solch beruhigender, fast schon hypnotisierender Anblick, dass er ihre Augen nicht von ihr abwenden konnte und schon wieder ganz die Zeit vergaß.

Jedoch war dies genau der Moment, auf den seine Erschöpfung gewartet hatte, um sich von hinten an ihn heranzuschleichen und mit voller Wucht anzufallen. Und so schlossen sich daraufhin Jinshis Augen und er begann langsam einzunicken...

...bis sie sich ganz plötzlich wieder öffneten, als er spürte, wie Maomao im Schlaf fröstelte und sich instinktiv etwas enger an seinen Arm schmiegte.

Jinshis Atem stockte für einen Moment. Erst jetzt fiel ihm auf, wie kühl es im Korridor eigentlich war.

„Oh nein, sie friert! Ich muss etwas unternehmen, bevor sie noch krank wird!", fuhr ihm durch den Kopf.

Der junge Herr rückte ein paar Zentimeter von Maomao weg, um sie bei der Taille zu greifen und vom Boden zu heben. Ganz behutsam.

„Komm her, Apothekerin...", murmelte er und setzte sie mit derselben Vorsicht auf seinen Schoß. „Ja, du hast dir da wahrhaftig den besten Schlafplatz ausgesucht, Mensch..."

Maomaos Kopf befand sich nun auf seiner Brust.

Welch enger Kontakt! Jinshi spürte, wie sein Gesicht sich erneut erhitzte und sein Herz schneller zu schlagen begann.

„Mmmh...", kam es von der Apothekerin, woraufhin er den Blick senkte und feststellte, dass sie leicht das Gesicht verzog und sich ein wenig rührte. Als würde sie jeden Moment die Augen öffnen.

Jinshi erstarrte. Könnte es... Könnte es etwa sein, dass sein wie verrückt pochendes Herz ihren Schlaf gestört hatte?

Doch einige Augenblicke später schüttelte er auch schon den Kopf, um wieder zu sich zu kommen, und beugte sich nach unten, während er versuchte, sein aufgeregtes Herz zu beruhigen.

„Psst... bald wird es warm...", flüsterte er zärtlich in Maomaos Ohr hinein. „Schlaf, Apothekerin, schlaf..."

Während er das sagte, rieb er ihr sanft den Rücken und drückte sie eng an sich, sie mit seinen langen Ärmeln zudeckend.

Nach einer Weile gab Maomao schließlich einen leisen Seufzer von sich und entspannte sich wieder, erneut in einen tiefen Schlaf sinkend. Auch ihr Zittern ließ nach.

„Puh..." Jinshi legte ihr erleichtert das Kinn auf den Kopf, während seine eigene Anspannung ebenfalls nachließ. „Das war knapp."

Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie Maomaos Reaktion ausgefallen wäre, wäre sie jetzt aufgewacht und hätte begriffen, wo sie sich befand. Das wäre ganz bestimmt der böse Blick des Jahrhunderts geworden!

Nicht dass Jinshi tatsächlich etwas dagegen gehabt hätte, doch aktuell verspürte er keinen Wunsch, sie unnötig zu reizen. Nicht, wenn sie so dermaßen erschöpft war. Und er ebenso...

Apropos, Erschöpfung...

„So schön es auch ist, sie so im Arm zu halten, werde ich es wohl kaum die ganze Nacht tun können", dachte er bekümmert und mit einem leicht bitteren Gefühl in der Brust. „Sie muss ins Bett... und ich auch... Tja, da kann man nichts machen..."

Jinshi tat einen tiefen Atemzug, schlang seinen Arm vorsichtig um Maomaos Oberkörper, ergriff mit der anderen Hand ihre Knie, hob sie hoch und stand dann selbst auf, im Versuch, dabei keine ruckartigen Bewegungen zu machen. Als Nächstes stand er für einige Sekunden einfach nur da, um sicherzugehen, dass die Apothekerin immer noch fest schlief, und setzte sich schlussendlich in Bewegung, um sie auf ihr Zimmer und ins Bett zu bringen.

Die kleine Kerze, die er nicht hatte mitnehmen können, da er Maomao in beiden Armen trug, begann erneut zu flackern, als sei sie beleidigt darüber, ganz allein auf dem kalten Boden zurückgelassen zu werden.

Doch blieb sie dort nicht lange: sobald Jinshi gegangen war, trat Gaoshun aus einer Ecke hervor und hob sie auf. Er schüttelte mit einem milden Lächeln den Kopf, sich fragend, ob sein Herr wohl Schwierigkeiten haben würde, sich mit Maomao in den Armen in der Dunkelheit zurechtzufinden.

Nein, ganz bestimmt nicht.

Der Assistent war zu Jinshis Schreibstube unterwegs gewesen, um nachzusehen, ob dieser wohl immer noch bei der Arbeit saß, und auf dem Weg im Korridor auf jene friedliche Szene gestoßen. Zuerst hatte er vorgehabt einzuschreiten, sich dann aber doch dazu entschieden, sich zu verstecken und die beiden erstmal nicht zu stören. Was natürlich nicht heißen sollte, dass er seinem Herrn erlauben würde, auf dem Boden zu schlafen...

Mit der Kerze in der Hand hatte er letztendlich denselben Weg eingeschlagen wie Jinshi, der nun bestimmt zu Maomaos Zimmer unterwegs war. Nur für alle Fälle. Sobald er sah, dass der junge Herr wohlbehalten an seinem Ziel angekommen war, würde Gaoshun sich in seine eigenen Gemächer zurückziehen.

***

„Sie ist so dünn und leicht... kein Wunder, dass ihr kalt war..."

Jinshis Aufmerksamkeit war vollständig auf den Weg vor ihm und die schlafende Apothekerin in seinen Armen gerichtet, sodass er nicht merkte, dass sein Assistent ihm durch den Korridor folgte. Und sah auch nicht das schwache Licht der Kerze, die Gaoshun in der Hand hielt, während er einige Dutzend Meter hinter seinem Herrn herging.

Die Schritte des jungen Herrn hallten durch den fast komplett leeren Korridor, welcher in die mondlose Finsternis der Nacht getaucht war. Und Maomao, die immer noch tief und friedlich schlummerte, ließ währenddessen ab und zu leise Seufzer los.

Jinshi fragte sich zwar immer noch, wieso genau sie auf dem Boden eingeschlafen war, doch die Antworten darauf konnten auch bis zum nächsten Tag warten. Wie auch immer, aktuell musste er sie jedenfalls ins Bett bringen, wo sie viel bequemer schlafen und keine Erkältung riskieren würde. Oder am nächsten Morgen mit Rücken- oder Nackenschmerzen aufzuwachen (als jemand, der schon mehrmals an seinem Schreibtisch eingeschlafen war, wollte er ihr solch unangenehme Erfahrungen lieber ersparen).

Und nachdem das erledigt worden wäre, würde er sich zu seinen eigenen Gemächern begeben und endlich selbst ein wenig anständigen Schlaf bekommen, um sich für den nächsten Berg an Papierkram in seiner Schreibstube bereit zu machen (wenn auch gegen seinen Willen).

Er zog bei dem Gedanken eine Grimasse, darauf hoffend, dass diese vermaledeiten Papiere ihn zumindest nicht in seinen Träumen heimsuchen würden.

„Ich würde viel lieber von dir träumen, Apothekerin, in Ordnung?", wisperte er lächelnd.

Und genau in diesem Moment und als hätte sie seine Worte tatsächlich vernommen, begann Maomao leise im Schlaf zu stöhnen. Da seine Augen sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Jinshi außerdem erkennen, wie sie missfallend den Mund verzog.

„Nein? Soll ich nicht?" Sie war so niedlich, dass er unwillkürlich kichern musste, und sein Herz wurde warm wie ein behaglicher Kamin an einem eiskalten Winterabend. „Oh, aber das werde ich."

Maomaos Bein begann nun leicht zu zucken, als wolle sie vor irgendetwas davonlaufen. Er konnte spüren, wie ihr Herzschlag sich ein wenig beschleunigte.

Jinshi erstarrte für einen Moment und wurde wieder ernst. Er spähte zu ihr herab mit leichten Sorgenfalten auf der Stirn. War sie etwa kurz davor aufzuwachen? Nein, sah nicht so aus.

„Was hast du denn, hm? Träumst du von etwas Unangenehmem?"

Etwas Unangenehmem... Tja, hoffentlich war dieses „Etwas" nicht er... Obwohl er im Grunde genommen außer sich vor Freude wäre, wenn sie tatsächlich von ihm träumen würde... wäre es doch schöner, wenn es sich um einen angenehmen Traum gehandelt hätte.

Jinshi gab ein mit Verbitterung durchsetztes Schnauben von sich und hob erneut den Blick. Maomao war wieder still geworden, was ihn annehmen ließ, dass die Quelle ihres Unbehagens verschwunden war.

Da er darauf aufpassen musste, in der Finsternis nicht mit irgendetwas zusammenzustoßen oder zu stolpern, fiel ihm erst nach einiger Zeit auf, dass Maomaos rechte Hand, die auf ihrem Bauch lag, während er sie trug, nun zu einer festen Faust geballt war.

„Also hat sie sehr wohl einen Albtraum!", murmelte er erschrocken, als er es endlich bemerkte und noch mehr Stöhnen von ihr hörte.

Ein verzweifeltes Bedürfnis, jene kleine, leicht zitternde Hand zu ergreifen, überkam ihn aus heiterem Himmel, doch leider ging das nicht, da er im Moment selbst keine freihatte.

Ratlos, was er denn tun könnte, um ihren bösen Traum zu verscheuchen, beschloss er schließlich, ihr Gewicht in seinen Armen ein wenig zu verlagern, so dass er sie enger an sich drücken und ihr Kopf bequemer auf seiner Brust liegen konnte. Und zu seiner Überraschung und Freude schien es wirklich zu klappen, da sich ihre Züge wieder entspannten.

Jinshi lächelte zufrieden. Also war er doch in der Lage, eine positive Wirkung auf sie zu haben. Jener Gedanke schenkte ihm Hoffnung. Hoffnung für die Zukunft.

Hoffnung, dass er eines Tages ein Lächeln auf ihrem Gesicht sehen würde, das ihm gewidmet war. Nicht ihren Kräutern, nicht irgendwelchen anderen Heilmitteln und auch keinem Alkohol. Sondern ihm.

Obwohl sie ihn eigentlich schon einmal angelächelt hatte (was, ihrer späteren Erklärung zufolge, ein Versehen gewesen war), ihn damit so verblüffend, dass er nicht anders konnte als mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen. Es war damals einfach zu viel für ihn gewesen.

Aber falls es nochmal geschehen sollte, würde er sich nicht mehr so peinlich aufführen. Oh nein! Er würde auf jeden Fall bereit dafür sein.

Zumindest hoffte er das.

Sich in all jenen Gedanken verlierend, erreichte er endlich ihr Zimmer (glücklicherweise unversehrt und in einem Stück) und betrat es, mit dem Ellenbogen die Tür aufschiebend.

Als Gaoshun dies sah, hörte er auf, ihm zu folgen, stand noch ein paar Sekunden da und machte schließlich kehrt. Sein Herr würde nun zweifellos ohne ihn zurechtkommen.

Eine kleine Kerze brannte auf Maomaos Tisch, auf dem sich seltsame Papiere und jede Menge Zeug stapelten, welches Jinshi nicht identifizieren konnte. Besser nicht daran denken. Solange es nichts Gefährliches war, kümmerte es ihn eigentlich sowieso nicht sonderlich, was Maomao in ihrem Zimmer aufbewahrte.

Er begab sich direkt zum Bett und legte Maomao behutsam darauf. Dann zog er ihr die Schuhe aus und nahm vorsichtig die Decke unter ihr weg, um sie damit zuzudecken. Falls Schmutz von ihrer Kleidung auf die Bettwäsche gelangen sollte, dann war es eben so, immerhin konnte er sie ja nicht einfach so ausziehen während sie schlief.

Jinshi schluckte und fühlte, wie sein Gesicht vom bloßen Gedanken heiß wurde. Er schüttelte den Kopf, um sich wieder zu beruhigen. Nein, das kam definitiv nicht in Frage!

„Keine Sorge, ich tu's nicht...", murmelte er in die stille Nacht hinein und beugte sich nach unten, um ihr liebevoll über die Wange und ein paar ihrer Haarsträhnen hinters Ohr zu streichen. „Ich... tu's nicht..."

Sie rührte sich etwas im Schlaf, doch wirkte vollkommen entspannt.

Der junge Herr atmete die Luft aus, die er angehalten hatte. Also gut, seine Mission war somit erfüllt. Jetzt konnte sie in aller Ruhe in ihrem warmen Bett schlafen und für ihn war es nun an der Zeit zu gehen, richtig?

Vollkommen richtig, doch aus irgendeinem Grund tat er es nicht.

Oder anders gesagt: er wollte es nicht.

Stattdessen setzte er sich zu ihr auf das Bett und fing an, sie erneut zu beobachten, so wie vorhin im Korridor. Ohne zu begreifen, was er da eigentlich tat, und mal wieder seine eigene Erschöpfung vergessend.

Wenn das so weiterging, würde er in jener Nacht wohl überhaupt keinen Schlaf mehr bekommen und dann am nächsten Tag an seinem Schreibtisch einnicken... Aber er konnte einfach nicht anders.

Jinshi bewegte sich nicht und gab auch keine Geräusche von sich. Wie eine lebende, atmende Statue saß er einfach nur da und sah Maomao beim Schlafen zu, die Hände auf dem Schoß.

Und während die Minuten vergingen, begann ein absurder, jedoch unerträglich intensiver Gedanke sich in seinem Verstand zu bilden:

Es war der Wunsch, sich neben ihr auf dieses Bett zu legen und mit ihr in den Armen einzuschlafen. Einfach so. Alles zu vergessen. Ihren Status, ihre Positionen, alles und jeden um ihn herum. Zumindest für diese eine Nacht.

Jinshis Herz schlug schneller.

Ja, sie waren ein Adeliger und seine Zofe... na und? Jinshi scherte sich nicht wirklich um all diese Dinge, das hatte er nie getan. Zugegeben, er war ziemlich froh, dass Maomao ihren Platz kannte, da es ihr (wenigstens ein wenig) Ärger ersparte, aber zumindest für eine Nacht wollte er sich das Schloss des goldenen Käfigs schnappen, in dem er seit seiner Geburt gefangen war, und es mit seinen eigenen Fingern zerquetschen. Sich befreien und mit Maomao zusammen sein.

Jener Wunsch war so stark, so greifbar, dass er unbewusst die Hand hob und sie in die Richtung der Apothekerin ausstreckte. Sie war ganz nah. Noch ein bisschen, nur noch ein paar kleine Bewegungen und sein Wunsch würde in Erfüllung gehen.

Er musste bloß die Decke anheben und sich hinlegen. Mehr nicht.

Seine Brust fühlte sich so eng an, als sei da nicht genug Platz für sein wild pochendes Herz. Ein Herz, das sich nach der jungen Frau sehnte, die gleich neben ihm lag und schlief.

Doch dann senkte sich seine Hand, als er wieder zu sich kam.

Nein.

Jinshi würde es nicht tun, denn was würde sie sonst von ihm denken? Er wollte weder dass sie ihn für einen Perversen hielt noch im Schlaf von ihr ermordet werden (auch wenn es seiner Meinung nach keine schönere Art geben konnte, aus dem Leben zu scheiden).

Aber einfach so aufzustehen und zu gehen, als ob überhaupt nichts geschehen wäre, als ob er nie dort gewesen war, fühlte sich auch nicht ganz richtig an. Der junge Adelige seufzte. Obwohl Maomao gleich dort war und ihm selben Bett lag, auf dem er gerade saß, so nah, dass er sogar ihre Bewegungen unter der Decke spürte und beinahe ihre Körperwärme wahrnehmen konnte, so nah, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren... könnte sich zwischen ihnen genauso gut eine dicke Glaswand befinden. Eine, die er nicht durchbrechen könnte, egal wie sehr er es auch versuchte.

Eine Barriere war das. Eine unsichtbare Barriere.

Und während er sich weiterhin ihre schlafende Gestalt besah, wurde Jinshis Gesicht auf einen Schlag von einem Schatten aus Traurigkeit verdunkelt. Er wusste ganz genau, dass auch wenn Maomao nicht mehr vor ihm zusammenzuckte, sie ihn lediglich tolerierte und eigentlich überhaupt nicht mochte... Ja, er wusste es, denn er war ja nicht blind, aber... trotzdem konnte er nicht anders, als ständig zu versuchen, ihr näher zu kommen, auch wenn ihm bewusst war, dass er da mit Feuer spielte und das Risiko einging, tatsächlich von ihr gehasst zu werden. So wie vorhin, als er sie im Korridor auf dem Schoß gehalten hatte. Gut, dass sie da nicht aufgewacht war…

Ja, denn obwohl er von ihrer Haltung fasziniert war und ihre bösen Blicke genoss, würde er es nicht ertragen, ernsthaft von ihr verabscheut zu werden. Dies wäre für ihn der reinste Albtraum.

Nie im Leben hatte er bisher ein solches Interesse, eine solche Zuneigung zu jemandem empfunden. Sich noch nie so sicher und so glücklich in der Gegenwart eines anderen Menschen gefühlt...

Doch gleichzeitig auch nie so hilflos. Denn seine größte Waffe, sein außerordentlich schönes Aussehen, war in diesem Fall vollkommen nutzlos. Und was würde ohne jene Fassade überhaupt von ihm übrigbleiben?

Nichts.

Jinshi atmete zittrig ein. Er würde mit Freude sein Leben für sie geben... doch die Verbitterung und die grausame Kälte in seinem Inneren, welche sein Herz umschlossen, wisperten ihm zu, dass sie es höchstwahrscheinlich gar nicht haben wollte.

Er seufzte erneut und rückte ein wenig näher zu ihr heran. Dann schüttelte er den Kopf.

Nein. Genug mit diesen traurigen Gedanken. Sie kannten einander lediglich erst einige Monate lang und keiner wusste, was die Zukunft bringen würde. Vorhin hatte er selbst gesehen, dass er sehr wohl in der Lage war, ihr Wärme und Trost zu schenken, also gab es für ihn keinen Grund, sich so niedergeschlagen zu fühlen. Er musste positiv denken.

Jetzt im Bett konnte er sie nicht umarmen. Na und? Dann würde er es eben gleich am nächsten Morgen tun, wenn sie in seinen Gemächern auftauchte. So fest er konnte. Und als Nächstes würde er sie zu einem kleinen Gespräch einladen, um herauszufinden, was sie denn angestellt hatte, um auf dem Boden einzuschlafen.

Jener Plan brachte ihm sein Lächeln zurück.

„Dann bis morgen, Apothekerin", flüsterte er und strich sanft mit dem Zeigefinger über ihre Hand, nach der er vorhin greifen wollte und die nun neben ihrem Kopf auf dem Kissen lag. „Schlaf gut."

Danach stand Jinshi auf, betrachtete die Apothekerin für einige Augenblicke und wurde daraufhin von einem plötzlichen Impuls erfasst, der ihn dazu brachte, sich zu ihr zu beugen und einen liebevollen Kuss auf ihre linke Wange zu drücken.

Doch sobald seine Lippen sich von ihrer Haut lösten, begann sie sich auf einmal, im Bett herumzuwälzen und hätte beinahe die Decke von sich getreten.

Jinshis Augen weiteten sich vor Schock. Er richtete sich auf der Stelle erschrocken auf. Oh nein, hatte sie da etwa schon wieder einen Albtraum?

Nach einigen Sekunden des Überlegens setzte er sich zurück aufs Bett und begann, ihr durchs Haar zu streicheln, ratlos, was er sonst tun sollte. Wie könnte er sie jetzt bloß allein lassen? Ganz recht: gar nicht.

„Psst... alles ist gut..."

Und dann fing sie plötzlich an, im Schlaf zu wimmern und zu sprechen. In einem dünnen, flehenden, vollkommen für sie untypischen Tonfall. Und was sie sagte, ließ Jinshi so heftig erstarren, dass sein Herz beinahe stehengeblieben und ihm das Blut in den Adern gefroren wäre.

„Eure Exzellenz Jinshi... nein! Nicht! Bitte nicht! Ich flehe Euch an!"

Jinshi starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Seine Brust hob und senkte sich kaum merklich, als ob er langsam vergaß, wie man atmete, und seine Hand hörte mit dem liebevollen Streicheln auf und schnellte hoch, als habe er sich gerade verbrannt.

„Sie...", murmelte er vollkommen entsetzt, als er endlich seine Stimme wiedergefunden hatte. „Sie träumt davon, wie ich... wie ich..."

„Nein! Nicht!"

Außerstande, jene verzweifelten Schreie noch länger zu ertragen, sprang er vom Bett auf und rannte Hals über Kopf aus dem Zimmer, dabei in der Dunkelheit beinahe mit dem Tisch zusammenstoßend und über seine eigenen Füße stolpernd.

Leider gerade rechtzeitig, um ihre darauffolgenden Worte zu verpassen...

„Bitte... haltet mich nicht davon ab, dieses Gift zu kosten! Es ist nicht tödlich... ich schwöre..."

***

Komplett außer Atem erreichte Jinshi seine Gemächer, streifte seine Schuhe unterwegs mit so einer Wucht ab, dass er sie beinahe in eine Ecke schleuderte, und ließ sich auf sein Bett fallen, sich unter der Decke zusammenrollend, bis lediglich seine mit Panik erfüllten Augen mit den verengten Pupillen zu sehen waren. Ohne sich auch nur umzuziehen.

Nun hatte er sich in ein armseliges, zitterndes Bündel verwandelt, ganz wie ein Kind, das Angst vor einem Gewitter hatte.

Der Schock von vorhin saß so tief, dass er kaum klar denken konnte.

„Sie hatte... einen... A-Alptraum von m-mir! Wie i-ich ihr... etwas antue!" Seine Stimme wurde von der Bettdecke gedämpft. „Sie hat Angst vor mir!"

Jene Worte laut auszusprechen war noch fürchterlicher als sie zu denken. Der junge Herr drehte sich auf den Bauch und deckte seinen Kopf auf, sein nun komplett zerzaustes langes Haar offenbarend. Das Flehen der Apothekerin hallte immer noch in seinen Ohren wider.

„Sie hat Angst vor mir!", wiederholte er japsend und hielt die Decke so fest in seinen Händen, dass er sie auseinanderzureißen drohte. „Aber... sie hat es nie gezeigt! H-Hat sie es wirklich so gut verborgen? A-Aber warum? Was habe ich getan!? H-Habe ich... habe ich echt etwas getan, was sie dazu gebracht hat, mich zu fürchten? Oh nein, das habe ich! Der Honig! D-Der Vorfall mit dem Honig! Aber... das wollte ich doch gar nicht! Das war bloß ein Scherz! Wie dämlich war ich bitte!?"

In seiner blanken Panik hatte er ganz vergessen, dass es Maomaos Entscheidung gewesen war, sich von ihm aus dem Freudenhaus freikaufen zu lassen und seine persönliche Bedienstete zu werden, also würde sie wohl kaum Angst vor ihm haben, selbst nach seiner dummen Aktion mit dem Honig. Aber im Moment herrschte in seinem Verstand ein einziges Durcheinander.

Man musste wohl kaum erwähnen, dass er in jener Nacht kein Auge zutat.

***

Für Maomao dagegen verlief die Nacht in vollkommener Ruhe, nachdem sie sich von ihrem bösen Traum erholt hatte.

Als der Morgen anbrach, drang die Sonne durch das Fenster in das Zimmer der Apothekerin ein und schien ihr direkt ins Gesicht, den Beginn eines neuen Tages ankündigend. Von dem hellen Licht gestört, begann Maomao sich zu rühren und grummelte leise, langsam die Augen aufschlagend und reibend.

Sie brauchte eine Weile, um zu sich zu kommen, während sie verschlafen an die Decke starrte. Es war immer noch ziemlich früh, nahm sie an, also sollte sie vielleicht noch ein wenig schlafen.

Ja... gute Idee.

Demnach gähnte Maomao, drehte sich auf die Seite, weg von der nervigen Sonne, und schloss erneut die Augen. Doch als sie bereits kurz davor war, nochmal einzuschlafen, öffnete sie auf einmal wieder die Augen und setzte sich abrupt auf, leicht verwirrt an sich hinabblickend. Wieso war sie denn vollständig angezogen? War sie letzte Nacht etwa wirklich so müde gewesen, dass sie sich vor dem Schlafengehen nicht einmal umgezogen hatte?

Und sogar darauf verzichtet hatte, sich die Hände zu waschen?

Mit gerunzelter Stirn besah sich Maomao den Schmutz auf ihren Handflächen und die Grasflecken auf ihrer Kleidung.

Ihre blauen Augen verdunkelten sich. Moment mal... eigentlich erinnerte sie sich nicht daran, überhaupt ins Bett gegangen zu sein...

Ein heftiger, eiskalter Schauer lief ihr über das Rückgrat, als ihre empfindliche Nase einen gewissen Geruch wahrnahm, der immer noch vage in der Luft ihres Zimmers hing. Einen, der ihr bereits ziemlich vertraut war... Sandelholz.

„Er war kürzlich hier", murmelte Maomao und setzte einen Gesichtsausdruck auf, der einige Palastdamen zum Kreischen gebracht hätte, als sie sich verschwommen an einen recht unangenehmen Traum erinnerte, von dem sie nachts geplagt worden war. Aber dann schnaubte sie bloß, entspannte sich, legte sich wieder hin und zog sich die Decke über den Kopf, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen.

„Ständig muss er mir in die Quere kommen... Ich weiß ganz genau, wo meine Grenzen liegen, und würde nie mehr Gift konsumieren, als gut für mich ist, vielen Dank aber auch! Wer würde es besser wissen als ich?"

Ja, ganz genau, das war tatsächlich das Einzige, worüber die Apothekerin derzeit genervt war. Die Tatsache, dass Jinshi darauf bestand, sie selbst in ihren Träumen von Gift fernzuhalten.

Mehr nicht. Ihr kam es nicht einmal in den Sinn, dass der junge Adelige ihr im Schlaf etwas angetan haben könnte. Jinshi war einfach nicht der Typ, der sich an einer schlafenden oder bewusstlosen Frau vergehen würde. Außerdem war er ja ein Eunuch, nicht? Und obwohl er ziemlich aufdringlich und anhänglich war... und sich von Zeit zu Zeit wie ein verhätscheltes Kind aufführte... hatte Maomao bereits vor geraumer Zeit begriffen, dass er überhaupt kein schlechter Mensch war.

Sie seufzte.

„Ich vermute mal, ich bin tatsächlich einschlafen und er hat mich gefunden und ins Bett gebracht. Was wohl bedeutet, dass ich später Ärger bekomme."

Maomao konnte seine Standpauke fast schon hören und verzog das Gesicht. Tja... würde ja nicht das erste Mal sein. Wie lästig... aber da musste sie eben durch.

Daraufhin erinnerte sie sich, was sie letzten Abend und in der Nacht gemacht hatte, und ihr Gesicht leuchtete plötzlich auf, als sie eines der Blätter, die sie draußen gepflückt hatte, aus ihrem Ärmel herauszog und es mit einem breiten Grinsen im Gesicht bewunderte. Es zwischen Daumen und Zeigefinger nehmend und hochhaltend, während sie die Decke von ihrem Kopf zog.

„Hehe! Aber das war es absolut wert!"

Ihre Gedanken schweiften ab, als sie sich an das Geschehene erinnerte:

Nachdem sie am vergangenen Tag mehrere Stunden lang verschiedene, von der strengen und emsigen Suiren aufgetragene Putzaufträge ausgeführt hatte, konnte Maomao vor lauter Polieren und Bodenschrubben kaum noch ihre Finger spüren. Aber es war nun einmal ihr Job als Dienerin und da sie von Natur aus fleißig war, sah die Apothekerin keinen Grund, darüber zu klagen. Schließlich wurde ihr nach dem Abendessen endlich etwas freie Zeit gewährt und sie kehrte auf ihr Zimmer zurück, wo sie sich auf die Herstellung von Erkältungsmedizin konzentriert hatte (schließlich würde schon bald die Erkältungssaison beginnen und da musste sie vorbereitet sein - eine Angewohnheit aus der Zeit, als sie in der Apotheke ihres Vaters ausgeholfen hatte). Als diese fertig war, streckte Maomao ihre müden Gliedmaßen aus und blickte aus dem Fenster zum klaren Nachthimmel hinauf, erschöpft aber glücklich, während sie den aromatischen Kräuterduft genoss, der noch in der Luft hing.

Die Apothekerin hatte keine Ahnung, wieso, aber beim Anblick jenes Himmels regte sich in ihr der Wunsch, draußen einen kleinen Spaziergang zu machen, bevor sie sich schlafen legte. Nur ganz kurz, ein paar Minuten. Und so war sie aufgestanden und hatte ihr Zimmer verlassen.

Jedoch war aus diesen paar Minuten schnell über eine Stunde geworden... dank der Heilkräuter, die sie unerwarteterweise draußen dank ihrer Nase aufgespürt hatte. Diese wuchsen zwischen zwei großen Büschen. Ohne Nachzudenken stellte sich Maomao daraufhin prompt auf alle Viere und krabbelte in jene Büsche hinein. Ihre Augen strahlten so hell vor Freude, dass sie beinahe schon in der Dunkelheit leuchteten, ganz wie die einer Katze.

Und naja... als sie wieder zu sich gekommen war, war es bereits mitten in der Nacht gewesen... Schmutzig und noch erschöpfter, aber auch noch glücklicher als zuvor, hatte sie sich mit ihren kostbaren, frisch gepflückten Kräutern im Ärmel zurück zu Jinshis Residenz geschleppt, mit dem Vorhaben, sich zumindest die Hände zu waschen, sich umzuziehen und ins Bett zu gehen.

Jedoch... hatte sie ihre Erschöpfung gründlich unterschätzt. Noch bevor Maomao begriff, was sie da tat, saß sie bereits im Korridor auf dem Boden. Na gut, dann eben fünf Minuten und sie würde sich wieder erheben...

Oder zumindest hatte sie das damals mit ihrem vor Müdigkeit vernebelten Verstand gedacht...

Was danach kam, wusste sie nicht mehr, und nun war sie im eigenen Zimmer aufgewacht.

Sie konnte es immer noch nicht so recht fassen, dass sie dort auf dem Boden einfach so eingeschlafen war, aber...

Die Apothekerin blinzelte einige Male und setzte sich dann erneut auf. Die Sonne schien ihr weiterhin gnadenlos ins Gesicht.

...Wie auch immer. Es war nun an der Zeit, endlich aufzustehen, sich zu waschen und saubere Kleidung anzuziehen. Ein neuer Tag war angebrochen.

***

„Also gut, dann wollen wir mal..."

Mit einem tiefen Seufzer und sich auf den unausweichlichen Tadel einstellend, öffnete die nun saubere und vorzeigbare Maomao die Tür zu Jinshis Gemächern und trat ein, sich auf der Stelle mit in den Ärmeln verborgenen Händen verbeugend.

„Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Eure Exzellenz."

„Dir auch einen schönen guten Morgen, Apothekerin."

Sobald Maomao die Stimme des jungen Adeligen vernahm, konnte sie nicht anders als vor leichter Verwunderung die Stirn zu runzeln. Sie richtete sich wieder auf. Er hatte irgendwie angespannt geklungen... nein, sogar gequält, als hätte er kürzlich eine schlimme Neuigkeit erfahren. Es war ganz bestimmt nicht der sonst fröhliche Tonfall, mit dem er sprach, wenn er sie am Morgen erblickte.

Sie sah auf und die Falte zwischen ihren Augenbrauen wurde noch tiefer.

Jinshi saß in seiner Schlafbekleidung da und nahm von Suiren eine Schale mit Reisbrei entgegen. Gaoshun war noch nicht da, also befanden sie sich aktuell nur zu dritt im Raum. Nichts Ungewöhnliches. Alles wirkte normal, mochte man meinen...

...wenn das Aussehen des schönen jungen Herrn nicht gewesen wäre.

Nun, Maomao war es leider Gottes ziemlich gewohnt, ihn überarbeitet und unausgeschlafen zu sehen, doch diesmal war es mehr als das: dunkle Ringe zierten seine violetten Augen, welche von einem Kummer erfüllt waren, den die dünnen, zusammengezogenen Augenbrauen nur noch betonten. Selbst sein prächtiges langes Haar schien seinen Glanz verloren zu haben. Es war beinahe so, als würde eine Wolke über Jinshis Kopf hängen und ihn von Kopf bis Fuß mit kaltem Regen durchnässen.

„Was ist denn mit dem los?"

„Seid Ihr in Ordnung, Herr?", wagte sie es nach einer Weile in einem skeptischen Tonfall nachzufragen und damit die, zugegeben, unangenehme und seltsame Stille im Raum zu brechen.

„W-Was meinst du denn? Aber sicher, ich fühle mich großartig", antwortete er... warf ihr einen Blick zu, den sie nicht wirklich entziffern konnte, und drehte den Kopf umgehend zur Seite, als er ihren eigenen, stechenden Blick bemerkte.

„Ja, klar doch", dachte sie. Ihr war weder die leichte Nervosität in seiner Stimme entgangen noch die Tatsache, dass seine Augen sich angesichts ihrer Frage etwas geweitet hatten.

Etwas stimmte ganz und gar nicht. Doch es war ja nicht so, als ob Maomao ihn einfach zum Reden zwingen konnte, wenn er nicht wollte.

***

„Er hat den Vorfall mit keinem Wort erwähnt", grübelte die Apothekerin etwas später, als sie beim eigenen Frühstück saß, legte den Löffel hin und stützte immer noch stirnrunzelnd ihre Wange auf die Handfläche.

Nach einer Weile nahm sie ihren Löffel wieder auf und aß einen weiteren Bissen, nachdenklich kauend und aus dem Fenster hinaussehend.

„Vielleicht war er's ja doch nicht. Derjenige, der mich ins Bett getragen hat, meine ich." Doch dann schüttelte sie den Kopf, sich an den Duft nach Sandelholz in ihrem Zimmer erinnernd und auch auf ihr Bauchgefühl hörend, welches sie bisher noch nie getrogen hatte. „Nein, das war er. Da bin ich mir sicher..."

Maomao seufzte und hob die Hand zum Kinn, tief in Gedanken versunken. Doch egal wie sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, ihr fiel einfach keine Antwort, keine Erklärung für sein seltsames Verhalten ein.

„Xiaomao! Bist du fertig?"

Maomao sprang beinahe auf, als sie Suirens Stimme hörte.

„Einen Moment bitte, Dame Suiren!"

„Tja, ist ja nicht das erste Mal, dass ich den Kerl nicht verstehe. Und selbst wenn etwas passiert wäre, geht es mich überhaupt nichts an. Wenn er so tun will, als sei alles in Ordnung, dann soll er doch", dachte sie, rasch ihre Mahlzeit beendend. „So wie ich ihn kenne, wird er schon bald wieder ganz der Alte sein. Ich glaube nicht, dass es noch lange so weitergehen wird."

***

Oh, aber es ging so weiter. Und wie es das tat.

Den ganzen Tag lang hielt Jinshi nicht nur Abstand zu Maomao und sprach mit ihr nur, wenn es absolut notwendig war, sondern sah sie kaum noch an. Und was das Erstaunlichste war: er hatte sie seit dem Morgen noch kein einziges Mal berührt. Kein Tätscheln des Kopfes, kein Hand-auf-die-Schulter-Legen, keine Umarmungen. Gar nichts.

Stattdessen drehte er sich umgehend weg oder verschwand, sobald er sie erblickte. Mit anderen Worten: er tat alles Mögliche, um der Apothekerin aus dem Weg zu gehen.

Maomao verstand die Welt nicht mehr.

„Was könnte bitteschön vorgefallen sein? Was habe ich ihm getan, hm? Gestern war doch noch alles so wie immer!", schimpfte sie genervt in Gedanken, während sie in seiner Schreibstube putzte. Allein, denn der junge Herr hatte auf der Stelle das Weite gesucht, sobald sie gekommen war. Als ob ihm plötzlich eingefallen sei, dass er woanders etwas ganz Dringendes erledigen musste. „Keine Ahnung, was im Kopf des Kerls vorgeht! Was zur Hölle stimmt heute mit ihm nicht?"

Sie hielt für einen Moment inne und besah sich stirnrunzelnd den Lappen in ihrer Hand. Dann gab sie einen Laut von sich, der an das Fauchen einer Katze erinnerte.

„Und was zur Hölle stimmt mit mir nicht? Warum mache ich mir überhaupt solche Gedanken? Er hat bestimmt bloß einen schlechten Tag, mehr nicht! Das geht mich nichts an! Da klebt er mal ausnahmsweise nicht an mir und statt mich darüber zu freuen, spinne ich mir hier irgendwelche Theorien zusammen. Mensch!"

Je länger Maomao darüber nachdachte, desto mürrischer und gereizter wurde sie.

Genau! War das nicht etwa das, was sie von Anfang an gewollt hatte? War es nicht das?

Die Apothekerin schnaubte laut und putzte weiter.

Das konnte doch nicht wahr sein, absolut unfassbar... der Typ ging ihr ja sogar auf die Nerven, wenn er ihr NICHT auf die Nerven ging!

Vielleicht sollte sie mal ein wenig Abführmittel in seine nächste Mahlzeit tun... Aber andererseits, nein, besser nicht. Lieber keine unnötigen Schwierigkeiten.

Maomao wrang den Lappen über dem neben ihr stehenden Eimer aus und starrte für einige Augenblicke zu Boden, sich Jinshis nicht gerade gesundes Aussehen ins Gedächtnis rufend.

„Oder vielleicht… hat es ja gar nichts mit mir zu tun… Er ist doch nicht etwa krank, oder?”

Ihre Gesichtszüge wurden etwas weicher, während sie sich wieder aufrichtete, den Eimer vom Boden aufhebend. Wenn es wirklich das war, dann war es ihre Pflicht nicht als seine Dienerin, sondern als Apothekerin, ihn zu behandeln.

„Jedenfalls muss ich mir seine Exzellenz später genauer ansehen.”

Und mit jenem Entschluss verließ sie schließlich den Raum.

***

Sobald Maomao den Lappen und den Eimer an ihren Platz zurückgestellt und sich die Hände gewaschen hatte, machte sie sich gleich auf den Weg zu ihrer nächsten Aufgabe: die trockene Wäsche von draußen hereinzubringen. Immer noch mies gelaunt und mit einem leeren Korb auf dem Rücken.

Und abends, nach der Arbeit, würde sie sich auf die Suche nach Jinshi machen, denn die Apothekerin spürte bereits, dass sie sonst nicht in der Lage sein würde, nachts ruhig zu schlafen. Was sie ungemein nervte. Sie hegte eben keinerlei Wunsch, sich die ganze Nacht im Bett herumzuwälzen und über Jinshis Verhalten nachzugrübeln.

„Hah, wie lästig…”, grummelte sie vor sich hin, während sie mit finsterem Blick den Korridor entlangschritt. Die Wärme der Sonne spürend, welche hoch am Himmel stand und kleine Staubteilchen in der Luft tanzen ließ.

Plötzlich nahm sie wahr, wie sich einige Meter hinter ihr leise knarrend eine Tür öffnete. Was nicht allzu ungewöhnlich war, jedoch befahl Maomaos Intuition ihr auf der Stelle anzuhalten und sich umzudrehen. Was sie auch tat…

…nur, um Zeugin zu werden, wie ein gewisser junger Herr in den Korridor hinaustrat mit ein paar Dokumenten in den Händen, die er las oder, genauer gesagt, zu lesen versuchte, da er so wirkte, als seien seine Gedanken gerade ganz woanders. Mal ganz zu schweigen davon, dass er so elend und ausgezehrt aussah, als ob er jeden Moment zusammenbrechen würde. 

„Wenn man vom Teufel spricht”, dachte Maomao, verengte die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Sie spannte sich an, beinahe wie eine Katze, welche eine Maus gesichtet hatte und sich bereit machte, sie anzufallen. „Urgh, er sieht ja noch schlimmer aus als heute Morgen… gut, dann eben Planänderung. Das kann auf keinen Fall bis zum Abend warten.”

„Eure Exzellenz!"

Als Jinshi ihre Stimme hörte, drehte er den Kopf in ihre Richtung und seine Augen wurden groß wie Untertassen. Alle Farbe wich aus seinem auch so schon bleichen Gesicht, was es so aussehen ließ wie feinstes Porzellan. Er erstarrte auf der Stelle.

„Verzeih, Apothekerin, Gaoshun wartet auf mich!”, meinte er hastig und wollte davoneilen, als sich seine Starre löste.

Allerdings…

„Oh nein, hiergeblieben!”, knurrte Maomao leise zwischen zusammengebissenen Zähnen und lief los.

Und es gelang ihr tatsächlich, ihren geschwächten Arbeitgeber einzuholen, bevor er abhauen konnte, und aufzuhalten, indem sie ihre Hände links und rechts von ihm gegen die Wand stemmte und ihm somit jeden möglichen Fluchtweg abschnitt. Jinshi entfuhr ein Geräusch, welches an ein ersticktes Kreischen erinnerte, einen Schrei, der ihm im Halse steckengeblieben war, während er sich an die Wand drückte und auf die Apothekerin herabstarrte, vollkommen verblüfft und geschockt.

Sie standen sich nun so nahe, dass Maomao fast schon seine Taille umschlang und seinen keuchenden Atem und wilden Herzschlag wahrnahm. Sein vertrauter Duft stieg ihr in die Nase.

Oh, welch komischer Anblick: ein Mann wie Jinshi, der als „himmlische Nymphe” bekannt und geschätzt war, mit einer solchen Leichtigkeit gefangen von einer kleinen, zierlichen Frau wie Maomao, die ihm kaum bis zu den Schultern reichte. Jedoch war keinem von beiden zum Lachen zumute. Verständlich.

„Nein, hier stimmt etwas ganz und gar nicht”, dachte Maomao, ihn mit dem Blick durchbohrend. „Was sollte die Reaktion denn bitte!?”

Die Apothekerin war sich genau bewusst, dass ihr Verhalten einer Dienerin höchst unangemessen war, doch sie scherte sich nicht darum. Sie musste unbedingt herausfinden, was Sache war, da gab es kein Drumherum. Sollte sie später dafür bestraft werden, dann würde sie keine Einwände haben. Und außerdem könnte Jinshi sie ja einfach wegstoßen, wenn er wirklich weglaufen wollte, schließlich war er trotz seines Zustandes immer noch deutlich stärker als sie. Tat er aber nicht...

Stattdessen begann der junge Adelige, die Wand hinabzurutschen und zu Boden zu sinken, als ob seine Beine nicht mehr die Kraft hätten, ihn zu tragen. Wie eine Marionette, deren Fäden durchgeschnitten worden waren. Die Dokumente fielen ihm aus der Hand und sein Körper zitterte unkontrolliert.

Die erstaunte Maomao nahm rasch die Hände von der Wand und sprang instinktiv weg, bevor sie mitgezogen werden und ebenfalls stürzen konnte. Sie trat ein paar Schritte zurück. Nun, das kam wahrhaftig unerwartet. Doch nach einigen Momenten fasste sie sich wieder. Also gut. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihn zu bitten, mit ihr zu seinem Gemächern zu gehen oder irgendwo anders hin, wo er sich hinsetzen konnte, damit sie ihn untersuchte. Doch da er bereits saß, konnte sie sich die Mühe sparen.

„A-Apothekerin...", stammelte er und warf ihr einen solch tieftraurigen Blick zu, dass ihr für eine Sekunde der Atem stockte. Doch zumindest versuchte er nicht mehr zu fliehen.

Sie konnte ihr Spiegelbild in seinen Augen sehen.

„Bitte beruhigt Euch, Herr." Die Apothekerin versuchte, so sanft zu klingen wie sie konnte, und trat wieder näher an ihn heran. Jinshi starrte nun Richtung Boden und atmete tatsächlich ein wenig ruhiger. Bestimmt war er wieder zu sich gekommen und hatte begriffen, wie absurd er sich gerade eben aufgeführt hatte.

Jedoch spürte Maomao, wie er zusammenzuckte, als sie die Hand auf seine Stirn legte.

„Apothekerin!?"

„Hm, Fieber scheint Ihr nicht zu haben. Aber was kann es denn dann sein?"

Jinshis Gesicht lief knallrot an und begann zu glühen, als er sie erneut ansah, sich auf die Unterlippe beißend.

„Ah, nein, wartet. Ein bisschen zu warm seid Ihr doch."

Die Apothekerin strich beiläufig ein paar seiner Haarsträhnen zur Seite, während sie ihm sorgfältig die Stirn befühlte.

Der junge Herr war so perplex, dass er für einige Augenblicke kein Wort herausbrachte.

„Warte... D-Du dachtest, ich sei krank?", fragte er schließlich ungläubig.

„Nun, Eurem heutigen Aussehen und Verhalten nach zu urteilen, erschien mir diese Vermutung am naheliegendsten", erklärte sie achselzuckend und besah sich mürrisch seine dunklen Augenringe. „Entweder das oder Übermüdung. Wie auch immer, jedenfalls müsst Ihr so bald wie möglich ins Bett, Eure Exzellenz. Wie ich sehe, habt Ihr meinen Ratschlag, besser auf Eure Gesundheit zu achten, nicht befolgt. Das habt Ihr nun davon."

Sie schnalzte mit der Zunge und funkelte ihn böse an. Als sei er ein zurückgelassener Haufen ungewaschenen Geschirrs.

„Huch? Hast du dir etwa... S-Sorgen gemacht?"

„Es ist meine Pflicht als Apothekerin, Herr."

Maomaos Tonfall war vollkommen ruhig, doch Jinshi sah, dass sie beim Sprechen den Blick abwendete. Ganz zu schweigen davon, dass ihre Antwort überhaupt kein klares „Nein" gewesen war.

„Apothekerin..."

Ein Schimmer erschien in den Augen des jungen Adeligen. Er hob die Arme und es stand ihm praktisch im Gesicht geschrieben, wie sehr er Maomao umarmen, sich an sie klammern wollte. Jedoch schien er es sich anders zu überlegen und senkte sie wieder. Sein Blick verdunkelte sich erneut.

Stattdessen griff er nach kurzem Zögern nach ihrer Hand und begann sie mit immer noch leicht zitternden Fingern sanft zu streicheln, als ob er nun aus irgendeinem Grund versuchte, die Apothekerin zu beruhigen. Eine unsichtbare Barriere zu durchbrechen. Und während er dies tat, blickte er sie stirnrunzelnd an, als würde er mit sich selbst kämpfen. Maomao erwiderte lediglich seinen Blick, ohne auch nur ein Wort von sich zu geben.

Schließlich schüttelte er den Kopf, seufzte und sprach wieder, so klingend, als würde er eher mit sich selbst sprechen.

„Nein. So kann das gewiss nicht weitergehen."

Dann wendete er sich wieder Maomao zu. Sein Tonfall wurde fest und bestimmt.

„Ich habe kein Fieber, Apothekerin, es... es geht hier um etwas vollkommen Anderes. Wir müssen reden. Komm, gehen wir zu meinen Gemächern, in Ordnung?" Er beobachtete sie aufmerksam, als ob er ihre Reaktion, jede ihrer Gesichtsregungen studieren würde, während er weiterhin ihre Hand hielt. „Oder wäre dir das unangenehm? Allein mit mir in einem Raum zu sein, meine ich."

Maomao hob beide Augenbrauen und starrte ihn an, als sei ihm gerade ein zweiter Kopf gewachsen. Seit wann er stellte er ihr bitte solche Fragen? Ihre freie Hand kehrte auf der Stelle zu seiner Stirn zurück.

„Wie bitte? Seid Ihr sicher, dass Ihr kein Fieber habt, Eure Exzellenz?"

Doch trotz aller Verwunderung musste sie zugeben, dass ihre Neugier nun definitiv geweckt war. Die Wäsche konnte noch ein wenig warten.

***

Als sie bei seinen Gemächern angekommen waren, begab sich Jinshi direkt zu der dort stehenden Couch und setzte sich. Maomao, die ihm die ganze Zeit gefolgt war und stirnrunzelnd zugesehen hatte, wie er beim Gehen leicht schwankte, war froh, dass er unterwegs nicht zusammengebrochen war. Wirklich froh, denn sie wäre wohl kaum in der Lage gewesen, ihn aufzufangen.

„Ich höre mir an, was er zu sagen hat, und bringe ihn dann dazu, sich schlafen zu legen", dachte sie. „Auch wenn er nicht krank ist, ist sein Körper definitiv an seine Grenzen gelangt. Ich sollte ihm vielleicht für heute Nacht ein Schlafmittel vorbereiten, nur für alle Fälle. Und ein Stärkungsmittel, um ihm morgen dabei zu helfen, seine Energiereserven wieder aufzufüllen."

„Komm zu mir, Apothekerin", rief der junge Herr sie liebevoll, ihre Gedanken unterbrechend und auf den freien Platz neben sich klopfend. Jedoch war seiner Stimme gleichzeitig mehr als deutlich zu entnehmen, wie sehr er versuchte, seine Unruhe zu verbergen. Maomao gehorchte, stellte ihren Kopf auf dem Boden ab und nahm Platz, sich wünschend, dass er schnell zum Wesentlichen kommen und nicht zu lange um den heißen Brei herumreden möge.

Jinshi sah ihr tief in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick leicht skeptisch.

„Also gut. Ich glaube, ich sollte lieber gleich zum Punkt kommen", sagte er und atmete tief durch, als ob er sich mental darauf vorbereitete, was nun kommen würde.

„Wunderbar. Bringen wir's hinter uns", dachte Maomao, glücklich, dass ihr stiller Wunsch erfüllt wurde.

Jinshi warf einen kurzen Blick auf seine zitternden Hände und räusperte sich, bevor er fortfuhr.

„Hast du Angst vor mir, Apothekerin?"

Maomao starrte ihn mindestens eine ganze Minute lang vollkommen verdattert und sprachlos an. Sie hatte vieles erwartet, aber ganz bestimmt nicht das.

„Wo in aller Welt hat er bloß diesen Unsinn her?"

Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihm gegenüber jemals Furcht gezeigt zu haben.

Und genau dann, als Jinshi bereits zu glauben begann, dass er den Verstand verlieren würde, wenn sie nicht bald etwas sagte, öffnete sie endlich den Mund:

„Eh? Was meint Ihr, Herr?"

„Ich meinte genau das, was ich sagte." Seine Stimme begann zu beben, fast schon zu brechen. „H-Hast du Angst vor mir? Bitte s-sei ehrlich u-und sag mir die Wahrheit."

Seine Finger klammerten sich fest an seine Kleidung.

„Ich kann Euch nicht ganz folgen. Wieso sollte ich Angst haben?"

„Beantworte einfach meine Frage, Apothekerin."

Jinshi zog die Augenbrauen zusammen. Er hatte bereits angefangen, langsam die Geduld zu verlieren.

Maomao hob nachdenklich die Hand ans Kinn, den Entschluss fassend, offen zu ihm zu sein.

„Nun... ich muss zugeben, dass ich sehr wohl von Zeit zu Zeit ziemlich furchterregende Träume von Euch habe, aber nein, ich fürchte Euch nicht, Herr."

„Was für Träume!?" Jinshi wäre beinahe aufgesprungen. Er sah so aus, als wolle er sie bei den Schultern packen und durchschütteln, schaffte es jedoch, sich im Zaum zu halten. „Was für Träume!? Sag schon!"

„Meine Güte, was ist denn so plötzlich in ihn gefahren?"

„Gut. Letzte Nacht, zum Beispiel. Ich kann mich nicht mehr so deutlich daran erinnern, aber ich träumte, wie Ihr mich davon abhaltet, Gift zu konsumieren. Ein wirklich schrecklicher Traum, Herr", erklärte sie und zuckte gelassen mit den Achseln.

Jinshi starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Und klatschte sich dann so heftig mit der Handfläche an die Stirn, dass Letztere rot wurde.

„Moment... also war es das... das, wovon dein Albtraum letzte Nacht handelte? Wo du mich so verzweifelt angefleht hast, etwas nicht zu tun..." Seine Stimme klang äußerst dünn und ungläubig.

Maomao verschränkte die Arme. Sie glaubte, allmählich zu begreifen, was wohl in seinem Kopf vorgegangen sein musste.

„Man kann über ihn sagen, was man will, aber manchmal ist er ein schier unfassbarer Idiot", dachte sie und seufzte tief.

„Eure Exzellenz?"

„Ja?"

„Woher wisst Ihr denn, dass ich letzte Nacht einen Albtraum hatte? Ich wusste es. Also wart Ihr derjenige, der mich ins Bett getragen hat, richtig?"

Jinshi öffnete erstaunt den Mund und drehte dann verlegen den Kopf zur Seite. Seine Wangen liefen knallrot an.

„Ich... Ich konnte dich doch nicht auf dem Boden schlafen lassen!"

Als Nächstes sah er ihr wieder in die Augen und schluckte. Seine langen Wimpern bebten.

„Bist du sauer?", murmelte er.

Nein, deswegen war Maomao tatsächlich nicht sauer, schließlich hatte sie es bereits geahnt und hätte an seiner Stelle bestimmt das Gleiche getan. Aber da war noch was...

„Das bin ich, Herr." Die Apothekerin sah, wie der junge Herr angesichts ihrer Worte heftig zusammenzuckte. „Denn die Tatsache, dass Ihr mich nachts im Korridor aufgefunden habt, bedeutet, dass Ihr zu der Zeit nicht im Bett wart. Was wiederum heißt, dass Ihr Euch wieder überarbeitet habt, habe ich Recht? Nein, Ihr braucht mir nicht zu antworten. Ein Blick in Euer Gesicht verrät mir bereits alles, was ich wissen muss." Sie verzichtete diesmal darauf, ihn wie Müll anzusehen, doch ihr Blick war trotzdem alles andere als freundlich und ihre Stimme klang gereizt. „Ich weiß, dass ich bloß eine Dienerin bin und dass Euch meine Ratschläge wertlos erscheinen mögen, Herr, aber ich bin immer noch Apothekerin und weiß, wovon ich spreche."

Nun war sie an der Reihe, immer noch stirnrunzelnd den Blick abzuwenden.

„Apothekerin! Das ist nicht das, was..."

„Aber...", fuhr sie fort, seinen Einwurf ignorierend. „Ich danke Euch, Eure Exzellenz. Dafür, dass Ihr mich ins Bett gebracht habt. Es war dumm und nachlässig von mir, einfach so einzuschlafen. Ich habe Euch viele Unannehmlichkeiten bereitet."

„N-Nicht doch..." Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er sich daran erinnerte, wie schön es gewesen war, sie zuerst auf dem Schoß zu halten und dann auf den Armen zu tragen. „Hast du nicht. Kein bisschen..."

Maomao widmete ihm einen leicht misstrauischen Blick, sagte jedoch nichts dazu.

Der junge Adelige sah sie erneut an. 

„Also... habe ich mir ganz umsonst Sorgen gemacht?"

„Ganz recht, Herr."

„Puh, so wie es aussieht, ist die Sache jetzt endlich geklärt", dachte sie.

Jinshi schloss den Mund und verstummte für eine Weile. Dann rückte er etwas näher an sie heran und legte die Hände auf ihre Schultern. Maomao blickte auf und biss daraufhin die Zähne zusammen, als sie sah, wie böse er sie aus verengten Augen anfunkelte.

„Wovon, sagtest du, hast du nochmal geträumt?", zischte er. „Wie ich dich davon abhalte, Gift zu konsumieren? Und das nennst du einen Albtraum!? Natürlich würde ich dich in solch einem Fall aufhalten! Jeder vernünftige Mensch würde das! Und nicht bloß in deinen Träumen!"

„Na toll, jetzt ist ER sauer!"

„Verstanden, Herr." Die Apothekerin klang nicht gerade glücklich, wusste jedoch, dass es jetzt nicht sehr weise wäre, ihm zu widersprechen.

„Als ich dich in der Dunkelheit auf dem Boden fand, war mein allererster Gedanke, dass du dich versehentlich mit irgendeiner gefährlichen Substanz umgebracht hast, während keiner hinsah! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie erschrocken ich war!?"

„Ich bitte um Verzeihung, Herr."

Jinshi seufzte und fuhr sich gereizt durchs Haar.

„Ach, was soll's, du hörst mir ja eh nie zu...", brummte er und fasste sich wieder. „Schon gut, Hauptsache, du bist in Ordnung. Aber wehe, du tust so etwas nochmal, denn dann werde ich dich mit Hausarrest und Kräuterentzug bestrafen! Für eine ganze Woche! Schau mich nicht so an, das war kein Scherz! Genauso wie es kein Scherz ist, mit dem eigenen Leben zu spielen!"

Maomao schluckte schwer. Dieser Mann konnte richtig grausam sein, wenn er es nur wollte.

„I-Ich werde in Zukunft besser aufpassen, Eure Exzellenz!"

Doch statt einer Antwort darauf, gab er bloß einen weiteren Seufzer von sich.

„Also hast du keine Angst vor mir, was? Meine Güte, bin ich erleichtert..." Er klopfte sich kurz aufs Herz und nahm die Apothekerin dann bei den Händen. „Und hassen tust du mich auch nicht, stimmt's?"

Seine Augen baten sie, nein, flehten sie regelrecht an. Es war der Blick eines Jungen, der nie das Trauma überwunden hatte, hilflos mitansehen zu müssen, wie man ihm das, was ihm am meisten am Herzen lag, gnadenlos wegnahm.

„Nein! Nicht schon wieder", dachte Maomao schlechtgelaunt.

„Nein, Herr. Wieso sollte ich?"

„Sag es nochmal!"

Von einem Moment auf den anderen begann Jinshi praktisch vor Freude zu strahlen, als sei ein Teil seiner Müdigkeit ganz plötzlich von ihm abgefallen.

„Ich hasse Euch nicht, Herr."

„Wirklich?"

„Ja, wirklich."

„Bist du dir auch ganz sicher?"

„Ja! Aber wenn Ihr mich noch einmal fragt, könnte ich damit beginnen!", fuhr sie ihn an, schlussendlich die Geduld verlierend.

Als Jinshi dies hörte, stand er auf einmal auf, packte Maomao unter den Armen, hob sie von der Couch und begann, sie mit einem riesigen Lächeln im Gesicht in der Luft herumzuwirbeln.

„Ich bin ja so glücklich!"

„Eure Exzellenz, aufhören!" Der Apothekerin wurde bereits ein wenig schwindelig. Am liebsten hätte sie ihm jetzt einen Tritt verpasst. Oh, und wie!

Jinshi grinste, gehorchte jedoch und stellte sie auf die Füße. Als er sah, dass Maomao leicht schwankte und zu fallen drohte, fing er sie auf und setzte sie lachend auf die Couch zurück. Dann nahm er erneut neben ihr Platz.

„Haha, entschuldige, Apothekerin, ich konnte einfach nicht anders."

„Tsk!"

Maomao schnaubte, musste jedoch zugeben, dass sie ziemlich erleichtert war, dass es ihm wieder besser ging.

Der junge Herr tätschelte ihr den Kopf und umarmte sie dann ganz fest, was ihm einen bösen Blick einbrachte, der ihm jedoch nicht im Geringsten etwas ausmachte.

„Ich habe dich ja so vermisst, Apothekerin..."

„Hä? Wovon redet er da?"

„Aber ich war doch gar nicht fort, Herr."

„Warst du...", murmelte er in ihr Haar hinein. „Das warst du..."

Maomao wusste nicht so recht, was sie tun sollte, also ließ sie sich einfach drücken und klopfte ihm einige Male ohne ein weiteres Wort auf die Schulter.



Bonus:

Suiren war in den Korridoren der Residenz ihres Herrn unterwegs, auf der Suche nach Maomao, sich fragend, wo das Mädchen wohl abgeblieben sein könnte. Dabei gelangte sie an die Tür zu den persönlichen Gemächern des jungen Herrn und öffnete sie einen Spalt weit, einem plötzlichen Impuls folgend.

Und tatsächlich erblickte sie Maomao im Raum, zusammen mit Jinshi. Die beiden saßen auf der Couch und die Apothekerin befand sich gerade in den Armen des jungen Adeligen, der ihr seinen Kopf auf die Schulter gelegt hatte.

Die oberste Zofe beschloss, sie ein wenig zu beobachten, ohne einzugreifen.

„Herr, Ihr solltet jetzt wirklich ins Bett gehen. Ihr braucht dringend Schlaf", hörte sie Maomao sagen.

„Aww, kann ich nicht einfach hier auf der Couch schlafen? Nein, warte, bleib hier!"

„Vollkommen ausgeschlossen, Herr."

„Bitte, Apothekerin! Ich habe dich noch nicht genug umarmt, du musst noch für all das aufkommen, was ich durchgemacht habe!"

„Das war ein Missverständnis, Eure Exzellenz, mich trifft in diesem Fall keine Schuld. Und außerdem muss ich noch die Wäsche holen gehen, sonst schimpft Dame Suiren mit mir."

„Ich werde mit Suiren sprechen. Bitte, Apothekerin, nur noch ganz kurz!"

Ein tiefer Seufzer. Dann legte Maomao die Hände auf seinen Rücken.

„Na schön..."

Was folgte, war das Geräusch von Küssen.

„Eure Exzellenz, es reicht!"

„Haha..."

Suiren schüttelte mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen den Kopf und schloss die Tür leise wieder, den Entschluss fassend, die zwei erstmal nicht zu stören. Sie hatte sich den ganzen Tag schreckliche Sorgen um Jinshi gemacht und war nun froh, dass er wieder der Alte war.

Was ihr nun entging, war, wie Jinshi kurz darauf von seiner Erschöpfung überwältigt wurde und auf der Couch einschlief, Maomao immer noch im Arm haltend und die Lippen an ihre Wange gepresst.

„Ach, verdammt...", murmelte die Apothekerin.

Notes:

Gut und jetzt mach ich mal für eine Woche oder so Pause und fahre dann mit dem nächsten One-Shot fort! Ich hab bereits mehrere Ideen für neue Geschichten!

Chapter 42: Zwei Geschwister und eine Katze, Teil 1

Summary:

Während Jinshi darauf wartete, dass Maomao in die Jaderesidenz zurückkehrte, beschloss er, ein wenig Zeit mit seiner „kleinen Schwester” zu verbringen…

Notes:

Und hier kommt mal wieder eine Geschichte mit Jinshi als großen Bruder!

Eigentlich war sie als One-Shot geplant gewesen, doch dann entschied ich mich, es nach dem letzten, ziemlich langen One-Shot mal etwas gemächlicher angehen zu lassen und sie in kurze Kapitel aufzuteilen (derzeit sind drei Kapitel und zwei kleine Bonuskapitel geplant).
Obwohl sie möglicherweise dann doch etwas länger werden als gedacht, wie es bei diesem ersten bereits der Fall ist.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Mit Hoffnung in den violetten Augen und maßloser Freude im Herzen stand der bezaubernde Aufseher des Inneren Palastes vor dem Eingang der Jaderesidenz. Als sei dieser ein Portal in eine Traumwelt oder ins Paradies selbst.

Die strahlende Herbstsonne wärmte ihm den Rücken und ließ sein wie feinste Seide wirkendes Haar sogar noch stärker glänzen als gewöhnlich.

Jinshi blickte sich verstohlen um und sobald er sichergestellt hatte, dass gerade keine fremden Blicke auf ihn gerichtet waren, gestattete er sich den Luxus, etwas aufzusetzen, was bisher noch keiner einzigen Palastdame außer Maomao jemals gewidmet gewesen war: ein breites, vollkommen ehrliches Lächeln, welches ihn sogar noch etwas schöner aussehen ließ als zuvor. Falls so etwas überhaupt möglich war.

Die Schultern entspannend und leicht die Brust herausstreckend, als könne er vor Glück leichter atmen, stieß er schlussendlich mit beiden Händen die Tür auf. Da war sie nun, seine liebste Zeit des Tages, auf die er so sehnsüchtig gewartet hatte! Schon sehr bald würde er sie wiedersehen, seine liebe kleine Apothekerin, die er vorübergehend an Gemahlin Gyokuyou „verliehen" hatte.

Doch wie es aussah, schien Fortuna an jenem Tag nicht auf seiner Seite zu sein...

„Apothekerin...", murmelte Jinshi kaum hörbar, im Versuch, seine äußerst deutliche Enttäuschung so gut es ging zu verbergen. Was ihm leider nicht so recht gelingen wollte, da man beinahe schon eine imaginäre Gewitterwolke über seinem Kopf schweben sehen konnte, was ihn wie ein erbärmliches, von Regen durchnässtes Hündchen wirken ließ, dessen Ohren traurig herabhingen. So offensichtlich zeigte er seine Gefühle jedes Mal, wenn es um Maomao ging.

Die auf einer Couch sitzende Gemahlin strich sich leicht über den bereits sichtlich gewölbten Bauch und kicherte leise, ganz klar amüsiert von seinem Verhalten, während ihre oberste Zofe Hongniang neben ihr stand und ein diskretes Seufzen von sich gab.

„Maomao ist vor etwa fünf oder zehn Minuten gegangen, also müsst Ihr sie wirklich ganz knapp verpasst haben. Wie schade, dass Ihr nicht etwas früher gekommen seid..."

Der junge Herr hob den Kopf und blickte zur rothaarigen Gemahlin.

„Wisst Ihr möglicherweise, wohin sie gegangen sein könnte?"

Er versuchte nicht einmal, zu verschweigen oder abzustreiten, dass er extra wegen der Apothekerin zu Besuch erschienen war. Es wäre sowieso vergeblich gewesen.

Gyokuyou und Hongniang sahen sich kurz gegenseitig an.

„Leider nein. Aber da sie einen Korb dabeihatte, nehme ich mal an, dass sie schon wieder irgendwo Kräuter sammelt."

Die Dame lächelte ihm fröhlich zu. Ihre Augen schienen ganz plötzlich zu funkeln.

Hongniang verzog missbilligend den Mund, sagte jedoch nichts dazu, denn es war wohlbekannt, dass ihre Herrin Maomao ziemlich viel Freiheit gewährte und ihr gestattete, so gut wie alles zu tun, was diese nur wollte. Doch sie kannte besagtes Funkeln nur allzu gut. Dies bedeutete wohl, dass die Gemahlin etwas im Schilde führte.

„Wenn Ihr gerade Zeit habt, könnt Ihr gerne hier auf sie warten. Ich habe nicht das Geringste dagegen einzuwenden."

Jawohl, Gyokuyou heckte ganz bestimmt etwas aus... die Zofe konnte es deutlich spüren.

„Ich danke Euch, Dame Gyokuyou." Jinshi schenkte der Gemahlin ein kleines Lächeln und deutete eine Verbeugung an, die Hände in seinen weiten Ärmeln verbergend. „Dann werde ich genau das tun."

Zur Hölle mit dem ewigen Papierkram, der in seiner Schreibstube auf ihn wartete! Der würde schon nicht weglaufen oder sich in Luft auflösen (leider)! Dann würde Jinshi eben abends ein paar Überstunden schieben und ein wenig Schlaf opfern, das wäre keine große Sache. Maomao zu sehen war dies allemal wert. Nein. Alles auf der Welt war es wert.

„Bruder!"

Auf einmal vernahm der Mondprinz das Getrappel kleiner Füßchen und hob etwas erstaunt den Blick. Sein Lächeln wurde daraufhin noch breiter, als er ein kleines Mädchen mit vor Freude leuchtenden Augen auf sich zulaufen sah, und hob die Arme an, wie um sie willkommen zu heißen. Sogar die Gewitterwolke schien sich bei der Ankunft der Kleinen verzogen zu haben.

„Oh, sei gegrüßt, Prinzessin."

Als Nächstes kam eine leicht verlegene Ailan hinter dem Kind hergeeilt.

„Bitte verzeiht mir, Herrin! Ihre Hoheit ist gerade aus ihrem Mittagsschlaf erwacht und mir entwischt, bevor ich reagieren konnte."

Jedoch fing Gyokuyou lediglich erneut zu kichern an und sah zu ihrer Tochter, die gerade aufregend um Jinshi herumrannte. Sie war wahrhaftig erstaunlich flink auf ihren kurzen Beinchen.

„Alles ist gut, mach dir keine Sorgen. Der Zeitpunkt könnte, ehrlich gesagt, kaum passender sein."

Doch egal wie flink die Prinzessin auch sein mochte, dies änderte trotzdem nichts an der Tatsache, dass sie immer noch sehr klein und etwas unbeholfen und unerfahren beim Laufen war. Und so dauerte es nicht allzu lange, bis sie über ihre eigenen Füßchen stolperte.

Aber zum Glück beugte Jinshi sich nach unten und fing sie gerade noch rechtzeitig auf, bevor sie auf den Teppich stürzen konnte.

„Hab ich dich! Du solltest das lassen, sonst wird dir noch schwindelig", tadelte er sie sanft und lachte. Seine Augen waren erfüllt mit maßloser Zuneigung zu jenem süßen kleinen Wesen, welches stur darauf bestand, ihn als älteren Bruder zu sehen. Es war wahrhaftig ein Ding der Unmöglichkeit, sie nicht gernzuhaben.

Lingli strahlte ihn an und hob die Ärmchen.

„Bruder! Hoch!"

„Wie du wünschst."

Der junge Adelige nahm sie auf den Arm und richtete sich wieder auf. Die Prinzessin strampelte vor Freude mit den Beinchen und umschlang auf der Stelle seinen Hals, woraufhin er seine Wange an die ihre presste.

Obwohl es nicht das erste Mal war, dass die im Raum anwesenden Frauen Zeuginnen einer solch entzückenden Szene zwischen dem wunderschönen Aufseher und der kleinen Kaisertochter wurden, schmolzen ihre Herzen von dem Anblick dahin.

Fröhlich lächelnd hielt Jinshi Lingli fest an sich gedrückt, während eine angenehme Wärme seinen gesamten Körper durchströmte. Hach, wenn doch nur Maomao ebenfalls dort wäre... dann wäre er wirklich wunschlos glücklich.

So gut wie jedes Mal, wenn er mit der Apothekerin oder Lingli oder mit beiden gleichzeitig Zeit verbrachte, kam es Jinshi so vor, als würde einer seiner größten Wünsche in Erfüllung gehen: der Wunsch nach einer richtigen Familie. Nach Menschen, die ihn genau so nahmen wie er war, ohne von ihm zu verlangen, dass er sich änderte oder Teile seines wahren Ichs verbarg, um den Schein zu wahren.

Und obwohl sein Verstand ihm geradezu zuschrie, dass er sich besser nicht daran gewöhnen sollte, musste er zugeben, dass es ihm wirklich gefiel, ein großer Bruder zu sein (auch wenn er natürlich wusste, dass er in Wirklichkeit keiner war). Er konnte einfach nicht anders, denn so lange er sich erinnern konnte, hatte er sich Geschwister oder Freunde gewünscht, mit denen er herumalbern und unbekümmert spielen konnte. Einfach nur ein normaler Junge zu sein, ohne Bedienstete, die jeden seiner Schritte beobachteten und ihn mit Regeln und Verboten überschütteten.

Das Herz wurde ihm schwer, als er an die unzähligen einsamen Abende zurückdachte, die er damit verbracht hatte, sich auszumalen, wie sein Leben wohl ausgesehen hätte, wäre er als Sohn einfacher Bürgerlicher zur Welt gekommen. Dabei gedankenverloren aus dem Fenster schauend und in seinem Bett im Kaiserlichen Palast liegend, welche beide viel zu riesig waren für ein solch kleines Kind wie ihn. Gefangen wie ein Vogel in einem goldenen Käfig.

Es hatte ab und zu sogar Zeiten gegeben, an denen er befürchtet hatte, vor Einsamkeit gleich den Verstand zu verlieren.

Jinshi schluckte heftig bei der Erinnerung daran und umarmte die Kleine noch ein wenig fester, im Versuch, jene schrecklichen Gedanken und Gefühle zu unterdrücken, welche er in den Tiefen seines Herzens verborgen hielt.

Ja, Suiren und Gaoshun waren ihm äußerst wichtig und kamen, da sie ihn großgezogen hatten, tatsächlichen Familienmitgliedern am allernächsten, und außerdem war da noch Gaoshuns jüngerer Sohn Basen, der sein Milchbruder war und den er sehr wohl als Freund ansah, doch... egal wie man es auch drehte und wendete, sie waren immer noch seine Bediensteten, auch wenn Jinshi trotz seiner Gewohnheit, ihnen Befehle zu erteilen, sie nur selten tatsächlich als solche behandelte. Bedienstete, die sich um ihn kümmerten, weil es zu ihrer Pflicht gehörte. Und genau das war der Punkt... Jinshi wollte keine Diener, sondern Menschen, die ihn als ihresgleichen sahen.

Und Maomao... Nun, sie erinnerte ihn zwar ständig daran, dass sie sich selbst bloß als seine Dienerin ansah, und weigerte sich, ihm zuzuhören, wenn er versuchte, ihr zu erklären, wie falsch sie lag, doch trotz allem behandelte sie ihn wie ein menschliches Wesen, ohne ihn für das Zeigen von Gefühlen zu tadeln oder zu verurteilen. Sie hatte schon so viele seiner Seiten zu Gesicht bekommen und sie einfach so akzeptiert, ohne Perfektion von ihm zu fordern, so wie viele andere es taten.

Er hatte den Eindruck, dass er an ihrer Seite so glücklich sein und so frei atmen konnte wie noch nie zuvor (auch wenn sie ihn mit ihren Aktionen ab und zu beinahe in den Wahnsinn trieb).

Jinshi fiel daraufhin ein Begriff ein, den er mal irgendwo gehört hatte: „Seelenverwandte". War es das, was die Apothekerin für ihn war? Irgendwie fühlte sich dieses Wort... richtig an. Genau richtig, um seine Gefühle ihr gegenüber zu beschreiben.

Als ihm jene Erinnerungen kamen, begann er Maomao sogar noch stärker zu vermissen als zuvor, sodass sein Herz vor Sehnsucht fast zu platzen drohte. Er konnte es absolut nicht abwarten, sie wiederzusehen.

Auf einmal spürte der junge Herr ein winziges Händchen auf seiner Wange und kehrte schlagartig in die Realität zurück.

„Bruder?"

Jinshi senkte den Blick und stellte fest, dass Lingli ihn mit ihren großen Augen fragend ansah. Oh, waren seine Gedanken etwa so offensichtlich gewesen? Da war er wohl ein wenig zu lange still gewesen, was?

Endlich all seine Grübeleien beiseiteschiebend, setzte er erneut ein liebevolles Lächeln auf und rieb ihr vorsichtig den Rücken.

„Es ist nichts, mein Kleines. Ich war bloß ein wenig in Gedanken versunken, mehr nicht." Dann kam ihm eine Idee und er hob die Prinzessin noch ein wenig höher, seine Stirn an die ihre drückend. „Sag mal, wie wäre es, wenn ich ein wenig Zeit mit dir verbringe, bis die Apothekerin zurückkommt? Was hältst du davon?"

Lingli quietschte vor Freude und klatschte in die Hände.

Der Mondprinz sah zur Gemahlin.

„Wenn deine Mutter nichts dagegen hat, natürlich."

Diese schenkte ihm einen Blick, der klar und deutlich verriet, dass sie nicht einmal im Traum daran denken würde, nein zu sagen.

„Wunderbar. Also dann, Prinzessin, was sollen wir denn zusammen unternehmen?"

Lingli kicherte und zeigte auf den Boden.

„Buch!"

Jinshi schaute in die angegebene Richtung und entdeckte ein farbenfrohes Bilderbuch neben der Couch, inmitten von einigen Spielzeugen.

„Bruder! Lesen!"

„Verstehe. Du willst also, dass ich dir vorlese, nicht wahr? Alles klar, warum nicht?”

Notes:

Ach ja, zu der Sache mit den „Seelenverwandten": Ich hab erst nach dem Lesen des neunten Bandes der Light Novel so richtig angefangen, Jinshi und Maomao als Liebespaar zu shippen, hab sie aber schon lange davor als Seelenverwandte betrachtet. Das Wort eignet sich meiner Meinung nach eben am Besten, um ihre Beziehung zueinander zu beschreiben.

Chapter 43: Zwei Geschwister und eine Katze, Teil 2

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Einige Zeit später lag die „himmlische Nymphe" auch schon vollkommen entspannt auf der Couch in der Jaderesidenz, eine der Armlehnen als Kopfkissen nutzend. Er hielt das aufgeschlagene Kinderbuch mit einer Hand fest, während seine andere auf der kleinen Prinzessin ruhte, die auf ihm lag, mit dem Kopf auf seiner Schulter.

Es war eine friedliche, herzerwärmende Szene zwischen einem älteren Bruder und seiner jüngeren Schwester. Eine von der Art, wie Jinshi sie sich stets gewünscht hatte.

Gemahlin Gyokuyou, welche sich entschlossen hatte, die beiden „Geschwister" nicht zu stören und den Raum zusammen mit ihren Zofen zu verlassen (obwohl Hongniang von der Idee nicht allzu angetan war und nur unter der Bedingung eingewilligt hatte, dass sie sich nicht zu weit entfernen würden), hatte ihm erklärt, dass das Buch ein Geschenk Seiner Majestät gewesen war. Eine exquisite Spezialanfertigung für seine kostbare Tochter, um ihr beim Sprechenlernen zu helfen.

„Er ist wahrhaftig vernarrt in die Kleine", dachte Jinshi lächelnd, während er behutsam mit dem Daumen über das hochwertige Papier strich und sich die vielen schönen handgemalten Illustrationen besah. „Verständlich. Vollkommen verständlich."

Er nahm sich vor, dem Kind eines Tages auch solch ein Geschenk zu geben. Ja, unbedingt! Ach, er konnte es bereits kaum erwarten, Linglis vor Freude strahlenden Augen zu sehen! Genauso wie er es genoss, Maomao mit seltenen Heilkräutern und medizinischen Wirkstoffen glücklich zu machen.

„Und die Prinzessin lebte in einem riesigen Palast", begann er mit dem Vorlesen der nächsten Seite und machte eine kurze Pause, um einen Schluck von dem Tee zu trinken, den Hongniang ihm vorhin serviert hatte und der auf einem kleinen Tisch neben ihm stand.

Lingli knabberte währenddessen an einem Gebäckstück. Jinshis Brust war bereits voller Krümel, doch er machte sich nichts draus, denn das Mädchen war noch klein und Kleidung konnte man waschen. Er würde später die Schuld dafür auf sich nehmen, überhaupt kein Problem. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich erinnerte, wie sehr man ihn früher als Kind selbst für die kleinste Unordnung ausgeschimpft hatte. Nein, so wollte er sie definitiv nicht behandeln, auf keinen Fall!

„Prinzessin!", wiederholte die Kleine und zeigte mit dem Finger auf das dazugehörige Bild.

„Ganz genau! Gut gemacht", lobte Jinshi. Doch riss ganz plötzlich die Augen auf, als er merkte, dass sie nun auf ihn deutete.

„Prinzessin! Bruder! Prinzessin!"

Der junge Herr starrte sie einige Augenblicke lang an, vollkommen verblüfft und sprachlos. Dann brach er in Gelächter aus. Lingli stimmte mit ein.

Himmlische Nymphe, wunderschöner Eunuch, Mondprinz... an Titeln mangelte es dem jungen Mann ganz gewiss nicht. Aber dieser hier war neu.

„Nein, ich bin keine Prinzessin, Lingli", brachte er zwischen Lachanfällen hervor und tippte ihr mit dem Zeigefinger auf die Nase. „Du bist eine." Nun deutete er selbst auf das Buch. „Schau, das hier ist das Zeichen für „Prinzessin". Fürs Lesen- und Schreibenlernen magst du zwar noch zu klein zu sein, aber ich denke, es kann nicht schaden, dir schon mal zu zeigen, wie es aussieht."

Lingli schaute interessiert und neugierig auf die angegebene Textstelle. Jinshi fragte sich, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte. War aber auch nicht schlimm, wenn nicht, solche Dinge hatten gewiss noch Zeit.

Auf einmal richtete die Prinzessin den Blick wieder auf ihn und starrte ihn lautlos an. Jinshi wollte bereits nachfragen, was denn los sei, doch er kam nicht dazu, da sie das Gebäck aus heiterem Himmel zu Boden schmiss, das Händchen ausstreckte und nach seiner Nase griff. Fest.

„Autsch!", beklagte sich der Mondprinz lachend und klopfte ihr auf den Rücken. „Zerquetsch doch bitte meine Nase nicht! Die brauch ich noch, Kleines!"

 Doch Lingli dachte nicht mal dran, ihn loszulassen.

„Nein!", weigerte sie sich und schüttelte mit einem frechen Grinsen den Kopf.

„Nein?" Jinshi grinste zurück. „Du willst also nicht auf mich hören, was?"

„NEIN!"

„Oh, na warte, du!"

Er legte das Buch auf dem Tisch ab und platzierte die Hand auf den Bauch der Kleinen. Dann fing er an, sie zu kitzeln.

„Hier kommt deine Strafe!"

Lingli lachte so heftig, dass sie mit den Beinchen strampelte und ihr Tränen über die geröteten runden Wangen liefen. Doch trotz allem ließ sie immer noch nicht los.

Um ehrlich zu sein, war Jinshi ziemlich beeindruckt von ihrer Hartnäckigkeit und Willensstärke.

„Bestimmt wächst sie zu einer starken Frau heran", dachte er. Oder zumindest hoffte er es, denn das Leben als Mitglied der Kaiserlichen Familie war alles andere als einfach. Wer könnte das besser wissen als er?

„Wahnsinn, du hast wirklich Kraft, muss ich sagen. Aber gegen mich kommst du trotzdem nicht an."

Und mit diesen Worten löste er ihre winzige Hand vorsichtig selbst von seiner Nase und hielt sie eine Weile lang in seiner eigenen, großen. Jedoch schien Lingli ihm das gar nicht übel zu nehmen. Stattdessen kicherte sie und umklammerte auf der Stelle seinen Zeigefinger, was er ihr nur zu gern erlaubte.

Keiner der beiden ahnte, dass sie bereits seit einiger Zeit eine Zuschauerin hatten...

***

Einige Minuten zuvor:

Mit einem vollen Korb auf dem Rücken betrat Maomao die Jaderesidenz, zufrieden, da die Kräuterernte besser ausgefallen war, als sie gedacht hatte. Zuallererst wusch sich die Apothekerin die schmutzigen Hände und nahm sich dann vor, sich schnurstracks auf ihr Zimmer zu begeben. Immerhin war es noch einige Stunden hin, bis sie für die Gemahlin und die Prinzessin das Abendessen vorkosten müsste, also wurde sie gerade nicht gebraucht.

Tja, zumindest glaubte sie das.

Jedoch begegnete sie im Korridor unerwarteterweise ihrer Herrin und deren oberster Zofe.

Nichts Ungewöhnliches dabei, oder? Doch Maomao beschlich trotzdem ein leicht seltsames Gefühl. Sie entschloss sich, es erstmal zu ignorieren, und verbeugte sich vor der Gemahlin.

„Ich bin zurück, Dame Gyokuyou."

„Oh, da bist du ja, Maomao!", antwortete Gyokuyou fröhlich. Ein wenig zu fröhlich, nach Maomaos Geschmack. Doch die Apothekerin beschloss, diese Tatsache lieber unkommentiert zu lassen, um sich keinen unnötigen Ärger einzuhandeln.

„Kann ich etwas für Euch tun, Herrin?"

„Du kommst gerade recht. Könntest du bitte eine Weile auf die Prinzessin aufpassen?"

Maomao hob eine Augenbraue. Soweit sie sich entsinnen konnte, traf sich die Gemahlin an jenem Tag mit niemandem zum Tee und musste auch keinen anderen Verpflichtungen nachgehen, die es erforderlich machten, ihre Residenz zu verlassen. Mal ganz zu schweigen davon, dass die Anzahl Letzterer aufgrund Gyokuyous Schwangerschaft in letzter Zeit sowieso zurückgegangen war. Aber na ja, es ging sie ja nichts an. Sie musste lediglich tun, was man ihr auftrug, mehr nicht.

Daher verbeugte Maomao sich erneut.

„Selbstverständlich. Ich bringe bloß ganz schnell den Korb auf mein Zimmer."

„Wunderbar!"

Und so eilte die Apothekerin schließlich davon, sich fragend, wieso die Gemahlin sie denn so angegrinst hatte. Dazu hätte sie schwören können, ein seltsames Funkeln in den Augen der anderen jungen Frau gesehen zu haben, eines, das sie nicht ganz zuzuordnen vermochte. Ach, und glich Hongniangs Gesicht außerdem nicht dem, welches Gaoshun immer aufsetzte, wenn Jinshi etwas Dummes vorhatte? Oder vielleicht hatte sie sich dies bloß eingebildet...

Pah, wie auch immer.

Doch als sie unterwegs den Eingang zum Empfangsraum erreichte, blieb sie urplötzlich stehen und die letzten Überbleibsel ihrer Zufriedenheit von vorhin wichen einem Gesichtsausdruck, als würde sie ein besonders widerliches Insekt analysieren. Ihre Hände schlossen sich fest um die Riemen ihres Korbes.

„Oh, jetzt kapier ich's..."

Maomao gab ein Schnauben von sich, als sie sah, wer da zusammen mit der kleinen Prinzessin auf dem Sofa lag. Also hatte ihr Bauchgefühl mal wieder Recht gehabt...

 Die Apothekerin verspürte daraufhin ein leichtes Bedürfnis, so schnell es ging das Weite zu suchen und sich in ihrem Zimmer zu verstecken (vorzugsweise unter dem Bett), bis die „Nymphe" sich verzogen hatte. So wunderbar wie seine Laune war, war sie sich mehr als sicher, dass er sich wie ein Blutegel an sie kleben würde, sobald er sie erblickte. Schließlich kannte sie ihn bereits ziemlich gut. Nein, danke, keine Lust! Aber andererseits konnte sie auch den Befehl der Gemahlin nicht missachten, also blieb ihr keine andere Wahl, als sich doch in die „Höhle des Löwen" zu wagen.

Welch ein Dilemma! Maomao seufzte resigniert.

Doch aus unerfindlichen Gründen blieb sie trotz allem am Eingang stehen und beobachtete Jinshi und Lingli. Wieso? Das wusste sie selbst nicht. Überhaupt vergaß sie sogar ihr Vorhaben, den Korb auf ihr Zimmer zu bringen.

Die Apothekerin verengte die Augen.

„Wenn er schon Zeit hat, so rumzuliegen, dann sollte er lieber an die Arbeit zurückkehren", brummte sie vor sich hin. „Sonst überarbeitet er sich später schon wieder und bekommt nachts nicht genug Schlaf."

Dann sah sie schweigend zu, wie Lingli auf einmal nach Jinshis Nase griff und er sie als Strafe dafür durchkitzelte.

Daraufhin kam ein weiteres seltsames Gefühl bei der Apothekerin auf... aber dieses Mal war es ein anderes, ziemlich ungewohntes... Sie wusste nicht einmal, wie sie es richtig bezeichnen sollte.

„Wie es aussieht, haben sie Spaß miteinander... Das ist sein echtes Lächeln... Hm, und ich dachte, ich sei die Einzige, die ihn so lächeln lässt..."

Doch kaum hatten jene leisen Worte ihre Lippen verlassen, riss Maomao weit die Augen auf und schüttelte den Kopf. Hä!? Was zur Hölle redete sie denn da!?

Die Apothekerin biss kurz die Zähne zusammen und atmete tief durch, im Versuch, zu ihrem gewohnten Selbst zurückzukehren.

„Nun, selbst ich muss zugeben, dass die Prinzessin niedlich ist, also ist es nur logisch, dass er ihr gegenüber kein falsches Lächeln aufsetzt..."

Ihr Blick wanderte zu einem an die Wand gelehnten Besen, der wohl von einer der anderen Zofen dort vergessen worden war, und ihr kam umgehend der bescheidene Wunsch, ein Treffen zu organisieren... zwischen besagtem Besen und Jinshis Kopf.

Jedoch war sogar die Apothekerin selbst nicht in der Lage zu erklären, wo diese Wut so plötzlich herkam, da sie üblicherweise nur in besonderen Ausnahmesituationen zu Gewaltausbrüchen neigte. Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und schloss für einen Moment die Augen. Nein, ernsthaft, was war heute bloß los mit ihr?

„Ah! MAO!"

Die laute Stimme des Kindes brachte sie dazu, die Augen wieder zu öffnen.Oh. Also war sie entdeckt worden.

Na gut, wie auch immer. Für solch dumme Überlegungen hatte sie jetzt sowieso keine Zeit.

Notes:

Ein Leser hat sich eine leicht auf Lingli eifersüchtige Mao gewünscht und ich hab mein Bestes gegeben^^

Chapter 44: Zwei Geschwister und eine Katze, Teil 3

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

„Ah! MAO!"

Jinshi wäre vor Schreck beinahe hochgesprungen, als Lingli ihm aus heiterem Himmel direkt ins Ohr schrie. So laut, dass er für einige Augenblicke befürchtete, sein Hörvermögen in jenem Ohr zu verlieren und halb taub zu werden.

„W-Was ist los?", fragte er leicht verwirrt und drehte den Kopf in die Richtung, in die das kleine Mädchen voller Freude mit dem Finger zeigte. Was er daraufhin erblickte, ließ seine Augen so hell leuchten wie die des Kindes. Nein, sogar noch heller.

An der Türschwelle stand seine sehnsüchtig erwartete Apothekerin mit einem vollen Korb auf dem Rücken und schaute ihn finster an.

„Seid gegrüßt, Eure Exzellenz", sagte sie mit der „Begeisterung" von jemandem, der gerade in einen Hundehaufen getreten war, und trat ein paar Schritte vor, mit eindeutigem Widerwillen und wohl wissend, dass es nun kein Zurück mehr gab.

„Oh, da bist du ja, Apothekerin!" Der Mondprinz schenkte ihr ein breites Lächeln, blieb jedoch liegen. „Komm her. Wenn du dich zu der Kleinen dazuquetschst, sollten wir auch genug Platz für dich haben. Wir haben nämlich auf dich gewartet, weißt du?"

Sein Tonfall machte es nur zu offensichtlich, dass er es ernst meinte, und er winkte mit der freien Hand, sie mit auf die Couch einladend, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.

 Während Maomaos Gesicht mehr als deutlich verriet, was sie von diesem Angebot hielt. Um ehrlich zu sein, sah sie aus wie eine Katze, die ihn am liebsten mit ihren Krallen kratzen würde. Oder ihm in jene Hand beißen. Oder beides.

„Ich verzichte, Herr. Ihr beide scheint auch ohne mich schon genug Spaß zu haben", zischte sie, im Versuch, möglichst ruhig zu klingen, was ihr aus irgendeinem Grund schwerer fiel als sonst. Oh, sie hatte es gewusst! Sie hatte es doch gewusst, dass er sich mal wieder an sie kleben wollen würde!

Das fröhliche Kichern des Kleinkindes erfüllte den Raum. So wie es aussah, schien Maomaos schlechte Laune Lingli zu amüsieren. Jinshi strich der Kleinen gedankenverloren über den Kopf.

„Sag mal, was ist denn heute los mit dir?", fragte er mit erhobener Augenbraue und sah Maomao einen Moment lang nachdenklich an. „Ich meine, ich bin es ja gewohnt, dich genervt zu sehen, aber heute wirkst du irgendwie… verärgert? Habe ich dir etwas getan?"

Sie erwiderte seinen Blick mit gerunzelter Stirn und ohne ein Wort zu sagen. Tja. Eigentlich hatte sie sich genau die gleiche Frage gestellt, also konnte sie ihm keine Antwort geben, selbst wenn sie wollte.

Doch dann weiteten sich Jinshis Augen auf einmal und er setzte sich auf der Couch auf, woraufhin die Gebäckkrümel, welche an seiner Kleidung waren, zu Boden fielen.

„Was für eine Unordnung...", dachte Maomao, das Gesicht verziehend.

Das Kind mit einem Arm festhaltend, schenkte der junge Herr der Apothekerin ein wissendes Grinsen.

„Oh, jetzt verstehe ich."

„Was versteht Ihr, Eure Exzellenz?"

Maomao spürte, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.

„Du bist eifersüchtig, nicht wahr?" Sein Ton war verspielt und neckend.

Ihr Gespür hatte Recht behalten.

Nun war sie an der Reihe, die Augen weit aufzureißen, als könne sie nicht glauben, was für einen Unsinn er da verzapfte.

„Ganz gewiss nicht, Herr."

Sie nutzte die Tatsache aus, dass die Prinzessin gerade viel zu beschäftigt damit war, an Jinshis Haar und Kragen zu zerren (was sich jedoch nicht im Geringsten auf sein Lächeln auswirkte), um in ihre Richtung zu schauen, und sah ihn an, als sei er ein verdorbenes Stück Obst, welches sie in der Küche gefunden hatte.

„Eifersüchtig? Auf ein Kleinkind? Also bitte, so armselig bin ich nicht", dachte sie.

Jinshis Grinsen wurde nur noch breiter, was ihn aussehen ließ wie einen frechen Jungen, viel jünger als er in Wirklichkeit war. Es schien, als würde Maomaos Gesichtsausdruck ihm alles verraten, was er nur wissen wollte.

„Ich fasse es nicht! Meine Güte, die Katze ist ja tatsächlich eifersüchtig!"

„Katze!", jubelte Lingli.

„Bin ich nicht! Ich habe es Euch doch gesagt."

Langsam aber sicher verlor Maomao die Geduld. Wenn das so weiterging, dann würde Jinshis Kopf tatsächlich Bekanntschaft mit dem Besen machen... möglicherweise. Vielleicht könnte sie ja eine Ausrede erfinden, dass sie in seinem Haar eine Spinne gesichtet hatte oder so etwas in der Art...

„Hehe! Aber sicher doch, was auch immer du sagst, Apothekerin."

Ein kurzes Lachen ausstoßend und sichtlich eine Menge Spaß habend, stand Jinshi endlich auf und begab sich zusammen mit der Prinzessin zur Apothekerin. Sein Grinsen hatte sich zu einem sanften Lächeln gewandelt.

„Was hat er jetzt schon wieder vor?", dachte Maomao und verengte misstrauisch die Augen, bewegte sich jedoch nicht von der Stelle.

„Und ich kenne genau das richtige Mittel dagegen", sagte der junge Herr liebevoll, als er vor ihr zu stehen kam, und schlang seinen freien Arm um die Apothekerin, nun beide Mädchen gleichzeitig an sich drückend. Maomaos Kopf war an seine Brust gepresst und sein vertrauter Geruch nach Sandelholz, vermischt mit einem schwachen, süßen Gebäckduft, trat in ihre empfindliche Nase. Es war irgendwie beruhigend. Ein wenig, zumindest. „Die beste Medizin gegen die Eifersucht dieser süßen Katze."

„Katze!", plapperte Lingli erneut eines ihrer Lieblingswörter nach und begann nun, Maomaos Kopf mit einem ihrer klitzekleinen Händchen zu streicheln. Der Mondprinz schmunzelte.

Die Apothekerin hatte nicht den blassesten Schimmer, was sie sagen oder tun sollte. Aber wie auch immer, diese zwei würden ja sowieso nicht auf sie hören...

„Nur keine Sorge", vernahm sie Jinshis Stimme über sich. „Ich habe mehr als genug Zuneigung für euch beide."

„Die könnt Ihr meinetwegen behalten, ich brauche sie jedenfalls nicht", grummelte Maomao gedanklich, versuchte jedoch nicht einmal, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Was ihre Gedanken Lügen strafte.

Auf einmal spürte sie, wie Jinshi sie noch enger an sich drückte.

„Eure Exzellenz?"

„Hach, du bist so schön warm wie immer", schwärmte er mit geröteten Wangen. Seiner Meinung nach war Maomaos Wärme die beste der Welt, angenehmer als jede Decke oder jedes Wintergewand, die es je gegeben hatte.

Lediglich die der kleinen Prinzessin konnte es damit aufnehmen.

Und nun bekam er die Möglichkeit, beide auf einmal zu genießen! Jinshi konnte nicht mit Worten ausdrücken, wie ehrlich glücklich er war. Aber ein Blick in sein wunderschönes Gesicht war mehr als genug.

***

Endlich kam Maomao wieder zu sich und schaffte es, sich mit einiger Anstrengung aus seinem Griff zu kämpfen. Jinshi hielt sie nicht auf, ließ sie jedoch auch nicht vollständig los, sondern legte ihr stattdessen die Hand auf die Schulter. Schließlich musste er schon bald nach Hause in seine Residenz zurück, weswegen er sich mit Berührungen „eindecken" wollte, um bis zu seinem nächsten Besuch nicht vor Sehnsucht zu vergehen. Der bloße Gedanke war genug, um einen Teil des Glücks in seinen Augen in Traurigkeit zu verwandeln.

Auf einmal fiel ihm auf, dass Maomao stirnrunzelnd zu ihm aufblickte. Hatte sie etwa was bemerkt?

„Eure Exzellenz?"

„J-Ja?"

„Ihr sagtet vorhin, Ihr hättet auf mich gewartet. Darf ich erfahren, wieso? Habt Ihr einen neuen Auftrag für mich?"

Jinshi brauchte einen Moment, um ihre Worte zu verarbeiten, und fing an zu schmollen.

„Habe ich nicht", antwortete er beleidigt. „Was denn, darf ich dich etwa bloß besuchen, wenn ich Arbeit für dich habe? Und nicht, weil ich dich einfach nur sehen will?"

„Jetzt seht Ihr mich doch und was bringt Euch das?", dachte Maomao genervt. „Es ist nichts Besonderes passiert und ich bin immer noch dieselbe wie bei Eurem letzten Besuch vor drei Tagen."

Lingli lachte und begann, eine seiner aufgeblasenen Wangen mit dem Zeigefinger zu pieksen. Der junge Herr ließ sie gewähren.

„Unsere Mao ist so gemein, nicht wahr, Kleines?", beklagte er sich bei dem Kind.

„Gemein!", pflichtete dieses ihm eifrig bei.

Maomao schnaubte.

„Jetzt führt er sich noch kindischer auf als das Kind selbst..."

Dann fiel ihr etwas auf.

„,Unsere Mao'?...", murmelte sie und hob eine Augenbraue.

Als sie ihn daraufhin heftig schlucken hörte, blickte sie erneut auf und merkte, dass er sie mit knallrotem Gesicht und weit aufgerissenen Augen anstarrte. Möglicherweise war auch ihm klargeworden, dass er sie gerade zum allerersten Mal beim Namen genannt hatte. Nun, in ihrer Gegenwart, zumindest.

„Was ist denn, Herr?"

Tsk, als ob das solch eine große Sache wäre...

„Nichts, Mao... ähm, Apothekerin!", korrigierte Jinshi sich hastig.

„Wie er mal wieder übertreibt", dachte sie seufzend. „Er kann mich ruhig Mao nennen, wenn er will, mir doch egal. Auf jeden Fall ist es besser als ,süße Katze' und ähnliches peinliches Zeug."

Was folgte, war eine kurze und leicht unangenehme Stille, während Jinshi sich umsah, im Versuch, sich seine offensichtliche Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.

Plötzlich fiel sein Blick auf die kleine Lingli auf seinem Arm und ihm schien eine unerwartet tolle Idee zu kommen.

Die Apothekerin hatte ein ganz mieses Gefühl dabei...

„Sag mal, Lingli...", sprach er die Kleine fröhlich an, welche daraufhin den Kopf hob und ihn breit anlächelte. „Möchtest du vielleicht auf den Schultern der Apothekerin reiten?"

Sein Angebot wurde von der Prinzessin mit höchster Freude angenommen.

Während Maomao so aussah, als würde sie ihren Ohren nicht trauen.

„Bitte, was!? Ihr beliebt zu scherzen, Herr!"

Doch es war zu spät für Widerworte, denn Jinshi hatte die Kleine bereits auf ihre Schultern gesetzt. Lingli quietschte vor Vergnügen und begann auf der Stelle, die arme Apothekerin mit ihren winzigen und immer noch vom Gebäck leicht klebrigen Händchen an den Haaren zu ziehen. Ganz zu schweigen davon, dass sie seit der Gartenfeier deutlich schwerer geworden war.

Maomaos Begeisterung hielt sich verständlicherweise sehr in Grenzen. Sie fühlte sich wie ein misshandeltes Spielzeug, ein Holzpferd. Aber da das Kind eine kaiserliche Prinzessin war, hatte sie keine andere Wahl, als das Ganze über sich ergehen zu lassen.

Jinshi lachte und hob die Hände, sich vorsichtshalber bereitmachend, die Kleine aufzufangen, falls sie stürzen sollte. Doch es bestand kein Grund zur Sorge, denn Maomao hatte bereits Linglis Beinchen ergriffen und hielt sie an Ort und Stelle fest.

Er lachte weiter, bis er den Killerblick der Apothekerin zu bemerken schien, und hörte auf.

 „Aww, sei nicht sauer, Apothekerin", versuchte er sie mit einem Lächeln zu beschwichtigen und beugte sich nach unten, um sie auf die Wange zu küssen.

Maomaos Begeisterung sank noch weiter ab.

„Bruder! Auch!", verlangte Lingli, die Zeugin jener Szene geworden war.

„Aber ja, du kriegst natürlich auch einen", sagte Jinshi leise lachend und gab ihr ebenfalls einen Kuss auf die Wange. Die Prinzessin kicherte zufrieden.

Und obwohl die Apothekerin immer noch ziemlich mies gelaunt war und nichts lieber wollte als sich auf ihr Zimmer zu verziehen, musste sie zu ihrer Überraschung zugeben, dass sich eine leichte Wärme in ihrer Brust auszubreiten begann.

Notes:

Und der vierte Part kommt voraussichtlich nächstes Wochenende, da ich nächste Woche weniger Zeit haben werde. :)

Chapter 45: Zwei Geschwister und eine Katze, Teil 4

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Maomao, das lebende, atmende „Holzpferdchen", stand immer noch beinahe unbeweglich und mit ihrem Korb auf dem Rücken an derselben Stelle im Empfangsraum der Jaderesidenz und starrte mit säuerlicher Miene in die Leere hinein. Mit anderen Worten: sie war die reinste Verkörperung von „Ich wäre jetzt am liebsten ganz woanders!"...

Aber leider durfte sie noch nicht gehen, denn ihr war aufgetragen worden, auf das Kleinkind aufzupassen, welches gerade auf ihren Schultern saß... während ein anderes, bereits erwachsenes „Kind" die Hand auf eine der ihren gelegt hatte, mit denen sie die Beinchen des Kleinkindes festhielt. Maomao ließ ihn einfach gewähren. Protestieren würde sowieso nichts bringen und außerdem war sie sein Verhalten ja bereits gewohnt.

Jedoch stellte sie zu ihrer eigenen Verwunderung fest, dass die Wärme, die vorhin begonnen hatte, sich in ihr auszubreiten, immer noch anhielt. Tja, möglicherweise misfiel ihr ihre aktuelle Lage ja doch weniger als sie es sich selbst gegenüber zugeben wollte.

Dennoch gab es da aber einige Dinge, auf die sie gut und gerne verzichten könnte.

Zum Beispiel...

Maomao verzog das Gesicht, als sie etwas Nasses in ihrem Haar spürte, welches gerade von den winzigen Händchen der Prinzessin zerzaust wurde.

„Urgh. Warum konntest du nicht IHN anspucken?", dachte sie, genervt wie sonst was. Als Apothekerin war dies natürlich bei Weitem nicht das erste Mal, dass sie mit Körperflüssigkeiten anderer Leute in Kontakt kam (von denen Speichel übrigens noch eine der harmlosesten war), doch das musste noch lange nicht bedeuten, dass sie es als angenehm empfand. Kein bisschen.

Sie beschloss, dem Badehaus vor dem Abendessen einen Besuch abzustatten...

Doch ihre Gedanken wurden auf einmal unterbrochen, als sie spürte, wie sich das Kind auf ihren Schultern bewegte und sich in Richtung ihres Korbes ausstreckte. Daraufhin festigte Maomao unbewusst ihren Griff um Linglis Beinchen, damit diese nicht das Gleichgewicht verlor und herunterfiel.

„Was ist los, Eure Hoheit?", fragte sie. Nun, eigentlich konnte sie sich bereits denken, was los war: aller Wahrscheinlichkeit nach hatte der Korbinhalt das Interesse des Kindes erweckt. Und da Maomao genau wusste, um welche Art von Inhalt es sich handelte (schließlich hatte sie ihn selbst gepflückt), blieb sie vollkommen gelassen.

„Hm? Was hast du denn, Kleines?" Auch Jinshi hatte aufgehört, die Hand der Apothekerin zu drücken, und blickte sein „kleines Schwesterchen" fragend an.

Doch Lingli ignorierte ihre Fragen und streckte sich weiterhin Richtung Korb aus. Bis sie es endlich schaffte, eines der in ihm liegenden Blätter zu fassen zu bekommen.

Dann presste sie sich erneut an Maomaos Hinterkopf und begann, mit dem besagten Blatt vor den Augen der Apothekerin herumzuwedeln.

„Gift?", fragte sie neugierig.

Maomao verspürte das Bedürfnis, sich das Gesicht zu bedecken, nicht wirklich wissend, wie sie darauf reagieren sollte. Doch da sie gerade keine Hand frei und auch noch ein Kind auf ihren Schultern sitzen hatte, konnte sie nichts anderes tun als seufzen. Also wirklich, welch passender Zeitpunkt, um sich an ihre „Unterrichtsstunden" zu erinnern...

Und doch konnte die Apothekerin nicht anders, als ein kleines Lächeln aufzusetzen. Vielleicht war es ja der Tatsache geschuldet, dass Lingli sich überhaupt an ihren Unterricht erinnerte.

„Nein, das ist kein Gift, Prinzessin", erklärte sie seelenruhig. „Sondern bloß Löwenzahn. Dieser ist vollkommen harmlos, man kann sogar Salat daraus machen. Eigentlich ist er ziemlich gesund." Löwenzahn wirkte verdauungsfördernd, konnte bei Entzündungen unterstützen und auch den Stoffwechsel anregen.

Selbstverständlich erwähnte sie nicht, dass man auch aus Giftpflanzen Salat machen konnte, wenn man wollte. Jedoch war sie wohl die Einzige, die so etwas genießen würde.

„Gift!", ließ Lingli nicht locker, als ob sie überhaupt nicht zugehört hätte. Hatte sie vermutlich auch nicht, nahm Maomao an. So wie es aussah, waren ihre Erklärungen für ein Kleinkind dann doch noch etwas zu kompliziert.

„Nein, kein Gift", antwortete die Apothekerin geduldig. Gut, dann würde sie eben fürs Erste auf jegliche Details verzichten...

Jinshi, der gerade noch mit geröteten Wangen und leicht geöffnetem Mund wie gebannt auf Maomaos Lächeln gestarrt hatte, schüttelte daraufhin den Kopf, um wieder zur Realität zurückzukehren, und funkelte die Apothekerin böse an.

„Wirklich kein Gift?", fragte er streng nach und verschränkte die Arme.

„Wirklich, Eure Exzellenz."

„Also gibst du mir dein Wort, dass dieses Zeug hier harmlos ist, ja? Und auch für Kinder, nicht wahr?" Der Mondprinz stellte sich vor sie und stemmte eine Hand in die Hüfte, sich etwas nach unten beugend, um mit der anderen ihr Kinn zu ergreifen, ihr somit keine andere Wahl lassend, als ihm in die Augen zu schauen.

„Natürlich, Herr", antwortete Maomao stirnrunzelnd und funkelte ihn nun ihrerseits an. „Ich würde niemals etwas Gefährliches an einen Ort bringen, wo ein kleines Kind und eine Schwangere leben, da könnt Ihr Euch sicher sein."

„Für wen hält er mich eigentlich?", dachte sie entnervt und auch etwas beleidigt. „Wenn ich Gift hätte, würde ich es selbstverständlich ausschließlich außerhalb der Jaderesidenz konsumieren, um keine Risiken einzugehen. Das versteht sich doch wohl von selbst."

Jinshi musterte ihr Gesicht noch eine Weile lang und ließ dann endlich los, sich kurz den Nasenrücken massierend und einen Seufzer ausstoßend.

„Hmpf. Also gut, dann werde ich dir auch diesmal vertrauen. Immerhin hast du dieser Kleinen bereits ein Mal das Leben gerettet. Und mir ebenso."

Obwohl ihm trotzdem im Gesicht geschrieben stand, dass er es nun bereute, ihr Lingli auf die Schultern gesetzt zu haben. Maomao konnte fühlen, wie sich ihre Lippen beim Anblick seines Gesichtsausdrucks zu einem kleinen Grinsen zu krümmen drohten, schaffte es jedoch, sich noch rechtzeitig zusammenzureißen. Denn sie wusste, dass so etwas für sie ganz bestimmt nicht gut ausgehen würde.

Und doch schien Jinshi etwas von ihrer Schadenfreude gespürt zu haben, da er missbilligend die Lippen zusammenpresste und die Prinzessin wieder auf den Arm hob. 

Maomao atmete tief durch und stellte sich gerade hin, den Korb auf den Boden stellend und sich erleichtert die leicht schmerzenden Schultern massierend. Danach warf sie dem Mondprinzen einen gereizten Blick zu, als sie merkte, dass er der kleinen Lingli fest in die Augen sah. So wie sie ihn kannte, war für ihn das Thema noch nicht vollständig erledigt.

Und sie hatte Recht.

„Hör mir gut zu, Kleines", begann er mit seiner Standpauke, die Kleine im Arm haltend und mit dem Zeigefinger seiner freien Hand auf sie deutend. „Gift ist böse, hörst du? Es ist BÖSE! Du kannst davon Bauchweh bekommen und es kann noch andere, ganz, ganz schlimme Dinge auslösen. Wenn du also weißt, dass etwas giftig ist, nimm es auf keinen Fall in den Mund. Niemals! Verstanden?"

Trotz allem verzichtete er darauf, auszuführen, was für „ganz, ganz schlimme Dinge" das genau waren, um dem Kind nicht allzu viel Angst einzujagen, sondern bloß genug, um ihr zu verstehen zu geben, dass er es ernst meinte und sie besser tun sollte, was er sagte. Obwohl er ernsthaft bezweifelte, dass sie alt genug war, um das Konzept des Todes zu begreifen, zog er es vor, vorsichtig zu sein.

Währenddessen sah ihm die Apothekerin lediglich schweigend und mit neutralem Gesichtsausdruck zu.

Das Blatt immer noch fest in ihrer kleinen Hand haltend, weitete Lingli ihre großen Augen und fing dann zu lachen an.

„GIFT!", jubelte sie in ohrenbetäubender Lautstärke und biss auf der Stelle ein Stück von der Pflanze ab, Jinshi ein strahlendes Lächeln schenkend.

Er erstarrte beinahe zur Statue.

Maomao dagegen war ehrlich beeindruckt, dass das kleine Mädchen den Löwenzahn nicht auf der Stelle wieder ausgespuckt hatte, da sie der Meinung gewesen war, dass er für das Kind sicherlich zu bitter sein würde. Aber sie ließ sich diese Gefühle nicht anmerken. Das Einzige, was ihr doch ein klein wenig Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass das Blatt nicht gewaschen worden war. Doch da sie selbst in ihrer Kindheit eine ganze Menge ungewaschenen Löwenzahns konsumiert hatte (und auch noch andere, weniger harmlose Pflanzen), machte sie sich auch nicht allzu viele Gedanken darüber.

Und Jinshi war so bleich geworden wie ein Laken, so aussehend, als hätte man eiskaltes Wasser über ihn geschüttet. Ihm war nämlich klar geworden, dass jedes Fünkchen Hoffnung, dass zumindest die Kleine sich, was Gifte anging, als ein klein wenig vernünftiger herausstellen würde als die Apothekerin, gnadenlos mit Füßen getreten und zerstört wurde. Er konnte Einem fast schon leid tun.

„Nein...", murmelte er mit erstickter und ziemlich verzweifelter Stimme. „Bitte nicht..." Als ob er bereits vor seinem inneren Auge sehen konnte, wie sein Haar vor Sorge zu ergrauen begann, und zwar nicht mehr nur vor Sorge um Maomao allein, sondern um beide. „Das ist alles deine Schuld, Apothekerin..." In seinem Tonfall schwang nun eine gewisse Verbitterung mit.

Maomao wendete den Blick ab, so tuend, als habe sie kein Wort mitbekommen.

„Hey, ignorier du mich gefälligst nicht auch noch!"

Er blies erneut empört die Wangen auf, woraufhin sie leise seufzte und den Kopf wieder zu ihm zurückdrehte, immer noch ohne ein Wort von sich zu geben.

Na klar, denn was hätte sie dazu auch schon sagen können? Nichts. Er hatte Recht: Maomao war diejenige, die Lingli von Giften erzählt hatte. Jawohl, sie bekannte sich schuldig! Bloß begriff sie nicht ganz, was an ihrer Tat so schlimm sein sollte, immerhin war es ja ziemlich nützlich, über solche Dinge Bescheid zu wissen, vor allem als kaiserliche Prinzessin, und sogar Dame Gyokuyou teilte diese Meinung (obwohl Maomao zugeben musste, dass sie selbst nicht erwartet hatte, dass Lingli DERMASSEN interessiert sein würde. Vielleicht lag es ja daran, dass sie noch so klein war, und das Interesse würde mit der Zeit verblassen?).

Und außerdem war sie sich trotz allem sicher, dass keine gefährliche Substanz im Körper des Kindes landen würde, da stets jemand da war, der auf das Mädchen Acht gab, vor allem nach dem Vorfall mit dem Giftpuder. Maomao mit eingeschlossen, die jeden Tag das Essen der Prinzessin auf Gift vorkostete. Also gab es wirklich keinen Grund, solch ein Aufhebens zu veranstalten, fand sie.

Im Raum herrschte weiterhin Schweigen, bis Jinshi, welcher die Apothekerin immer noch mit Blicken durchbohrte, auf einmal spürte, wie das Kind in seinen Armen anfing, ihm auf die Brust zu klopfen. Bestimmt, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Bruder! Bruder!"

„Eh? Ja, was gibt's denn, Lingli?"

Er blickte sie leicht verwirrt an und stellte fest, dass sie ihm ihr halb aufgegessenes Blatt hinhielt.

„Bruder! Iss!"

Einen Moment lang hatte Jinshi wirklich nicht die leiseste Ahnung, was er dazu sagen sollte.

„Nein, danke", lehnte er letztendlich ihr Angebot nach einigem Zögern ab, doch ein kleines Lächeln hatte es bereits wieder ganz unbemerkt auf seine Lippen geschafft. Nun, er fand es einfach zu lustig, dass sie das Blatt gern mit ihm teilen wollte, mal ganz davon zu schweigen, dass es gänzlich unmöglich war, auf ein solch niedliches Geschöpf sauer zu sein. „Du kannst es behalten. Schließlich ist es ja zum Glück nicht wirklich giftig."

Aber dann riss er auf einmal die Augen auf. Schockiert, so wie es aussah.

Maomao warf ihm einen finsteren Blick zu, sich fragend, was es denn diesmal war.

„Eure Exzellenz?"

„Oh nein, ich habe sie doch nicht etwa traurig gemacht, oder?...", murmelte der junge Herr erschrocken vor sich hin.

„Ach, Mensch...", dachte Maomao mit einem weiteren Seufzer.

„Es tut mir leid, Kleines! Psst, nicht weinen, in Ordnung?"

Jinshi drückte die Prinzessin fest an sich, obwohl Lingli nicht im Geringsten so wirkte, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Stattdessen kicherte sie fröhlich, die Umarmung ihres großen Bruders genießend.

Bis ihr Blick plötzlich auf etwas fiel und sie auf das auf dem Tisch liegengelassene Kinderbuch zeigte.

„Lesen!"

Jinshi, der ebenfalls wieder vollkommen ruhig geworden war, rieb ihr sanft den Rücken.

„Ach, stimmt, wir haben das Buch ja noch gar nicht fertiggelesen, nicht wahr?"

Er war sichtlich froh über den Themenwechsel.

„Mao! Lesen!"

„Oh? Na sieh mal einer an! Sie möchte jetzt, dass du ihr vorliest, Apothekerin!"

Maomao sah so aus, als wolle sie wirklich, wirklich, WIRKLICH gern woanders sein...

Notes:

Ach, der arme Jinshi, haha!
Okay, und das letzte Kapitel dieser kleinen Geschichte kommt voraussichtlich nächstes Wochenende (während ich an diesem hier arbeitete, ist mir übrigens eine echt lustige Idee dafür gekommen!).

Chapter 46: Zwei Geschwister und eine Katze, Teil 5

Notes:

Ich hab dieses Kapitel doch schneller fertiggestellt als erwartet!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Einige Zeit später hatte die kleine Prinzessin es schließlich erfolgreich geschafft, Maomao (mit Hilfe ihrer Niedlichkeit und auch ein wenig Unterstützung von Jinshi) zum Vorlesen zu „überreden”. Und nun saßen die drei, nachdem die Apothekerin erstmal die ganzen Krümel vom Boden aufgeräumt hatte, um später keinen Ärger dafür zu bekommen, zusammen auf der Couch: Maomao und Jinshi nebeneinander und Lingli diesmal auf dem Schoß der Apothekerin.

Maomao fragte sich, ob der junge Adelige wohl vorhatte, bald an die Arbeit zurückzukehren. Schien nicht der Fall zu sein.

„Selbst schuld, wenn er heute Nacht wegen Überstunden nicht genug Schlaf abbekommt, morgen an seinem Schreibtisch einnickt und dann von Dame Suiren eine gehörige Standpauke zu hören bekommt”, dachte sie ohne ein Fünkchen Mitleid und blätterte zur nächsten Seite um. Aber das war sein Problem, nicht ihres.

„Die Prinzessin war so hübsch und unfassbar schön, dass keiner ihrem Charme widerstehen konnte”, las sie. „Sie war in der Lage, eine gesamte Nation in die Knie zu zwingen.”

Hm, irgendwie erinnerte sie diese Beschreibung an jemanden. Und anscheinend nicht nur sie.

„Oh?” Lingli, welche immer noch das Löwenzahnblatt in ihrer winzigen Faust festhielt, riss die Augen auf, als sei ihr etwas eingefallen.

Sie schaute zu Maomao auf. Ihre Blicke trafen sich.

Dann drehten die beiden umgehend die Köpfe zur Seite und sahen den jungen Herrn an, der neben ihnen saß.

Jinshi starrte verwundert zurück.

„Was ist los? Was habt ihr zwei denn?”

Einen kurzen Augenblick lang herrschte absolute Stille. Dann zeigte Lingli mit dem Finger auf ihn.

„Prinzessin!”

Zunächst war er viel zu verblüfft, um auch nur ein Wort herauszubekommen, setzte dann aber ein verspieltes Grinsen auf und strich der Kleinen über den Kopf, ihr als Nächstes erneut die Hand auf den Bauch legend.

„Oh, das schon wieder? Ich habe dir doch gesagt, dass ich keine Prinzessin bin! Willst du etwa erneut gekitzelt werden? Na, willst du?”

„PRINZESSIN! HÜBSCH!”

„Also gut, du hast es so gewollt!”

Die Kleine brach in Gelächter aus und lehnte sich an die Apothekerin, mit den Ärmchen herumwedelnd und mit den Beinchen strampelnd, während der ebenfalls lachende Jinshi sie zum wiederholten Male gnadenlos durchkitzelte.

Bis er auf einmal wie gelähmt innehielt und ganz still wurde. Seine Augen weiteten sich vor unermesslicher Verblüffung.

Ein schier unglaubliches Geräusch hatte soeben sein Gehör erreicht. So dermaßen unglaublich, dass er sich fragte, ob er es sich möglicherweise bloß eingebildet hatte.

„Pff…”

Da war es wieder! Es war keine Einbildung!

Ein unterdrücktes Lachen…

„Apothekerin?”

Sie hatte den Blick abgewendet.

Jinshis Herz zog sich zusammen und in seinem Magen begann es zu kribbeln. Angetrieben von Neugier, packte er Maomao an der Schulter und brachte sie dazu, den Kopf wieder zu ihm zu drehen.

Das Kribbeln wurde stärker, als er sah, wie knallrot ihr Gesicht angelaufen war, mit ein paar winzigen Tränen in den Augenwinkeln. Das Buch nun in einer Hand haltend, hatte sie sich die zweite an den Mund gepresst, mit aller Macht versuchend, keinen einzigen Lacher entweichen zu lassen. Jedoch vergeblich. Sie war so in ihre Tätigkeit vertieft, dass sie überhaupt nicht merkte, wie er sie anstarrte. Ihr ganzer Körper bebte vor Anstrengung.

Mit angehaltenem Atem griff der Mondprinz nach ihrem Handgelenk und deckte behutsam den unteren Teil ihres Gesichtes auf…

Der Anblick brachte ihn dazu, den Mund zu öffnen und die angehaltene Luft herauszulassen, während seine freie Hand unbewusst zu seinem rasenden Herzen wanderte.

Zwar war es nicht das entzückte Lächeln, welches sie stets aufsetzte, wenn sie seltene medizinische Wirkstoffe und Kräuter erspähte, doch…

…während sie ihr Bestes gab, um ihr Gelächter zurückzuhalten, sah sie so schön aus, dass er es nicht mit Worten zu beschreiben vermochte. So unfassbar schön, dass er kaum seinen Augen traute und heftig errötete… sich so fühlend, als würde er träumen.

Das war das allererste Mal, dass er sie so erlebte.

Eine gesamte Nation in die Knie zwingen… Nun, Maomao war in der Lage, IHN in die Knie zu zwingen… allein mit ihrem Lächeln. Und mit ihrem Lachen war sie fähig, sein Herz in Stücke zu reißen… so heftig, wie sie es pochen ließ.

Währenddessen schien sich die Prinzessin zu wundern, wieso er so plötzlich aufgehört hatte, sie zu kitzeln. Sie blinzelte einige Male verwirrt und zupfte dann an seinem Ärmel.

„Bruder?”

Und als Nächstes an Maomaos.

„Mao?”

Endlich kam der junge Herr wieder zu sich und schloss die Apothekerin umgehend in die Arme, sie mit einem strahlenden Lächeln und außer sich vor Glück eng an sich drückend.

„War das etwa wirklich so lustig?”, murmelte er mit einem leisen Lachen und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Maomao schnappte nach Luft und ihre Gesichtsfarbe kehrte allmählich wieder zur Normalität zurück.

„Eure Exzellenz!”

Ihr Lächeln war verschwunden und hatte ihrem typischen Stirnrunzeln Platz gemacht. So wie es aussah, hatte sie sich wieder vollständig gefasst.

„Ach, wie schade”, dachte sich Jinshi enttäuscht, sagte jedoch nichts dazu. Stattdessen rieb er ihr kurz den Rücken und ließ schließlich los.

Jedoch währte seine Enttäuschung nicht lange, denn Lingli, die während der Umarmung zwischen den beiden Erwachsenen eingeklemmt gewesen war, schnappte sich seinen Daumen.

„Auch! Bruder! Auch!”

Ganz offensichtlich wollte auch sie einen weiteren Kuss.

Jinshi gab ein belustigtes Schnauben von sich und hob sie hoch, um ihr den Wunsch zu erfüllen.

„Komm her, du kleine Heldin, die es geschafft hat, unsere Apothekerin zum Lachen zu bringen”, meinte er mit deutlicher Bewunderung und Dankbarkeit, jedoch auch mit ein bisschen Neid. Eines Tages würde es auch ihm gelingen, Maomao solch ein Lachen zu entlocken! Eines Tages, ganz bestimmt!

Er gab auch dem Kind einen Kuss auf die Stirn.

„Tolle Heldentat, ganz toll…”, dachte Maomao mürrisch, bevor sie sich erneut in seinen Armen wiederfand, diesmal zusammen mit der Prinzessin.

„Damit keine von euch sich wieder eifersüchtig fühlt.”

„Ich bin nicht eifersüchtig! Wie oft denn noch?”, zischte die Apothekerin gereizt, doch keiner hörte ihr zu.

Um ehrlich zu sein, wusste sie eigentlich selbst nicht, was genau sie an der Szene vorhin so komisch gefunden hatte… wirklich nicht die leiseste Ahnung.

Was zur Hölle war an jenem Tag bloß mit ihr los?

Der Mondprinz vergrub die Nase in ihrem immer noch von Linglis Fingerchen zerzausten Haar. (Maomao wollte ihn zunächst warnen, dass die Kleine hineingespuckt hatte, überlegte es sich dann jedoch anders und behielt diese Information für sich. Als kleiner Racheakt, sozusagen.)

„Meine zuckersüße, eifersüchtige Katze…”

„Katze!”

„Aber ich bin nicht… ach, was soll’s…”

Und das war der Augenblick, an dem Maomao endlich aufgab und sich einfach von ihm drücken ließ.

***

Nach einer langen Umarmung haben sich die drei schlussendlich beruhigt und Jinshi setzte die Kleine auf Maomaos Schoß zurück, damit die Apothekerin ihr weiter vorlesen konnte. Was diese auch tat. Ohne besondere Begeisterung, wie immer. Nun, es war ja immerhin kein Buch über Medizin oder Pflanzen, also kein Wunder.

Dies brachte den jungen Herrn zum Kichern. Er legte sein Kinn auf ihrem Kopf ab.

„Oh, hör dir bloß an, wie monoton deine Stimme ist, Apothekerin”, zog er sie mit einem frechen Grinsen auf, während die Apothekerin eine kurze Pause machte, um Linglis Händchen vom Buch wegzunehmen, mit dem das Mädchen eine der Illustrationen getätschelt hatte. „Ich wette, sie ist noch wirkungsvoller als deine Schlafmittel.”

Maomao biss angesichts seiner Worte zwar die Zähne zusammen, ließ sich jedoch nicht von ihnen provozieren. Wenigstens Einer im Raum musste sich ja wie ein Erwachsener verhalten, oder?

„Ich tue, was ich kann, Herr”, antwortete sie ruhig, doch mit einem genervten Unterton. „Aber so einschläfernd wie Ihr behauptet, ist meine Stimme gewiss nicht, vielen Dank aber auch!”

„Ach ja?”

Wie aufs Stichwort vernahmen die beiden daraufhin aus heiterem Himmel ein süßes Gähnen und warfen einen verblüfften Blick nach unten.

Die kleine Prinzessin hatte sich auf Maomaos Schoß zusammengerollt und ihr Gesicht an den Bauch der Apothekerin gedrückt, während diese von Jinshis Sticheleien abgelenkt gewesen war.

„Eure Hoheit?”

Nach einigem Zögern legte Maomao die Hand auf Linglis Rücken und runzelte die Stirn, als sie feststellte, dass das Kind tief und fest schlief, immer noch das Blatt in der Hand festhaltend.

Maomao sagte kein Wort.

Jinshi ebenso wenig.

Doch er wirkte so, als ob er jeden Moment vor Lachen platzen würde.

„Hahaha, das hast du’s! Hier ist der Beweis!”, freute er sich, im Versuch, nicht allzu viel Lärm zu machen, um die Kleine nicht zu stören.

Maomao hatte eine solche Lust, ihn zu hauen, dass sie sogar unbewusst die Hand hob. Doch letztendlich beherrschte sie sich und funkelte ihn stattdessen an, als sei er eine riesige Schlammpfütze nach einem heftigen Regenfall.

„Bestimmt ist sie bloß erschöpft von dem ganzen Spielen mit Euch”, knurrte sie.

Er zog spielerisch an ihrer Wange.

„Nein, nein, das war deine Stimme, Apothekerin. Sogar ich bin beim Zuhören schläfrig geworden.”

Und mit diesen Worten gab er ein unerwartetes Gähnen von sich und schlang den Arm um die Taille der Apothekerin, sie näher an sich heranziehend. Sie schlug das Buch zu und legte es auf den Tisch zurück.

Dann verengte sie die Augen. Wann!? Wann würde diese als Aufpasserei getarnte Folter endlich enden!?

„Schlaft Ihr hier nicht auch noch ein, Eure Exzellenz.” Nun schwang ein warnender Unterton in ihrer Stimme mit. „Bitte.”

„Nur keine Sorge, werde ich nicht. Ganz ruhig. Schließlich bin ich kein Kind mehr.”

Maomao tat einen tiefen Atemzug.

„Ganz genau, aber manchmal verhaltet Ihr Euch wie eines”, dachte sie.

Und zu ihrer riesigen Erleichterung hielt Jinshi sein Versprechen tatsächlich, auch wenn er für eine Sekunde die Augen schloss, während er immer noch seinen Arm um sie geschlungen hielt, seine geliebte Katze, welche fast unbewegt an Ort und Stelle saß mit der friedlich schlummernden Prinzessin auf dem Schoß.

Nach einer Weile brach er dann das Schweigen, indem er erneut das Wort ergriff.

„Also, jedenfalls hat die Kleine absolut Recht. Dein Schoß ist tatsächlich der allerbeste Platz zum Schlafen, das kann ich bestätigen!”

Maomao verdrehte die Augen, jene Aussage nicht mit einer Antwort würdigend. Sie musste ihn nicht einmal ansehen, um zu wissen, dass er bestimmt schon wieder lächelte.

Und sie behielt Recht. Das tat er. Und zwar war es ein Lächeln, gefüllt mit Wärme und Zuneigung. Einem Glück, als hätte er ihn endlich gefunden, den Ort, an dem er zu Hause war.

„Sie ist so süß und lustig”, fuhr er nach einer weiteren kurzen Pause fort. „Es ist wirklich schön, eine kleine Schwester zu haben, findest du nicht?” Der Mondprinz platzierte eine seiner breiten Handflächen auf Maomaos Kopf und die andere auf Linglis, um ihnen beiden sanft durchs Haar zu streicheln.

„Nun, ich mag Kinder zwar nicht besonders, aber in diesem Fall ist es nicht ganz so schlimm, sage ich mal.”

„Also anders ausgedrückt, stimmst du mir zu, was?”

Jinshi kicherte. Die Apothekerin gab ein Schnauben von sich, widersprach jedoch nicht. Sie hatte eben keine Lust auf eine weitere sinnlose Diskussion.

„So schön, eine Familie zu haben…” Jinshis nun leicht melancholische Stimme verlor sich, während er sich in seine Gedanken vertiefte und ein Dutzend Zentimeter von der Apothekerin wegrückte, um seinen Kopf an den ihren zu lehnen und seine Wange an ihre zu drücken.

Maomao sagte immer noch nichts. Sie hob lediglich das kleine Mädchen hoch, um es ins Bett zu bringen. Aber trotz ihres Vorhabens blieb sie weiterhin sitzen, die Wärme des schlafenden Kindes in ihren Armen und die von Jinshi direkt an ihrer Seite spürend. Und sie musste zugeben, dass es ihr trotz allem nicht missfiel.

„Apropos, Familie”, dachte sie mit leicht gerunzelter Stirn und warf einen nicht so ganz diskreten Blick zwischen die Beine des Mondprinzen. „Eigentlich ist es ein ganz schöner Jammer, dass er keine Kinder haben kann, und nicht nur wegen seiner Schönheit. So wie er mit diesem Kind hier umgeht, wäre er bestimmt ein guter Vater.”

Diesmal befand sich kein einziger Hauch Sarkasmus in ihren Gedanken. Sie meinte es Ernst.

Ihre Blicke ganz offensichtlich spürend, hob Jinshi den Kopf und sah sie ebenfalls leicht stirnrunzelnd an.

„Ist irgendetwas, Apothekerin?”

„Nichts, Herr.”

„Wie du meinst…”

Zwar klang er nicht so ganz überzeugt, hakte jedoch nicht weiter nach.

Plötzlich hörten die beiden Schritte, blickten auf der Stelle auf und sahen Dame Gyokuyou, die zusammen mit Hongniang den Raum betrat. Begleitet von Gaoshun, welcher gekommen war, um nach seinem Herrn zu suchen, und den beiden Frauen im Korridor der Residenz begegnete. Zu dritt hatten sie sich dann hinter der leicht geöffneten Tür zum Empfangsraum positioniert und die Interaktionen zwischen Jinshi, Maomao und dem Kind beim gemeinsamen Vorlesen beobachtet. Ohne einen Laut von sich zu geben, damit die Apothekerin und der junge Herr ihre Gegenwart nicht bemerkten. Selbstverständlich auf Befehl der Gemahlin.

Gaoshun blieb noch einen Moment, die Hände in den Ärmeln verborgen, an der Türschwelle stehen und trat dann ebenfalls ein. Irgendwie sah er seltsam gerührt aus. Möglicherweise hatten ihn die mit angesehenen Szenen ja an die Zeit erinnert, als er in Jinshis Alter gewesen war und seine kleine Tochter im Arm gehalten hatte. Wer wusste das schon…

Die Gemahlin trug ein warmes Lächeln im Gesicht und sah äußerst zufrieden aus.

„Na, habt ihr zwei auch schön auf meine Xiaoling aufgepasst?”, erkundigte sie sich fröhlich.

Maomao wollte ihr antworten, doch bevor sie auch nur einen Laut von sich geben konnte, spürte sie, dass die Kleine angefangen hatte, sich in ihren Armen zu rühren und aufzuwachen.

Vielleicht hatte sie ja im Schlaf die Gegenwart ihrer Mutter gespürt.

„Mama?” Lingli rieb sich verschlafen die Augen und streckte dann auf der Stelle die Ärmchen in Gyokuyous Richtung aus. „Mama!”

Die Apothekerin erhob sich und stellte sie auf die Füße, woraufhin die winzige Prinzessin sofort zur Gemahlin hinlief, ihr voller Freude das Löwenzahnblatt präsentierend.

„Mama! Gift!”

„Oh nein…”, dachte Maomao, die Augen weit aufreißend. „Verdammt!”

Sie hörte, wie sogar der neben ihr stehende Jinshi schwer schluckte, obwohl er nicht derjenige war, der in Gefahr schwebte.

Lingli währenddessen hüpfte, „Gift, Gift, GIFT!” singend, vor ihrer Mutter herum und Dame Gyokuyou lachte so heftig, dass sie beinahe weinte.

Und was Hongniang anging… diese war vor Zorn knallrot angelaufen…

„MAOMAO!!!”

Die Stimme der obersten Zofe hallte durch die gesamte Jaderesidenz wie ein Unheil verheißendes Donnergrollen.

Maomao war sich nicht sicher, ob sie den nächsten Tag noch erleben würde…

Notes:

Wie ihr bestimmt gegen Ende bemerkt habt, spielt diese Geschichte noch vor der Froschszene, hehe!

Und hiermit ist nun eine weitere Geschichte beendet. Wie immer vielen Dank fürs Lesen!

Okay und hier ist mein nächster Plan:
Ich hab eine Idee für eine weitere besondere Geschichte, die ich am 31. Dezember hochzuladen plane, um das Ende des Jahres zu feiern.
Also anders gesagt, mach ich ne Pause und fang dann an, daran zu arbeiten.
(Außerdem werde ich eventuell noch ein ganz kurzes Drabble Anfang/Mitte Dezember hochladen, aber das ist noch nicht sicher.)

Chapter 47: Du bist meine Medizin, Teil 1

Summary:

Jinshi, Maomao und eine Schneeballschlacht... mit Folgen...

Notes:

Eigentlich war diese Geschichte hier als One-Shot gedacht und sollte am 31.Dezember rauskommen, aber als ich merkte, dass sie länger wurde als erwartet, hab ich beschlossen, sie in drei Kapitel aufzuteilen. Längere Texte aufzuteilen macht es nun mal deutlich einfacher für mich, mich auf die einzelnen Szenen zu konzentrieren (umso mehr, weil ich meine Geschichten parallel auch noch auf Englisch hochlade).

Das zweite Kapitel ist für den nächsten Samstag, den 14. geplant, und das dritte wird mein Weihnachtsgeschenk an euch zum Heiligabend :)

Oh, und falls ihr euch wundert, wieso diese Fanfic früher rauskommt: nun, mir ist eine andere Idee für den 31.12. gekommen. Die traf mich wie... ein Blitz, der in einen Baum einschlägt! Am Ende des nächsten Kapitels verrat ich euch, was für ne Idee das ist :)

Ach ja:
wer meine Fanfic „Du bist wirklich hier" gelesen hat: ihr könnt diese Story hier als eine Art Extrakapitel betrachten!
wer nicht: seht es einfach als unabhängige Geschichte

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Es war ein frostiger Vormittag. Über Nacht war eine Menge Schnee gefallen und hatte die kahlen Bäume, die Erde und die mit dünnen Eiszapfen verzierten Dächer des kaiserlichen Hofes unter einer dicken, eisigen Schicht seiner Flocken begraben. Dadurch hatte sich die Landschaft in etwas verwandelt, was einem mit zarten Pinselstrichen gefertigten Wintergemälde glich.

Ein vergleichsweise ruhiger Tag im Äußeren Palast, der immer noch verschont war von der üblichen Neujahrshektik, welche in etwas mehr als einem Monat beginnen sollte. Mal abgesehen von einigen Bediensteten, die entweder auf einen Botengang geschickt worden waren oder die weiße Pracht wegschippten, um rutschfreie Laufwege für die adeligen Bewohner des Hofes zu schaffen, befand sich derzeit keiner draußen in der Nähe der Residenz eines gewissen jungen Herrn.

Nein, halt! Ein Pfad aus relativ kleinen Fußspuren widerlegte jene Tatsache und lieferte den Beweis, dass da doch noch jemand aufzufinden war. Vom Eingang des Gebäudes aus führten die Spuren einmal um es herum direkt zum Hinterhof...

...und brachen genau hinter einer kleingewachsenen jungen Frau ab, die ganz allein und fast knöcheltief dort im Schnee herumstand und auf ein kleines, leeres und ebenfalls schneebedecktes Stück Land herabblickte. Ihre Lippen schmückte ein nur selten gesehenes glückseliges Lächeln und ihre Augen strahlten dermaßen, als würde ihren Körper eine winzige Sonne von innen heraus wärmen.

Ohne einen Laut von sich zu geben, betrachtete Maomao freudig den künftigen kleinen Kräutergarten, den ihr überaus großzügiger Arbeitgeber Jinshi aus heiterem Himmel beschlossen hatte ihr zu schenken. Erneut schwelgte sie genüsslich in Fantasien, welche Arten von Heilkräutern sie dort wohl am Besten pflanzen sollte, eine Angewohnheit, welche sie sich kürzlich angeeignet hatte und der sie sich regelmäßig hingab, seit sie jenes Geschenk von ihm „erhalten" hatte.

Jedoch lediglich nur für einige Minuten am Tag, auch wenn es trotz des Wetters schwerfiel, ihre Besuche kurz zu halten. Aber das musste sie, andernfalls riskierte sie eine Standpauke von Jinshi selbst, der zwar eigentlich nichts dagegen hatte, dass sie gelegentlich zu ihrem neuen Garten hinausging (solange sie ihre Pflichten nicht vernachlässigte, versteht sich), sich aber auch Sorgen machte, dass sie krank werden würde, wenn sie sich zu lange in der Kälte draußen aufhielt.

Die Apothekerin schnalzte leise mit der Zunge. Das war das allererste Mal in ihrem Leben, dass jemand ein solches Aufhebens um ihr Wohlergehen machte, und es war wirklich nicht leicht, sich an seine manchmal fast schon erdrückende Besorgnis zu gewöhnen. Doch ihr blieb keine andere Wahl als das Ganze über sich ergehen zu lassen, denn ihr war inzwischen klargeworden, dass da sowieso nichts zu machen war. Immer wenn es um solche Themen ging, wurde er nämlich stur wie ein Esel und weigerte sich, ihre Proteste anzuhören.

Na ja, so war Jinshi nun einmal.

Aber seltsamerweise nur ihr gegenüber. Ihr ganz allein.

Maomao schüttelte rasch den Kopf, da sie nicht den geringsten Wunsch verspürte, über solche Dinge nachzugrübeln, und wendete sich erneut ihrem (noch) leeren Garten zu. Ihr Blick wurde wieder weicher.

Und obwohl sie von außen so ruhig und gelassen wie eh und je wirkte, platzte sie in Wahrheit beinahe schon vor Ungeduld. Tagträume und Fantasien waren ja schön und gut, aber sie wollte endlich etwas in Wirklichkeit dort pflanzen! So sehr, dass es ihr praktisch in den Finger juckte! Dieser blöde Winter! Welch ein Jammer, dass sie nicht die Fähigkeit besaß, die Zeit schneller vergehen zu lassen...

Die Apothekerin biss kurz die Zähne zusammen und tat danach einen tiefen Atemzug, dabei eine winzige Wolke erzeugend. Hach, es brachte nichts... und doch hörten ihre Hände einfach nicht auf, vor grenzenloser Aufregung und Vorfreude zu zittern!

Oder doch eher vor Kälte?

Ein frostiger Wind, so schneidend wie eine frisch geschärfte Klinge, brachte ihr Gesicht zum Glühen und färbte ihre Wangen rot. Obwohl es, mal abgesehen von ein paar einzelnen Flocken, welche durch die Luft tanzten, gerade nicht schneite, war es den dicken, grauen Wolken anzusehen, dass dies sich jede Minute ändern könnte. Maomao verengte die Augen, fröstelte und zog ihren warmen Umhang enger um ihren Körper. Genug für heute. Es war an der Zeit, sich auf den Rückweg zu machen und zu ihren Pflichten zurückzukehren, bevor sie noch fürs Herumtrödeln Ärger bekam.

Und so verbarg sie die Hände in den Ärmeln und schritt los. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen.

***

Doch nach einigen Dutzend Metern blieb die Apothekerin urplötzlich wieder stehen und warf einen stillen Blick auf die Residenz. Sie befand sich nun ganz nah zum Fenster einer gewissen Schreibstube.

„Wahrscheinlich sitzt er bereits an seinem üblichen Papierkram", dachte sie mit einem vollkommen ausdruckslosen Gesicht. Nach einer Weile wollte sie dann schließlich ihren Weg fortsetzen und hob sogar schon den Fuß, um weiterzugehen, senkte ihn aber stattdessen wieder und bückte sich, um eine Handvoll Schnee aufzuheben.

Maomao hatte selbst nicht den leisesten Schimmer, was auf einmal in sie gefahren war, doch bevor sie sich versah, hatte sie bereits einen Schneeball gemacht.

Einen Schneeball, der auf das vorhin erwähnte Fenster zuflog...

...welches sich genau in dem Moment zu öffnen begann.

Ein vollkommen verblüffter Jinshi starrte auf den Schneeball, der direkt auf seiner Brust gelandet war, und erschauderte ob seiner betäubenden Kälte. Welch eine Überraschung! Und dabei hatte er doch lediglich ein wenig frische Luft gewollt, bevor er sich an die Arbeit setzen würde...

„Volltreffer...", dachte Maomao erschrocken und riss die Augen weit auf. Sie hätte die Gelegenheit nutzen können, um ganz schnell das Weite zu suchen, doch aus irgendeinem Grund wollten ihr die Beine nicht gehorchen, sodass sie wie festgeklebt an Ort und Stelle blieb und Richtung Fenster starrte.

Weshalb Jinshi sie, die Täterin, auch sofort entdeckte, als er sich wieder gefasst hatte und aufblickte. Seine fein geschwungenen Augenbrauen zogen sich zusammen.

Mit einer einzigen Handbewegung wischte er den Schnee von seiner Kleidung und verschränkte vorwurfsvoll die Arme.

„Toller Wurf, Apothekerin", kommentierte er mit einer Stimme, die vor Sarkasmus nur so triefte.

Maomao schluckte und verbeugte sich vor ihm.

„Ich bitte um Verzeihung, Eure Exzellenz!"

Sie versuchte nicht einmal, abzustreiten, dass sie den Schneeball geworfen hatte. Selbstverständlich, wieso denn auch? Wer außer ihr hätte es sonst sein können? Der Wind etwa? Oh, bitte, Jinshi war kein solcher Idiot, um einer so dummen Ausrede wie dieser Glauben zu schenken. Auch wenn er sich ab und zu wie einer benahm.

Er musterte sie noch eine Weile lang.

„Hmph. Warte mal kurz."

Als Nächstes schloss er das Fenster wieder und verließ es.

Die Apothekerin wusste genau, dass sie in Schwierigkeiten steckte, und war angespannt, blieb jedoch trotzdem brav, wo sie war.

Etwa vier-fünf Minuten später erspähte sie Jinshi schließlich draußen. Auch er hatte sich einen Winterumhang übergeworfen und ging nun auf sie zu. Auf seinem wunderschönen Gesicht befand sich immer noch eine ziemlich strenge Miene, was ihn so aussehen ließ, als wolle er ihr gleich eine Predigt halten. Nun, das war zu erwarten gewesen. Bloß begriff Maomao nicht ganz, weshalb er dafür extra rausgehen musste, statt sie zu sich herbeizurufen oder ihr zumindest zu befehlen, näher an das Fenster heranzutreten.

Und als sie nur noch wenige Meter voneinander trennten, blieb der junge Adelige plötzlich stehen und blickte sich stirnrunzelnd um.

„Gut, keiner hier."

„Hä!? Was zur Hölle hat er bitte vor?", dachte Maomao voller Unruhe und ballte unbewusst die Hände zu Fäusten. Und genau im nächsten Moment spürte sie auch schon, wie etwas Eiskaltes sie am Arm traf, und blickte wieder zu ihrem Arbeitgeber auf...

...der sie nun breit angrinste, während er bereits den nächsten Schneeball formte. Im Handumdrehen hatte sich die anmutige „himmlische Nymphe" in einen verspielten jungen Mann verwandelt. Damit offenbarte er ihr eine seiner verborgenen Seiten, welche er außer der Apothekerin so gut wie niemandem sonst zeigte.

„Was denn, Apothekerin, dachtest du etwa ernsthaft, ich würde das einfach so auf mir sitzen lassen? Schau mich nicht so an, du bist diejenige, die damit angefangen hat."

Nun, auch diese Tatsache konnte Maomao gewiss nicht abstreiten. Sie entspannte sich wieder, froh, dass er doch nicht sauer auf sie zu sein schien. Danach war sie mit Stirnrunzeln dran.

„Habt Ihr keine Arbeit zu erledigen, Herr?"

Jinshi verzog für einen Augenblick das Gesicht und funkelte sie mit einem „Na, das sagt ja genau die Richtige"-Blick an.

„Doch, habe ich, aber Gaoshun ist noch nicht da, also beschloss ich, diese Tatsache auszunutzen. Also gut, wie wär's nun mit einer kleinen Schneeballschlacht?" Er setzte ein erneutes Grinsen auf, welches ihn sogar noch etwas frecher wirken ließ als das vorherige. „Oder willst du, dass ich Suiren erzähle, dass du mich mit einem Schneeball attackiert hast?"

Maomao sah ihn an, als sei er eine riesige Spinne, die in einer Ecke ihres Zimmers von der Decke hing.

„Bitte, was!? Seid Ihr drei Jahre alt oder wie!?", dachte sie und die Falte zwischen ihren Augenbrauen vertiefte sich. „Und außerdem ist das Erpressung!" Ach, aber das hatte sie sich ganz allein eingebrockt!

Und obwohl Maomao nicht glaubte, dass er tatsächlich zu einer solch abscheulichen Tat fähig war, zog sie es vor, lieber keine Risiken einzugehen.

Der Mondprinz bemerkte ihren Gesichtsausdruck.

„Oh, mach dir keine Sorgen, das war bloß ein Scherz, ich hatte nicht wirklich vor, das zu tun. Aber so etwas wie eine Schneeballschlacht wollte ich schon immer mal machen, wenigstens ein einziges Mal. Bitte! Nur ganz kurz, ja? Nur fünf Minuten!"

Maomao stand deutlich im Gesicht geschrieben, was sie von dieser Idee hielt, doch sie begriff, dass ihr keine andere Wahl blieb, da sie es hier immer noch mit einem Adeligen zu tun hatte, der auch noch ihr Arbeitgeber war, und nicht einfach so ablehnen konnte.

Sie seufzte tief.

„Na gut", stimmte sie schließlich zähneknirschend zu. Urgh, welcher Teufel hatte sie da bloß geritten, als sie jenen vermaledeiten Schneeball auf sein Fenster geschmissen hatte!?

Und kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, fühlte sie auch schon, wie ein neuer Schneeball auf ihr landete, diesmal auf ihrer Hüfte.

„Haha, hab ich dich!", jubelte Jinshi wie ein... Dreijähriger und hob sogar triumphierend die Arme. Die eiskalte Luft und seine Freude hatten seine Wangen knallrot gefärbt.

Hm, wie es schien, hatte er seine eigenen Warnungen, nicht zu lang in der Kälte zu verweilen, selbst ganz vergessen...

Maomao schüttelte den Schnee von ihrer Kleidung und hob selbst eine Handvoll auf, um sich zu rächen, da sie nun wirklich nicht vorhatte, wie eine lebende Zielscheibe einfach so herumzustehen.

Jedoch ließ sie sich gegen ihren Willen hinreißen und machte einen besonders großen Schneeball, um ihn mit all ihrer Kraft auf Jinshis Schulter zu schleudern. Er musste dies bemerkt haben, machte jedoch gar keine Anstalten auszuweichen, sondern breitete sogar noch die Arme zur Seite aus, als wolle er ihr „Geschoss" willkommen heißen.

Maomao machte ein paar Schritte auf ihn zu, holte aus und...

...und riss die Augen auf, als sie auf einmal das Gleichgewicht verlor. So wie es aussah, war sie, ohne es zu merken, auf eine unter der Schneedecke verborgene Eisfläche getreten.

„Apothekerin! Pass auf!"

Im nächsten Augenblick wurde sie auch schon von einem Paar starker Arme gepackt. Doch es war zu spät: während Jinshi auf sie zustürmte, rutschte er selbst auf dem Eis aus...

Und so fielen die beiden schließlich mit einem lauten Plumps auf die eisige, harte und zugeschneite Erde.

„Das wird bestimmt ein paar blaue Flecken geben", dachte Maomao, als sie sich von dem plötzlichen Schreck erholt hatte, und schloss die Augen, sich mit einem leisen Stöhnen die Seite reibend.

„Alles in Ordnung, Apothekerin? Hast du dir wehgetan?"

Sie öffnete die Augen wieder und blickte nun in Jinshis besorgtes Gesicht, welches dem ihren so nahe war, dass sie beinahe die einzelnen Schneeflocken in seinen langen Wimpern zählen konnte. Sie lagen immer noch auf der Seite und er hielt sie in seinen Armen. Die Apothekerin konnte seinen raschen Herzschlag spüren.

Sie streckte sich kurz, um zu prüfen, ob sie unversehrt war.

„Alles gut, Herr."

Jinshi seufzte erleichtert und drückte sie noch etwas enger an sich.

„Ein Glück...", murmelte er.

„Und was ist mit Euch, Eure Exzellenz?"

„Auch ich bin in..."

Doch leider bekam er keine Gelegenheit, seinen Satz zu beenden.

„Herr! Was in aller Welt macht Ihr denn da!?"

Erschrocken hoben Jinshi und Maomao die Köpfe, drehten sie Richtung Residenz und sahen einen ungewohnt entsetzt aussehenden Gaoshun am Fenster der Schreibstube stehen.

„Ähm..."

Die zwei setzten sich auf und starrten den Assistenten perplex an, nicht ganz wissend, wie sie ihm das Ganze erklären sollten. Sie hatten Schnee in den Haaren und an und in der Kleidung und zitterten heftig.

Und ein wenig später wurden die Apothekerin und der junge Herr auch schon von einer wütenden Suiren wie ein Paar ungezogener Kinder ins Haus getrieben und aufgefordert, sich zu ihren jeweiligen Zimmern zu begeben, sich ihrer kalten und durchnässten Kleidung zu entledigen und ein Bad zu nehmen.

Gaoshun gab einen tiefen Seufzer von sich und ging dann, um seinem Herrn ein Bad einzulassen und dann der obersten Zofe dabei zu helfen, einen Bottich mit heißem Wasser zum Zimmer der Apothekerin zu tragen...

Notes:

Ich geb zu, ich hatte zuerst nicht den leisesten Schimmer, wie ich diese Geschichte hier beginnen sollte. Aber dann bin ich auf folgende „Prompts" gestoßen:
A tossing snowballs at B's window, not knowing the window is open and has no screen.

A and B having a snowball fight.

Eine Schneeballschlacht zwischen Jinshi und Maomao? Wunderbar, Herausforderung angenommen! Ich liebe es, wenn diese beiden miteinander rumblödeln!

Chapter 48: Du bist meine Medizin, Teil 2

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Zwei Tage waren vergangen, seit Jinshi und Maomao beim Herumliegen im Schnee erwischt worden waren. Es war spät in der Nacht und erneut flogen draußen Schneeflocken umher durch den dunklen, wolkenverhangenen Himmel, getragen vom eisigen Wind.

„M-Maomao! Maomao!”

Gewimmer und Geschrei durchbrach die nächtliche Stille der Gemächer des Mondprinzen. So erfüllt mit Leid und Verzweiflung, dass es in der Lage war, so gut wie jedes Herz in Stücke zu reißen.

Auf einmal ging die Tür auf und ein stirnrunzelnder Gaoshun betrat den Raum mit den Händen in den Ärmeln.

„Wie geht es ihm?”

Eine höchst überflüssige Frage, um ehrlich zu sein. Denn Jinshis klägliches Weinen genügte vollkommen, um zu ermitteln, in welchem Zustand er sich gerade befand.

Suiren, die unermüdlich das lange und zerzauste Haar ihres Herrn streichelte, welches auf dem Kissen ausgebreitet war, und ihm mit der anderen Hand mit einem Taschentuch den Schweiß und die Tränen vom Gesicht wischte, blickte auf, als sie die Schritte und die Stimme des Assistenten vernahm.

„Überhaupt nicht gut.” Ihre Stimme klang immer noch relativ gefasst, jedoch nicht so wie sonst. „Sein Fieber möchte einfach nicht sinken und jetzt hat er auch noch einen Albtraum.”

„Verstehe.”

Die beiden Bediensteten blickten sich gegenseitig an und schauten dann zu ihrem jungen Herrn, der nicht so wirkte, als würde er so bald zur Ruhe kommen. Da sie ihn großgezogen hatten, war es gewiss nicht das erste Mal für sie, dass sie sich um ihn kümmerten, wenn er krank war, aber so schlimm war es nur selten gewesen. Tatsächlich hatten sie ihn seit seiner Kindheit nicht mehr so weinen gehört.

Im flackernden Licht der wenigen, im Raum brennenden Kerzen, wälzte Jinshi sich unruhig im Bett herum und durchtränkte es mit seinen Tränen, gefangen in einem schrecklichen Traum und sich mit beiden Händen an die Bettdecke klammernd. Sein Atem ging keuchend und sein Brustkorb hob und senkte sich zittrig. 

Die oberste Zofe, welche die gesamte Nacht nicht von seiner Seite gewichen war, seufzte voller Besorgnis und tauchte ein Stück Stoff in eine Schüssel mit kühlem Wasser, die Gaoshun ihr vorhin gebracht hatte. Dann wrang sie es aus und legte es behutsam auf Jinshis Stirn.

„Der arme Junge…”

Seine Stirn war so heiß, als läge er unter einer sengenden Wüstensonne, und gleichzeitig zitterte sein Körper dermaßen, als sei er unter dem ganzen Schnee draußen vor seiner Residenz begraben.

„Ich wusste es. Ich wusste, dass sie nach dem Herumspielen in der Kälte krank werden würden.” Suiren gab einen weiteren Seufzer von sich. „Oh, junger Herr, warum musstet Ihr bloß so unachtsam und verantwortungslos sein? Und Xiaomao ebenso. Ich denke, ich werde ihn aufwecken und ihm eine weitere Dosis der Medizin verabreichen müssen.”

Sie war wirklich froh, dass die Apothekerin ihr für den Fall der Fälle beigebracht hatte, das Erkältungs- und Fiebermittel herzustellen, das ihr Adoptivvater Luomen in seiner Apotheke verkaufte. Als ob sie irgendwie gespürt hätte, dass solch ein Fall eintreten könnte, und dafür vorbereitet sein wollte. Und nun stand jenes Mittel, auf mehrere kleine Schüsseln aufgeteilt, auf einem Tischchen neben Jinshis Bett und verströmte einen starken Geruch nach Kräutern, der sich mit dem Duft des Räucherwerks mischte, das Suiren angezündet hatte, in einem vergeblichen Versuch, ihn zu beruhigen.

„M-Maomao!”

Gaoshun stellte sich neben die Zofe.

„Er hört nicht auf, nach Xiaomao zu rufen…”

„Ja, die ganze Zeit schon, seit sein Albtraum begann. Ich frage mich, ob es helfen würde, sie hierherzubringen.”

„MAOMAO!”

Nachdem er auf einmal jenen schmerzerfüllten Schrei losgelassen hatte, begann Jinshi so heftig zu schluchzen, als ob er jeden Moment an seinen eigenen Tränen ersticken könnte.

„Herr!”

„Junger Herr!”

Suiren hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund und Gaoshun eilte auf der Stelle zur anderen Seite des Bettes, um seinen Herrn leicht auf die Seite zu drehen und ihm auf den Rücken zu klopfen.

Der Mondprinz hustete und wachte auf.

Dann setzte er sich schlagartig auf und blickte sich mit weit aufgerissenen Augen panisch um. So wie es aussah, schien er sich noch nicht erinnert zu haben, wo er sich befand.

„MAOMAO! WO BIST DU!?”

Seine Stimme brach beinahe vor Furcht.

„Wie es scheint, bleibt uns tatsächlich keine andere Wahl als Xiaomao zu holen!”

Ganz genau. Zweifellos war die Apothekerin nun die Einzige, die ihm helfen konnte.

***

Die Tür zu Maomaos Zimmer öffnete sich langsam.

Es war in die Dunkelheit der Nacht getaucht und das wenige vorhandene Licht, welches von draußen durch das Fenster eintrat, immer wenn der Mond für einige Augenblicke hinter den Wolken zum Vorschein kam, schien auf das Bett und die kleingewachsene und offensichtlich zitternde Person, die darin lag.

Gaoshun blieb noch eine Weile lang an der Türschwelle stehen und als er sichergestellt hatte, dass Maomao schlief, gab er einen Seufzer von sich, ließ die Tür los und trat ein. Eine Kerze oder Laterne hatte er nicht dabei, da er bereits wusste, dass er auf dem Rückweg sowieso keine Hand frei haben würde. Aber da er mit der Residenz bestens vertraut war, stellte dies kein wirkliches Problem für ihn dar.

„Verzeih die Störung, Xiaomao”, sagte er leise, obwohl er sich bewusst war, dass sie ihn nicht hören würde. Und doch hatte er das Bedürfnis, sich bei ihr zu entschuldigen, dafür, dass er sich so mitten in der Nacht in ihr Zimmer schlich, fast schon wie ein Entführer. Geplagt von leichten Schuldgefühlen, begab er sich vorsichtig zum Bett, in der Hoffnung, dass er seinen Auftrag erfüllen könnte, ohne Maomao aufzuwecken und ihr gar Angst einzujagen, denn auch sie war krank und brauchte ihre Ruhe genauso dringend wie sein Herr.

Aber na ja, eine Wahl hatte er ja sowieso nicht.

Langsam beugte er sich über sie und seine Augen, die sich unterwegs schon an die Dunkelheit gewöhnt hatten, weiteten sich, als er merkte, in was für einem Zustand sich die Apothekerin befand.

Obwohl sie weder schrie noch weinte, war es mehr als offensichtlich, dass es dem armen Mädchen nicht besser ging als Jinshi selbst.

Sie lag zusammengerollt auf der Seite, sodass ihre Knie beinahe ihre Brust berührten, und ihr zierlicher Körper zitterte wie Espenlaub, während ihre angestrengten Atemzüge die Luft erfüllten. Ihre Bettdecke war halb zu Boden gerutscht, was sie noch mehr frieren ließ, als sie es bereits zuvor getan hatte.

Maomao schlief, doch ihr Schlaf ließ sich wohl kaum als erholsam und heilend bezeichnen.

Voller Mitleid strich Gaoshun ihren zerzausten Pony zur Seite, legte ihr seine Hand auf die Stirn und zuckte für einen Moment zusammen. Nun, es war ihm bereits klar gewesen, dass sie auch Fieber haben musste, doch er hätte nicht damit gerechnet, dass es dermaßen hoch sein würde.

„Du glühst ja ebenfalls…”

Nachdem er jene Worte vor sich hingemurmelt hatte, richtete der Assistent sich wieder auf und zog ein Taschentuch aus seinem Ärmel, um ihr vorsichtig den Schweiß vom Gesicht zu wischen.

„Mmh?”

Während des Prozesses erwachte die Apothekerin und schlug die Augen auf. Jedoch wirkte sie leicht verwirrt, als ob sie nicht ganz begreifen würde, was vor sich ging.

Gaoshun seufzte tief. Also hatte er sie doch aufgeweckt… aber zumindest schien sie nicht erschrocken zu sein. Nur benommen.

„Entschuldige, Xiaomao”, bat er mit leicht gerunzelter Stirn nochmals um Verzeihung und steckte das Taschentuch wieder ein. „Aber mein Herr braucht dich…”

Maomao wimmerte leise und ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten, schwach protestierend, als er sie behutsam auf den Rücken drehte und in ihre Decke wickelte. Doch selbstverständlich war all der Protest vergeblich und sie beruhigte sich schließlich wieder, möglicherweise ein wenig getröstet durch die Wärme der Bettdecke. Jedoch bebte sie auch weiterhin.

„Und so wie es aussieht, brauchst du ihn womöglich auch, du armes Ding…” konnte Gaoshun nicht anders als hinzuzufügen und weitete erneut die Augen, als ihm ein schier unglaublicher Gedanke kam. Moment… könnte es… könnte es vielleicht sein, dass Jinshi nicht nur deshalb nach ihr geweint und geschrien hatte, weil er davon träumte, wie sie ihn verließ, sondern auch, weil er irgendwie im Schlaf gespürt hatte, dass sie ebenfalls litt, ganz allein in ihrem Zimmer?

Nein, unmöglich.

Kopfschüttelnd hob er sie schlussendlich aus dem Bett und verließ mit ihr im Arm den Raum, sich dabei bereits ein bisschen weniger schuldig fühlend, nachdem er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass sie in ihrem Zustand ganz bestimmt nicht allein gelassen werden durfte.

Und während der Assistent sie durch die Korridore zu den Gemächern seines Herrn trug, konnte die kranke und erschöpfte Maomao ihre Augen nicht mehr länger offen halten, lehnte den Kopf an seinen Oberarm und schlummerte ein.

***

„Seht mal, junger Herr.”

Während Suiren Jinshis Mundwinkel sauberwischte nachdem sie es geschafft hatte, ihm Medizin zu geben, hielt sie kurz inne, als sie Gaoshun eintreten hörte, und legte dann die Hand auf die Wange des Mondprinzen, seinen Kopf sanft zur Tür drehend.

Jinshi ließ sie gewähren. Er atmete zwar immer noch schwer, hatte sich jedoch in der Zwischenzeit ein wenig beruhigt und lag nun erschöpft und mit halbgeschlossenen Augen im Bett. Nun blickte er in die angegebene Richtung auf seinen am Eingang stehenden Assistenten und setzte sich plötzlich erneut auf, seine Bettdecke packend, als wäre sein Albtraum zurückgekehrt und würde ihn selbst im wachen Zustand heimsuchen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das Bündel in Gaoshuns Armen.

„Maomao! M-Maomao!”, rief er mit brechender Stimme und streckte ihr unbewusst die zitternden Hände entgegen. „D-Du…”

Das Bündel regte sich ein wenig.

„Junger Herr…” Die oberste Zofe platzierte rasch die Hände auf seine Schultern und brachte ihn dazu, sich wieder hinzulegen, ihn tröstend, als sei er immer noch ein kleiner Junge. „Psst. Habt keine Angst, Xiaomao ist hier und geht nirgendwohin. Alles wird gut…”

Dann zog die ältere Dame die Decke etwas zurück und warf Gaoshun einen Blick zu. Dieser verstand die stille Aufforderung und näherte sich dem Bett, um das sich bewegende Bündel vorsichtig neben seinem Herrn abzulegen. Jinshi drehte sich umgehend auf die Seite und sah mit einem fürchterlich besorgten Gesichtsausdruck zu. Schweißtropfen rollten seine Schläfen herab und wurden prompt von Suiren weggewischt.

Ohne ein Wort zu sagen, begann der Assistent, die hilflos schlafende und fröstelnde Apothekerin auszuwickeln, und übergab Suiren ihre Bettdecke. Maomao verzog den Mund, als sie so unerwartet der leicht kühlen Umgebungsluft ausgesetzt wurde, und strampelte ein wenig mit den Beinen, bis sie schließlich mit einem gequälten Wimmern aufwachte.

Daraufhin zuckte Jinshi heftig zusammen, als hätte ihm jenes Geräusch körperliche Schmerzen bereitet.

Die oberste Zofe legte rasch Jinshis und dann zusätzlich noch Maomaos Decke über sie beide, um die zwei frierenden Kranken warmzuhalten, und befühlte als Nächstes die Stirn der Apothekerin.

Entsetzt riss sie die Augen für einen Moment auf, als sie die hohe Temperatur spürte, und tauchte umgehend ein weiteres Tuch ins kühle Wasser, damit Maomaos glühend heiße Stirn abwischend, was die Apothekerin erleichtert aufseufzen ließ. Danach hob Suiren mit einer Hand ihren Kopf an und führte ihr eine der kleinen Schüsseln mit Erkältungsmedizin an die Lippen.

Maomao hielt ihre Augen zwar die ganze Zeit geschlossen, aber sie trank.

„Meine Güte, Xiaomao hat ja auch hohes Fieber!”

„Ja”, stimmte Gaoshun nickend zu. „Daher denke ich, dass es gut war, sie hierhergebracht zu haben, und das nicht nur unserem Herrn zuliebe. Wer weiß schon, wie viel schlimmer es bis zum Morgen hätte noch hätte werden können.”

Er und Suiren warfen sich erneut Blicke zu. Auch wenn sie wussten, dass es nur richtig und logisch gewesen war, der Behandlung ihres Herrn Vorrang zu geben (und sich sicher waren, dass auch Maomao selbst derselben Meinung gewesen wäre), hatten sie die ungewöhnliche junge Frau doch ziemlich gern und konnten nicht anders, als leichte Gewissensbisse zu verspüren, dafür, dass sie bis jetzt ganz allein alles durchmachen musste. Sie zweifelten nicht daran, dass Jinshi nach seiner Genesung bestimmt wütend auf sie beide sein würde, dass sie seine kostbare Apothekerin dermaßen vernachlässigt hatten.

Und so wie sie ihn kannten… würde er sich höchstwahrscheinlich auch noch selbst die Schuld geben, dass sie überhaupt krank geworden war… was sie sogar noch schlimmer fanden.

Aber wie dem auch sei, im Moment hatten sie für derlei Überlegungen keine Zeit. Nun galt es, die beiden erstmal wieder gesund zu pflegen. Alles andere musste bis später warten.

Währenddessen lag Jinshi immer noch auf der Seite, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde von Maomao abzuwenden, als fürchte er, dass ihr Anblick bloß ein Traum, eine Illusion sei und dass sie sich jeden Moment in Luft auflösen könnte. Einige frische Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln und tränkten sein Kissen, doch seine Bediensteten könnten schwören, dass er bereits ein bisschen weniger zitterte, als ob ihn allein die Gegenwart der Apothekerin heilen würde.

Was höchstwahrscheinlich auch der Fall war.

„M-Maomao…”, fing er erneut an, diesmal jedoch deutlich leiser, und schniefte.

„Psst, junger Herr. Hier ist sie, hier ist sie doch.”

Und als wolle sie ihre Worte unterstreichen, nahm Suiren eine seiner Hände und legte sie neben Maomaos Gesicht, wie eine Art stille Einladung, sie zu berühren und sich selbst zu überzeugen.

Jinshi erstarrte für einige Momente und bewegte dann schließlich leicht zögerlich die Finger, ganz sanft Maomaos Wange streichelnd.

Die Apothekerin rührte sich wieder, gab ein erneutes Wimmern von sich und reagierte auf seine Berührung, indem sie den Kopf in seine Richtung drehte.

Danach öffnete sie endlich die Augen.

Notes:

Und hier kommt, ganz wie versprochen, meine neue Idee für den 31.12.! Oder besser gesagt, für den 31.12. und die zehn Tage danach:

Wie ihr bestimmt schon wisst, kommt am 10. Januar die erste Episode der zweiten Staffel des Animes (ich kann's absolut nicht erwarten!) und mir ist klargeworden, wie sehr ich einen Drabble-Countdown machen will!

Also anders gesagt: angefangen mit dem 31.12. und bis zum 10.01. eine Serie aus kleinen, süßen JinMao-Drabbles!

Sechs Ideen hab ich schon und bin gerade dabei, die durchzuplanen. Fünf Plätze sind daher noch frei.

Also wenn ihr eine Idee für eine niedliche JinMao-Story habt, welche in eine oder zwei Seiten reinpassen würde, und wollt, dass ich sie schreibe, dann gebt mir Bescheid und ich entscheide dann, ob ich sie nehme.

Regeln:

- es kann auch ein Lied oder ein Stichwort/Prompt sein (oder mehrere, da ich sie auch gern mal kombiniere)

- manche meiner eigenen Ideen werden voraussichtlich ein kleines bisschen länger, also sind zwei Seiten wirklich das Maximum
(Zwar hab ich bereits ein paar notierte Ideen von Lesern, aber die kann ich gewiss nicht in ein solch kleines Format zwängen.)

- bitte kein +18!

Und wenn gar keine Ideen von euch kommen sollten, nehm ich einfach nur meine sechs eigenen und lade sie eben nicht jeden Tag hoch, sondern nur jeden zweiten Tag. :)

Chapter 49: Du bist meine Medizin, Teil 3

Notes:

Hier kommt das letzte Kapitel dieser Geschichte einen Tag früher als angekündigt! Frohe Weihnachten!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Als sie seine sanfte Berührung auf ihrer Wange wahrnahm, drehte Maomao den Kopf in seine Richtung.

„E-Eure... Exzellenz...", brachte sie mühsam hervor.

Selbst mit geschlossenen Augen war sie wohl immer noch in der Lage zu erkennen, dass er derjenige war, der sie da liebkoste.

Nun schlug sie diese langsam endlich auf und schaute ihn leicht desorientiert an, jedoch schien es ihr nichts auszumachen, ihn direkt neben sich liegend vorzufinden.

Ihre Augen waren glasig vom Fieber. Seine ebenso. Ihre Blicke trafen sich.

„Maomao..."

Seine langen Finger streichelten weiterhin ihr Gesicht, während er sie so anstarrte, als stecke er in seiner eigenen kleinen Welt, in der keiner existierte außer Maomao.

Die Apothekerin lag noch einige Sekunden lang in derselben Position und ohne einen weiteren Laut von sich zu geben da und drehte sich schließlich ebenfalls auf die Seite, zu Jinshi hin. Dann runzelte sie leicht die Stirn und streckte eine zitternde Hand nach seinem Gesicht aus.

Suiren und Gaoshun warfen ihr fragende Blicke zu, sich wundernd, was sie denn genau vorhatte. Sogar Jinshi selbst öffnete leicht verwirrt den Mund.

Bis er aus heiterem Himmel die Augen weit aufsperrte und den Kopf leicht nach unten in ihre Richtung bewegte, bis seine Stirn auf ihre Hand traf. Er hatte begriffen.

„Fieber...", murmelte die Apothekerin schwach, während sie seine Stirn abtastete. Dann verstummte sie wieder und schloss für einen Moment die Augen, als müsste sie nach dem einen Wort verschnaufen.

Die beiden Bediensteten starrten sie vollkommen fassungslos an, kaum glaubend, was ihre Augen da sahen.

„In deiner Verfassung sorgst du dich immer noch um Seine Exzellenz, Xiaomao?", fragte Gaoshun letztendlich in einem ungläubigen und für ihn höchst ungewöhnlichen Tonfall.

Maomao sagte nichts dazu. Es war nicht einmal klar, ob sie seine Frage überhaupt wahrgenommen hatte, da sie so wirkte, als sähe auch sie aktuell keinen außer dem Mondprinzen.

Die ältere Dame dagegen wirkte gerührt und tätschelte der armen Apothekerin den Kopf.

„Alles wird gut, Xiaomao. Ich werde mein Allerbestes tun, damit du und der junge Herr schnell wieder auf die Beine kommt... aber bitte mach nie wieder solch einen Unsinn wie mit ihm zusammen im Schnee herumzurollen, ja?"

Währenddessen hatte Jinshi seine eigene Hand auf Maomaos platziert und drückte sie vorsichtig, bevor er sie langsam von seiner Stirn nahm und stattdessen auf seine Wange legte, welche immer noch feucht von seinen Tränen war. Sie an Ort und Stelle haltend.

Die Apothekerin reagierte kaum, sondern bewegte bloß ein klein wenig die Finger.

„M-Maomao...", wiederholte er leise ihren Namen und drehte den Kopf leicht zur Seite, um einen liebevollen Kuss auf ihre kleine, eiskalte Handfläche zu drücken.

Maomao runzelte daraufhin die Stirn noch ein wenig mehr und presste die Lippen zusammen, versuchte jedoch nicht einmal, sich aus seinem Griff zu befreien, wie sie es bei jeder anderen Gelegenheit zweifellos getan hätte. Nun, möglicherweise war sie ja auch zu schwach dafür.

Nach einer Weile nahm Jinshi endlich ihre Hand von seiner Wange und drückte sie an seine Brust, sie so unter sein Schlafgewand schiebend, dass sie auf seiner bloßen Haut ruhte. Es war mehr als offensichtlich, dass er auf diese Weise versuchte, ihre Hand aufzuwärmen, zumindest ein bisschen. So gut er es trotz seiner eigenen kalten Hände vermochte.

Noch immer tat die junge Frau nichts, um ihn aufzuhalten.

Nicht einmal, als er ein klein wenig den Rücken krümmte, seine glühende Stirn an die ihre presste und die Augen schloss. Nach einer Weile, als Suiren und Gaoshun bereits angefangen hatten zu glauben, dass er eingeschlafen war, rührte der Mondprinz sich erneut und küsste Maomao sanft auf die Wange. Dann auf die Schläfe. Dann auf die Nase. Immer und immer wieder, als könne er überhaupt nicht damit aufhören. Ihre Hand dabei immer noch an seine Brust gedrückt haltend und ein paar weiteren Tränen gestattend, aus seinen Augen zu fließen.

Maomao schloss ihre ebenfalls und ließ ihn einfach gewähren. Sie entspannte sich sogar und gab bloß ab und zu ein leises, hilfloses Wimmern von sich.

Doch dann streckte sie auf einmal die andere Hand aus und legte diese ebenfalls auf seine Brust, womit sie es schaffte, den Assistenten und die oberste Zofe erneut zu überraschen, während Jinshi selbst ihre Geste so selbstverständlich akzeptierte, als sei es das Natürlichste der Welt, seine große Hand so bewegte, dass sie ihre beiden bedeckte und der Apothekerin einen Kuss auf das Kinn gab. Wäre er nicht krank gewesen, hätte er gewiss niemals so ruhig reagiert, da waren Suiren und Gaoshun sich sicher.

Die beiden Letzteren sahen sich die bewegende Szene an, ohne ein Geräusch von sich zu geben, um ihren Herrn und die Apothekerin nicht zu stören. Sie hatten begriffen, dass die zwei jungen Leute aktuell in ihrem kranken Zustand so ehrlich zueinander waren wie nie zuvor und sich gegenseitig Dinge ausdrückten, die sie wohl niemals in Worte fassen könnten. Und das Allerwichtigste war, dass sie sich tatsächlich verstanden. Und zwar mehr denn je. 

Irgendwann hörte Jinshi auf, Maomao zu küssen, und bewegte stattdessen etwas den Kopf, um seine Wange an ihre Stirn zu drücken.

Doch trotz seiner Gegenwart und der zwei Decken zitterte Maomao immer noch heftig. Noch heftiger als er selbst.

Jinshi, welchem jene Tatsache wohl erst jetzt so richtig klar geworden zu sein schien, ließ ihre Hände los, die er zuvor noch gewärmt hatte, und zog die Decken bis an ihr Kinn hoch, die Augen öffnend, um ihr einen weiteren mit Sorge erfüllten Blick zu schenken.

„K-Kalt...", brachte er schließlich mit bebender Stimme hervor.

Suiren beugte sich umgehend über ihn.

„Oh, ist Euch immer noch kalt, junger Herr?"

Der Mondprinz sah sie an, als sei ihm in dem Moment erst wieder eingefallen, dass die oberste Zofe ja auch noch da war.

„N-Nein...", wimmerte er als Antwort. „Maomao... i-ist kalt..." Seine Stimme verlor sich und die Apothekerin selbst hustete bloß.

„Verstanden..."

Doch bevor Suiren von seiner Seite weichen und rasch eine weitere Decke holen gehen konnte, beschloss Jinshi anscheinend auf einmal, sich selbst um die Angelegenheit zu kümmern, und schlang seinen Arm um Maomao, um sie näher zu sich heranzuziehen und ihre Schulter zu streicheln, im Versuch, ihr ohne Worte zu vermitteln, dass er da war und dass alles gut werden würde.

Als Reaktion darauf nahm die Apothekerin die Hände von seiner Brust, ballte sie zu Fäusten und runzelte erneut die Stirn, mit halbgeschlossenen Augen in sein Gesicht aufblickend.

Dieses Mal waren Suiren und Gaoshun mehr als überzeugt, dass sie protestieren würde...

...doch es gelang ihr, ihnen zum wiederholten Male das Gegenteil zu beweisen.

Anstatt zu zappeln und mit den Beinen zu strampeln, rückte sie ebenfalls näher an Jinshi heran...

...und schmiegte sich an ihn, ganz wie eine Katze, die instinktiv nach Wärme suchte. Sie vergrub ihr heißes Gesicht an seiner Brust und schloss die Augen, als hätte sie gerade die letzte Kraft aufgebraucht, die ihr noch geblieben war.

Die Medizin hatte inzwischen angefangen zu wirken und machte die kranke Apothekerin noch schläfriger als zuvor.

„M-Maomao..."

Jinshi erstarrte für einen Augenblick und begann dann mit zitternden Fingern unbeholfen ihr Haar zu streicheln und ihr danach mit sanften Kreisbewegungen den Rücken zu reiben, sie noch enger an sich drückend. Ganz klar versuchte er, das arme Ding zu trösten, dafür zu sorgen, dass es ihr zumindest ein kleines bisschen besser ging.

Genau so wie sie es tat, ganz einfach indem sie neben ihm lag.

Er konnte die fiebrige Hitze ihrer Stirn und ihr angestrengtes Atmen an seiner Brust spüren.

Doch nach und nach zahlte seine Mühe sich aus. Getröstet von seiner Wärme und seiner zärtlichen Berührungen, konnte Maomao schließlich ihr Gähnen nicht mehr unterdrücken.

Daraufhin verlangsamten sich die Bewegungen seiner Hand, bis diese zu guter Letzt auf Maomaos Rücken zur Ruhe kam, als sei der Mondprinz sich soeben auch seiner eigenen schrecklichen Erschöpfung bewusst geworden, welche durch sein Fieber und seinen Albtraum vorhin ausgelöst und durch das ebenfalls eingenommene Erkältungsmittel noch verstärkt worden war.

Maomao gähnte erneut. Jinshi tat es ihr nach, sich endlich gestattend, sich zu entspannen und seiner eigenen Schläfrigkeit nachzugeben, nachdem er sichergestellt hatte, dass die Apothekerin sich beruhigt hatte und nun bequem in seinen Armen ruhte.

Ihre Atemzüge passten sich einander an und ihre Herzen begannen im selben Takt zu schlagen, während sie gemeinsam in Jinshis Bett lagen und sich gegenseitig Wärme und Trost spendeten.

Schon sehr bald fing Maomao an, in einen tiefen Schlaf zu gleiten, und wenig später folgte ihr auch Jinshi ins Reich der Träume.

Jetzt herrschte wieder Frieden in jenen Gemächern, welche noch vor wenigen Stunden so mit Leid erfüllt gewesen waren.

„Ja, es war tatsächlich eine gute Idee, Xiaomao herzubringen", bemerkte Suiren leise, um die beiden nicht zu stören, und nahm die leeren Medizinschüsseln vom Tisch, um sie zu spülen.

„So ist es", antwortete Gaoshun, während er mit einem kleinen, erleichterten Lächeln im Gesicht seinen Herrn mit der Apothekerin beobachtete. „Ansonsten hätten beide bis zum Morgen gelitten."

So wie es aussah, war das Schlimmste endlich überstanden.

***

Die Nacht nahm weiterhin ihren Lauf und nicht einmal kurz vor Tagesanbruch unterbrach auch nur ein einziger Schrei ihre Stille. Schneeflocken tanzten draußen immer noch durch die frostige Luft, während die zwei jungen Leute in der Residenz in einer innigen Umarmung unter ihren Decken in Jinshis Bett lagen und tief und fest schliefen, als ob nichts und niemand auf der Welt sie stören könnte. Beide hatten sich komplett beruhigt und zitterten kaum noch.

Außerdem war ihr Fieber beträchtlich gesunken, wie Suiren zufrieden feststellte, als sie einige Stunden nachdem sie eingeschlafen waren, herkam, um nach ihnen zu sehen. Was allein dem Erkältungsmittel zuzuschreiben war, könnte man meinen, doch die oberste Zofe wusste, dass da noch mehr war. Deutlich mehr.

Sie war sich bewusst, dass das Mittel ohne Unterstützung von außerhalb niemals eine solche Wirkung entfaltet hätte.

Anders gesagt: Jinshi und Maomao heilten sich gegenseitig.

Lächelnd sah sie zu, wie Jinshi sich im Schlaf an Maomao klammerte. Diese Art… diese Art, wie er die Apothekerin hielt, erinnerte Suiren daran, wie er als Kind seine Lieblingsspielzeuge im Bett gehalten hatte.

Daraufhin mischte sich ein Hauch Wehmut und auch Reue in ihr Lächeln.

Es hat der älteren Dame stets das Herz zerrissen, dem kleinen Kerl sein heißgeliebtes Spielzeug wegnehmen und ihn danach bitterlich weinen hören zu müssen. Jedes Mal wenn es passierte, hatten sie und Gaoshun ihr Bestes getan, um ihren jungen Herrn abzulenken, ihn zu trösten, wenn er danach vor Kummer nachts nichts schlafen konnte, doch sie wusste genau, dass jene Vorfälle tiefe Narben in seinem Herzen hinterlassen hatten. Narben, die höchstwahrscheinlich niemals verschwinden würden.

Doch sie hatte damals einfach keine andere Wahl gehabt. Befehle waren eben Befehle.

Und nun schien es so, als ob sich das Ganze wiederholen würde.

Nein. Das würde es nicht.

Einerseits war es mehr als deutlich, wie sehr der junge Adelige an dem Mädchen hing, doch Suiren hatte bereits vor geraumer Zeit bemerkt, dass sie nicht bloß ein Spielzeug für ihn war, sondern tatsächlich ein Mensch. Ein Mensch, den er von ganzem Herzen liebte, so sehr, dass er noch nicht einmal selbst so richtig begriffen hatte. Ein Mensch, für den er so gut wie alles tun würde.

Um ehrlich zu sein, war es das allererste Mal, dass Suiren, die Jinshi bereits seit seiner Geburt kannte, miterlebte, dass er sich dermaßen um jemand anderen sorgte.

Wenn man sich die beiden so ansah, erhielt man wahrhaftig den Eindruck, dass sie wie füreinander geschaffen waren.

Denn für Suiren war es genauso offensichtlich, dass auch Jinshi Maomao gewiss nicht gleichgültig war, obwohl sie stets versuchte, es hinter ihrer mürrischen Art zu verbergen. Trotz ihrer Worte und ablehnenden Haltung war die Apothekerin stets da, wenn es ihm schlecht ging, und kümmerte sich um ihn. Auf ihre eigene Art zwar, doch sie tat es. Zweifellos.

Die oberste Zofe hatte es mit eigenen Augen gesehen. Zum Beispiel, während genau jener Nacht.

Sie seufzte. Nun, vielleicht würde Maomao es ja schaffen, Jinshis innere Narben mit der Zeit verblassen zu lassen, zumindest ein wenig.

Nein, nicht „vielleicht”.

Die Apothekerin tat dies bereits.

Allein die Tatsache, wie seine Augen allein von ihrem Anblick aufleuchteten, sprach Bände. Und auch die Art, wie er sie ansah.

Suiren war wirklich froh, dass es ihrem Jungen gelungen war, so jemanden für sich zu finden. Jemanden, der in der Lage war, ihn so zu heilen wie Maomao es tat.

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen richtete sie die Bettdecken, die beiden Kranken gut damit zudeckend. Jedoch fiel ihr auf einmal etwas auf und sie hob die Decken an, um kurz darunter zu spähen.

Was sie sah, ließ sie für einen Moment innehalten…

Nein, ihre Augen hatten sie nicht getäuscht.

Auch die Apothekerin klammerte sich im Schlaf an Jinshi. Einen Arm hatte sie um seine Taille geschlungen und mit der anderen Hand hielt sie ihn an der Kleidung fest. Ganz fest. Auf eine Art und Weise, welche… der von Jinshi nicht ganz unähnlich war.

Die ältere Dame öffnete leicht den Mund, setzte dann jedoch erneut ein Lächeln auf und deckte die zwei wieder zu.

Ganz genau. Der junge Herr und die Apothekerin waren wahrhaftig noch nie dermaßen ehrlich zueinander gewesen wie in jener Nacht. Und jener Anblick war bloß ein weiterer Beweis dafür.

***

Einige Minuten später hatte die oberste Zofe den Raum bereits verlassen.

Maomao schlief immer noch wie ein Stein, während Jinshi sich zu rühren begann und schließlich die Augen öffnete.

Ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen, sobald sein Blick auf die Apothekerin in seinen Armen fiel.

„Es tut mir… so leid…”, murmelte er immer noch schlaftrunken und küsste sanft ihr zerzaustes Haar. „Bist… krank geworden… meinetwegen…”

Sie zuckte leicht im Schlaf, als hätte sie seine Worte gehört.

Als er das spürte, drückte Jinshi sie noch fester und schloss die Augen, die wundervolle Wärme genießend, die von ihrem zierlichen Körper ausging. Als Nächstes drehte er sich auf den Rücken.

Jetzt lag Maomao direkt auf ihm drauf, immer noch seine Brust als Kissen benutzend.

Trotzdem hielt dies Jinshi nicht davon ab, sich so zu fühlen, als könne er nun wesentlich leichter atmen als bevor sie zu ihm gebracht worden war. Und der Art und Weise nach zu urteilen, wie ruhig Maomaos Brust sich hob und senkte, musste es ihr wohl genauso ergehen.

„Du bist immer… immer… da für mich.”

Während seine Lippen sich zu einem weiteren Lächeln krümmten, begann er langsam erneut einzuschlafen, sich auf Maomaos Herzschlag konzentrierend, den er an seinem Körper spüren konnte.

Notes:

Und was den angekündigten Drabble-Countdown angeht, so musste ich meine Pläne ein wenig abändern (deshalb auch die frühere Veröffentlichung dieses Kapitels hier):

- es wird eher ein One Shot-Countdown, da ich bereits angefangen hab, an den ersten Entwürfen für einige der Geschichten zu arbeiten und es schon ersichtlich ist, dass jede von ihnen über 1000 Wörter lang sein wird, also kann man sie beim besten Willen nicht mehr als Drabbles bezeichnen

- zu meinen sechs Ideen hab ich jetzt noch zwei von euch Lesern bekommen, die ich für den Countdown tatsächlich nutzen will/kann, also werden es acht Geschichten statt elf (was immer noch eine ordentliche Zahl ist)

- aus diesem Grund musste ich auch meinen Hochlade-Plan ändern. Mit anderen Worten: der Countdown beginnt nicht am 31.12., sondern bereits am 27.12. (was eigentlich perfekt ist, da es somit genau zwei Wochen vor Ausstrahlung der ersten Folge wäre), und die Stories werden dann auch nicht jeden Tag hochgeladen, sondern jeden zweiten Tag bis zum 10.01.

Chapter 50: Gemeinsame Sternenschau

Notes:

Der Countdown beginnt!

Hier kommt die erste Geschichte!

Die Idee dazu ist meine eigene mit ein wenig Inspiration durch den folgenden "Prompt":
"Person B making Person A their favorite meal when they are having a hard day."

 

Noch 14 Tage bis zur zweiten Staffel!

Chapter Text

Mehrere erschöpfte Seufzer hallten durch Jinshis Schreibstube. Kurz legte der junge Adelige, der an jenem späten Abend gerade an seinem „Lieblingsplatz" am Schreibtisch saß, seinen Schreibpinsel nieder und rieb sich mit tintenbefleckten Fingern die müden Augen, bevor er einen säuerlichen Blick auf den Berg an Papierkram warf, der dringend, ja, wirklich absolut dringend, noch vor dem Schlafengehen erledigt werden musste.

„Als ob jemand sterben wird, wenn dieses Zeug hier noch einen Tag länger herumliegen würde", murrte er vor sich hin. Gut, dass Gaoshun gerade nicht anwesend war und diese skandalösen Worte nicht mitbekommen konnte.

Mit einem weiteren tiefen Seufzer nahm Jinshi den Pinsel wieder in die Hand und stützte die Wange auf seine andere Handfläche. So riesig wie der Dokumentenstapel war, würde er höchstwahrscheinlich nicht mehr vor Mitternacht damit fertig werden, also musste er sich zusammenreißen und nicht zu lange Pausen machen, wenn er in jener Nacht noch genug Schlaf bekommen wollte.

Einige Minuten später vernahm er jedoch auf einmal ein Klopfen an der Tür und blickte leicht verwundert von Dokument, welches er gerade bearbeitete, auf. 

„Ja?"

„Eure Exzellenz? Darf ich eintreten?"

„Apothekerin! Aber natürlich! Komm rein."

Sobald der junge Herr begriffen hatte, wer ihm da so spät noch einen Besuch abstattete, hellte sich seine Miene so abrupt auf, als hätte jemand Magie angewendet.

Daraufhin ging die Tür auf und Maomao betrat, so gelassen wie immer und mit einem Tablett, auf dem sich Tee und eine dampfende Schüssel mit Essen befanden, den Raum. Sie begab sich schnurstracks zu Jinshi und legte das Tablett auf seinem Schreibtisch ab.

„Dame Suiren hat mir Bescheid gegeben, dass Ihr heute aufgrund Eurer Arbeit das Abendessen ausgelassen habt, und mich gebeten, Euch dies zu bringen."

„Danke dir!"

Beim Anblick des Reisbreis wurde Jinshi erst so richtig bewusst, wie leer sein Magen eigentlich war, also nahm er gutgelaunt den neben der Schüssel liegenden Löffel in die Hand, während Maomao ihm den Tee in einen Becher einschenkte.

„Oh?", machte er nach dem ersten Bissen und hob erstaunt eine Augenbraue. „Es schmeckt heute ein wenig anders als sonst."

„Ja, Herr. Den Reisbrei selbst hat zwar wie immer Dame Suiren zubereitet, aber ich habe noch einige Kräuter hinzugefügt", erklärte die Apothekerin in einem ruhigen Tonfall.

„Ja? Welche denn?"

„Salbei und Rosmarin. Sie sind gut gegen Müdigkeit und Energielosigkeit und die ätherischen Inhaltsstoffe von Salbei helfen auch gut bei Stress." Maomaos Blick fiel auf den Berg an Papieren, während sie sprach.

„Verstehe! Wie aufmerksam von dir! Ich kann die Wirkung bereits spüren!"

Er schenkte ihr ein breites Lächeln, woraufhin sie skeptisch die Stirn runzelte, wohl nicht so recht glaubend, dass die Kräuter tatsächlich nach einer solch kurzen Zeit zu wirken begonnen hatten.

Sie wartete ab, bis Jinshi den Reisbrei aufgegessen hatte, was aufgrund seines Hungers nur wenige Minuten dauerte, und wollte das Tablett wieder an sich nehmen, während er nun den Becher in die Hand nahm, um einen Schluck Tee zu trinken.

„Warte noch, Apothekerin."

Maomao hielt inne und sah ihn an.

„Benötigt Ihr noch etwas, Eure Exzellenz?"

„Würdest du bitte noch ein Weilchen bleiben und mit mir zusammen trinken? Ich bräuchte jetzt sowieso eine kleine Pause und die möchte ich nicht allein verbringen."

Jawohl. So wie es aussah, hatte er sein Vorhaben, zügig alles durchzuarbeiten und dann ins Bett zu gehen, vollkommen in den Wind geschossen. Und das war einzig und allein Maomao zu verdanken. 

Sie beäugte ihn misstrauisch und zog die Augenbrauen zusammen. Dann blickte sie zu dem Teebecher in seiner Hand. 

Jinshi konnte sich bereits denken, was ihr wohl gerade durch den Kopf gehen musste.

„Ich meinte das hier, Apothekerin." Noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, tauchte der Mondprinz kurz unter den Schreibtisch und zog eine Flasche hervor.

Maomaos Augen weiteten sich vor Aufregung, als sie den Schnaps erblickte.

„Ich selbst werde beim Tee bleiben, da ich noch arbeiten und morgen außerdem noch früh aufstehen muss, also hättest du diese ganze Flasche für dich allein. Na, wie klingt das für dich? Leistest du mir ein wenig Gesellschaft?"

„Das klingt wundervoll! Danke, Herr!"

Jinshi lachte ob ihrer Begeisterung und bat sie, den Becher aus seinen Gemächern zu holen, den sie nutzte, um alkoholische Getränke für ihn auf Gift zu verkosten. Eine andere Antwort hatte er auch nicht von ihr erwartet.

Und so raste Maomao wie ein geölter Blitz davon. Währenddessen nutzte Jinshi die Zeit, um sich ein wenig zu strecken und betrachtete danach lächelnd die Flasche. Diese war ein Geschenk an ihn gewesen und er hatte sowieso vorgehabt, sie an Maomao weiterzureichen, da er solch starkes Zeug nicht so recht mochte, jedoch wusste, dass sie es tat. Und nun hatte sich die perfekte Gelegenheit dazu ergeben! Gut, dass er den Schnaps vorsichtshalber unter seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte.

Als die Apothekerin mit ihrem Becher zurückgekehrt war und alle Getränke eingeschenkt worden waren, stand Jinshi auf und stellte sich mit seinem Tee in der Hand vor das Fenster. An die Arbeit verschwendete er mittlerweile keinen einzigen Gedanken mehr.

„Hach, was für eine wunderschöne Nacht", sagte er und machte einen tiefen Atemzug, als würde er die frische Luft draußen einatmen. „Die Sterne strahlen so hell heute."

Mit der Flasche in der einen Hand und ihrem Becher in der anderen trat Maomao einen Moment später neben ihn. Jinshi konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er sah, mit welchem Genuss sie den Alkohol in sich hineinschüttete und dann noch mehr in ihren Becher goss.

„Eine wunderschöne Nacht? Obwohl Ihr arbeiten müsst, Eure Exzellenz?"

„Ja. Weil du bei mir bist." Eine leichte Röte erschien auf seinen Wangen und seine Stimme senkte sich beinahe zu einem Flüstern.

Maomao runzelte die Stirn, als sie jene Worte vernahm, und sah kurz in sein Gesicht auf, sagte jedoch nichts dazu. Nun, sie hatte ja Alkohol bekommen und konnte sich daher nicht beschweren. Der Mondprinz war sich sicher, dass sie genau dies im Augenblick denken musste, denn er kannte sie seiner Meinung nach inzwischen ziemlich gut.

Er richtete seinen Blick erneut Richtung Sternenhimmel und führte sich seinen eigenen Becher an die Lippen.

„Weißt du, es gibt da eine Legende, dass Menschen nach ihrem Tod zu Sternen werden", ergriff er nach einer Weile wieder das Wort.

„Werden sie nicht, Herr", antwortete Maomao sachlich. „Sie verrotten bloß, bis nur die Knochen übrigbleiben."

Jinshi runzelte die Stirn und begann schmollend an ihrer Wange zu ziehen.

„Mensch... Jetzt zerstör doch nicht einfach so die Stimmung, ja?"

„Verfeihung, Fherr."

Er seufzte und ließ sie wieder los, bevor er ihr lächelnd den Kopf tätschelte, was ihm einen genervten Blick einbrachte.

Einige Zeit lang betrachteten die beiden schweigend und ihre jeweiligen Getränke konsumierend den Nachthimmel.

„Oh, schau mal! Da ist ein besonders heller Stern!", rief Jinshi auf einmal.

„Wo?"

Und bevor Maomao sich versah, verlor sie auch schon den Boden unter den Füßen: Jinshi hatte seinen Becher nämlich rasch auf den Schreibtisch gestellt und dann seine Arme von hinten um die Apothekerin geschlungen, um sie hochzuheben.

Sie öffnete vor Schreck den Mund. Gut, dass sie zu dem Zeitpunkt nicht getrunken hatte.

„Da ist er, rechts von dir!"

„Eure Exzellenz! Musste das sein!?", schimpfte Maomao und zappelte ein wenig in seinem Griff.

Er drückte ihren Rücken an seine Brust.

„Aber natürlich. Ich möchte doch, dass du alles gut sehen kannst, so klein wie du bist."

Maomao schnaubte und schaute erneut gen Himmel. Nun schien sie den besagten Stern wohl tatsächlich endlich entdeckt zu haben.

„Gut, ich habe ihn nun gesehen, Herr. Könnt Ihr mich jetzt bitte wieder runterlassen?"

Doch statt ihr den Wunsch zu erfüllen, umarmte der junge Herr sie noch fester und drückte seine Wange an ihre.

„Ein kleines bisschen noch, Apothekerin. Lass mich bitte meine Energiereserven auffüllen, ja? Deine Kräuter waren zwar eine große Hilfe, aber leider nicht wirklich ausreichend", sagte er leise, ihre Nähe offensichtlich sehr genießend.

Maomao sah so aus, als wolle sie ihn anfunkeln, als sei er eine Schlammpfütze, in die sie beim Kräutersammeln versehentlich hineingetreten war, aber da er ihr Gesicht aktuell sowieso nicht sehen würde, gab sie bloß ein Seufzen von sich und schenkte sich seelenruhig ein weiteres Glas Schnaps ein, während ihre Füße weiterhin über dem Boden baumelten.

Chapter 51: Jinshis Muse

Notes:

Noch 12 Tage bis zur nächsten Staffel!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Eines schönen Tages hockte ein gewisser junger Adeliger in seiner Residenz auf dem Boden und blickte mit einem breiten Lächeln im Gesicht, als hätte er alles um sich herum vergessen, auf eine Bank. Das durch die Fenster einfallende Sonnenlicht schien auf ihn und ließ ihn beinahe wie ein übernatürliches Wesen wirken, eine echte himmlische Nymphe mit einer ätherischen Schönheit, die nicht von dieser Welt war.

Natürlich stellte sich einem an dieser Stelle die Frage, was denn an jener Bank so besonders war, dass sie bei diesem umwerfenden Mann ein solches Verhalten auslöste.

Ganz einfach.

Es war gar nicht die Bank, sondern die junge Frau, die bäuchlings darauf lag und tief und fest schlief.

Einige Minuten zuvor war Jinshi nämlich seelenruhig durch seine Residenz gelaufen und hatte die Apothekerin unterwegs ganz zufällig bei ihrem Nickerchen entdeckt. Auf der Stelle war er besorgt zu ihr geeilt, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war, mit ihr wusste man ja nie, doch sobald er sichergestellt hatte, dass sie tatsächlich bloß schlief, hatte er beschlossen, sie erstmal nicht zu wecken, sondern das seltene Vorkommnis, sie so zu sehen, einfach nur eine Weile lang zu genießen. In der Hoffnung, dass keiner von seinen Bediensteten erschien und sie beide zur Arbeit zurückzerrte.

Maomao hatte ihre kleinen Hände im Schlaf zu Fäusten geballt. Ihr Gesichtsausdruck war vollkommen entspannt und ihr Mund leicht geöffnet, als habe sie nicht eine Sorge auf der Welt.

Ganz sanft strich Jinshi ihr eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fiel, hinters Ohr, doch sie schlief so tief, dass sie davon gar nichts mitbekam. 

„Du kleine Schlafmütze", murmelte er. In seiner Stimme lag eine solche Zuneigung, dass man sie kaum mit Worten zu beschreiben vermochte, und der bewundernde Blick in seinen Augen verriet, dass er sich an ihr niemals sattsehen würde.

Eine Weile lang beobachtete er seine geliebte Apothekerin noch und erhob sich dann schließlich langsam. Ohne einen weiteren Laut von sich zu geben, nahm er sein äußeres Gewand ab und legte es ganz wie eine Decke über Maomao. Es bedeckte die zierliche junge Frau beinahe komplett, sodass nur ihr Kopf sichtbar blieb. Der Mondprinz führte sich die Hand ans Kinn und schaute sie einen Moment lang nachdenklich an, bis er zuerst nach Maomaos einem Arm und dann nach dem anderen griff und diese vorsichtig durch die Ärmel seines Gewandes zog, damit es nicht zu Boden rutschte.

Die Apothekerin runzelte während des Prozesses leicht die Stirn, wachte jedoch nicht auf.

Und als sein Werk zu guter Letzt vollendet war, stand Jinshi einfach nur da. Mit geröteten Wangen und klopfendem Herzen.

„Meine Güte, wie süß sie doch ist...", hauchte er und griff sich mit einer Hand unbewusst an die linke Brustseite, als fürchte er, von Maomaos unfassbarer Niedlichkeit noch einen Herzanfall zu bekommen. „Ich wünschte, ich könnte diesen Anblick irgendwie festhalten..."

Auf einmal weiteten sich seine Augen und er sprintete davon. Tja, so wie es aussah, war ihm gerade eine tolle Idee gekommen.

***

Irgendwann gab Maomao ein leises Stöhnen von sich und begann endlich aus ihrem kleinen Mittagsschlaf zu erwachen.

Noch immer auf dem Bauch liegend, streckte sie sich leicht, bewegte ihren Kopf ein wenig und schlug die Augen auf…

...nur um dem Blick eines fröhlichen Jinshi zu begegnen, der ihr direkt gegenüber im Schneidersitz auf dem Boden saß, als habe er nur auf diesen einen Moment gewartet. Auch wenn in seinen Augen doch ein kleiner, fast unmerklicher Hauch Enttäuschung lag.

Nun, es war wirklich… so eine Sache, gleich nach dem Aufwachen ein solch wunderschönes und sanft lächelndes Gesicht zu erblicken.

„Hallo, Apothekerin. Na, hast du gut geschlafen?", grüßte sie der junge Adelige und strich ihr durchs Haar.

Maomao schaute Jinshi immer noch schlaftrunken an, verengte dann die Augen, murmelte „Nein, von dem will ich nicht träumen..." und drehte sich schlussendlich auf die Seite, mit dem Rücken zu ihm, sich zusammenrollend und wohl mit der Absicht, erneut einzuschlummern.

Es dauerte einen Moment, bis der vollkommen perplexe Jinshi seine Stimme wiederfand.

„Hey! Was soll das denn bitte heißen!? Und außerdem träumst du gar nicht!"

Als sie diese Worte vernahm, wurde die Apothekerin auf einen Schlag hellwach und wäre beinahe von der Bank gestürzt. Zum Glück schaffte er es jedoch, sie gerade noch rechtzeitig aufzufangen.

„Ich bitte um Verzeihung, Herr. Ich habe letzte Nacht nicht wirklich viel geschlafen."

Einige Zeit später hatte Maomao sich wieder gefasst und verbeugte sich vor Jinshi mit ihrem gewohnten neutralen Ausdruck im Gesicht. Als Nächstes gähnte sie kurz, nahm auf der Bank Platz und begann, sich die Augen zu reiben.

„Schon in Ordnung. Besser, du hältst Mittagsschlaf als dass du mir noch irgendwo vor Erschöpfung zusammenbrichst. Mit Schlafmangel ist nicht zu spaßen, das hast du mir selbst so gesagt."

Er stand vom Boden auf und setzte sich neben sie.

„Na, das sagt ja genau der Richtige", dachte Maomao und warf einen verwirrten Blick auf ihre Hand, mit der sie sich gerade die Augen gerieben hatte. Aus irgendeinem Grund steckte diese in einem überaus weiten und viel zu langen Ärmel... und die andere ebenso.

Die Apothekerin sah an sich herab und stellte endlich fest, dass sie Jinshis äußeres Gewand trug. Es war ihr so groß, dass es bis zum Boden reichte und sogar ihre Füße bedeckte.

Sie hob eine Augenbraue und wollte ihn gerade fragen, was das bitte sollte, doch er kam ihr zuvor.

„Schau mal, Apothekerin!" Der Mondprinz, der einen Pinsel in der Hand hielt, hob das Stück Papier hoch, welches sich bis dahin auf seinem Schoß befunden hatte, und präsentierte es ihr voller Stolz. „Das habe ich gemalt, während du geschlafen hast."

Maomao sagte nichts. Sie legte den Kopf schräg, führte sich die Hand zum Kinn, verengte die Augen, runzelte die Stirn... doch egal wie sehr sie sich auch anstrengte, sie schaffte es einfach nicht, zu erkennen, was auf Jinshis „Meisterwerk" abgebildet sein sollte.

Nicht dass sie sonderlich viel von Kunst verstand, aber trotzdem…

„Das ist… aber ein schöner Besen, Eure Exzellenz", meinte sie schließlich in einem Tonfall, der bar jeder Begeisterung war.

Jinshi starrte sie zunächst vollkommen baff an und blies dann beleidigt die Wangen auf, ganz wie ein kleines Kind.

„Was für ein Besen? Das bist du!"

Maomao erstarrte zunächst für ein paar Sekunden und sah ihn dann an, als sei er eine riesige Kakerlake, die unter einem Küchenschrank hervorgekrabbelt war. Nun, sie hielt sich zwar nicht gerade für eine Schönheit, aber ein solches „Portrait" war selbst für sie ein bisschen zu viel des Guten…

Doch dann seufzte sie bloß und ihre Gesichtszüge wurden wieder weicher. Solch ein Unsinn war ihren Ärger einfach nicht wert.

„Entschuldigt bitte, Eure Exzellenz, ich bin wohl noch ein wenig verschlafen."

Jinshi schmollte jedoch immer noch und gerade als Maomao sich bereits zu fragen begann, wie sie aus dem Schlamassel herauskommen sollte, stand er mit einem Schnauben und seiner Zeichnung und dem Pinsel in der Hand auf, stellte sich der Apothekerin gegenüber hin und blickte ihr direkt in die Augen, während er wortlos die Arme ausbreitete. 

Die Apothekerin verzog das Gesicht. Sie hatte begriffen, was er von ihr wollte.

„Also wirklich! Schlimmer als ein Kleinkind", dachte sie mürrisch und gab einen erneuten tiefen Seufzer von sich. Doch wenn sie nicht wollte, dass er für den Rest des Tages so schmollend herumlief, blieb ihr nun einmal keine andere Wahl als nachzugeben.

„Urgh. Wie Ihr wünscht, Eure Exzellenz", grummelte sie und erhob sich ebenfalls.

Ihre Worte brachten ihm sein Lächeln zurück und er schloss sie in die Arme und drückte sie ganz fest an sich. So wie es aussah, hatte er ihr also wohl endlich vergeben.

Doch während der langen Umarmung rissen die beiden auf einmal weit die Augen auf, als ihnen einfiel, dass sie ja noch arbeiten mussten.

Und so mussten sie sich leider voneinander verabschieden. Dabei bemerkte Maomao den traurigen Ausdruck auf Jinshis Gesicht und hob beide Augenbrauen.

„Oje, er tut ja so, als würden wir uns nicht in ein paar Stunden wiedersehen, sondern erst in ein paar Jahren", dachte sie und verspürte zu ihrer eigenen Überraschung ein klein wenig Mitleid mit ihm. Und noch bevor sie begriff, was sie da eigentlich tat, hatte sie ihm bereits tröstend auf den Arm geklopft.

Jinshi blinzelte ein paar Male erstaunt und schenkte ihr dann ein liebevolles Lächeln, bevor er ihr seinerseits kurz auf die Schulter klopfte und sich endlich umdrehte, um sich auf den Weg zu seiner Schreibstube zu machen.

Doch dann fiel Maomao auf einmal etwas ein.

„Wartet noch einen Moment, Herr! Bitte geht noch nicht!”

Sie zupfte an seinem Ärmel, um ihn aufzuhalten. 

Der Mondprinz hielt inne. Aus unerfindlichen Gründen fing er plötzlich an zu zittern und als er sich zu ihr zurückdrehte, konnte die Apothekerin sehen, dass er rot geworden war und vor Glück noch heller strahlte als die Sonne.

Maomao zuckte zusammen, doch bevor sie auch nur im Ansatz zu begreifen schaffte, was überhaupt vor sich ging, fand sie sich auch schon erneut an seine Brust gepresst vor und spürte kurz darauf seine Lippen auf ihrer Schläfe und dann auf ihrer Wange.

„Eure Exzellenz! Was ist auf einmal in Euch gefahren!? Ich wollte Euch doch bloß mitteilen, dass Ihr Euer Gewand vergessen habt", rief sie und hob ihre Hand, um ihm den Mund zuzuhalten, bevor er sie mit weiteren Küssen attackieren konnte. 

Sobald Jinshi seinen Fehler einsah, erstarrte er zur Statue, ließ Maomao los und wurde so knallrot wie die Rosen in den Gärten des Kaisers.

„D-Du... Du kannst es behalten!", stammelte er und rannte urplötzlich davon, sich das glühende Gesicht mit beiden Händen bedeckend.

„Was? Eure Exzellenz, wartet!"

Doch der Mondprinz war bereits auf und davon. In seiner Hast hatte er unterwegs sogar seine „wunderschöne" Zeichnung fallen gelassen.

„Ich verstehe diesen Kerl nicht", dachte Maomao sich zum hundertsten Mal seit dem Tag, als sie ihm zum allerersten Mal begegnet war. „Muss er unbedingt ständig so übertreiben? Selbst wenn es ein Missverständnis war, heißt das doch noch lange nicht, dass ich ihm deswegen gleich den Kopf abreißen würde.”

Sie hielt für einen Moment inne und hob dann einen ihrer Arme, sich einen Ärmel seines Gewandes zur Nase führend.

„Riecht gut...", murmelte sie, bevor sie sich selbst stoppen konnte, als sie Jinshis bereits vertrauten Duft einatmete.

Notes:

Das hier entstand aus einer Idee, die ich vor einigen Monaten von einem deutschen Leser erhalten hab:

Jinshi malt Maomao, aber kann nicht malen

+ inspiriert davon:

„Character A is about to leave for work. Character B asks them if they've forgotten anything, and Character A gives them a kiss. Character B turns red and opens their hand to reveal Character A's keys/wallet/etc., saying 'I meant this, but thanks.'"

Chapter 52: Medizin für die Apothekerin

Notes:

Und hier kommt die wahrscheinlich längste Geschichte des Countdowns, speziell reserviert für den letzten Tag des Jahres! :)

Das hier war vollständig meine eigene Idee.

Ich wünsche euch allen ein frohes Neues Jahr!

Noch 10 Tage bis zur zweiten Staffel!

Chapter Text

So erschöpft, dass er kaum die Augen offenhalten konnte, lag Jinshi eines Nachts im Bett und starrte mit leerem Blick an die Decke. Währenddessen langsam das leicht zerzauste Haar der Apothekerin streichelnd, die mit dem Kopf auf seiner Schulter in seinen Armen lag und friedlich und fest schlief.

Ihr Gewicht drückte angenehm und warm auf seinen Körper.

Ein wahrlich himmlisches Gefühl, jedoch durchsetzt mit einem Hauch von Hölle.

Nach einer Weile stieß er einen tiefen Seufzer aus, als ihm klar wurde, dass er einfach nicht aufhören konnte, daran zu denken, was während der letzten paar Stunden geschehen war. Zwar ging es ihr zum Glück wieder gut, jedoch war er immer noch nicht in der Lage, seine Besorgnis um sie komplett abzuschütteln...

***

Aber lasst uns doch mal die Zeit zurückdrehen und schauen, was vor etwa vier Stunden passiert war...

Eines späten Abends drang leises, gequältes Stöhnen aus einem der Zimmer in der Residenz eines gewissen jungen Adeligen und störte die sonst ruhige und friedliche Atmosphäre. Mondlicht schien schwach durch das Fenster hinein und fiel auf die junge Frau, welche zusammengekrümmt auf ihrem Bett lag und sich mit beiden Händen den Bauch hielt.

Maomaos Atmung und Herzschlag waren beschleunigt und sie versuchte mit aller Macht, die doch ziemlich heftigen Schmerzen und Krämpfe zu ertragen, doch wurden ihre Lippen gleichzeitig von einem glückseligen Lächeln geziert, als ob sie das Ganze wirklich genießen würde.

Was... zugegebenermaßen nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt lag.

Sie hob eine ihrer noch immer leicht zitternden Hände und musterte diese mit leuchtenden Augen, während ihr kalter Schweiß das Gesicht herabtropfte und die sich unter ihr befindende Bettdecke durchtränkte.

Oh, welch ein Gift das doch war, wert alle Bauchschmerzen dieser Welt! Vor allem nachdem sie so lange Zeit keines zu sich nehmen konnte, da Jinshi wie ein Falke über sie wachte.

Auf jene Giftpflanze, welche sie noch nie zuvor gekostet hatte, war sie auch nur ganz zufällig gestoßen, während eines Botengangs, auf den die oberste Zofe Suiren sie geschickt hatte, und selbstverständlich hatte sie nicht widerstehen können und ein paar Blätter gepflückt und in ihren Ärmeln versteckt. Ja, nur ein paar Blätter, da sie natürlich trotz allem keine Selbstmordabsichten hegte.

Und am Abend, als all ihre Aufgaben endlich erledigt gewesen waren, hatte sie sich in ihr Zimmer zuruckgezogen und war gleich zur Tat geschritten... im Namen der Wissenschaft!

Allein bei der Erinnerung daran wurde Maomaos Lächeln noch breiter und ein Kichern entschlüpfte ihren Lippen.

„Haha! Autsch! Haha! Aua!"

Wenn man sie so sah und hörte, könnte man annehmen, sie hätte den Verstand verloren.

„Mist, aber obwohl ich keineswegs empfindlich gegen Schmerzen bin, tut es doch wirklich weh. Oh, was soll's, dann geht es eben im Schlaf vorbei. Wenn ich diese Nacht überhaupt einzuschlafen schaffe, versteht sich."

Nach dem Konsum der Pflanzenblätter hatte sie eine Weile lang das Kribbeln in ihrem Mund genossen, dann ein Brechmittel geschluckt, wovon sie sich vor Kurzem erst noch die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, und als krönenden Abschluss noch ein Schmerzmittel genommen, doch bis jetzt hatte sich noch keine Besserung eingestellt. Nun, wie es schien, war eine winzige Menge des Giftes wohl doch noch in ihrem Körper verblieben.

„Interessant!", dachte sie, ihre Symptome analysierend. „Das muss ich mir merken. Vielleicht brauche ich dieses Wissen ja irgendwann."

Immer noch ein wenig würgend und sich noch enger zusammenrollend, grinste Maomao in die Dunkelheit hinein.

Was für ein wunderbares Gift! Wirklich ein Meisterwerk der Natur! 

„Apothekerin!", vernahm sie auf einmal eine verzweifelte Stimme und hastige Schritte aus dem Korridor.

Das Grinsen der Apothekerin erstarb für einen Augenblick.

„Na klasse...", dachte sie. „Der hat mir gerade noch gefehlt."

So wie es aussah, war sie wohl doch nicht so diskret vorgegangen, wie sie gedacht hatte...

„Eins, zwei...", begann sie in Gedanken zu zählen.

Und im nächsten Moment wurde die Tür auch schon aufgerissen und ein panischer und in sein Schlafgewand gekleideter Jinshi stürmte in ihr Zimmer hinein. Er trug ein Handtuch auf den Schultern und sein langes Haar war immer noch etwas feucht. So wie es schien, hatte er erst vor Kurzem ein Bad genommen...

„Drei..."

„Apothekerin! Während Suiren mir die Haare trocknete, erzählte sie mir, dass sie gesehen hat, wie du dich übergeben hast! Was ist geschehen!? Du bist doch nicht etwa krank, oder?"

Er atmete leicht angestrengt. Nicht doch, war er etwa den ganzen Weg zu ihr gerannt?

„Und natürlich musste Dame Suiren ihm auf der Stelle davon berichten...", dachte Maomao verbittert. „Klasse, jetzt gibt's Ärger..."

„Nein, bin ich nicht, Herr."

„Was ist es da-... Moment mal, diesen Ausdruck kenne ich doch!" Er eilte zu ihr, hielt jedoch inne, als er nahe genug war, um ihr Gesicht sehen zu können, und verengte die Augen. „Du hast Gift konsumiert, nicht wahr?"

Maomao schwieg.

Jinshis schönes Gesicht verfinsterte sich. Er schaute noch einmal ganz genau hin und gab, als er sichergestellt hatte, dass sie nicht im Sterben lag, einen Seufzer der Erleichterung von sich. Doch angesichts der Wut, die Maomao mit Hilfe des Mondlichts in seinen Augen erkennen konnte, begriff Maomao, dass ihr eine gewaltige Standpauke drohte. Ganz wie erwartet.

„Wie oft, Apothekerin!? Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du kein solch gefährliches Zeug essen sollst!? Nur damit du's weißt, Gift ist nicht das Gleiche wie ein harmloses Stück Mondkuchen!" Seine Stimme bebte vor Ärger und Verzweiflung. „Es kann dich lähmen oder sogar töten, verstehst du das denn nicht!?"

„Geht das wieder los... Ich nehme an, es bringt nichts, ihm zum hundertsten Mal zu versichern, dass ich genau weiß, was ich meinem Körper zumuten kann, was?"

„Was soll ich bloß mit dir machen!? Verrat es mir!"

„Ähm... mich in Ruhe lassen... vielleicht?"

„Es tut mir leid, Eure Exzellenz, aber ich habe Euch bereits mehrfach erklärt, dass ich weiß, was ich tue."

Die Apothekerin versuchte, sich die Schmerzen nicht anmerken zu lassen und mit möglichst ruhiger Stimme zu sprechen.

„Gar nichts tut dir leid, ich kenne dich doch! Ja, du magst es wissen, aber trotzdem könntest du dich eines Tages irren und aus Versehen zu viel schlucken. Und dann wäre es aus mit dir!" 

Jinshis Stimme brach und eine Sekunde lang klang es so, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Doch zu Maomaos riesiger Erleichterung fasste er sich schon bald wieder, stieß einen erneuten Seufzer aus und setzte sich schließlich neben sie auf das Bett.

Mehrere Augenblicke lang herrschte Schweigen, bis der Mondprinz das Handtuch von seinen Schultern nahm und damit behutsam den Schweiß von Maomaos Stirn und auch den Speichelfaden von ihrem Mundwinkel wegwischte. 

„Hach, sieh dich doch nur an... Hast du auch wirklich alles erbrochen?"

Sein Tonfall wurde wieder sanfter, während er sich anschließend über sie beugte und sie beim Kinn fasste, um im schwachen Licht ihr Gesicht genauer zu inspizieren.

„Das habe ich, Herr. Mein Magen ist vollkommen leer."

„Ein Glück..."

Doch genau in diesem Moment beschloss ihr Verdauungssystem, sie mit einem besonders heftigen Bauchkrampf an seine missliche Lage zu erinnern, woraufhin sie am ganzen Körper erzitterte und die Zähne zusammenbiss.

„Au...", entfuhr es ihr, bevor sie es zurückhalten konnte.

„Hm? Was ist denn, Apothekerin?" Jinshis Augen weiteten sich erneut vor Schreck. „Hast du Schmerzen!? Wo? Wo tut es weh?"

Doch bevor sie ihm antworten konnte, war ihm bereits aufgefallen, wo sich ihre Hände befanden.

„Dein Bauch?"

„Ja, aber es nicht sehr schlimm, Herr. Da ich das ganze Gift erbrochen und danach noch ein Schmerzmittel geschluckt habe, sollte es bald von allein weggehen. Autsch!"

„Apothekerin!"

Rasch nahm Jinshi ihre Hände weg und legte ihr eine seiner eigenen auf den Bauch, offenbar ratlos, was er sonst tun sollte.

„Von wegen „nicht sehr schlimm"! Wenn DU schon vor Schmerzen stöhnst, dann muss es so richtig schlimm sein! Soll... Soll ich vielleicht den Hofarzt kommen lassen?"

„Nicht nötig, Eure Exzellenz." Maomao versuchte, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Das geht von selbst vorbei, wirklich."

„Bist du sicher?"

Seine Stimme und auch sein Blick waren von tiefster Besorgnis erfüllt.

„Ja. Schließlich wäre es ja nicht das erste Mal."

Jinshi tat einen tiefen Atemzug.

„Gut. Aber falls es doch schlimmer werden sollte, sagst du mir auf der Stelle Bescheid!" Er machte eine kurze Pause. „Kann ich... Kann ich vielleicht irgendetwas für dich tun?"

„Ja! Mich endlich in Ruhe lassen!", dachte sie gereizt. Doch bevor sie ihm eine Antwort geben konnte, spürte sie, dass seine Hand, welche sich immer noch auf ihrem Bauch befand, angefangen hatte, diesen sanft zu streicheln.

Woraufhin die Schmerzen... ein wenig nachließen!

Maomao war... perplex, um es mal auszudrücken. Sich selbst den Bauch zu reiben, hatte doch überhaupt nichts gebracht, also wieso half es dann, wenn Jinshi derjenige war, der das tat? Vielleicht weil seine Hände größer und wärmer waren als ihre?

„Apothekerin? Wieso bist du plötzlich so still geworden? Alles in Ordnung? Hey, sag doch was!"

Die Panik war in seine Stimme zurückgekehrt.

„Also ist eine Massage in diesem Fall sehr wohl wirksam...", murmelte die Apothekerin schließlich.

Jinshi blinzelte verwirrt und blickte dann zu seiner Hand auf ihrem Bauch.

„Hm? Wovon sprichst du denn bitte? Oh! Soll das heißen, dass mein Streicheln... dir tatsächlich hilft?"

Maomao antwortete nicht, doch er merkte auch so schon, dass ihre Bauchdecke nicht mehr ganz so angespannt war.

„Verstehe... Gut, dann ist es entschieden!"

„Ähm, bitte, was?"

***

„Was macht Ihr da, Eure Exzellenz? Wohin bringt Ihr mich?"

Jinshi hatte Maomao in die Arme gehoben und trug sie nun entschlossenen und eiligen Schrittes durch die Korridore, dabei darauf Acht gebend, dass ihr Bauch an seinen Körper gepresst war.

„Zu meinen Gemächern, wo du heute Nacht schlafen wirst." Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. „Jetzt schau mich nicht so an, es ist ja nicht so, als ob dir mein Bett nicht bereits vertraut wäre."

„Das hat aber wirklich falsch geklungen", dachte Maomao, obgleich sie verstand, dass er mit seinen Worten ganz klar den Vorfall mit dem Ritual gemeint hatte, nach dem er sie in seinem Bett ruhen ließ. Die noch immer nicht vollständig verheilte Wunde an ihrem Bein pochte ein wenig bei der Erinnerung daran, doch es hielt bloß einen Augenblick an.

Jedoch hörte sie ihn plötzlich schlucken und blickte in sein Gesicht. Jinshi war knallrot. Nun, möglicherweise hatte er ja auch schon selbst gemerkt, was er da eigentlich von sich gegeben hatte. Oder es an Maomaos Gesichtsausdruck abgelesen.

„M-Mach dir keine Sorgen, Apothekerin. Ich werde nichts tun, was du nicht willst."

„Ach, ja? Und wieso tragt Ihr mich dann gegen meinen Willen in Eure Gemächer?", dachte sie und seufzte.

„Schon gut, Eure Exzellenz. Ja, ich gebe zu, es tut wirklich ziemlich weh, aber es sind doch bloß Bauchschmerzen. Ich werde schon nicht daran sterben. Bitte bringt mich einfach zurück und geht schlafen."

Und während sie ihr Bestes tat, um die Schmerzen zu ignorieren, spürte sie, wie er sie noch enger an sich drückte.

„Oh, dieser sture...!"

„Glaubst du ernsthaft, ich könnte schlafen, wenn ich weiß, dass du Schmerzen hast!?", fuhr er sie an.

„Und glaubt Ihr ernsthaft, ich könnte schlafen, wenn Ihr im selben Bett mit mir liegt?", dachte sie genervt.

„Ich versichere Euch, dass ich ganz wunderbar allein zurechtkomme, Herr", wagte Maomao einen erneuten Versuch. „Und außerdem..."

„Ja?"

Er warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Die meisten Frauen sind Bauchschmerzen und Krämpfe gewohnt. Aber als Aufseher des Inneren Palastes solltet Ihr das eigentlich wissen."

Jinshi öffnete den Mund, als er begriff, wovon sie da sprach, und errötete erneut ein wenig.

„Ähm, ja, schon klar. Aber trotzdem... bedeutet das doch nicht, dass ich dich ganz allein leiden lassen soll... Und deshalb nichts da! Du kommst mit mir, ob du es nun willst oder nicht! Hast du mich verstanden!?"

Die Apothekerin hatte keine andere Wahl, als widerwillig zu nicken.

***

In seinen Gemächern angekommen, stellten sie fest, dass Suiren sie dort bereits erwartete. Sie hatte angenommen, dass ihr junger Herr sich zweifellos um seine liebe, kleine Apothekerin kümmern würde, und eine Karaffe mit Wasser für Maomao, eine zweite Bettdecke und eine Schüssel mit kühlen Wasser für den Fall, dass die Apothekerin Fieber hatte, vorbereitet.

Als sie jedoch sah, dass Jinshi die Lage unter Kontrolle zu haben schien, bat sie ihn, nach ihr zu rufen, falls er oder Maomao noch etwas benötigen sollten, und zog sich mit einem sanften Lächeln auf den Lippen zurück.

Sobald seine oberste Zofe gegangen war, platzierte Jinshi Maomao in sein Bett und legte sich neben sie. Dann schlang er seinen Arm um sie, drückte sie eng an sich und fing an, ihr mit seiner anderen Hand den Bauch zu massieren. Mehrere Stunden lang und ohne Pause, während er ihr ständig „Alles wird gut..." und „Gleich geht es vorbei" ins Ohr flüsterte.

Maomao entspannte sich immer mehr und mehr und schlief schließlich vollkommen erschöpft ein.

Ihrem vollkommen ruhigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, waren die Schmerzen wohl endlich verschwunden.

Jinshi gab einen weiteren Seufzer von sich, während er die Geschehnisse in seinem Kopf Revue passieren ließ. Seine warme Hand lag immer noch auf ihrem Unterleib. Irgendwann richtete er den Blick auf ihr Gesicht und spürte, wie sein Herz trotz allem dahinschmolz, als er bemerkte, wie niedlich sie beim Schlafen aussah.

„Mit dir hat man es wirklich nicht leicht, weißt du das?", wisperte er in die Dunkelheit hinein und küsste sie zärtlich auf die Stirn, bevor er endlich selbst einzuschlafen begann.

Chapter 53: Das Schlaflied der Nymphe

Notes:

Lasst uns das neue Jahr mit einer kleinen süßen Songfic beginnen :)

Noch 8 Tage bis zur zweiten Staffel!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Eines friedlichen Winterabends saß die bereits in ihr Schlafgewand gekleidete Maomao im Schneidersitz auf ihrem Bett in Jinshis Residenz und las mit leuchtenden Augen und vor unbeschreiblicher Freude geröteten Wangen in einem Buch über Heilpflanzen und Arzneirezepturen. Es sich vom Hofarzt auszuleihen, hatte sie zwar reichlich Mühe gekostet, doch diese war es allemal wert!

Wie einen kostbaren Schatz hielt sie das Buch in beiden Händen, während ihr Schatten dank der einzigen im Raum brennenden Kerze auf die ihr am nächsten gelegene Wand projiziert wurde.

Nun, um ehrlich zu sein, hatte die Apothekerin sich zunächst noch nicht sehr wohl dabei gefühlt, als einfache Zofe einen solch teuren Luxus wie eine Kerze in Anspruch zu nehmen, doch da sie tagsüber aufgrund ihrer Arbeit keine Zeit zum Lesen hatte und die Abende im Winter nun einmal stockdunkel waren, hatte sie keine anderen Wahl gehabt, als besagten Luxus, den Jinshi ihr freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte, letztendlich anzunehmen.

Apropos, Jinshi.

Die „himmlische Nymphe" war ebenfalls da und lag zusammengerollt direkt neben ihr auf dem Bett (dabei mindestens drei Viertel des gesamten freien Platzes einnehmend, nur mal so am Rande). Den Kopf an Maomaos Hüfte gepresst und einen Arm von hinten um ihre Taille geschlungen, döste er glücklich vor sich hin.

Missmutig beäugte Maomao einen Moment lang seine andere Hand, die auf ihrem Schoß ruhte, und ihre Augenbrauen zogen sich unwillkürlich zusammen, als sie sah und spürte, wie seine Finger sich leicht bewegten. 

Man musste wohl nicht extra erwähnen, dass die Apothekerin über seine Anwesenheit, um es mal milde auszudrücken, nicht besonders erfreut war, doch da sie ihn selbstverständlich nicht aus einem Raum in seinem eigenen Zuhause verscheuchen konnte und außerdem noch genau wusste, dass er einen weiteren anstrengenden Arbeitstag hinter sich hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit der Tatsache abzufinden, dass er ausgerechnet IHR Bett als seinen abendlichen Erholungsort auserkoren hatte.

„Ach, wenn seine Verehrerinnen aus dem Inneren Palast ihn bloß so sehen könnten…” , dachte sie. 

Das Beste, was sie in einer solchen Situation tun konnte, war, ihn wie Luft zu behandeln und zu versuchen, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren.

Anders gesagt, das Gefühl seines warmen, muskulösen Arms um ihren Körper zu ignorieren. Was trotz des höchst interessanten und spannenden Buches natürlich leichter gesagt als getan war.

Ihre blauen Augen wanderten zurück zu der Seite, die sie soeben gelesen hatte, und ein Lächeln fand erneut seinen Weg zu ihren Lippen.

„Genau, diese Rezeptur muss ich auf jeden Fall eines Tages ausprobieren...", murmelte sie kaum hörbar in die Stille hinein und gab ein Gähnen von sich.

„Na, müde, Apothekerin?", erklang daraufhin aus heiterem Himmel Jinshis entspannte Stimme neben ihr, gefolgt von einem Kichern.

Maomao bekam einen kurzen Schreck und schnaubte dann leise. Mist! Er war doch Luft und Luft konnte nicht reden!

Als Nächstes sah sie, wie der junge Adelige seine Hand von ihrem Schoß nahm, und zuckte kurz darauf heftig zusammen, als er ihr seinen Zeigefinger in die Seite bohrte.

„Das war aber nicht sehr nett", hörte sie ihn murmeln. Seinem Tonfall zufolge, schmollte er gerade.

Ihre Augen weiteten sich ein wenig. Oh nein! Hatte sie den Gedanken vorhin etwa laut ausgesprochen?

„Entschuldigt, Herr..."

„Hach, schon in Ordnung. Wäre ja nicht das erste Mal. Aber wie auch immer, vielleicht solltest du langsam mal schlafen gehen, wenn du so müde bist, glaubst du nicht auch?"

„Oh, mit Vergnügen, aber leider liegt da ein gewisser Jemand auf meinem Bett", dachte sie mürrisch, dieses Mal extra darauf Acht gebend, ihre Gedanken auch tatsächlich für sich zu behalten. Doch ihr Gesichtsausdruck sagte auch so schon mehr als tausend Worte. Gut, dass er ihn von seiner Position aus nicht sehen konnte.

„Das werde ich, Eure Exzellenz. Zuvor möchte ich aber noch dieses eine Kapitel zu Ende lesen."

„Aber Apothekerin, Schlaf ist doch so unglaublich wichtig. Ist es nicht das, was du mir selbst regelmäßig einzutrichtern versuchst?" Jinshi tat so, als sei er geschockt. „Oh nein, kann es etwa sein, dass du deine eigenen Ratschläge nicht befolgst? Unfassbar!"

Maomao merkte, dass er ein Lachen zurückhielt, ganz offensichtlich trieb er gerade seine Späße mit ihr. Sie biss die Zähne zusammen und zwickte ihn als kleinen Racheakt umgehend kräftig in die andere Hand.

„Autsch! Hahaha!"

Was ihm jedoch nicht wirklich etwas auszumachen schien.

„Wenn Ihr wirklich wollt, dass ich mich schlafen lege, dann seid doch bitte so gut und verschwindet endlich, in Ordnung?", beklagte sie sich in Gedanken, wagte es jedoch nicht, jene bescheidene Bitte tatsächlich laut auszusprechen.

„Hm, vielleicht sollte ich lieber gehen..."

Oh, konnte es etwa sein, dass er ihre Gedanken erraten hatte? Welch Freude!

„Ja, bitte!"

„Hm, aber andererseits... woher soll ich denn wissen, ob du nicht doch die ganze Nacht mit Lesen verbringst, sobald ich weg bin?"

Und so wurde Maomaos kleiner Hoffnungsschimmer schließlich brutal zertrümmert. Einfach so. Sie spürte, wie ihr bereits strapazierter Geduldsfaden kurz vor dem Reißen stand, und hätte vor Frustration beinahe ein lautes Ächzen von sich gegeben.

Die Apothekerin hatte bereits vor, ihm zu versprechen, dass sie tatsächlich nicht vorhatte, die ganze Nacht zu lesen, jedoch...

„Ah, warte! Ich habe eine Idee!" Er schloss seinen Arm noch etwas enger um sie.

„Na toll... Was zur Hölle ist es denn diesmal?", dachte sie. „Ich bin in der Tat zu müde, um mich mit seinem Unsinn zu befassen..."

„Weißt du, mir ist gerade eingefallen, dass Suiren mir öfters ein Schlaflied vorgesungen hat, als ich noch klein war."

„Das ist schön, Herr", antwortete Maomao ohne das geringste Interesse und blätterte die Seite um, sich bereits mit der Tatsache abfindend, dass sie ihn noch ein Weilchen ertragen müsste.

„Ich glaube, ich weiß noch, wie es geht.”

„Da gratuliere ich Euch… Eure Exzellenz! Was soll das?”

Ohne jede Vorwarnung hatte Jinshi sich im Bett aufgesetzt und die vollkommen überrumpelte Apothekerin auf seinen Schoß gehoben. Lächelnd nahm er ihr das Buch aus den Händen, legte es auf das Bett und drückte Maomao ganz fest an sich, das Kinn auf ihrem Kopf ablegend.

„Pass auf, ich werde dir beim Einschlafen helfen.”

„Nicht nötig, Herr. Das schaffe ich auch ganz allein, glaubt mir.”

„Hat er etwa vor, mich in den Schlaf zu singen? Was zum... Ich bin doch kein Kind mehr!"

Maomao hatte seine Arme gepackt und versuchte, sich herauszuwinden. Vergeblich, natürlich. So wie immer.

Ihre Einwände vollkommen ignorierend, begann der junge Adelige sanft zu singen. Seine angenehme Stimme erfüllte das ins abendliche Halbdunkel getauchte Zimmer.

„Die Sonne, die Sonne…”

„Eure Exzellenz!” 

„Du bringst uns farbenfrohes Licht…”

„Grmph!” Schlussendlich gab Maomao es auf und lehnte sich verärgert an seine Brust, woraufhin er ihr liebevoll durchs Haar strich.

„Du verschönerst die wundervolle Blume unserer Seele…”

Ein wenig widerwillig begann sie, ihm endlich zuzuhören. Er konnte wirklich ganz gut singen, fand sie.

„Heute wachsen wir unter dem Sonnenlicht…”

Maomao musste zugeben, dass es doch ganz schön bequem in Jinshis Armen war. Möglicherweise war sie doch müder als gedacht.

„Morgen erschaffen wir eine farbenfrohe Welt…”

Die Apothekerin gähnte erneut und entspannte sich noch mehr.

„Lai-lai-lai-lai-lai-lai… das farbenfrohe Licht, das farbenfrohe Licht…”

Ohne dass es ihr so richtig bewusst wurde, begannen ihre Augenlider langsam aber sicher schwer zu werden, und sie konnte ein weiteres Gähnen nicht zurückhalten.

„Du bist der strahlende Sonnenschein… Mit farbenfrohen Träumen laufen wir Richtung Zukunft…”

Jinshis Stimme wurde immer leiser und leiser, bis sie schließlich verklang.

„Das farbenfrohe Licht, das farbenfrohe Licht… du bist der strahlende Sonnenschein… Mit farbenfrohen Träumen laufen wir Richtung Zukunft.”

Als das Lied des Mondprinzen zu Ende war, lächelte er zufrieden und tippte der tief schlafenden Maomao leicht auf die Nase.

„Na also, ich wusste es doch. Schau dir nur an, wie erschöpft du bist.”

Er hob sie vorsichtig hoch, legte sie ins Bett, deckte sie zu und küsste sie sanft auf die Stirn, ihr Buch auf den kleinen Tisch neben dem Bett platzierend.

„Gute Nacht, mein Sonnenschein. Danke, dass du mir meine Tage erhellst”, wisperte Jinshi ihr noch zum Abschied zu. 

Dann stand er auf und blies auf seinem Weg Richtung Tür die Kerze aus.

„Süße Träume... aber bitte nicht von Giften…”

Notes:

Das hier war meine eigene Idee und das Lied hab ich auf dieser Seite hier gefunden:

https://www.quora.com/What-are-some-nice-Chinese-lullabies-to-sing-to-children-to-help-teach-them-Mandarin-Chinese

Chapter 54: Maomaos Nähkünste

Notes:

Noch 6 Tage bis zur zweiten Staffel!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Mit leicht gerunzelter Stirn blickte Maomao kurz zum wolkenverhangenen Himmel auf und fuhr dann mit ihrer Tätigkeit, draußen die trockene Wäsche von der Leine zu nehmen und ordentlich zu falten, fort.

„Es könnte heute regnen" , dachte sie. „Also sollte ich mich wohl besser ein wenig beeilen."

Ein paar Minuten später hievte sie dann schließlich einen vollen Wäschekorb auf ihren Rücken und nahm einen zweiten in die Arme, um damit zu Jinshis Residenz zurückzukehren und ihre Aufgabe rasch zu vollenden, damit sie noch genug Zeit für eine kleine Pause und einen Becher Tee hatte, bevor sie sich an die nächste machen müsste.

Doch es hatte einfach nicht sollen sein.

„Hallo, Apothekerin!", vernahm sie eine viel zu vertraute honigsüße Stimme, die ihr keine andere Wahl ließ als stehenzubleiben und sich umzudrehen. So umwerfend schön wie immer und mit einem breiten, ehrlichen Lächeln auf den Lippen kam Jinshi auf sie zu und legte ihr seine Hand auf die Schulter. „Lange nicht gesehen!"

„Ja klar, ganze drei Stunden" , dachte Maomao mit einem leisen Seufzer.

„Seid gegrüßt, Eure Exzellenz. Ich bringe gerade die Wäsche rein."

„Das sehe ich. Sag mal, ist das Ganze nicht zu schwer für dich? Soll ich dir vielleicht beim Tragen helfen?"

„Nein, danke, Herr. Ich komme gut allein zurecht. Und außerdem möchte ich nicht, dass Dame Suiren mich später ausschimpft." Die Wäsche war zwar tatsächlich ziemlich schwer für die zierliche Apothekerin, doch sie hatte wirklich keine Lust, in Schwierigkeiten zu geraten.

„Wie du meinst." Jinshi hatte verstanden und hakte nicht weiter nach. „Dann lass uns mal nach Hause gehen, ja?"

Und während sie so nebeneinander hergingen, fiel Maomao auf einmal etwas ins Auge und sie blieb urplötzlich stehen. Der Mondprinz tat es ihr ein wenig verwirrt nach.

„Apothekerin? Was ist denn? Ist die Wäsche doch zu schwer für dich?"

Doch anstatt zu antworten, stellte sie den Wäschekorb, den sie in den Armen gehalten hatte, auf den Boden und ging neben dem jungen Herrn in die Hocke, mit einem äußerst ernsten Gesichtsausdruck auf seine Beine starrend. Bis sie auf einmal den Saum seines Gewandes packte und etwas anhob.

Jinshi wurde rot und tat beinahe einen Sprung.

„A-Apothekerin!?"

„Ihr habt ein Loch in Eurer Kleidung, Eure Exzellenz. Und zwar hier", erklärte sie seelenruhig und zeigte ihm die betroffene Stelle, seine Verlegenheit komplett ignorierend.

Er atmete ein paar Mal zittrig ein und aus und beruhigte sich schließlich ebenfalls. Doch eine leichte Röte verblieb trotzdem noch auf seinen Wangen.

„Ah, ich war beim Laufen ein wenig in Gedanken und mein Gewand ist an einem Busch hängengeblieben. Da muss es wohl passiert sein..."

Jinshi seufzte und ließ bedrückt die Schultern hängen. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass auch er nicht in der Stimmung für eine Zurechtweisung war.

Maomao sah ihm einige Zeit lang ins Gesicht und stand dann mit einem Seufzer auf. Als Nächstes begann sie, in den Falten ihrer eigenen Kleidung herumzukramen und zog letzten Endes etwas heraus. Nun, wie es aussah, müsste ihr Tee wohl noch eine Weile warten.

„Ich habe hier Nadel und Faden, Herr, und könnte versuchen, es Euch zu flicken, falls Ihr nichts dagegen habt. Vielleicht merkt Dame Suiren dann nichts."

Die Apothekerin zweifelte ernsthaft daran, dass die scharfäugige oberste Zofe tatsächlich ein geflicktes Loch in der Kleidung ihres Herrn übersehen könnte, aber einen Versuch war es wert.

Um ehrlich zu sein, wusste sie nicht genau, wieso sie sich überhaupt auf einmal entschlossen hatte, ihm zu helfen, schließlich ging es sie ja nichts an, ob er ausgeschimpft werden würde oder nicht, aber was soll's... im Moment war ihr der Grund egal.

Seine Augen begannen zu leuchten.

„Das würdest du für mich tun? Danke, Apothekerin!"

***

Ein paar Minuten später saßen die beiden auch schon draußen auf einer Bank mit Maomaos Wäschekörben zu ihren Füßen. Maomao fädelte geschickt den Faden durch das Nadelöhr, während Jinshi sich umsah, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich niemand beobachtete. Denn schließlich kannten ihn die meisten Leute immer noch als „makellosen, wunderschönen Eunuchen", also musste er selbst in der Nähe seiner eigenen Residenz vorsichtig sein. Doch da sich im Augenblick keiner außer der Apothekerin in seiner Nähe befand, konnte er seine Maske vorübergehend fallen lassen.

„Gut", sprach sie, als ihre Vorbereitungen beendet waren. „Und nun gebt mir bitte Euer Bein, Herr."

Jinshi drehte den Kopf zu ihr zurück und sah sie verwundert an.

„Was meinst du?"

„Ich meine, dass Ihr Euer Bein auf meinen Schoß legen sollt, Eure Exzellenz", erklärte sie gelassen.

„Was!?"

Und so schaffte sie es zum zweiten Mal, Jinshi knallrot anlaufen zu lassen und zwar noch heftiger als zuvor. Um ehrlich zu sein, sah er so aus, als würde jeden Moment Dampf aus seinen Ohren aufsteigen. Maomao fiel sogar auf, dass seine Hände zitterten.

„Oh, aber mich ständig anzufassen und zu umarmen, scheint Euch nichts auszumachen, was? Ganz zu schweigen davon, dass Ihr mich sogar von Zeit zu Zeit hochhebt" , dachte sie gereizt und begann, ihre Hilfsbereitschaft bereits ein wenig zu bereuen.

Und dennoch musste sie zugeben, dass seine Reaktionen nicht nur peinlich, sondern auch irgendwie... amüsant waren.

„Alternativ könnte ich auch Euer Gewand hochziehen oder es Euch sogar ganz ausziehen, aber ich glaube nicht, dass ich so etwas in der Öffentlichkeit tun sollte. Was meint Ihr, Herr?" In ihrer Stimme lag leichter Sarkasmus.

„A-Ausziehen!?", stammelte Jinshi mit weit aufgerissenen Augen. Die Apothekerin bemerkte, wie sich sein Adamsapfel bewegte, als er daraufhin hörbar schluckte. „N-Nein, d-das solltest du wirklich nicht tun..."

Maomao setzte ein kleines Grinsen auf, als sie sah, wie er sich auf einmal so aufführte wie ein unschuldiger Junge. Ja, es machte tatsächlich ziemlichen Spaß, ausnahmsweise mal ihn ein wenig aufzuziehen.

„Ach, herrje...", meinte sie schließlich mit einem tiefen Seufzen und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Brust. „Schon gut, ich werde mich einfach neben Euch auf den Boden knien."

Doch dann tauchte auf einmal Entschlossenheit auf Jinshis gerötetem Gesicht auf.

„Nein, das musst du nicht! Ich tu's!"

Mit diesen Worten hob er tatsächlich sein Bein und legte den Unterschenkel auf Maomaos Schoß ab. Diese blinzelte ein paar Male, ein wenig verwundert über seinen plötzlichen Sinneswandel, als sie es warm auf ihren eigenen Beinen liegen spürte, doch sie fasste sich wieder, zuckte die Achseln und machte sich ans Werk.

Und doch hörte Jinshis Bein einfach nicht auf, leicht zu zittern. Die Apothekerin klopfte ihm kurz auf das Knie.

„Nur keine Sorge, Herr. Ich werde Euch schon nicht wehtun."

„Das weiß ich doch! Ich vertraue dir vollkommen!"

„Ach, wirklich?" , dachte sie und begann sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. „Und wieso seid Ihr dann so nervös, hm?"

Danach folgte Stille, während Maomao nähte und Jinshi den Bewegungen ihrer dünnen Finger mit deutlichem Interesse zusah. Er hatte es inzwischen geschafft, sich wieder vollständig zu beruhigen, und saß nun vollkommen entspannt auf jener Bank mit einem kleinen Lächeln im Gesicht.

Nach einer Weile legte er ihr die Hand auf den Kopf und fing an, diesen sanft zu streicheln, als sei sie eine Katze.

„Passt bloß auf, Eure Exzellenz", meinte die Apothekerin in einem komplett gelassenen Tonfall, ohne den Blick von ihrer Tätigkeit abzuwenden. „Oder ich könnte auf einmal beschließen, Euch mit dieser Nadel hier zu pieksen."

Jinshi nahm seine Hand wieder weg.

„Ach? Und was ist mit deinem Versprechen, mir nicht wehzutun?", fragte er belustigt. 

„Dann breche ich es eben."

„Haha! Oje, wie gemein du doch bist!"

Wie so oft, fiel Maomao auf, wie viel einfacher es war, sich mit ihm zu unterhalten, wenn sie nur zu zweit waren, da er sich dann deutlich natürlicher verhielt als sonst.

Nun, mal abgesehen von dem gemurmelten „Du kannst mit mir machen, was auch immer du willst", welches sie gerade von ihm vernommen hatte. Oder vielleicht hatte es sich auch nur eingebildet... oder zumindest hoffte sie es.

„Ach, wie auch immer." Er schenkte ihr ein erneutes Lächeln. „Ich gebe dir nachher eine kleine Belohnung für deine Mühen. Freu dich drauf!"

„Wie Ihr meint, Herr."

„Bestimmt eine Umarmung..." , dachte sie, ohne die Miene zu verziehen.

„Hm? Willst du denn gar nicht wissen, welche?"

„Das erfahre ich sicherlich noch früh genug."

„Da hast du Recht. Schau!"

Und mit diesen Worten zog er etwas aus seinem Ärmel und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Maomaos empfindliche Nase begann leicht zu zucken und sie hielt inne und drehte den Kopf in seine Richtung.

Ihre Augen weiteten sich und fingen an zu strahlen, als sie die Pflanze in seiner Hand entdeckte.

Ihre freie Hand streckte sich unbewusst danach aus.

„Oh nein, noch nicht. Erst nachdem du fertiggenäht hast." Ganz zufrieden dreinblickend, hob der Mondprinz das Kraut noch höher, damit sie auch ganz bestimmt nicht herankam. War das etwa ein kleiner Racheakt seinerseits für ihre Neckereien vorhin? Oder wollte er möglicherweise mit ihr spielen, als sei sie eine Katze? Wer wusste das schon. „Ich wollte dir das heute sowieso geben, aber nun kann ich es dazu nutzen, um dir meine Dankbarkeit für das Flicken meiner Kleidung auszudrücken."

Maomaos Augen waren auf die Pflanze fixiert. Sie zwang sich dazu, den Blick wieder abzuwenden, seufzte sehnsuchtsvoll und begann, schneller zu arbeiten, um jene wunderbare Belohnung so bald wie möglich zu erhalten.

Jedoch ließ sie sich von ihrem Wunsch so sehr mitreißen, dass sie Jinshi letzten Endes doch aus Versehen mit ihrer Nadel piekste.

„Autsch!"

Und zu allem Überfluss fing es genau in dem Moment an zu regnen.

Notes:

Das war wieder mal meine Idee und ein Versuch, eine leicht verspielte Maomao zu schaffen. :)

Chapter 55: Maomaos verstauchter Knöchel

Notes:

Ein Leser wünschte sich eine Geschichte, wo Maomao ein gebrochenes Bein/einen verstauchten Knöchel hat und das hier ist meine Idee dazu!

Ich dachte, die für den 31.12. würde die längste werden, aber da hab ich mich echt gründlich geirrt. :)

Noch 4 Tage bis zur zweiten Staffel!

Chapter Text

Auf dem Gras draußen sitzend, spürte Maomao, wie ihr eine kühle Abendbrise sanft das Haar zauste. Es war still, die Sonne ging gerade unter und vor ihr wuchsen gleich mehrere Sträucher mit Heilkräutern, was im Äußeren Palast ein wahrlich seltener Anblick war. Sie brauchte bloß die Hände auszustrecken und konnte sie direkt pflücken und in dem Korb neben ihr verstauen.

Alles war einfach nur perfekt...

...hm, naja, fast alles.

Die Apothekerin zwang sich dazu, kurz den Blick von ihren kostbaren Kräutern abzuwenden und genervt zu der „himmlischen Nymphe" an ihrer Seite zu schielen. Jinshi saß ebenfalls auf dem Gras und beobachtete sie schweigend und mit einem kleinen Lächeln im Gesicht, nach vorne gelehnt und die Ellenbogen auf die Knie und die Wangen auf die Handflächen gestützt.

Maomao fragte sich, wie er nur so dermaßen entspannt sein und sich nicht die geringsten Sorgen machen konnte, dass jemand ihn bei einem solch für einen Adeligen ungebührlichem Verhalten erwischen könnte. Hm, vielleicht lag es ja daran, dass es bereits dunkel wurde und das Risiko gesehen zu werden somit nicht so hoch war wie am helllichten Tage...

Sie schnaubte leise. Ach, wie auch immer. Das konnte ihr herzlich egal sein, denn sie zu begleiten, war sowieso seine eigene Idee gewesen.

Die Apothekerin runzelte die Stirn, als sie daran dachte, wie unfassbar lästig und unerträglich seine Überfürsorglichkeit seit den Vorfall von vor ein paar Tagen doch war.

„Mal im Ernst, hat der nicht wichtigere Dinge zu tun? Arbeiten, zum Beispiel?"

Welcher Vorfall? Nun... schauen wir mal:

***

Mit ganz vorsichtigen und langsamen Schritten gab Maomao sich die größte Mühe, all die Silberteller und -töpfe, welche sie gerade erst poliert hatte, wohlbehalten in die Küche zurückzubringen, so wie Jinshis oberste Zofe Suiren es ihr aufgetragen hatte. Es war wirklich viel Geschirr, das da zu einem Berg in ihren Armen aufgetürmt war, einem solch hohen, dass sie kaum sehen konnte, wo sie hinlief.

Und selbstverständlich hätte die Apothekerin diesen Berg in mehrere kleinere aufteilen können und dies in jedem anderen Fall auch ohne zu Zögern getan, aber diesmal hatte sie beschlossen, ein Risiko einzugehen und alles auf einmal zu schleppen, um früher fertig zu werden und zu ihrer Verabredung zu eilen...

...ihrer Verabredung mit den Heilkräutern, die sie kürzlich in der Nähe von Jinshis Residenz entdeckt hatte, die dort wuchsen, als hätten sie nur auf sie gewartet.  

Maomaos Augen begannen vor Vorfreude zu leuchten, während sie sich in Tagträumen über jene Kräuter verlor und dabei überhaupt nicht mehr auf ihre Umgebung achtete.

Jedoch war das Geschirr ganz schön schwer und ihre dünnen Arme zitterten bereits vom Tragen. Und schon bald geschah es: ein Topf löste sich von der Spitze des Bergs und fiel ihr direkt auf den Kopf, ihr die Augen bedeckend. Zum Glück hatte sie sich nicht wehgetan, aber da sie nun nichts mehr sehen konnte, war ihr entgangen, dass ein weiterer Topf heruntergefallen und ihr direkt vor die Füße gerollt war.

Was folgte, war ein unbeschreibliches Getöse und eine gestürzte Maomao, die unter all den Töpfen und Tellern begraben wurde.

Sie ächzte leise und schaffte es, sich auf die Knie zu stemmen und den Topf von ihrem Kopf herunterzunehmen. Sich die Bescherung ansehend, bemerkte sie erleichtert, dass keines der Geschirrteile, von ein paar kleinen Dellen abgesehen, während des Falls Schaden genommen hatte.

Erpicht darauf, alles ganz schnell aufzuräumen, bevor Suiren Wind davon bekam, was sie angestellt hatte, wollte Maomao aufstehen. Doch als sie es versuchte, schoss ganz plötzlich ein scharfer Schmerz durch einen ihrer Fußknöchel und ließ sie zurück zu Boden sinken.

Ja, das Geschirr hatte den Fall tatsächlich unbeschadet überstanden. Was man von ihr selbst jedoch leider nicht behaupten konnte...

***

Die Zähne zusammenbeißend, warf die Apothekerin nun einen finsteren Blick auf die Verbände, mit denen ihr verstauchter Knöchel umwickelt war. Die Standpauke, die sie nach dem Vorfall sowohl von Jinshi als auch von Suiren über sich ergehen lassen hatte müssen, war ihr noch gut in Erinnerung geblieben.

Klasse. Aber das erklärte immer noch nicht, was er jetzt, während des Kräutersammelns, neben ihr verloren hatte, was?

Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, müssen wir noch einmal kurz die Zeit zurückdrehen, aber diesmal nur um eine Stunde:

***

Maomao hielt es nicht mehr länger aus. Sie konnte einfach nicht aufhören, an jene Kräuter zu denken, welche sie vor ein paar Tagen pflücken wollte, was ihr jedoch aufgrund ihres Knöchels verwehrt geblieben war. Die Sehnsucht nach ihnen trieb sie beinahe in den Wahnsinn!

Genug! Sie musste handeln!

Und so wartete sie ab, bis es Abend geworden war und sie all ihre Aufgaben erledigt hatte (trotz ihrer Verletzung sorgte Suiren dafür, dass sie jeden Tag etwas zu tun hatte), schnappte sich einen Korb und die Krücke, die sie nach ihrer Behandlung vom Hofarzt des Äußeren Palastes erhalten hatte, öffnete die Tür ihres Zimmers und spähte vorsichtig in den Korridor.

Alles klar, die Luft war rein! Nichts würde sie mehr von ihren Kräutern trennen können!

Mit geröteten Wangen und einem dicken Grinsen im Gesicht verließ sie schließlich ihr Zimmer und begann Richtung Ausgang zu hinken, dabei den pochenden Schmerz in ihrem Knöchel ignorierend. Laufen war zugegebenermaßen nicht ganz einfach, aber sie kam ihrer Meinung nach gut zurecht.

Doch zu früh gefreut... Gerade als sie kurz davor war, die Ausgangstür zu erreichen, stieß sie, während sie nach unten blickte, um mit ihrer Krücke unterwegs nirgendwo hängenzubleiben, mit der Stirn auf einmal gegen etwas Festes.

Erschrocken sah sie auf der Stelle auf...

...und schluckte, als sie einen ziemlich unzufrieden aussehenden Jinshi entdeckte, der sie mit verengten Augen und mit in die Hüfte gestemmten Händen ansah. Das feste Etwas, gegen das sie geprallt war, war seine Brust gewesen.

„Hä?! W-Wie?! Wo kommt der denn auf einmal her?"

„Was soll das werden, Apothekerin?", fragte er in einem ernsten Tonfall.

Anstatt ihm eine Antwort zu geben, sperrte Maomao lediglich weit die Augen auf und hinkte so schnell sie konnte davon... Sie hinkte um ihr Leben! 

Naja, nicht ganz, aber so fühlte es sich zumindest für sie an.

„Hey! Hiergeblieben!"

Mit nur zwei großen Schritten holte der Mondprinz sie ein und packte sie mit einer Hand von hinten am Kragen, sie auf seine Augenhöhe hebend, als sei sie ein kleines Kätzchen. Ihre Krücke fiel zu Boden.

„Ich wollte bloß ein paar Kräuter in der Nähe sammeln gehen, Herr. Es wird nicht lange dauern."

Ganz genau, die Apothekerin hatte beschlossen, ihm gleich die Wahrheit zu erzählen, da sie begriffen hatte, dass sie mit Lügen derzeit nicht weiterkommen würde. Vielleicht würde er ja ein wenig Gnade zeigen, wer wusste das schon.

Jinshi funkelte sie an. Sein Blick war eiskalt.

„Oh nein, das kannst du vergessen! Du wirst schön in deinem Zimmer bleiben!" So wie es aussah, hatte er vor, sie zurückzutragen.

Pustekuchen. Keine Gnade für Maomao. Jinshi konnte wirklich streng sein, wenn er es wollte.

„Aber Herr..."

Normalerweise widersprach Maomao ihm nicht, wenn er ihr einen Befehl erteilte, doch diesmal konnte sie einfach nicht anders. Immer noch am Kragen festgehalten, begann sie, ein wenig mit den Beinen zu strampeln, in einer stillen Forderung, heruntergelassen zu werden.

„Kein Aber! Du kannst kaum laufen! Was ist, wenn du da draußen nochmal hinfällst und dich noch mehr verletzt?! Ich lasse das nicht zu, verstanden?!"

„Muss er mich unbedingt wie ein kleines Kind behandeln?!", schimpfte sie gedanklich. „Ich kann wunderbar auf mich selbst aufpassen!"

Maomao verzog das Gesicht. Nein, mit Worten würde sie ihn eher nicht überzeugen können. Und so beschloss sie, etwas anderes zu versuchen, verschränkte die Arme und starrte ihm stur direkt in die Augen. Er hielt ihrem Blick stand und erwiderte ihn, nicht weniger stur als sie.

„Du hast wohl nicht vor aufzugeben, was, Apothekerin?"

„Nein, Eure Exzellenz."

Während sie diese Worte ausspie, fiel ihr plötzlich ein, was geschehen war, nachdem sie ihn das eine Mal aus Versehen angelächelt hatte. Vielleicht könnte sie also...

Maomaos Augen weiteten sich. Nein! Verdammt, nein! Ja, sie war verzweifelt, aber SO verzweifelt nun auch wieder nicht!

Na gut, dann konnte sie also nichts anderes tun als ihn weiterhin anzustarren, was?

Doch einige Augenblicke später erschien ein kleiner Hoffnungsschimmer im Gesicht der Apothekerin: bildete sie es sich bloß ein oder wurden die Gesichtszüge des Mondprinzen wieder etwas weicher? Konnte... Konnte es sein, dass er gleich nachgeben würde?

Schlussendlich wendete Jinshi den Blick ab, kratzte sich kurz mit der freien Hand am Kopf und gab einen tiefen Seufzer von sich. Er sah beinahe schon hilflos aus, so, als fiele es ihm schwer, weiterhin so strikt zu ihr sein zu müssen.

„Also gut... Wenn du diese Kräuter wirklich so dringend benötigst, dann darfst du zu ihnen..."

Sie hatte es sich nicht eingebildet! Das Eis in seinen Augen war tatsächlich am Schmelzen!

Die Apothekerin hätte beinahe angefangen, laut zu jubeln. Es hatte geklappt! Sie konnte ihr Glück kaum fassen und wollte sich bereits (obwohl sie immer noch über dem Boden baumelte) vor ihm verbeugen und ihm danken. Jedoch...

„...aber ich komme mit!"

Und ohne ihr die Gelegenheit zu schenken, auch nur einen weiteren Laut von sich zu geben, hob der junge Herr rasch die Krücke vom Boden auf und nahm dann die verblüffte Apothekerin auf den Arm, um sie nach draußen zu tragen.

Maomaos Dankesworte blieben ihr im Halse stecken...

***

Damit kommen wir zu unserer Ausgangsszene zurück.

Inzwischen war es Maomao endlich gelungen, Jinshis Anwesenheit zumindest ein wenig auszublenden, indem sie sich auf ihre wunderbaren Kräuter konzentrierte, von denen ein schwacher, beruhigender Duft ausging. Ja, er war immer noch da, aber wieso sollte sie sich davon stören lassen? Da sie seine Bedienstete war, war sie es eigentlich bereits gewohnt, ihn in ihrer Nähe zu haben, es war bloß so, dass sie es nicht wirklich mochte, so aufmerksam beobachtet zu werden, auch wenn Jinshi kaum ein Wort gesagt hatte, seit er sie auf das Gras gesetzt hatte. Nun, vielleicht wollte er damit Rücksicht zeigen und sie nicht stören. Aber wie auch immer, jedenfalls waren seine violetten Augen wieder von Wärme und Zuneigung erfüllt.

Jedoch war ihr dies alles egal, denn das Wichtigste war, dass sie die Kräuter in die Finger bekommen hatte! Endlich! Der Zweck heiligte die Mittel!

Als jener Gedanke durch Maomaos Verstand huschte, erschien ein Grinsen auf ihren Lippen, während sie die letzte Pflanze in ihren Korb legte.

„Bist du fertig, Apothekerin?"

Sie drehte den Kopf zum jungen Herrn, als sie seine Hand auf ihrer Schulter spürte, und verbeugte sich im Sitzen kurz vor ihm.

„Ja, bin ich, Herr. Ich danke Euch, dass Ihr mir doch erlaubt habt, hierherzukommen."

Dieses Mal schaffte sie es, ihm zu danken.

Sein Lächeln wurde breiter.

„Gut, dann komm her."

Er streckte die Arme nach ihr aus und die Apothekerin dachte, er wolle sie zurück ins Haus tragen.

Doch stattdessen...

Stattdessen schloss er sie zu ihrer großen Verwunderung in die Arme und legte sich auf den Rücken, sodass Maomao bäuchlings direkt auf ihm lag.

„Eure Exzellenz!", rief sie empört aus, fast so aussehend wie eine wütende Katze, die die Zähne fletschte und zubeißen wollte.

„Nur ein bisschen, ja? Dein Knöchel braucht Erholung und es ist so schön draußen."

Beinahe wie aus einem Reflex heraus, hob Maomao umgehend den Kopf und versuchte, sich herauszuwinden, jedoch selbstverständlich vergeblich (und selbst wenn es ihr gelungen wäre, wäre sie mit ihrem Knöchel sowieso nicht sehr weit gekommen). Und so schnalzte sie schließlich missbilligend mit der Zunge und akzeptierte ihre Niederlage.

Nun, eigentlich hatte sie sich inzwischen nicht nur an seine Präsenz, sondern auch an seine Berührungen gewöhnt. Nach so vielen Umarmungen waren diese für sie keine große Sache mehr. 

Und fast ohne es selbst zu merken, hatte sie sogar begonnen, sich zu entspannen, und legte den Kopf auf seine Brust zurück. Nun, möglicherweise hatten ihre Zufriedenheit und Freude über die Kräuterernte etwas damit zu tun. Hm...

Jinshis Herzschlag ganz in der Nähe ihres Ohres vernehmend, wurde ihr zu ihrem Erstaunen klar, dass sogar jenes Geräusch angefangen hatte, ihr vertraut zu werden. Unfassbar...

Währenddessen war dem Mondprinzen aufgefallen, dass eine weitere kühle Brise wehte, und er schlang die Arme noch etwas fester um die Apothekerin, sie enger an seinen warmen Körper drückend. Die zierliche Maomao, die tatsächlich ein wenig zu frieren begonnen hatte, protestierte nicht, sondern fuhr bloß mit den Fingern gedankenverloren durch das Gras.

„Jemand könnte uns sehen, Eure Exzellenz", meinte sie dann leise.

„Nur keine Sorge, es ist schon ziemlich dunkel."

„Stimmt, aber was, wenn Dame Suiren uns erwischt?" Maomao verzog den Mund, während sie sich die Reaktion der älteren Dame vorzustellen versuchte, sollte diese Gras auf Jinshis Kleidung und in seinen Haaren entdecken.

Doch statt einer Antwort klopfte er ihr bloß sanft auf den Rücken, ihr damit zu verstehen gebend, dass er sich nicht darum scherte.

Dann streckte er die Hand nach Maomaos Korb aus und zog ihn näher zu sich heran, um eine der Pflanzen herauszunehmen und sie mit einem Lächeln zu mustern.

„Sind diese Kräuter wirklich so besonders, dass sie es wert sind, einen verstauchten Knöchel zu ignorieren?", fragte er belustigt. „Ach, wieso frage ich überhaupt! Für dich sind sie es natürlich!"

 „So ist es, Eure Exzellenz. Hier im Äußeren Palast wachsen nicht sehr viele Heilkräuter, deshalb ist es immer äußerst aufregend, wenn ich doch auf welche stoße. Dann kann ich mich kaum noch beherrschen."

„Ja, das habe ich gesehen." Jinshi kicherte.

„Und außerdem helfen diese hier gut gegen Schmerzen."

„Was?!" Der junge Adelige setzte sich auf einmal erschrocken auf, sodass die Apothekerin nun auf seinem Schoß saß. „Hast du etwa Schmerzen?! Warum hast du mir nichts gesagt?" Er streckte die Hand aus, anscheinend, um ihren Knöchel zu abzutasten. 

Trotz seiner unerwarteten und abrupten Bewegungen blieb Maomao ruhig.

„Nein, Herr." Nun, um ehrlich zu sein, tat ihre Verletzung schon ein wenig weh, doch sie beschloss, dies für sich zu behalten. „Aber es ist trotzdem gut, welche zu besitzen. Nur für alle Fälle."

„Ach so, verstehe..." Jinshi seufzte vor Erleichterung und legte sich wieder aufs Gras zurück.

Daraufhin folgte Stille und der junge Herr beschloss, für eine Weile die Augen zu schließen und einfach nur Maomaos Wärme zu genießen, während sie nun, immer noch auf Jinshi draufliegend, selbst den Korb näher heranzog und begann, zufrieden die Pflanzen darin zu betrachten.

Nach einigen Minuten jedoch spürte er, wie sie sich bewegte und „Gefangen..." vor sich hinmurmelte.

„Was hast du gefangen, Apothekerin?", fragte er liebevoll und öffnete die Augen wieder.

„Das hier. Die ist direkt neben uns gekrochen." Vollkommen gelassen präsentierte ihm Maomao eine lebende, zischende Schlange, welche sie mit einer Hand direkt unter dem Kopf festhielt.

Jinshi schlug die Augen so weit auf wie es seine Lider zuließen und seine Pupillen schrumpften.

„Waaaah!"

Seinen Schrei konnte man bestimmt im halben Äußeren Palast hören.

Chapter 56: Eine schmerzhaft schöne Kutschenfahrt

Notes:

Das hier war schon wieder meine eigene Idee und die Endszene inspiriert von einem Kommentar, den ich mal von einem Leser vor einem Jahr oder so bekommen hab.

Noch 2 Tage bis zur zweiten Staffel!

Chapter Text

Den Blick vom Fenster der Kutsche, in der er gerade saß, abwendend, gab Jinshi einen müden Seufzer von sich und nahm endlich seine Maske ab, ein Tuch, welches die untere Hälfte seines Gesichtes vor fremden Blicken verdeckt hatte.

Hach, wie lästig das doch war! So unfassbar lästig, nicht in der Lage zu sein, einfach nur durch die Öffentlichkeit zu laufen, ohne ständig aufpassen zu müssen, wem er sein Gesicht zeigen durfte und wem nicht.

Der junge Herr schaute grimmig auf das Tuch in seiner Hand und schnaubte leise, es leicht zwischen seinen Fingern zerknitternd. Die Leute, die seine Schönheit priesen und ihn um sie beneideten, hatten doch keine Ahnung! Nicht die geringste Ahnung, wie schwer er es hatte! Ja, sein ungewöhnlich gutes Aussehen verschaffte ihm eine unglaubliche Menge an Vorteilen, das stimmte schon und er wusste es besser als jeder andere, doch in Momenten wie diesen wünschte er sich nichts sehnlicher als bloß ein einfacher, durchschnittlicher und unauffälliger junger Mann zu sein. Jemand, der sich keine Gedanken über unerwünschte „Verehrerinnen" (und „Verehrer") machen musste, die ihm nachstellen oder versuchen könnten, in sein Zuhause einzubrechen und sich Zutritt zu seiner Schlafkammer zu verschaffen. Das war ja auch der Grund, wieso er nur einer Handvoll Menschen erlaubte, seine Gemächer überhaupt zu betreten.

 Jawohl, er wollte gerne durchschnittlich sein, und sei es auch nur, um in Ruhe durch die Stadt schlendern zu können. Hm, vielleicht sollte er Maomao eines Tages mal bitten, ihn erneut zu verkleiden. Es hatte nämlich so viel Spaß gemacht, ihren Bediensteten zu spielen und mit ihr zusammen durch den Markt zu spazieren! Auch wenn ihr Gespräch am Ende des besagten Spaziergangs nicht das allerangenehmste gewesen war, um es mal so zu sagen.

Sich mit Freude an jenen Tag erinnernd, warf er der Apothekerin einen Seitenblick zu. Sie saß neben ihm in der Kutsche und drehte gerade gedankenverloren eine kleine Pflanze, welche sie aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo unterwegs gepflückt hatte, zwischen ihren Fingern herum, ohne ein Wort zu sagen und mit einem höchst zufriedenen Ausdruck im Gesicht. So wie es schien, war sie in ihre eigene kleine Welt abgetaucht und hatte sogar vergessen, wo sie sich befand, sodass sie seine Blicke überhaupt nicht bemerkte.

Und obwohl Jinshi es nicht mochte, von ihr ignoriert zu werden, könnte er trotz allem spüren, wie seine Mundwinkel sich nach oben bogen, und schüttelte lächelnd den Kopf. Egal wann und egal wo, Maomao war und blieb eben immer Maomao. Ohne jeden Zweifel.

Er beschloss, ihr eine Weile lang unauffällig zuzuschauen (nicht dass dies so schwierig wäre, da ihre Aufmerksamkeit, wie bereits erwähnt, einzig und allein der Pflanze gewidmet war) und fühlte, wie es ihm von ihrem Anblick warm ums Herz wurde. Eine leichte Röte erschien auf seinen Wangen.

Und erneut hatte es die Apothekerin geschafft, allein mit ihrer Gegenwart seine unangenehmen Gedanken zu verdrängen. Sie war wahrhaftig unglaublich.

Immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen drehte der Mondprinz den Kopf zum Fenster zurück und hob den Vorhang so an, dass keiner von außen sein Gesicht erkennen konnte. Ein Blick auf die Straße verriet ihm, dass sie wohl nicht mehr sehr weit von zu Hause entfernt waren.

Jinshi stieß einen erneuten leisen Seufzer aus und rieb sich kurz den Nasenrücken, für einen Moment die Augen schließend. Es war ein wirklich langer, anstrengender Tag gewesen, und er freute sich bereits, zu Hause anzukommen und ein schönes, heißes Bad zu nehmen.

„Hm?"

Ein Laut der Verwunderung entfloh seinen Lippen, als er auf einmal ein zusätzliches Gewicht an seinem Arm spürte. Etwas Warmes...

Was könnte das bloß sein?

Und als ihm klar wurde, dass es auf diese Frage nur eine einzige mögliche Antwort geben konnte, öffnete er auf der Stelle die Augen und drehte den Kopf in Maomaos Richtung. Die Tuchmaske, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte, fiel ihm aus der Hand und flatterte auf seinen Schoß.

Nein, er hatte es sich nicht bloß eingebildet! Die Apothekerin war wirklich eingenickt und hatte sich im Schlaf an ihn gelehnt! Und die Pflanze, die sie vorhin noch bewundert hatte, ruhte nun auf ihrem Schoß.

Jinshi riss Augen und Mund weit auf und erstarrte für einen Augenblick, während sein Gesicht knallrot anlief. Seine eigene Erschöpfung war wie weggeblasen.

„A-Apothekerin!?", wisperte er.

Nun, anscheinend war auch sie ziemlich erschöpft, mehr als er vermutet hatte, und die Bewegungen der Kutsche hatten sie daher letzten Endes in den Schlaf gewiegt. Nichts Ungewöhnliches, eigentlich.

Irgendwann schaffte es der junge Herr schließlich, sich wieder einzukriegen, und ein breites Lächeln erschien auf seinen Lippen. Er war so... so gesegnet mit Glück! Zur Hölle mit dem Bad! Er wünschte sich, dass jene Kutschenfahrt niemals endete!

Vor Freude traten ihm beinahe Tränen in die Augen. Die Tatsache, dass sie in der Lage gewesen war, sich dermaßen in seiner Nähe zu entspannen, dass sie sogar eingeschlafen war, musste ja bedeuten, dass... dass sie sich in seiner Gegenwart sicher fühlte (und ja, praktischerweise hatte er ganz vergessen, dass sie sich dank ihrer Pflanze seiner Gegenwart überhaupt gar nicht erst so richtig bewusst gewesen war)! 

Jinshi schniefte ergriffen und wollte sie auf die Stirn küssen, wagte es jedoch nicht, sich zu viel zu bewegen und sie damit womöglich noch aufzuwecken. 

Stattdessen fiel sein Blick auf ihre Hände, die sich zusammen mit der Pflanze auf ihrem Schoß befanden, und er griff ganz vorsichtig nach einer von ihnen und drückte sie sanft. Unter ihrer Fingernägeln steckte ein wenig Erde und ihre kleine Handfläche war nach den ganzen Putz- und anderen Aufgaben, welche Maomao als seine Bedienstete verrichten musste, ganz rau geworden, doch sie war immer noch so zart, so warm... so tröstend.

Der junge Herr platzierte die Hand der Apothekerin auf seinen Oberschenkel und hielt sie dort, sie mit seiner eigenen umschließend wie einen seltenen, kostbaren Schatz. Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass er Maomao berührte und auch nicht das erste, dass er sie bei der Hand nahm, doch jedes Mal, wenn er es tat, konnte er kaum fassen, was für ein tolles Gefühl das war. Um ehrlich zu sein, hatte er es in seinem ganzen Leben noch nie so genossen, jemand anderen zu berühren.

Und so verging schließlich eine halbe Stunde, schneller als ihm lieb war. Während der junge Adelige mit einem Lächeln und geschlossenen Augen dasaß und einfach nur Maomaos Nähe und das Gefühl ihrer Hand in seiner genoss, drangen irgendwann die Geräusche der Hauptstadt an sein Gehör. Demnach näherten sie sich bereits dem Kaiserpalast.

Mit einem enttäuschten Seufzer öffnete Jinshi die Augen wieder. Nun, auch der schönste Traum konnte nicht für immer währen, da konnte man nichts machen. 

Selbstverständlich hätte er nicht das Geringste dagegen gehabt, Maomao in die Arme zu heben und aus der Kutsche hinaus- und in seine Residenz zu tragen, doch als er sich an das garstige Verhalten anderer Palastdamen ihr gegenüber, kurz nachdem er sie als seine persönliche Bedienstete eingestellt hatte, erinnerte, entschied er, dass es doch keine so gute Idee war, dies am helllichten Tage zu tun. Und so blieb ihm schließlich keine andere Wahl, als sie aufzuwecken.

Daher nahm er sie bei der Schulter und begann, sie behutsam zu schütteln.

„Apothekerin... Apothekerin, wach auf. Wir sind bald da."

„Wa-?"

Maomao schlug langsam die Augen auf und sah sich verschlafen um, ihren Kopf immer noch auf seinem Arm lassend. Sie war offensichtlich noch nicht vollständig zu sich gekommen.

Jinshi lachte leise, legte ihr nun beide Hände auf die Schultern und beugte sich nach unten, um ihr mit einem Kuss auf die Stirn beim Aufwachen zu helfen. Sich freuend, dass er endlich eine Gelegenheit erhielt, ihr einen zu geben.

Doch in genau diesem Moment weitete die Apothekerin die Augen und schoss urplötzlich von ihrem Sitzplatz in die Höhe. So wie es aussah, hatte sie seine Hilfe letzten Endes gar nicht gebraucht...

Bamm!

***

„Es tut mir wirklich leid, Eure Exzellenz. Es war nicht meine Absicht, Euch zu verletzen."

„Ich weiß. Mach dir keine Sorgen, solche Dinge können passieren."

Mit einem Taschentuch versuchte Maomao gerade, das Blut von seiner Kleidung zu wischen, doch stattdessen verschmierte sie es bloß auf seiner Brust. Nein, es war sinnlos, sein Gewand musste auf jeden Fall gewaschen werden, um die Flecken herauszubekommen.

Währenddessen rieb Jinshi sich die Nase, welche Maomao vorhin bei ihrem abrupten Aufstehen nach dem Aufwachen versehentlich mit ihrem Kopf getroffen hatte. Er schenkte ihr ein kleines Lächeln, um zu zeigen, dass er in Ordnung war. Jedoch fielen trotzdem noch einige rote Tropfen aus seinen Nasenlöchern, obwohl die Apothekerin ihm kleine Stücke Baumwolle hineingestopft hatte, um die Blutung zu stoppen.

Doch dann warf er einen raschen Blick aus dem Fenster und drehte den Kopf zu Maomao zurück, in einer warnenden Geste den Zeigefinger hebend.

„Pass auf. Wenn wir aussteigen und jemand fragt, was geschehen ist, sagst du kein Wort, in Ordnung? Ich werde erzählen, dass ich derjenige war, der während der Fahrt eingeschlafen ist, und dabei das Gleichgewicht verlor und mir die Nase an der Sitzbank gegenüber aufschlug. Hast du mich verstanden?"

Maomao sah ihn leicht stirnrunzelnd an.

Jinshi seufzte und deutete auf seine Nase.

„Stell dir einfach mal vor, was die Leute höchstwahrscheinlich mit dir anstellen würden, falls sie erfahren sollten, dass du diejenige bist, die das verursacht hat."

Nun schien sie endlich begriffen zu haben, worauf er hinauswollte.

„Hm... mich aufhängen und mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen?"

„Na also, dann verstehst du es sehr wohl."

Beide schauderten bei der bloßen Vorstellung. Jinshi sogar mehr als Maomao selbst.

Chapter 57: Fanchild AU

Notes:

Jawohl, ihr habt den Titel richtig gelesen! Einer meiner Leser bat mich um ein Fanchild AU und ich wollte bereits ablehnen, weil ich keine Ahnung hatte, was ich dazu schreiben sollte, aber dann kam mir dann doch unerwartet eine Idee!

Heute beginnt die zweite Staffel! Die Folge kommt, wenn ich mich richtig entsinne, um 18.15 Uhr auf Crunchyroll.

Und für diejenigen, die die englische Version der Light Novel lesen:
heute ist auch noch Band 13 rausgekommen (falls ihr den noch nicht auf der Seite von J-Novel-Club gelesen habt)!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Im Bett sitzend, gab Maomao ein herzhaftes Gähnen von sich, während sie spürte, wie eine fast schon überwältigende Erschöpfung sich in ihrem Körper ausbreitete und sie von Kopf bis Fuß einhüllte. Die schwerste Erschöpfung, die sie ihrer Meinung nach je gefühlt hatte.

Ohne ein Wort zu sagen, blickte die Apothekerin auf das warme, winzige Bündel in ihren Armen und wiegte es vorsichtig, es ein wenig enger an sich drückend. Das kleine Mädchen, welches sie vor nicht einmal zwei Stunden zur Welt gebracht hatte, war in eine Decke gewickelt und schlief tief und fest, die klitzekleinen Händchen zu Fäustchen geballt.

Maomao spürte, dass sie am Besten ebenfalls bald schlafen sollte, da ihr Körper dringend Erholung benötigte nach der anstrengenden Geburt.

Jedoch war sie noch nicht bereit dazu. 

Denn die Kleine musste noch ihren Vater kennenlernen.

Mit einem müden Seufzer legte sich die Apothekerin wieder hin und platzierte das Kind auf ihre Brust, wo es friedlich weiterschlief.

„Also bin ich jetzt tatsächlich Mutter geworden, was?" , dachte sie, an die Decke starrend. Und obwohl ihr der Gedanke, bald eine zu werden, während ihrer Schwangerschaft schon unzählige Male gekommen war, vor allem, wenn sie die Bewegungen des Babys in ihrem Inneren gespürt hatte, hatten jene Worte die ganze Zeit über doch ausschließlich in ihrem Kopf existiert. Aber jetzt wurde ihr klar, dass sie Realität geworden waren. Und um ehrlich zu sein...

...war sie sich selbst jetzt noch nicht wirklich sicher, wie sie das Muttersein bewältigen würde, sie, die selbst ohne eine richtige Mutter aufgewachsen war. Aber da das Baby ja bereits auf der Welt war, hatte sie selbstverständlich keine andere Wahl, als aufzuhören, mit unnötigen Gedanken Zeit zu verschwenden, und einfach zu versuchen, ihr Allerbestes zu tun. So wie immer, wenn sie sich etwas ernsthaft vornahm.

Langsam strich Maomao mit den Fingern durch das weiche, dünne Haar ihrer Tochter. Ihre Haarfarbe hatte die Kleine eindeutig von ihrem Vater geerbt und obwohl sie erst wenige Stunden alt war, könnte Maomao schwören, auch in ihren Gesichtszügen bereits etwas von Jinshi zu erkennen. Sie fragte sich kurz, ob das Mädchen wohl ebenfalls zu einer solch umwerfenden Schönheit heranwachsen würde wie er... aber das würden sie schon selbst mit der Zeit herausfinden.

„Schade, dass man mir nicht erlaubt hat, die Plazenta zu essen..." , dachte Maomao leicht enttäuscht und ließ einen weiteren Seufzer los. Aber abgesehen von jener Kleinigkeit, war sie wirklich froh, dass die Geburt ohne Komplikationen verlaufen und dass das Baby gesund war. Ein bisschen zu klein war, aber gesund. Und das war doch das Allerwichtigste, nicht wahr? „Und so habe ich nun am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, ein Kind zu gebären... eine wirklich interessante Erfahrung, muss ich sagen, aber schmerzhafter als ich dachte."

Ja, selbst Maomao, die Schmerzen ziemlich gut aushalten konnte und sich diese sogar im Rahmen ihrer Experimente sogar selbst von Zeit zu Zeit zugefügt hatte, war erstaunt gewesen, wie sehr so eine Geburt doch wehtat.

Sie erinnerte sich daran, wie Jinshi unbedingt während der Entbindung seines Kindes dabei sein wollte (was für einen Mann und vor allem einen Adeligen übrigens äußerst ungewöhnlich war), doch als es dann so richtig losgegangen war, war er dermaßen nervös, verängstigt und laut gewesen, dass Maomao es nicht mehr länger ertragen konnte und ihm befohlen hatte, gefälligst die Klappe zu halten und sie allein zu lassen, da sie es auch so schon schwer genug hatte.

Und als er sich zunächst geweigert hatte, hatte sie ihm sogar noch ein Kissen an den Kopf geschmissen...

Luomen, der gerufen worden war, sobald die Wehen angefangen hatten, war währenddessen zu sehr damit beschäftigt gewesen, Maomao zu untersuchen, und hatte zu ihrer kleinen Auseinandersetzung kein Wort gesagt, aber als sie so daran zurückdachte, wurde es Maomao im Nachhinein doch ein wenig peinlich, sich vor ihrem Adoptivvater und auch Suiren (welche seelenruhig das Ganze beobachtet hatte) so aufgeführt zu haben. Oh, aber was soll's, was geschehen war, war geschehen.

Zwar hatte der Mondprinz sie während der Schwangerschaft unterschützt, wo auch immer er nur konnte, zum Beispiel, indem er ihr jeden Abend die Füße und jede Nacht im Bett den schmerzenden Rücken massiert hatte, egal wie müde er selbst gewesen war, doch während des Geburtsvorgangs selbst hätte er nichts für sie tun können, sondern wäre bloß ihrem Adoptivvater im Weg gestanden. Und dazu hatte Maomao auch nicht die geringste Lust gehabt mitanzusehen, wie er möglicherweise neben ihr in Ohnmacht fiel...

Zu guter Letzt hatte Jinshi ihren Wunsch doch erfüllt und widerwillig den Raum verlassen, jedoch konnte Maomao immer noch seine Stimme und seine Schritte vom Korridor kommend hören, was sie annehmen ließ, dass er draußen vor der Tür nervös auf und ab lief. Und trotz seiner damaligen Nutzlosigkeit, ihrer eigenen Worte und auch Luomens Anwesenheit, hatte es sie doch auf eine gewisse Weise getröstet, Jinshi in der Nähe zu wissen.

Wo er auch blieb. Fast den ganzen Tag war er kaum einen Schritt von jener Tür weggegangen, bis alles vorbei gewesen war.

Als die ersten Schreie der Neugeborenen dann schließlich nach all den Qualen die Luft erfüllt hatten, war sich die Apothekerin mehr als sicher gewesen, trotz ihrer Schmerzen und all der anderen Emotionen sein verzweifeltes und gleichzeitig unfassbar erleichtertes „Maomao!" durch die Tür vernommen zu haben, gefolgt von einem Geräusch, als sei er auf der anderen Seite auf die Knie gefallen.

„Jetzt müsst Ihr Euch keine Sorgen mehr machen, Eure Exzellenz" , hatte sie damals gedacht, während auch sie von einer gewaltigen Erleichterung überkommen wurde.

Während Luomen sich danach um das Baby gekümmert hatte, war Suiren nach draußen getreten und dann nach einer halben Stunde wiedergekommen, um Maomao Bescheid zu geben, dass sie Jinshi zu seinen Gemächern geführt hatte, da er die ganze Zeit über weder gegessen noch getrunken und sich auch kaum hingesetzt hatte, um Maomao ständig so nahe zu sein wie nur möglich. Die oberste Zofe hatte noch hinzugefügt, dass er eigentlich selbst jetzt nicht gehen wollte, doch sie es schließlich geschafft hatte, ihn mit dem Argument zu überzeugen, dass er, falls er vor Hunger, Durst oder Erschöpfung umkippen sollte, seine geliebte Apothekerin und sein Kind noch länger nicht sehen können würde.

Und nun vermutete Maomao, würde es nicht mehr lange dauern, bis man ihn endlich wieder zu ihr lassen würde.

„Maomao! Wie geht es dir?! Bist du in Ordnung? Tut es immer noch weh? Wie geht es dem Baby?!"

Sie hatte sich nicht geirrt.

Die Tür öffnete sich und ein schwer atmender und äußerst aufgewühlter Jinshi betrat den Raum und stürmte augenblicklich auf ihr Bett zu. In einer solchen Hast, dass er dabei über seine eigenen Füße stolperte und direkt neben dem Bett zu Boden stürzte.

Maomao sah ihm bloß schweigend zu und schnaubte leise. Ihn vorhin hinauszujagen, war genau die richtige Entscheidung gewesen. Selbstverständlich hatte sie begriffen, dass er vor Besorgnis und Aufregung halb verrückt gewesen sein musste, aber während ihrer Wehen hätte sie das auf keinen Fall alles ausgehalten.

Währenddessen hatte sich der junge Herr wieder auf die Füße gestemmt und beugte sich rasch zu ihr, um einen Arm um sie zu schlingen und ihr mehrere Küsse auf das Gesicht zu drücken, den letzten davon auf die Lippen.

Maomao kam nicht umhin zu bemerken, dass er ein wenig blass war und dass einige Tränen sein Gesicht herabliefen. Sie streckte die Hand aus und strich ihm kurz über die Wange.

„Alles ist gut. Aber Dame Suiren und mein Vater müssten Euch dies eigentlich schon gesagt haben, nicht?", meinte sie leise.

„S-Schon, aber ich musste mich selbst davon überzeugen... Du h-hattest solche Schmerzen... u-und ich konnte rein gar nichts für dich tun..."

Die Apothekerin wollte sich erneut aufsetzen, wurde jedoch umgehend von Jinshi aufgehalten.

„Nein! Bleib liegen! Du musst dich schonen!"

„Nicht so laut, Eure Exzellenz, sonst weckt Ihr das Baby auf." Zwar hatte sich die Kleine selbst von seinem Sturz vorhin nicht stören lassen, aber trotzdem.

„Tut mir leid! Entschuldige!" Jinshi schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Ja, er hatte sich noch immer nicht vollständig beruhigt.

„Ich bin wirklich in Ordnung, nur müde", versicherte Maomao ihm erneut. „Und das Baby ebenso. Aber das wurde Euch wohl auch schon gesagt, nehme ich mal an."

„Ja. W-Wir haben... ein kleines Mädchen, nicht wahr?" So aussehend, als fiele ihm das Atmen nun ein wenig leichter, schenkte Jinshi ihr ein liebevolles Lächeln und setzte sich zu ihr auf das Bett. Sein Blick wanderte zu dem kleinen Bündel auf ihrer Brust. „Ist das...?", fragte er ganz sanft.

„Natürlich. Wer sollte es denn sonst sein?" , dachte Maomao leicht genervt.

„Ja, das ist unsere Tochter."

„Sie ist so süß...", murmelte er tief bewegt und bewunderte sein Kind, als sei es ein kleines Wunder. Frische Tränen sammelten sich in seinen Augen. Dann streckte er leicht zögerlich die Hand aus, um mit den Fingerspitzen langsam über die weiche Wange des schlafenden Babys zu streicheln, und gab seiner geliebten Maomao einen weiteren Kuss. „Vielen Dank, Maomao!"

„Möchtet Ihr sie halten?"

„D-Darf ich?"

„Selbstverständlich. Schließlich seid Ihr der Vater."

Jedoch erstarrten Jinshis bereits erhobene Arme. Maomao konnte sehen, dass einige seiner Finger nervös zu zucken begannen. 

„Aber... sie ist so winzig... Was, wenn ich ihr wehtue?"

Die Apothekerin konnte nicht anders, als angesichts dieser Worte die Augen zu verdrehen. Aber so war Jinshi nun einmal, da konnte man nichts machen. Von außen ein höchst selbstsicherer Mann, jedoch in Wahrheit so unsicher wie eh und je. Ein Mann, der ihr, Maomao, mehr vertraute, als sich selbst.

Noch zögerte er, doch so wie sie ihn kannte, war sie sicher, dass sobald jenes Zögern von ihm abfiel, er so an dem Baby hängen würde, wie er auch an ihr selbst hing.

„Das werdet Ihr nicht, glaubt mir. Immerhin habt Ihr auch alle Kinder der kaiserlichen Gemahlinnen im Arm gehalten. Gebt bloß Acht, dass Ihr ihren Kopf stützt."

Ihre Worte beruhigten Jinshi und er streckte erneut die Arme aus. Diesmal nahm er das Neugeborene auch tatsächlich langsam von Maomaos Brust und drückte es ganz vorsichtig an seine eigene, sodass die Kleine auf seinem Unterarm lag, mit dem Köpfchen in seiner Armbeuge. Dann strich er leicht über ihr Bäuchlein und schenkte ihr ein sanftes Lächeln. Seine Tränen hörten währenddessen einfach nicht auf, ihm über die leicht geröteten Wangen zu fließen.

„Hallo, mein Kleines. Hier ist dein Papa..." Seine Stimme war ganz leise, beinahe ein Flüstern.

Doch dann verstummte er auf einmal und riss vollkommen verblüfft die Augen auf. Ein Händchen, so winzig, dass es sogar kleiner war als sein kleiner Finger, hatte sich mit überraschender Kraft an seinen Daumen geklammert.

„Schau, Maomao...", hauchte der Mondprinz. „S-Schau nur..."

„Ja, das nennt sich Greifreflex. Das hat sie bei mir auch gemacht."

„A-Ach, wirklich?... Haha..."

Jinshi war so glücklich, dass er gleichzeitig lachte und weinte.

Plötzlich vernahmen die beiden ein leises, zuckersüßes Gähnen und stellten fest, dass die Kleine begonnen hatte, die Augen zu öffnen. Sie weinte nicht, sondern bewegte bloß ein wenig das Köpfchen.

Als Jinshi zum allerersten Mal die Augen seiner Tochter sah, verschlug es ihm die Sprache. Er brauchte eine Weile, um seine Stimme wiederzufinden.

„M-Maomao... ihre Augen... S-Sie hat deine..."

„Ja, Eure Exzellenz, ich weiß."

„Deine wunderschönen Augen... U-Und ich erkenne bereits etwas von dir in ihren Gesichtszügen... Sie sieht dir so ähnlich..."

Als die Apothekerin das hörte, riss sie vor Überraschung die Augen weit auf, während Jinshi sogar noch heftiger zu weinen anfing und sein kleines Mädchen sanft auf die runde Stirn küsste, bevor er es fest und sicher an sein Herz drückte. Die Kleine streckte ihr zweites Händchen in die Richtung seines Gesichtes aus und gähnte erneut. Bestimmt hatte sie die Stimme des Mannes wiedererkannt, der so oft zu ihr gesprochen hatte, als sie sich noch im Mutterleib befunden hatte.

Maomao seufzte leise und setzte ein kleines Lächeln auf, während sie der ersten Begegnung zwischen Jinshi und ihrer gemeinsamen Tochter außerhalb ihres Bauches zusah. Sie musste zugeben, dass es ihr bei der Szene warm ums Herz wurde.

„Hach, und schon wieder übertreibt er" , dachte sie, immer noch lächelnd. „So wie immer."

Notes:

Und das war die letzte Geschichte dieses Countdowns! Wir haben's bis zur zweiten Staffel geschafft, juchhu!

Dieser Countdown war wirklich viel Arbeit und ich hätt's gar nicht rechtzeitig geschafft, wenn ich einen Teil der Texte nicht schon im Voraus vorbereitet hätte, aber es hat wie immer ganz viel Spaß gemacht und war die Mühe absolut wert!

Wie stets, vielen Dank fürs Lesen und auch für die Reviews!

Und was meine nächsten Pläne angeht: nun, ich hab eine Idee für eine längere FF (an deren Plan ich bereits seit letztem Sommer feile, lol), aber da ich eher eine Kurzgeschichten-Autorin bin, werde ich fürs Planen wohl noch einige Monate benötigen, also kann ich noch nicht sagen, wann ich bereit sein werde, mit dem Schreiben zu beginnen.

Bis dahin werd ich einfach weiterhin solche One Shots und andere Kurzgeschichten schreiben und von Zeit zu Zeit hochladen. Aber erstmal brauch ich eine Pause.

Chapter 58: Amnesie, Teil 1: Der Unfall

Summary:

Nach einem unglücklichen Unfall verliert Jinshi sein Gedächtnis. Der einzige Teil seines früheren Selbst, der ihm noch geblieben war, waren seine Gefühle für eine gewisse Apothekerin... und sie scheinen sogar noch stärker zu werden als je zuvor. Und die Apothekerin selbst? Nun, sie hat keine andere Wahl als sich um ihn zu kümmern und alles Mögliche zu tun, damit er sich wieder erinnert...

(Die Geschichte spielt nach der Frosch-Szene, nach ihrer Rückkehr in die Hauptstadt, und enthält immer noch Spoiler für diejenigen, die nur den Anime kennen)

Notes:

Und da bin ich wieder! Eigentlich wollte ich erstmal ein paar weitere Kurzgeschichten schreiben, bevor ich mich an diese längere hier wage, doch die Inspiration traf mich mit voller Wucht und ich konnte mich auf keine anderen Texte mehr konzentrieren.

Dann wollen wir mal! :)

Ach ja, noch eine kleine Anmerkung zum Inhalt:
Ich hab zwar Einiges über Gedächtnisverlust, Kopfverletzungen und so recherchiert, aber da ich keine medizinische Expertin bin, könnten ein paar Sachen nicht 100% realistisch dargestellt sein (oder ich mache es mit Absicht, damit es in die Geschichte passt, ist ja ne Fanfic, also darf ich, hehe).

Ein großes Danke an die Leser, die mir die Idee für diese Story gebracht haben, und ich hoffe, euch macht das Lesen so viel Spaß wie mir das Planen und Schreiben!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

„Also gut. Dann wollen wir mal schauen, wie meine Kräuter inzwischen getrocknet sind."

Im Versuch, die vom heißen Wetter ausgelöste Trägheit loszuwerden, rieb Maomao sich mit beiden Händen kurz das Gesicht, während sie zum Schuppen in der Nähe der Jade-Residenz unterwegs war, den Gemahlin Gyokuyou ihr freundlicherweise zur freien Verfügung gestellt hatte, unter der Bedingung, dass sie zum Schlafen auch weiterhin ihr Zimmer in der Residenz selbst nutzen würde.

Nun, eigentlich war ihre „Verbannung" in jenen Schuppen zunächst als eine Art Strafe gedacht gewesen, doch für unsere Apothekerin war es eher wie ein wahrgewordener Traum: ein geräumiger, abgelegener Ort, an dem sie all ihr Zeug aufbewahren und in aller Ruhe ihre Medizin herstellen und ihre Experimente durchführen konnte, ohne sich Beschwerden über unangenehme Gerüche und Sonstiges anhören zu müssen. Es war einfach nur wundervoll! Fast schon zu schön, um wahr zu sein...

Die Gemahlin war eine wahrhaft großzügige Person. Ganz im Gegensatz zu einem gewissen jungen Adeligen, der ihr nicht erlaubt hatte, in den Stall zu ziehen, als sie noch bei ihm in seiner Residenz gelebt hatte... Und das, nachdem er ihr doch selbst angeboten hatte, ihr ein anderes Zimmer zu geben, falls sie es wünschte! Mensch! 

Maomao stieß ein leises Schnauben aus und verbarg die Hände in ihren Ärmeln. Nun, aber andererseits wäre es doch ganz schön ungerecht, ihn so harsch zu verurteilen, da seine Großzügigkeit in anderen Bereichen schier keine Grenzen kannte: er hatte ihr bereits so viele seltene Kräuter geschenkt... und diesen Pilz, der aus einem Insekt herauswuchs... und die Bezoare! Ach, die Bezoare! Der bloße Gedanke an jene kostbaren Steine ließ Maomaos Körper vor unaussprechlicher Freude erzittern und beschleunigte ihren Herzschlag. Sie wollte beinahe anfangen zu tanzen, gleich dort und auf der Stelle!

Aber dann klopfte sie sich auf die Wangen, hüstelte und wischte sich den Speichelfaden von den Lippen, sich wieder zusammenreißend. Ähem, wie auch immer. Sich Tagträumen über ihre Schätze hinzugeben, konnte sie auch später, jetzt musste sie jedenfalls einen Blick auf ihre Kräuter werfen, welche sie vor einiger Zeit gesammelt und zum Trocknen aufgehängt hatte. Bei dem Wetter müssten sie sicherlich bereits trocken sein.

Maomao betrat den Schuppen und nickte zufrieden, während sie mit den Fingern über die von der Decke hängenden Pflanzen strich. Wie erwartet, konnten sie bereits weiterverwendet werden.

Sie wischte sich mit der Handfläche den Schweiß von der Stirn und begab sich mit einem kleinen Lächeln im Gesicht zum Tisch, um aus einer der Schubladen Mörser und Stößel hervorzuholen und einige der Kräuter sogleich zu zerstoßen. Den beiden kleinen Vögeln auf dem Fensterbrett schenkte sie dabei keinerlei Beachtung.

Plötzlich flog einer dieser Vögel hinein, als hätte er nur darauf gewartet, dass Maomao sich entfernte. Dann riss er mit dem Schnabel geschickt einen winzigen Zweig von einer der hängenden Pflanzen ab und flatterte wieder nach draußen.

Mit dem Mörser in der Hand, hob Maomao eine Augenbraue und blickte dem dreisten kleinen Dieb eine Weile nach, bevor sie die Schublade wieder schloss und lediglich ohne ein Wort die Achseln zuckte.

Na gut. Einen kleinen Zweig konnte sie entbehren.

Doch kaum wollte sie mit ihren Utensilien in der Hand zu ihren Kräutern zurückkehren, stellte sie fest, dass auch der zweite Vogel sich ein Andenken holte. Oh, und da war der erste auch schon wieder und flog auf dieselbe Pflanze zu, um noch mehr abzureißen.

„Was zum...?!", dachte Maomao und setzte sich in Bewegung, um die ungebetenen Gäste zu verscheuchen. „Wieso zur Hölle mussten sie sich ausgerechnet meine Pflanzen als Nistmaterial aussuchen?!"

Normalerweise war die Apothekerin nicht der Typ Mensch, der sich über Kleinigkeiten aufregte, aber wenn es um ihre geliebten medizinischen Ingredienzien ging, sah die Sache schon ganz anders aus. Ganz bestimmt hatte sie nicht vor, diese mit irgendwelchen Vögeln zu teilen oder einfach herumzustehen und zuzusehen, wie sie gestohlen wurden. Nach einem genaueren Blick auf die Kräuter stellte sie fest, dass die geflügelten Plagegeister sich offensichtlich bereits während ihrer Abwesenheit daran bedient hatten.

Maomao biss die Zähne zusammen und schloss die Hände zu Fäusten.

„Hey! Das sind meine! Sucht euch gefälligst etwas anderes, um euer Nest zu bauen!"

Dann begann sie mit den Händen herumzuwedeln, um die Vögel zu vertreiben, doch diese ließen sich davon nicht beeindrucken und behandelten sie so, als sei sie Luft. Welch ein arrogantes Verhalten von zwei solch winzigen Wesen!

Generell war Maomao ein sehr vernünftiger und gefasster Mensch, manchmal sogar zu vernünftig für eine solch junge Frau, könnte man behaupten… doch gewiss nicht, wenn die Existenz ihrer Kräuter auf dem Spiel stand! In einem solchen Fall mochte sogar sie vergessen, was das Wort „Vernunft” überhaupt bedeutete und all ihren gesunden Menschenverstand einbüßen.

Genauso wie jetzt, als sie jenen klitzekleinen Vögelchen den Kampf ansagte.

Das Allererste, was sie tat, war, zum Fenster zu gehen, um es zu schließen und die kleinen Biester draußen zu halten, jedoch fand sie ganz schnell heraus, dass es kaputt war und sich nicht anständig schließen ließ.

„Dieser Schuppen scheint schon lange nicht mehr genutzt worden zu sein”, dachte sie gereizt. „Da ist es kein Wunder…”

Mit einem Seufzer trat Maomao vom Fenster weg und strich sich übers Kinn, im Versuch, sich irgendetwas anderes einfallen zu lassen. Selbstverständlich gab es die Möglichkeit, das kaputte Fenster zu melden und um Reparatur zu bitten, aber das würde zu viel Zeit benötigen, und bis dahin würden ihre Pflanzen bestimmt schon all ihrer Blätter und Zweige beraubt werden. Nein, sie brauchte eine bessere Lösung! Aber was für eine? Kurz erwog sie, das Kätzchen Maomao zu holen, damit es ihr beim Verscheuchen der Vögel half, aber diese waren so dreist, dass selbst das möglicherweise nichts gegen sie ausrichten würde. Mal ganz davon abgesehen, dass sie von dem kleinen Fellknäuel natürlich nicht verlangen konnte, Tag und Nacht ihren Schuppen zu bewachen.

Immer noch in Gedanken versunken, trat Maomao aus dem Schuppen und reckte den Hals, das Gebäude von außen inspizierend. Einige Minuten später hatte sie das Nest der beiden Übertäter schließlich auf dem Dach entdeckt und ballte entschlossen die Fäuste.

„Wartet nur ab!”, zischte sie. „Ich hole mir meine Kräuter zurück, darauf könnt ihr euch verlassen!”

Später würde sie bestimmt angesichts ihres eigenen Verhaltens den Kopf schütteln, aber aktuell scherte sie sich kein bisschen darum.

Und während die Apothekerin dastand und mit verengten Augen zusah, wie die Vögel mit immer neuer Beute im Schnabel zwischen dem Nest und dem Schuppen hin- und herflogen, kam ihr auf einmal eine Idee. Diese war zwar ein wenig absurd, wie sie selbst zugeben musste, aber einen Versuch war es wert.

Mit einem Grinsen auf den Lippen entfernte sie sich vom Schuppen und begann, Gras zu pflücken, welches in der Sommersonne getrocknet war, es mit einem Faden zu einem Bündel verschnürend und in den Falten ihrer Kleidung verstauend. Dann ging sie los, um sich von irgendwo eine lange Leiter zu borgen.

Etwa zwanzig Minuten später kam sie endlich wieder, keuchend, schwitzend und eine solche Leiter schleppend. Die Muskeln in ihren dünnen Armen begannen bereits, von deren Gewicht zu schmerzen (Eigentlich hatte sie vor, zumindest einen der Eunuchen darum zu bitten, ihr beim Tragen zu helfen, aber die waren alle so beschäftigt gewesen, dass keiner Zeit für sie gehabt hatte. Tja…).

Nachdem sie angekommen war, gönnte Maomao sich eine kurze Rast, um sich im Schatten abzukühlen. Dann lehnte sie die Leiter draußen gegen eine Wand des Schuppens und stieg sie hoch, bis sie das Dach erreichte.

Da war das Nest! Maomao blickte sich um, um sich zu vergewissern, dass die Vögel sich derzeit nicht in der Nähe aufhielten, und nahm es danach genauer unter die Lupe. Tatsächlich war es zum größten Teil aus ihren medizinischen Kräutern gemacht worden. Zum Glück lagen noch keine Eier darin, das würde ihr die Sache zumindest ein wenig erleichtern.

Die Apothekerin holte das getrocknete Gras, das sie gesammelt hatte, heraus und legte es auf das Dach. Als Nächstes streckte sie die Hand aus, um sich das Nest rasch zu schnappen.

Doch bevor ihr dies gelingen konnte, vernahm sie auf einmal ein ohrenbetäubendes Kreischen direkt am Ohr und spürte daraufhin prompt zwei spitze kleine Schnäbel, die wütend auf ihre Stirn und Hand einpickten. Mist, sie war nicht schnell genug gewesen! Das Vögelpärchen war zurückgekehrt und flatterte nun aufgebracht um sie herum, im Versuch, sie zu vertreiben und ihr Nest zu schützen. 

„Autsch! Hört auf damit! Diese Kräuter gehören mir, ihr könnt stattdessen das Gras hier haben!”

Ja, die Vögel waren stur. Aber Maomao war es ebenso. Obwohl sie sich nun doch langsam ein wenig dämlich vorkam.

„Was tue ich hier eigentlich? Wieso versuche ich, mit Vögeln zu verhandeln?”

***

Jinshi gestattete es sich, sich für den Bruchteil einer Sekunde das honigsüße Lächeln vom Gesicht zu wischen, während er sich mit einer eleganten Bewegung seinen Teebecher zu den Lippen führte und einen Schluck daraus trank. Dann stellte er ihn wieder auf den Tisch zurück und strich geistesabwesend über den Kopf der kleinen Prinzessin, die auf seinem Schoß saß und mit vor Freude geröteten, runden Wangen an einem Stück Mondkuchen knabberte. Lingli kicherte und streckte eines ihrer klebrigen Händchen aus, um nach seinem Zeigefinger zu greifen.

Dem jungen Herrn gegenüber saß Gemahlin Gyokuyou und trank ebenfalls Tee. Sie hob sich die Hand zum Mund und gab ein leises, diskretes Lachen von sich.

„Ihr seid aber recht schweigsam heute”, bemerkte sie. „Habt Ihr etwa irgendetwas auf dem Herzen?”

Für einen Augenblick sah Jinshi recht erstaunt aus, schenkte ihr aber dann eines seiner makellosen, nymphengleichen Lächeln, als sei sein Gesichtsausdruck von vorhin lediglich eine Illusion gewesen.

„Ich bitte um Verzeihung, aber es ist nichts, werte Dame.”

„Ach, wirklich? Also war es bloß meine Einbildung, dass Ihr Euch gerade noch suchend umgeblickt habt? Nur keine Sorge, Maomao sollte bald wiederkommen.”

Der Mondprinz war einige Sekunden lang sprachlos und sah die Gemahlin, die ihn ab und zu fast schon wie einen jüngeren Bruder behandelte, mit leicht geweiteten Augen an.

Gyokuyou lachte erneut.

„Aber natürlich weiß ich das”, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage mit einem lebhaften Funkeln in den grünen Augen. „Denn ich habe so meine Zweifel daran, dass meine Schwangerschaft” - sie strich sich kurz über den gerundeten Bauch - „und meine kleine Xiaoling die einzigen Gründe sind, dass Ihr meine Residenz häufiger besucht als die der anderen erstrangigen Gemahlinnen. Hach, und dabei seid Ihr und Maomao doch erst kürzlich von Euer Jagd zurückgekehrt, wo ihr beide bestimmt ziemlich viel Zeit miteinander verbracht habt. Ihr könnt wohl wirklich nicht ohne meine Vorkosterin leben, nicht wahr?”

Ihrem Tonfall nach zu urteilen, bereitete es ihr offensichtlich Spaß, ihn aufzuziehen.

Die hinter ihr stehende oberste Zofe Hongniang stieß einen leisen Seufzer aus.

„Ganz schön scharfsinnig”, dachte Jinshi, sich ertappt und auch leicht genervt fühlend, da Gyoukoyous „Vorkosterin” offiziel immer noch seine persönliche Zofe war, die er ihr lediglich vorübergehend ausgeliehen hatte. Ein paar winzige Schweißtropfen rollten seine Schläfe herab und seine Wangen nahmen einen kaum wahrnehmbaren Rosaton an, als er sich unwillkürlich daran erinnerte, wie viel „Zeit” er mit Maomao verbracht hatte und was da genau vorgefallen war. Er hüstelte.

Doch bevor er eine Antwort geben konnte, wurde er von dem kleinen Mädchen abgelenkt, welches nun ausgestreckt auf seinem Schoß lag, in sein Gesicht aufblickte und an seiner Kleidung zog, was ihn seinen Unmut vorübergehend vergessen ließ.

„Bruder!”

„Was ist denn los, Prinzessin?” Seine Stimme und sein Lächeln waren so sanft und aufrichtig wie immer, wenn er zu dem Kind sprach.

Lingli hob eines ihrer Ärmchen und erwiderte sein Lächeln.

„Bruder! Hier!”

Vorsichtig nahm Jinshi das Stückchen Mondkuchen an, das sie ihm anbot.

„Danke, mein Kleines.”

Mit Zuneigung in den Augen sah sich Gyokuyou die niedliche Szene zwischen ihrer Tochter und dem schönen jungen Adeligen an und legte dann die Hände auf den Schoß.

„Aber Maomao braucht wirklich lange, muss ich sagen. Sie hat mich informiert, dass sie eigentlich nur einen kurzen Blick auf die Kräuter im Schuppen werfen wollte.”

„Vielleicht hat sie ja angefangen, diese zu irgendeiner ihrer Mixturen zu verarbeiten und darüber die Zeit vergessen. Oder sie hat unterwegs neue gefunden und konnte nicht anders, als sie zu pflücken”, schlug Hongniang vor.

Jinshi und Gyokuyou nickten. Sie kannten die junge Frau bereits gut genug und für sie hörten sich jene Worte absolut logisch an. Nun, dank des Schuppens roch Maomaos Zimmer in der Jade-Residenz selbst zumindest nicht mehr nach Medizinkabinett.

„Verstehe. Gut, dann sollte ich der Apothekerin vielleicht mal einen kleinen Besuch abstatten, wenn Ihr nichts dagegen habt, Dame Gyokuyou.”

„Aber nicht doch.”

Und so hob Jinshi die Prinzessin hoch, drückte sie an sich und streichelte erneut ihren Kopf, bevor er schließlich aufstand und sie an Hongniang weitergab.

Als Nächstes verbeugte er sich kurz vor der Gemahlin und wandte sich um, um zu gehen.

„Auf Wiedersehen, Dame Gyokuyou, und bis zum nächsten Mal, Prinzessin.”

Lingli, die zunächst nicht gerade glücklich darüber gewesen war, ihn gehen zu sehen, winkte ihm nun lachend zu.

„Tschüss, Bruder!”

***

Maomao schirmte sich immer noch von den Angriffen der beiden Vögel ab. Mit einer Hand, da sie sich ja immer noch irgendwie an der Leiter festhalten musste.

Nein, so kam sie nicht weiter. Keine Chance. Die Vögel waren zwar klein, aber äußerst tapfer und hartnäckig. Viel zu hartnäckig. Und so blieb ihr schließlich keine andere Wahl, als ihre Niederlage anzuerkennen.  

Gut, aber zumindest würde sie das kaputte Fenster melden gehen, um solche Vorfälle in Zukunft zu vermeiden.

„Ist ja schon gut! Autsch! Ihr habt gewonnen! Ich gehe.”

Sie begann ganz langsam und vorsichtig hinabzusteigen, doch trotz ihrer Kapitulation dachten die zwei kleinen Diebe nicht einmal daran, aufzuhören und hackten weiterhin gnadenlos auf sie ein, woraufhin Maomao gezwungen war, erneut die Hand zu heben, um ihr Gesicht zu schützen.

Und da sie während des Ganzen instinktiv die Augen schloss, merkte sie nicht, dass sie ihren Fuß ein wenig zu weit ausgestreckt hatte und die Leitersprosse, auf die sie treten wollte, verfehlte.

Auf einmal spürte sie, wie sie das Gleichgewicht und den Halt zu verlieren begann… während die Leiter kippte… und drohte, zusammen mit ihr zu fallen…

Maomao riss vor Schreck die Augen auf und ihr Verstand war wie leergefegt.

Solch einen Sturz würde sie keineswegs ohne gebrochene Knochen überstehen…

***

Währenddessen war Jinshi tief in Gedanken und mit gemischten Gefühlen Richtung Schuppen unterwegs. 

Einerseits war er außer sich vor Freude und konnte es nicht erwarten, auf Maomao zu treffen, denn vermisst hatte er sie tatsächlich. So wie immer, wenn sie sich nicht an seiner Seite befand. Von der bloßen Vorstellung darüber, dass er sie schon ganz bald wiedersehen würde, breitete sich eine solche Wärme in seinem Inneren aus, als würde er an einem eisigen Winterabend eine schöne heiße Suppe essen.

Wie ein heller Sonnenstrahl, der durch eine dichte, graue Wolkendecke brach.

„Vielleicht hat Gemahlin Gyokuyou ja Recht und ich kann ohne die Apothekerin wirklich nicht mehr leben…”

Er errötete ein wenig bei dem Gedanken und senkte den Blick. Seine langen Wimpern bebten fast schon unmerklich.

Aber andererseits…

„Ein Frosch, was?... Und auch noch von einer annehmbaren Größe…”, murmelte er vor sich hin und lief nun knallrot an. Sein linkes Auge begann zu zucken.

Ja, er hatte sie zwar extra auf diese Jagd mitgenommen, um ihr sein Geheimnis zu enthüllen… aber doch nicht so! So hätten die Dinge nicht laufen sollen! Garantiert nicht!

Jinshis Gesicht glühte wie ein Kohleofen, als er sich daran erinnerte, wo genau Maomaos Hand ihn berührt hatte… doch er schüttelte rasch den Kopf und fasste sich wieder. 

Nein, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um solche Gedanken zu hegen! Die Apothekerin würde sie ihm doch auf der Stelle ansehen und ihn noch für einen Perversling halten!

Aber das war nicht das Einzige, was er nicht im Geringsten erwartet hatte, sondern auch die Tatsache, dass sie alles so vehement abstreiten und sich dumm stellen würde. Als sei überhaupt nichts geschehen.

Jinshi kratzte sich kurz am Kopf und stieß einen langen Seufzer aus, die Augenbrauen zusammenziehend.

Nach gründlichem Nachdenken musste er zugeben, dass er angefangen hatte, ihre Beweggründe ein wenig besser zu verstehen. Selbstverständlich wollte sie keine unnötigen Schwierigkeiten, so viel war logisch, und er wollte sie auch nicht unbedingt in welche hineinziehen, aber…

Auch wenn es überhaupt keine leichte Entscheidung für ihn gewesen war, hatte es sich schlicht und einfach falsch angefühlt, sie weiterhin zu belügen. Trotz seiner Angst, wie sie denn die Wahrheit aufnehmen würde, wollte er, dass sie alles über ihn erfuhr und auch den Grund, wieso er seine wahre Identität überhaupt geheimhielt. Wenn es jemanden gab, der seine Aufrichtigkeit verdiente, war sie es.

Zum allerersten Mal im Leben hatte er das Bedürfnis verspürt, sich einem anderen Menschen zu öffnen.

„Ich wollte dir so gern zeigen… wie sehr ich dir vertraue… und das tue ich… bedingungslos.”

Und ihre Ablehnung hatte ihm wirklich wehgetan.

So sehr, dass er vorübergehend die Kontrolle über sich verloren hatte.

Sich ziemlich unwohl fühlend, wendete der junge Herr den Blick zur Seite ab.

Er wusste selbst nicht, was in dem Moment über ihn gekommen war, doch der Schmerz, ausgelöst durch ihr Verhalten und durchmischt mit Verwirrung und Verzweiflung, war so heftig gewesen, dass er einfach keine Ahnung gehabt hatte, was er tun, wie er sie dazu bringen sollte, ihm zuzuhören, die Tatsachen zu akzeptieren…

…doch letztendlich hatte er mit seinen Aktionen überhaupt nichts erreicht, außer ihr Angst einzujagen.

Aber zum Glück hatte sie seine Entschuldigung angenommen und ihm vergeben… oder zumindest nahm er dies an, angesichts ihrer Reaktion, als er ihr endlich die versprochenen Bezoare überreicht hatte.

Und trotz allem hatte sie ihn sogar doch letzten Endes akzeptiert…

Ihre Worte „Ihr seid, wer Ihr seid, Eure Exzellenz” waren solch ein Segen für ihn gewesen. Solch eine Erleichterung.

Die allerbeste Medizin gegen den Schmerz in seinem Herzen.

Der Mondprinz seufzte erneut und richtete seinen Blick wieder nach vorne. 

Möglicherweise würde sie eines Tages bereit sein, sich die ganze Wahrheit von ihm anzuhören. Wer wusste das schon. Aber im Moment würde er ihr einfach stillschweigend erlauben, ihn so zu behandeln wie immer.

Bis zum Schuppen waren es keine fünfzig Meter mehr.

„Was ist das denn? Eine Leiter?”

Alle Gedanken und Erinnerungen über die Ereignisse während der Jagd vorübergehend in die hinterste Ecke seines Verstandes schiebend, sah Jinshi neugierig und überrascht auf.

Und erlitt daraufhin einen der größten Schrecken seines Lebens. Ihm blieb beinahe das Herz stehen.

„Apothekerin… Apothekerin! Aber was machst du denn da?!”

Seine Augen weiteten sich auf die Größe von Untertassen, als er Maomao halb-stehend, halb-hängend ganz oben auf jener Leiter erblickte. Ihr Gesicht war ganz rot vor Anstrengung, während sie verzweifelt versuchte, wieder Halt zu finden, während die Leiter selbst gefährlich und unaufhaltsam nach vorne kippte.

Jinshi kam sich beinahe vor, als stünde er wieder mit ihr auf der Mauer des inneren Palastes, auf der sie getanzt und von der sie beinahe heruntergefallen wäre. Wie eine Art Déjà-Vu.

Und nun drohte sie erneut zu stürzen! Er musste sie auffangen, koste es, was es wolle!

Mit dem Anblick der fallenden Apothekerin, der sich in seinen Augen widerspiegelte, rannte er los so schnell er nur konnte und streckte die Arme aus, den Saum seiner Roben und seine Ärmel zum Flattern bringend.

„APOTHEKERIN! PASS AUF!!!”

Was folgte, war ein schrecklicher Lärm, der die Vögel auf dem Dach aufschreckte. Sie flogen davon.

Jinshi, Maomao und die Leiter lagen am Boden.

Blut begann zu fließen und färbte das trockene Gras unter dem Kopf des jungen Adeligen rot.

***

„Uh..."

Maomao kam nach und nach wieder zu sich. Das Adrenalin, welches eben noch durch ihre Adern gerauscht war, wurde durch ein tiefes Gefühl der Erleichterung ersetzt und auch ihr Herz beruhigte sich. Da sie sich problemlos bewegen konnte, nahm sie an, dass sie den Sturz doch unbeschadet überstanden hatte.

Die Apothekerin atmete tief durch. Also doch keine gebrochenen Knochen, nicht wahr? Wunderbar. Aber wo war sie da überhaupt gelandet? Es war etwas Festes und Warmes... und es atmete... Und was war das? Langes Haar? Und dieser Geruch nach Weihrauch... Moment mal!

Maomao schlug umgehend die Augen auf und hob den Kopf. Dieses „Etwas", auf dem sie ruhte, war ohne jeden Zweifel Jinshi. Oder genauer gesagt: Jinshis Rücken, da er selbst auf dem Bauch lag.

„Oh nein, nicht schon wieder...", dachte sie, sich daran erinnernd, wie er sie schon einmal vor einem schmerzhaften Fall bewahrt hatte, indem sie auf seinem Schoß gelandet war. Ach, und auch noch an die kürzlichen Geschehnisse in jener... Höhle, wo er sie in seinen Armen aufgefangen hatte. Also war diesmal nun sein Rücken dran, nicht wahr? Das musste wehgetan haben...

Auf der Stelle rollte sie von ihm runter und nahm die Holzleiter von sich, die mit ihr zusammen gestürzt war. Bestimmt hatte dies ein paar blaue Flecken auf ihrem Körper hinterlassen...

„Ich bitte um Verzeihung, Eure Exzellenz, und danke Euch, dass Ihr mich aufgefangen habt. Seid Ihr in Ordnung?"

Ganz sicher würde er wütend werden und sie mal wieder ausschimpfen, aber da sie diesmal tatsächlich eine Dummheit begangen hatte, hätte sie sich die Standpauke ihrer eigenen Meinung nach redlich verdient. Bloß hatte sie keinen Schimmer, wo der junge Adelige denn so plötzlich hergekommen war. Sie glaubte zwar, sich vage zu erinnern, ihn schreien gehört zu haben, aber zu dem Zeitpunkt war sie voll und ganz damit beschäftigt gewesen, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, also war sie sich nicht ganz sicher.

„Gebt mir bitte Eure Hand, ich helfe Euch beim Aufstehen."

Keine Antwort.

„Eure Exzellenz?"

Erst jetzt fiel der Apothekerin auf, dass er zwar regelmäßig atmete, sich aber sonst nicht bewegte.

Dann entdeckte sie die rote Flüssigkeit auf dem Gras und richtete den Blick rasch auf Jinshis Kopf. Blut strömte aus einer Wunde an seiner Stirn. Seine Augen waren geschlossen und sein Mund dagegen leicht geöffnet.

Direkt neben seinem Kopf befand sich ein großer Stein, der ebenfalls Blutspuren aufwies.

Maomaos Magen zog sich zusammen.

„Mist! Er muss sich den Kopf daran angeschlagen haben!"

Sie packte ihn an der Schulter und begann diese sachte zu schütteln.

„Eure Exzellenz Jinshi! Könnt Ihr mich hören?"

Immer noch keine Reaktion. Also hörte er sie offensichtlich nicht.

„Er wacht nicht auf!"

Während ihrer Zeit als Assistentin ihres Vaters Luomen hatte sie mehr als nur einmal miterleben müssen, wie gefährlich solch eine Kopfwunde sein konnte.

Sie krabbelte näher zu seinem Kopf heran und begann, in ihrer Kleidung herumzukramen, bis sie ein kleines Fläschchen mit Desinfektionsmittel fand, das sie glücklicherweise bei sich trug. Sie reinigte sich damit die Hände, strich Jinshis Pony beiseite und fing an, seine Wunde zu untersuchen. Schnell wurden ihre Hände blutig und etwas davon gelangte auch auf ihre Ärmel, doch dies war ihr im Moment herzlich egal.

Einige Sekunden später ließ sie endlich den Atem heraus, den sie angehalten hatte. Die Verletzung blutete zwar noch, war jedoch, soweit sie feststellen konnte, nicht tief und auch sein Schädel schien intakt. Na wenigstens etwas.

Aber für Erleichterung war es trotzdem noch zu früh.

„Da er das Bewusstsein verloren hat, muss er sich bestimmt eine Gehirnerschütterung zugezogen haben."

Maomao biss die Zähne zusammen. Je länger er bewusstlos blieb, desto gefährlicher könnte die Lage für ihn werden.

Nachdem sie seine Atmung und seinen Puls kontrolliert hatte, setzte sie sich aufs Gras und stabilisierte Jinshis Kopf mit beiden Händen, ihn vorsichtig auf ihren Schoß bettend und im Versuch, den jungen Herrn nicht zu viel zu bewegen und seinen Hals nicht zu beugen. Dann nahm sie ein sauberes Taschentuch heraus und drückte es fest an die Wunde. Mehrere dünne Blutrinnsale flossen sein Gesicht herab und auf ihren Rock.

„Maomao! Was in aller Welt ist denn hier passiert?!"

Die Apothekerin blickte auf und sah eine erschrockene und bleiche Infa, die sie mit großen Augen anstarrte. Bestimmt war ihr aufgetragen worden, sie zu holen, da sie möglicherweise in der Jade-Residenz gebraucht wurde.

„Infa!" Im Moment war nicht die Zeit für Erklärungen. „Lauf bitte zur Hofapotheke und hol meinen Adoptivvater! Und den verehrten Gaoshun auch, falls du ihn irgendwo sehen solltest!"

Ein Glück, dass Luomen aufgrund von Gyokuyous Schwangerschaft an den inneren Palast geholt worden war, da der Quacksalber ihr ganz sicher keine Hilfe gewesen wäre.

Infa stand immer noch an Ort und Stelle, als sei sie versteinert.

„Infa! Beeil dich!"

„J-Jawohl!"

Endlich nickte die andere Zofe und rannte los, so schnell sie ihre Beine trugen.

„Urgh..."

Sobald sie weg war, spürte Maomao, dass Jinshi angefangen hatte, sich zu rühren. Er ächzte leise und hustete ein paar Mal, als würde ihm etwas im Halse stecken.

„Herr! Ah!"

Gerade noch rechtzeitig bemerkte Maomao, dass er kurz davor war, sich zu übergeben, und packte seinen Kopf erneut mit beiden Händen, ihn so haltend, dass er nicht erstickte.

Ein Teil seines Mageninhaltes landete auf ihr, doch sie achtete nicht darauf, sondern rief weiterhin seinen Namen.

Endlich gelang es ihm, keuchend zu ihr aufzublicken.

„Wer bist du?"

Eine tiefe Verwirrung lag in seiner Stimme und stand ihm ebenso in dem immer noch wunderschönen Gesicht geschrieben. 

Notes:

Gut, dies verspricht, eine längere Fanfic zu werden, möglicherweise sogar eine ziemlich lange (hab selbst noch keine Ahnung, wie viele Kapitel es überhaupt werden), also werde ich es entspannt angehen und die weiteren Kapitel ohne jeden Zeitplan hochladen. Anders gesagt: natürlich werde ich mir Mühe geben, euch nicht zu lange warten zu lassen, aber die Kapitel werden kommen, wenn sie kommen.
Manchmal schnell wie bei diesem ersten hier, manchmal langsamer.
Sorry dafür, haha!

Chapter 59: Amnesie, Teil 2: Wer bist du?

Notes:

Ich hab das zweite Kapitel deutlich schneller fertiggestellt als gedacht, aber für das dritte und vierte wird die Wartezeit wohl etwas länger ausfallen müssen (und die Kapitel selbst höchstwahrscheinlich auch kürzer als diese ersten beiden sein). Aber wer weiß? :)

Chapter Text

Die Zeit verging dermaßen langsam, dass es fast so schien, als stehe sie still. Etwa zwei Stunden waren seit dem unglücklichen Unfall vergangen.

Es herrschte vollkommene Stille in der Schlafkammer eines gewissen jungen Herrn, während draußen vor dem Fenster wie an einem ganz normalen Tag immer noch strahlend und hell die Sonne schien und die Vögel zwitscherten, als sei überhaupt nichts geschehen.

Jinshi lag rücklings in seinem Bett und schlief tief und fest. Sein leicht zerzauster Pony fiel auf seine mit Verbänden umwickelte Stirn und er trug nun ein Schlafgewand, welches seine oberste Zofe Suiren ihm mit Gaoshuns Hilfe angezogen hatte, nachdem sie ihm das Gesicht mit einem in warmes Wasser getauchten Tuch vorsichtig saubergewischt hatte. Kaum hatten die beiden ihm zu guter Letzt geholfen, sich ins Bett zu legen, war er auch schon in einen tiefen Schlummer gesunken. So erschöpft, als hätten all jene Aktionen ihm seine gesamte noch verbleibende Kraft geraubt.

Während sich die beiden Bediensteten um ihren immer noch benommenen und äußerst verwirrten Herrn gekümmert hatten, war Maomao, die von Gemahlin Gyokuyou die Erlaubnis erhalten hatte, zu Jinshis Residenz zurückzukehren, hinausgestürmt und hatte sich die Hände gewaschen und sich ebenfalls rasch umgezogen und ihre mit Jinshis Blut und Erbrochenem besudelte Kleidung zur Schmutzwäsche gegeben (in dem Zimmer, welches sie in seiner Residenz bewohnt hatte, waren immer noch einige Sachen von ihr). Aber sonst war sie die ganze Zeit, seit der Vorfall passiert war, bei ihm geblieben, um seinen Zustand zu überwachen.

Und nun standen die Apothekerin, die Zofe und der Assistent alle drei neben dem Bett und sahen Jinshi mit von Sorge erfüllten Gesichtern beim Schlafen zu. Keiner sagte auch nur ein Wort. 

Die tiefen und ruhigen Atemzüge des schlafenden jungen Mannes waren die einzigen Geräusche im Raum. 

Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre, die so schwer auf ihnen lastete wie ein tonnenschwerer Mantel, der sie zu Boden zu drücken versuchte. Zu Boden zu drücken und sie dort zu halten, damit sie nie wieder hochkommen würden.

Keiner wusste, in welchem Zustand Jinshi, der nach dem Schlag auf den Kopf nicht mehr in der Lage gewesen war, ihm zuvor bekannte Menschen und Orte wiederzuerkennen, erwachen würde. Und doch konnten sie erstmal nichts anderes tun als abzuwarten. Die Minuten und Sekunden zu zählen.

Maomao wurde von Reue und Schuldgefühlen geplagt, die so heftig waren, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Denn auch wenn sie Gefühle möglicherweise nicht so ausgeprägt empfinden mochte wie andere Leute, hieß dies ja noch lange nicht, dass sie überhaupt keine besaß. Und auch ihr Herz war längst nicht aus Stein.

Diesmal hatte sie etwas wirklich Dummes und Schreckliches angerichtet, das wusste sie ganz genau. Wie zur Hölle hätte sie das Ganze bloß für eine gute Idee halten können? Sie wagte es kaum, den beiden Bediensteten neben sich in die Augen zu blicken.

Bei Gaoshun, dem sie alles berichtet hatte, während ihr Vater damit beschäftigt gewesen war, Jinshis Wunde zu nähen, hatte sie sich bereits entschuldigt. Seine Pupillen hatten sich beim Zuhören für einen Moment verengt, doch letztendlich hatte er sie bloß mit einem müden und irgendwie traurigen Blick angesehen, die Stirn gerunzelt, den Kopf geschüttelt und gesagt, dass sie ja nicht wissen konnte, dass Jinshi genau in dem Moment auftauchen würde. Und dass sie sich besser bei ihm persönlich entschuldigen sollte, sobald er sein Gedächtnis wiedererlangt habe. 

Diese Worte hatten Maomao kein bisschen beruhigt und schon gar nicht getröstet. Um ehrlich zu sein, wäre es ihr lieber gewesen, von dem Assistenten beschimpft und angebrüllt zu werden. Sogar gegen einen Schlag hätte sie nichts einzuwenden gehabt. Doch solch ein Mensch war Gaoshun einfach nicht, dies war ihr bewusst. Er würde so etwas niemals tun, vor allem nicht einer Frau gegenüber.

Suiren dagegen wurden die genauen Details zu dem Vorfall verschwiegen. Sie erfuhr lediglich, dass Jinshi in der Nähe der Jade-Residenz hingefallen war und sich den Kopf an einem Stein angeschlagen hätte. Sonst nichts.

Eigentlich hatte Maomao zunächst auch ihr die gesamte Wahrheit erzählen wollen, doch sobald sie den Mund aufgemacht hatte, spürte sie plötzlich Gaoshuns Hand auf ihrer Schulter. Sein Griff war fest. Die Apothekerin verstand, dass er ihre Absicht erraten haben musste und sie zu schweigen bat, um sie zu schützen. Denn egal wie wohlgesonnen die oberste Zofe ihr war, hätte sie ihr möglicherweise niemals verziehen, wenn sie wüsste, dass sie diejenige war, die ihrem kostbaren jungen Herrn so etwas angetan hatte. Also hatte Maomao den Mund wieder geschlossen und ihm das Reden überlassen.

Bei der Erinnerung daran wanderte ihr Blick Richtung Boden. Ihrer Meinung nach hatte sie solch eine Güte, solch eine Freundlichkeit nicht verdient.

Doch andererseits konnte sie einfach kein Risiko eingehen, aus Jinshis Residenz vertrieben zu werden oder Schlimmeres. Denn er brauchte jemanden mit medizinischen Kenntnissen in seiner Nähe, der sich um ihn kümmerte. Und auch wenn ihre eigenen Kenntnisse es noch lange nicht mit denen ihres Vaters aufnehmen konnten, musste sie dieser „Jemand” sein.

Es musste unbedingt sie sein. Sonst würde sie niemals Ruhe finden und ihre Schuld wiedergutmachen können.

Nun stand Suiren neben ihr und wirkte zwar äußerst besorgt, aber dennoch beinahe so gefasst wie immer. Jedoch würde die Apothekerin niemals das Entsetzen im Gesicht der älteren Dame vergessen, als sie den verletzten Jinshi erblickt hatte, der mit Gaoshuns Hilfe nach Hause gebracht worden war. Einen Jinshi, der sie zu allem Überfluss auch noch nicht erkannt hatte, sie, die ihn praktisch seit seiner Geburt großgezogen hatte. Maomao hätte schwören können, dass Suiren die ganze Zeit Tränen zurückgehalten hatte. Selbst jetzt... tat sie es noch…

„Oh!", gab die ältere Zofe auf einmal von sich. Maomao und Gaoshun blickten sie leicht verwundert an. „Ich muss noch das Abendessen vorbereiten und das Haus zu Ende putzen. Der junge Herr würde nach seinem Erwachen sicherlich keinen Staub sehen wollen."

„Als ob er sich um so etwas scheren würde", dachte Maomao, sagte jedoch nichts. Da sie selbst Zofe war, verstand sie, dass das Leben für Bedienstete so gut wie niemals stillstand, ganz egal, ob sie sich in der Stimmung zum Arbeiten befanden oder nicht, ihre Pflichten durften trotz allem nicht vernachlässigt werden. Denn Suirens Herr brauchte ein ordentliches und sauberes Heim, in dem er sich wohlfühlen würde, jetzt möglicherweise sogar mehr denn je. Und selbstverständlich auch Essen.

Und vielleicht... war es ja auch Suirens Art, sich von der Realität abzulenken und ihre Hoffnung auszudrücken, dass schon bald alles wieder wie bisher werden würde. Dass Jinshi ganz normal aufwachen würde, als der Jinshi, den sie alle kannten, mit all seinen Erinnerungen. Damit sie den Vorfall ganz schnell vergessen konnten, als sei er nichts weiter als ein böser Traum gewesen.

„Bitte bleib bei ihm und behalte ihn weiterhin im Auge, Xiaomao", bat die oberste Zofe noch, bevor sie den Raum verließ. „Ich weiß, dass Seine Exzellenz bei dir in äußerst guten Händen ist."

„Sehr wohl...", brachte die Apothekerin mit leicht heiserer Stimme heraus. Sie spürte einen Kloß im Hals und schluckte.

Und kaum hatte sich die Tür hinter Suiren geschlossen, gab Gaoshun einen tiefen Seufzer von sich und trat vor Maomao, sodass diese nicht anders konnte, als zu ihm aufzublicken.

„Auch ich muss jetzt gehen, Xiaomao. Leider habe ich keine andere Wahl, als den Kaiser über den Vorfall zu informieren."

Maomao presste ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und nickte bloß wortlos. Selbstverständlich hatte Gaoshun keine andere Wahl, denn egal, ob Jinshi nun sein Gedächtnis bald wiedererlangte oder nicht, er brauchte auf jeden Fall viel Ruhe und würde seiner Arbeit so oder so einige Zeit lang nicht nachgehen können. Sie fragte sich kurz, wer sich denn an seiner Stelle wohl um die Angelegenheiten des inneren Palastes kümmern würde, aber das ging sie nichts an und brauchte sie auch nicht zu interessieren.

„Ich werde auch Seiner Majestät nicht verraten, dass du in den Unfall verwickelt warst", fuhr der Assistent nach einer kurzen Pause wieder fort.

Maomao blieb immer noch stumm. Sie war nicht sonderlich überrascht, denn sie hatte so etwas bereits mehr oder weniger erwartet. Dem Kaiser die ganze Wahrheit zu erzählen, käme für sie immerhin einem so gut wie garantierten Todesurteil gleich. Und doch hatte sie immer noch das Gefühl, dass sie eine solche Gnade nicht verdient hatte.

Gaoshun schien ihre Gedanken erraten zu haben, da sie erneut seine Hand auf ihrer Schulter spürte.

„Xiaomao, es ist nicht deine Schuld", versicherte er ihr erneut mit ruhiger Stimme. „Wie ich bereits gesagt habe, konntest du nicht wissen, dass Seine Exzellenz auftauchen würde, schließlich hat er seinen heutigen Besuch der Jade-Residenz nicht einmal angekündigt. Ja, du hast etwas wirklich Dummes getan, das gebe ich selbst zu, aber du hast ihn nicht gebeten, dich aufzufangen."

Er nahm seine Hand wieder weg und begab sich ebenfalls Richtung Tür.

„Und außerdem... weiß ich ganz genau, wie wichtig du ihm bist... Falls er dich für immer verlieren sollte, würde er, auch nachdem er sein Gedächtnis wiedererlangt hat, niemals wieder der Alte sein."

Seine letzten Worte waren ein solch leises Murmeln, dass Maomao sie nicht mehr mitbekam.

Sich nun ganz allein mit dem schlafenden Jinshi wiederfindend, nahm Maomao sich einen Stuhl und stellte ihn direkt neben das Bett, um sich darauf niederzulassen.

***

Die Zeit verging weiter. Bald würde der Abend anbrechen und Jinshi war noch immer nicht aufgewacht.

Maomao konnte in ihrem gesamten Körper eine bleierne Müdigkeit spüren, doch gleichzeitig war sie auch dermaßen unruhig, dass sie nicht mehr sitzen konnte und begonnen hatte, im Zimmer auf und ab zu laufen, sich mit beiden Händen an ihren Rock klammernd, um sie vom Zittern abzuhalten. Sie beobachtete den jungen Herrn bereits seit fast zwei Stunden, doch sein Schlaf blieb immer noch tief.

Die Apothekerin rieb sich kurz den Magen, der von all der Besorgnis angefangen hatte zu schmerzen. Von ihrer üblichen Ruhe und Gelassenheit war so gut wie nichts mehr übrig geblieben, auch wenn ihr selbstverständlich bewusst war, dass ihre Nervosität weder ihr selbst noch irgendwem sonst etwas brachte. Aber sie konnte einfach nicht anders.

Es war das allererste Mal, dass ein Patient solche Gefühle bei ihr auslöste. Aber andererseits, ebenso das allererste Mal, dass sie die Ursache für die Verletzung des besagten Patienten war. Dass sie die Schuld daran trug.

Sie fragte sich kurz, ob Jinshi wohl riskierte, ins Koma zu fallen, wenn er nicht bald aufwachte, denn es gefiel ihr überhaupt nicht, dass er nach seiner Kopfverletzung so tief schlief. Doch sie schüttelte schnell den Kopf, um jene fürchterlichen Gedanken zu vertreiben. Ihr Vater, der, von Infa angeführt, so schnell zur Unfallstelle geeilt war, wie es sein kaputtes Bein erlaubt hatte, hatte nach seiner Untersuchung bestimmt, dass Schlafen für Jinshi unbedenklich war und er, ganz im Gegenteil, Ruhe benötigte. Und da Luomen der beste Mediziner war, den Maomao kannte und sie ihm bedingungslos vertraute, hatte sie nicht den geringsten Zweifel an seinen Worten gehabt. 

Obwohl ihr sehr wohl bewusst war, dass auch er kein Hellseher war und ebenfalls nicht genau wissen konnte, was noch passieren könnte. 

Ein ziemlich gutes Zeichen war jedenfalls, dass Jinshi so gut wie keine Schwierigkeiten beim Gehen gehabt hatte und den Weg bis zu seiner Residenz, aufgrund seiner Kopfschmerzen und immer noch bestehenden leichten Übelkeit zur Sicherheit von Gaoshun gestützt, problemlos bewältigt hatte (dieser hatte ein Eunuchengewand und eine Maske für ihn geholt, um ihn zu verkleiden und ein Aufsehen zu vermeiden - und obwohl Jinshi selbst Gaoshun nicht erkannt hatte, schien er gespürt zu haben, dass keiner ihm etwas Böses wollte, und hatte brav alles getan, was ihm gesagt worden war, und sich mit der Hilfe des anderen Mannes im Schuppen der Jade-Residenz umgezogen). Und auch seine Sehkraft und seine Sprache waren glücklicherweise nicht beeinträchtigt.

Das allergrößte Problem war demnach sein Gedächtnisverlust. Dieser war äußerst besorgniserregend.

Während sie über all dies nachsann, begab Maomao sich zu der Karaffe, die auf einem kleinen Tisch am Bett stand und schenkte sich ein wenig Wasser in einen Becher ein, um ihre ausgetrocknete Kehle zu befeuchten. Dann warf sie einen vorsichtigen Blick unter Jinshis Verbände auf seine Stirnwunde, die ihr Vater gründlich gereinigt und gleich an Ort und Stelle im Schuppen ordentlich genäht hatte. So ordentlich, dass nach dem Fadenziehen, das in etwa zehn Tagen stattfinden würde, keine Narbe davon zurückbleiben sollte.

Die Apothekerin trank das Glas aus und stellte es wieder zurück. Dabei fiel ihr auf, dass die Karaffe fast leer war, da Jinshi Durst gehabt hatte und sie ihm einige Becher davon zu trinken gegeben hatten, bevor er sich hingelegt hatte. Später nach dem Aufwachen würde er ebenfalls Wasser benötigen, also nahm sie an, dass sie möglicherweise kurz in die Küche eilen und sie auffüllen sollte. 

Und danach müsste sie noch ein paar Kerzen vorbereiten. Zwar war es Sommer und die Tage entsprechend lang, aber es könnte durchaus sein, dass Jinshi den ganzen Abend verschlafen und erst in der Nacht aufwachen würde. Was sie jedoch nicht hoffte.

Nachdem sie einen erneuten Blick auf den jungen Herrn geworfen hatte, gab Maomao einen tiefen Seufzer von sich, nahm die Karaffe in die Hand und wollte sich bereits Richtung Tür aufmachen. Doch dann erstarrte sie, als sie auf einmal spürte, dass etwas von hinten leicht an ihrem Rock zog und sie zurückhielt. Vor Überraschung hätte sie beinahe die Karaffe fallengelassen.

Da sich außer ihnen beiden gerade keiner sonst im Raum befand, musste das ja bedeuten, dass...

„Ist er etwa aufgewacht?"

Auf der Stelle drehte sie sich wieder um und stellte fest, dass Jinshi tatsächlich angefangen hatte, sich ein wenig zu rühren. Eine seiner Hände hielt Maomaos Rock gepackt, als sei es ein natürlicher Reflex.

Maomao blinzelte einige Male, als sie merkte, dass er seine Augen immer noch geschlossen hielt.

„Was? Aber wie hat er denn dann...?"

Doch bevor sie ihre gedankliche Frage zu Ende stellen konnte, gab Jinshi ein Ächzen von sich und schlug langsam die Augen auf, die er sich mit der anderen Hand zu reiben begann. Dann fiel ihm auf, dass er nicht allein war, und die beiden blickten sich einige Sekunden lang gegenseitig an. Die Apothekerin stellte die Karaffe wieder auf den Tisch zurück und der junge Herr ließ sie los, mit Erstaunen seine eigene Hand ansehend, als ob er selbst nicht begreifen würde, wieso genau er jene junge Frau überhaupt an der Kleidung gepackt hatte. 

Maomao schluckte und war bereits kurz davor, sich zu erkundigen, wie er sich fühlte, und ihm die alles entscheidende Frage zu stellen, ob er sich wieder an alles erinnern konnte, doch er kam ihr zuvor und richtete seine immer noch etwas verschlafenen violetten Augen erneut auf ihre blauen, bevor er seinen Mund zum Sprechen öffnete. Sie fand, dass er wie eine Nymphe aussah, die vom Himmel gestützt war und sich nun auf der Erde zurechtfinden musste.

„Ähm, darf ich dich etwas fragen?" Sein Ton war leise und leicht zurückhaltend.

„Ja, Herr?"

„Wer bist du?"

Maomao öffnete den Mund, doch es kam kein Wort heraus. All die Hoffnung, die sie während der letzten Stunden gehegt hatte, war fort, als sei sie vom Wind draußen weggeweht worden. Wie trockenes Laub im Herbst. Also war sein Gedächtnis immer noch nicht zurückgekehrt...

Unwillkürlich senkte sie den Kopf. Ihr Blick war unergründlich.

„Ah, tut mir leid...", hörte sie Jinshi daraufhin sagen und sah wieder zu ihm auf. Auf seinem schönen Gesicht lag leichte Furcht, als habe er Angst, sie mit seiner Frage traurig gemacht zu haben. „Aber als ich vorhin zu mir gekommen bin, lag mein Kopf auf deinem Schoß… und danach warst du auch beinahe die ganze Zeit bei mir, zusammen mit diesen anderen Leuten… da würde ich gerne erfahren, wer du bist…”

Ach, stimmt ja. Er hatte sie ja auch schon damals, sofort nach dem Aufwachen gefragt, wer sie sei, doch sie hatte keine Zeit gehabt, ihm zu antworten, da sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, seine Blutung zu stillen. Aber sie war froh, dass er zumindest keine Probleme damit zu haben schien, die nach dem Unfall aufgetretenen Ereignisse im Gedächtnis zu behalten. Dass er zwar die Erinnerungen an seine Vergangenheit verloren, aber nicht die Fähigkeit eingebüßt hatte, sich neue Informationen zu merken. Ein kleiner Trost.

„Ich bin Maomao, Herr. Die Apothekerin."

Sie wollte ihn nicht gleich nach dem Aufwachen mit einem Haufen Informationen überfordern, also beschränkte sie sich auf das Wesentliche.

„Ah..." Mehr sagte Jinshi nicht, doch seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, erkannte er sie immer noch nicht wieder. Dann begann er, ihr Gesicht genauer zu mustern, wie ein Kind, das gerade etwas Neues entdeckte. „Maomao..."

Die Apothekerin zuckte zusammen, da sie es nicht gewohnt war, ihren Namen aus seinem Mund zu hören. Doch sie fasste sich schnell wieder.

„Wie fühlt Ihr Euch, Herr? Habt Ihr Schmerzen?"

„Mein Kopf tut weh..."

„Ist der Schmerz sehr stark?"

„Nein, nicht wirklich."

Natürlich nicht, sonst wäre er wohl kaum in der Lage gewesen, eine ruhige Unterhaltung mit ihr zu führen.

„Gut, dann werde ich Euch gleich ein Schmerzmittel geben."

Als Nächstes nahm sie ihn mit einer Hand am Kinn und beugte sich nach unten.

„Aber zuerst untersuche ich Euch, in Ordnung, Herr?"

„J-j-ja..."

„Wieso stammelt er denn auf einmal so?", dachte sie stirnrunzelnd. „Und wieso ist er rot geworden? Er hat doch nicht etwa Fieber?!"

Maomao legte ihre andere Hand behutsam auf seine Stirn und prüfte seine Temperatur, dort, wo seine Haut nicht von Verbänden verdeckt war. Sie war zwar leicht erhöht, aber Fieber hatte er glücklicherweise nicht. 

Sie atmete tief durch vor Erleichterung und sah sich nun seine Gesichtsfarbe an: immer noch leicht gerötet, aber nicht zu rot und nicht zu blass. Gut. Und er schwitzte auch nicht übermäßig und blutete nicht aus der Nase oder den Ohren. Gedanklich alle Symptome einer Gehirnerschütterung, welche ihr Vater sie gelehrt hatte, durchgehend, wendete sie sich als Nächstes Jinshis Augen zu: die Pupillen waren gleich groß und er zeigte keine Empfindlichkeit gegen Licht. Letzteres müsste sie aber später noch einmal mit Hilfe einer Kerze prüfen, nachdem es dunkel geworden war. 

Jinshi ließ sie ohne jeden Protest gewähren.

„Außer Eurem Gedächtnisverlust kann ich zum Glück nichts Besorgniserregendes erkennen. Hoffen wir, dass es so bleibt." Manche der Symptome konnten nämlich erst Stunden oder sogar Tage nach der Verletzung auftreten. 

„Sag mal… Wie habe ich mein Gedächtnis denn überhaupt verloren?"

„Ihr seid hingefallen und habt Euch den Kopf an einem Stein aufgeschlagen." Maomao holte einen kleinen Beutel aus ihrem Ärmel heraus und entnahm ihm eine Pille. „Bitte trinkt dies, Herr, es ist ein Schmerzmittel." 

Sie legte ihm die Pille auf die Handfläche, füllte das noch verbleibende Wasser aus der Karaffe in ein anderes Glas und half ihm dabei, sich im Bett aufzusetzen und dann das Wasser zu trinken, nachdem er die Medizin geschluckt hatte.

„Und... wer bin ich? Wieso nennst du mich eigentlich Herr und sprichst so förmlich mit mir?"

„Ja, wer seid Ihr?", dachte Maomao mit einem Hauch Verbitterung. Sie konnte nicht behaupten, dass sie selbst die Antwort auf jene Frage kannte. Aber andererseits hatte sie sich ja selbst geweigert, ihm zuzuhören, als er ihr die Wahrheit erzählen wollte, also konnte sie sich wohl kaum beschweren.

„Ihr seid Jinshi. Ein Adeliger." Nun, das war alles, was Maomao derzeit dazu sagen konnte. Ihm zu erzählen, dass er ein Eunuch war, konnte sie nicht, weil er in Wirklichkeit ja gar keiner war. Und die Tatsache, dass er sich als einer ausgab (aus unerfindlichen Gründen, die sie selbst nicht wissen wollte), verschwieg sie ihm auch, da ihn dies aktuell nur unnötig verwirren würde.

„Ein Adeliger?"

„Genau. Und ich bin eine Eurer zwei Zofen, Eure persönliche Bedienstete, also seid Ihr tatsächlich mein Herr."

„Du bist was?!"

„Wieso ist er denn bitte so überrascht?”

Auf einmal vernahmen die beiden einige Geräusche und drehten die Köpfe Richtung Tür.

„Meine Güte! Junger Herr, Ihr seid ja wach!"

Die oberste Zofe, die sicherlich gekommen war, um nach ihm zu sehen, schlug sich die Hand vor den Mund und erstarrte für einige Augenblicke. Dann eilte sie aufgeregt auf das Bett zu.

„Dame Suiren", sagte Maomao.

„Hm", machte Jinshi bloß, scheinbar unsicher, wie er reagieren sollte. Er schien sich zu erinnern, wie die ältere Dame ihm beim Umziehen geholfen und sich um ihn gekümmert hatte, als er nach dem Unfall in jenem Haus angekommen war. Aber sonst war da… nichts.

„Geht es Euch besser? Habt Ihr Euer Gedächtnis zurückerlangt?", erkundigte sich Suiren in einem hoffnungsvollen Tonfall.

Anstatt ihr zu antworten, wendete der junge Herr jedoch den Blick ab, zog die Augenbrauen zusammen und kratzte sich mit dem Zeigefinger verlegen an der Wange. Es war ihm ganz deutlich anzusehen, dass er ihr jene Hoffnung nicht rauben wollte. Doch es war unvermeidlich.

Daraufhin sah die oberste Zofe zu Maomao. Diese schüttelte den Kopf.

„Verstehe…", gab Suiren nach einer kurzen Pause von sich. „Ich verstehe... Aber das werdet Ihr ganz sicher noch. Auf jeden Fall. Wir müssen bloß Geduld haben." Sie bemühte sich, ihr kleines Lächeln aufrecht zu erhalten, doch der freudige Glanz war bereits aus ihren Augen verschwunden. 

Jinshi und Maomao sagten immer noch nichts. Bis auf einmal ein knurrendes Geräusch die unangenehme Stille durchbrach.

Der junge Adelige öffnete vor Erstaunen den Mund und legte sich die Hand auf den Magen. Dies schien Suiren aus ihrer Niedergeschlagenheit herauszuholen.

„Selbstverständlich seid Ihr hungrig, junger Herr! Wartet bitte ein wenig, ich bringe Euch gleich das Abendessen! Euch und Xiaomao. Ihr beide habt so lange nichts mehr gegessen."

Sie strich ihm leicht mit einer tröstenden Geste über den Handrücken und verließ den Raum wieder.

Maomao war ein wenig verwirrt. Normalerweise aßen sie und Suiren erst nach Jinshi und teilten sich die Reste des Essens. Aber dieses Mal schien wohl eine Ausnahme zu sein. Ach, aber nicht, dass dies besonders wichtig wäre…

Die Apothekerin hatte zwar tatsächlich ziemlich lange nichts mehr gegessen, doch sie hatte keinen Appetit. Auch wenn sie begriff, dass sie auf jeden Fall essen müsste, schließlich musste sie bei Kräften bleiben, um sich anständig um Jinshi kümmern zu können.

Mit einem Seufzer setzte sie sich wieder auf den Stuhl, da sie im Moment nichts zu tun hatte. 

„Wer ist denn diese Dame?", fragte Jinshi leise.

„Ihr Name ist Suiren und sie ist Eure oberste Zofe. Sie... hat Euch großgezogen, Herr."

„Oh!" Jinshi sah einen Moment lang erschrocken aus und bedeckte sich dann mit beiden Händen das Gesicht. „Und ich habe sie nicht erkannt... Es tut mir so leid..."

„Nicht doch. Es ist nicht Eure Schuld", murmelte Maomao und fügte sogleich in Gedanken hinzu: „Sondern meine."

Ihr Blick fiel auf die noch immer leere Karaffe. Ach stimmt, sie wollte sie ja auffüllen, das hatte sie ganz vergessen. Und die sonst so aufmerksame Suiren war wohl zu aufgewühlt gewesen, um es zu bemerken.

 Nun gut, dann würde Maomao es eben jetzt tun.

Und so nahm sie die Karaffe wieder in die Hand und stand auf. Doch bevor sie auch nur eine weitere Bewegung machen konnte, spürte sie, wie eine große Hand sie auf einmal am Handgelenk packte.

„Nein! Bitte geh noch nicht!"

„Herr, ich-"

„Bitte!", unterbrach Jinshi sie, bevor die Apothekerin ihm erklären konnte, dass sie in ein paar Minuten wieder zurückkommen würde. „Ich… Ich kann mich zwar immer noch nicht an dich erinnern, aber... allein dein Anblick beruhigt mich irgendwie. E-Es ist ein wenig zu viel verlangt, ich weiß, aber bleib bitte bei mir, zumindest noch für eine Weile! Ja?"

Er schenkte ihr einen verzweifelten, fast schon flehenden Blick. 

Maomao erstarrte für einen Augenblick und setzte sich dann erneut hin. Gut, dann würde sie eben Suiren später um frisches Wasser bitten. Sie wollte Jinshi in seinem Zustand nicht unnötig aufregen.

„Wie Ihr wünscht, Eure Exzellenz Jinshi."

Als Nächstes weitete sie jedoch die Augen, als sie auf einmal eine angenehme Wärme auf ihrer Haut spürte.

Jinshi hatte eine Hand gehoben und fasste sie damit am Gesicht. Mit dem Daumen streichelte er ihre Wange. Als ob er derjenige war, der nun sie beruhigen wollte.

Dabei war er so sanft, dass sich ein weiterer Kloß in Maomaos Hals bildete. Seine warme, rauhe Handfläche fühlte sich auf eine gewisse Weise vertraut an und erinnerte sie an seine früheren Berührungen. Also war immer noch etwas von dem alten Jinshi geblieben, was?...

„Danke, Maomao..." Ein liebevolles Lächeln zierte seine Lippen.

Die Apothekerin stellte fest, dass sie nicht in der Lage war, auch nur einen Laut von sich zu geben..

Chapter 60: Amnesie, Teil 3: Ein unerwarteter Besuch

Notes:

Kleine Warnung:
dieses Kapitel enthält Angst.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Die Sonne war gerade dabei, unterzugehen, und tauchte die gesamte Schlafkammer in angenehme orangene Farbtöne, das baldige Ende jenes unfassbar fürchterlichen Tages ankündigend. Des Tages, der Jinshis Leben praktisch in ein Vorher und Nachher geteilt hatte.

Zwar war die Luft inzwischen merklich abgekühlt, aber es war immer noch ziemlich warm und auch stickig. Jinshi, der immer noch im Bett saß, schien dies jedoch nichts auszumachen. Er beobachtete Maomao schweigend und mit einem friedlichen Ausdruck im Gesicht, welcher verriet, dass er aktuell wohl keine Schmerzen litt.

Die beiden hatten kürzlich ihre von der obersten Zofe gebrachte Mahlzeit beendet (Da Jinshi Suirens Essen liebte und sie auch noch eines seiner Lieblingsgerichte zubereitet hatte, hatte Maomao gehofft, dass der Verzehr ihm zumindest einige Erinnerungen zurückbringen würde. Doch obwohl es ihm sehr geschmeckt hatte, war ihre Hoffnung leider vergeblich gewesen). Die Apothekerin kramte nun erneut in ihrer Kleidung herum und holte den Beutel mit dem Schmerzmittel hervor, einen prüfenden Blick hineinwerfend.

„Nicht mehr viel drin. Ich muss bald Nachschub herstellen", dachte sie und legte den Beutel griffbereit auf den Tisch, direkt neben die Karaffe, die inzwischen endlich mit frischem Wasser aufgefüllt worden war.

Als Nächstes holte sie ihr Desinfektionsmittel, sauberes Verbandszeug und noch einige Päckchen mit Kräutern hervor. An Letzteren roch sie kurz, um ihren genauen Inhalt zu bestimmen und reihte diejenigen, die sie noch brauchen könnte, ebenfalls auf dem Tisch auf. All dies ohne ein Wort zu sagen.

„Du trägst aber ganz schön viel mit dir herum. Ist das alles Medizin?", bemerkte Jinshi schließlich, der ihr mit deutlichem Interesse zusah. Er wirkte immer noch vollkommen gelassen und hatte zu Maomaos großer Erleichterung auch weiterhin keine neuen Symptome gezeigt. Um ehrlich zu sein, hatte sie den Eindruck, dass die derzeitige Atmosphäre sich nicht allzu sehr von jener unterschied, die während ihrer früheren ruhigen Unterhaltungen üblicherweise geherrscht hatte.

„Selbstverständlich, Herr. Schließlich bin ich, wie ich es Euch bereits gesagt habe, Apothekerin, da muss ich stets für Notfälle gewappnet sein und die allerwichtigsten Medikamente dabei haben. Wer weiß, wann ich sie gebrauchen könnte.”

Während Luomen sich um Jinshis Wunde gekümmert hatte, hatte Maomao selbst sich im Schuppen so viel Medizin wie sie konnte in die Kleidung gestopft und auch eine kleine Tasche mit Kräutern, die sie für Jinshis Behandlung brauchen könnte, vollgepackt, um sie zu seiner Residenz mitzunehmen. Die Tasche hatte sie trotz ihrer Versuche, einen kühlen Kopf zu bewahren, während des ganzen Durcheinanders letztendlich vergessen, aber da sie sowieso noch zur Jade-Residenz zurück müsste, um ihre Kleidung und andere persönliche Sachen zu holen, stellte dies keine wirkliche Tragödie für sie dar.

Ganz genau. Diesmal würde sie keine andere Wahl haben, als Jinshis Seite für einige Zeit zu verlassen, denn ihre Habseligkeiten brauchte sie ja, wenn sie wieder in seiner Residenz leben sollte, vor allem ihre Utensilien für die Herstellung von Medizin. Um ihrem Patienten jedoch keinen unnötigen Stress zu bereiten, nahm sie sich vor, abzuwarten, bis er wieder eingeschlafen war und dann Suiren zu bitten, ihn im Auge zu behalten, während sie weg war.

Mit einem leisen Seufzer betrachtete sie kurz eine kleine Dose mit Rouge, die sie in ihrem Ärmel gefunden hatte, und stopfte diese wieder zurück. Nein, Kosmetik würde sie aktuell wohl eher nicht benötigen. 

Da dies somit alles gewesen war, stand Maomao auf und begab sich zum Fenster, um es für einige Minuten zu öffnen und den Raum vor dem Einbruch der Nacht ein wenig durchzulüften.

„Was ist denn das?", fragte der Mondprinz neugierig und deutete auf ein Päckchen mit Kräutern. Eine schwache, erfrischende Brise wehte vom Fenster hinein und zauste ihnen leicht durchs Haar.

„Daraus kann man einen Tee kochen, der als Beruhigungsmittel wirkt und für besseren Schlaf sorgt."

„Und das hier?"

„Verbandszeug, um Eure Bandagen zu wechseln."

„Und das?"

„Ein Mittel gegen Fieber."

„Oh? Glaubst du etwa, dass ich Fieber bekommen könnte?"

„Das kann ich nicht genau sagen, aber ich hoffe nicht, Herr. Jedoch werde ich es zur Sicherheit auf dem Tisch lassen."

„Ach so. Verstehe." Er lächelte sie an. „So gut wie du vorbereitet bist, kann mir ja gar nichts Schlimmes mehr passieren.”

Maomao sagte nichts mehr, sondern machte bloß wieder das Fenster zu, bevor sie sich zurück auf den Stuhl setzte. Dunkle Gedanken drohten erneut, in ihren Verstand einzudringen. Sie konnte einfach nichts dagegen machen.

Doch sie kam doch wieder zu sich, als wieder einmal Geräusche aus der Richtung der Tür zu ihnen drangen. Maomao hob den Kopf und Jinshi wendete seinen Blick von ihr ab und richtete ihn auf die Tür. Diesmal klangen die Schritte überhaupt nicht nach Suiren…

Jinshi schaute wieder zu Maomao, als frage er sie, wer der neue Besucher wohl sein möge, doch sie zuckte bloß die Achseln und runzelte leicht die Stirn. Sie hatte irgendwie kein gutes Gefühl bei der Sache.

Und einige Sekunden später flog die Tür auch schon schwungvoll auf.

„Was ist mit dir geschehen? Gaoshun erzählte mir, dass du hingefallen bist und dein Gedächtnis verloren hast! Ist das wahr? Ich weigere mich, es zu glauben!”

Ein äußerst aufgewühlter Mann mittleren Alters mit einem eindrucksvollen Bart stürmte ohne einen Gruß in den Raum hinein, gefolgt von einem etwas angespannt wirkenden Gaoshun.

Sobald Maomao den Mann erblickte, stand sie umgehend erneut auf, verbarg die Hände in den Ärmeln und verbeugte sich tief.

„Guten Abend, Eure Majestät.”

Jinshi dagegen sah zuerst sie und dann den Mann verwirrt an.

„Majestät?"

Doch im Moment hatte leider niemand Zeit, ihm Erklärungen zu geben.

Der Kaiser wendete sich Maomao zu.

„Sag, Apotheker-Mädchen, ist es tatsächlich wahr, dass er sich an nichts mehr erinnern kann?"

Maomao blickte für einen Moment zu Boden, bevor sie den wichtigsten Mann ihrer Nation, der ungeduldig auf ihre Antwort wartete, erneut ansah.

„Es ist wahr, Eure Majestät. Seine Exzellenz hat sich während seines Sturzes am Kopf verletzt, daher auch die Verbände, und tatsächlich sein Gedächtnis verloren. Er kann sich derzeit weder an Menschen noch an Orte, die ihm einst vertraut gewesen waren, und auch nicht an seine eigene Identität erinnern."

Der Kaiser riss die Augen auf und verengte sie dann wieder, damit verdeutlichend, dass dies gewiss nicht die Worte waren, die er zu hören wünschte.

„Nun, aber ich kann ihm nun einmal nichts anderes als die Wahrheit sagen, auch wenn es eine recht unangenehme ist,” dachte die Apothekerin, der unter seinem Blick gleichzeitig heiß und kalt wurde. Unwillkürlich biss sie die Zähne zusammen und stellte fest, dass ihre Handflächen angefangen hatten zu schwitzen.

„Kann er geheilt werden?"

„Das lässt sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, doch normalerweise sollte das Gedächtnis mit der Zeit zurückkommen. Jedoch ist leider ungewiss, wie lange es dauern wird.”

Dem Kaiser war anzusehen, dass ihn diese Antwort immer noch nicht zufriedenstellte, aber Maomao konnte ihm bloß das sagen, was sie selbst wusste. Normalerweise war er ein ziemlich gutmütiger Herrscher, doch im Moment sah er wirklich einschüchternd aus. Beinahe wie ein anderer Mensch. Wie einer, dessen Worte die Macht hatten, jemandem das Leben zu rauben. Was eigentlich auch stimmte.

„Seine Exzellenz muss ihm äußerst wichtig sein", grübelte Maomao. „Nun, als Aufseher des gesamten inneren Palastes ist er ein wirklich wichtiger Arbeiter für ihn, das streite ich nicht ab." Zwar kam ihr in den Sinn, dass es durchaus auch andere, persönlichere Gründe geben könnte, doch sie zog es vor, nicht daran zu denken.

Seine Majestät hob eine Hand und deutete auf sie.

„Du wirst dich um ihn kümmern. Schließlich hast du bereits meine Tochter und eine meiner Gemahlinnen geheilt.”

„Sehr wohl." Maomao verbeugte sich erneut. Sich um Jinshi zu kümmern, hatte sie sowieso vor. Dass sie den offiziellen Befehl dazu erhalten würde, war zu erwarten gewesen und überraschte sie kaum.

Der Kaiser senkte die Hand wieder und wendete sich Jinshi zu, nun ihn mit verengten Augen und einer tiefen Falte zwischen den Augenbrauen musternd. Dieser erwiderte seinen Blick, so verwirrt wie eh und je.

Für einen Moment herrschte Stille. Keiner sprach.

Bis Seine Majestät auf einmal ein Schnauben von sich gab, die Zähne zusammenbiss und den jüngeren Mann aus heiterem Himmel bei den Schultern packte, ihm mit einem von höchster Besorgnis erfüllten, jedoch harten Blick direkt in die Augen starrend.

Jinshi erschrak so sehr, dass er sich nicht bewegen konnte. Maomao und sogar Gaoshun ebenso.

„Hast du ernsthaft alles vergessen?", donnerte der Kaiser los. „Wer du bist, wer ich bin? Wirklich alles? Dein gesamtes Leben?" In seinem Ton lag Verzweiflung und eine tiefe Traurigkeit. Er begann, Jinshi zu schütteln. „Antworte mir!”

Der Mondprinz gab keinen Ton von sich, als ob er nicht nur sein Gedächtnis, sondern auch seine Fähigkeit zu sprechen verloren hätte. Seine Augen weiteten sich mehr und mehr und sein Kinn begann zu zittern, während seine Hände sich fest in die Bettdecke krallten. Er sah fast so aus wie eine Maus, die kurz davor war, von einer Schlange gefressen zu werden.

„Oh nein!", dachte Maomao, ebenfalls die Augen weit aufreißend. „Er verursacht ihm extremen Stress!"

Gaoshun, der die ganze Zeit hinter Seiner Majestät gestanden war, hob die Hände und öffnete den Mund, als wolle er ihn aufhalten. Doch seinem Blick nach zu urteilen, nahm Maomao an, dass er den Kaiser noch nie zuvor so gesehen hatte und nun ziemlich ratlos war.

„Eure Majestät...", mischte sie sich demnach ein, bevor der Assistent etwas sagen konnte. 

„Schweig!", fuhr der Kaiser sie an und ergriff Jinshis Schulter sogar noch fester, seine Finger hineinbohrend, was dem jüngeren Mann ein gequältes Wimmern entlockte. „Und du, antworte mir endlich! Es kann doch nicht sein, dass du wirklich nichts mehr weißt!”

Einige Tränen rollten nun aus Jinshis Augen, während er den furchterregenden älteren Mann hilflos und verängstigt anblickte.

Die Apothekerin, die vorhin angesichts des schroffen Tons des Kaisers zusammengezuckt war, konnte sich jene schreckliche Szene nicht mehr länger ansehen. Sie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen...

Doch dann…

„Aaah!"

Derjenige, der jenen herzzerreißenden Schrei ausgestoßen hatte, war Jinshi. Schwer atmend, packte er sich mit beiden Händen am Kopf, schloss fest die Augen und biss die Zähne zusammen. Ganz offensichtlich litt er heftige, fast schon unerträgliche Schmerzen.

„Jetzt reicht es aber!", dachte die immer noch neben ihm stehende Apothekerin entsetzt und streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu untersuchen. 

Doch bevor sie sich versah, wurde sie auch schon von einem Paar starker Arme fest umschlungen und verzweifelt gedrückt.

Jinshi hatte seinen Kopf losgelassen, sich mit aller Kraft, die er noch besaß, aus dem eisernen Griff des Kaisers gerissen und Maomao mit einer solchen Panik umarmt, dass die zierliche junge Frau fast das Gleichgewicht und den Boden unter den Füßen verlor.

 „Aaaah! Aaah…”

„Eure Exzellenz!"

Am ganzen Körper zitternd, klammerte er sich an sie und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter, ein ersticktes „Maomao..." ausstoßend, als würde er sie um Schutz, um Rettung anflehen. Als sei sie ein natürliches, nein, sein persönliches Schmerzmittel. Sie spürte seine bebenden Hände auf ihrem schmalen Rücken und seine Wange an ihrem Hals. 

Die Apothekerin war zur Statue erstarrt, vollkommen überrumpelt, und hatte zunächst nicht die geringste Ahnung, was sie machen sollte, da sie bisher noch nie einer solchen Situation ausgesetzt gewesen war. Doch dann schüttelte sie den Kopf, zwang sich, wieder zu sich zu kommen, und begann dann, ihm in unbeholfenen Kreisbewegungen den Rücken zu reiben. Ihre Gedanken rasten.

Seine Muskeln fühlten sich steif und verkrampft an unter ihren Fingern und sein Herz pochte heftig gegen ihren Körper. 

Maomao kam nicht umhin zu denken, dass er bestimmt versucht hätte, wegzulaufen, wenn sie nicht dort gewesen wäre. Ein Glück, dass sie anwesend war. Sie konnte es ihm durchaus nicht verübeln, denn jeder Andere hätte an seiner Stelle bestimmt ebenfalls schreckliche Angst bekommen, selbst ohne Gedächtnisverlust. Und jene Angst war mehr, als er in seinem derzeitigen Zustand ertragen konnte.

Ob wunderschön wie eine Nymph oder nicht, er war schließlich immer noch ein Mensch.

Und die Furcht hatte seine Kopfschmerzen um ein Vielfaches verstärkt.

„Wenn das so weitergeht, bekommt er tatsächlich noch Fieber!" Sein Gesicht fühlte sich ziemlich heiß an an ihrer Schulter. „Ich muss ihn beruhigen und etwas gegen seine Schmerzen tun!”

„Bitte entschuldigt mich, Eure Majestät”, sprach Maomao schließlich, im Versuch, gefasst zu klingen, und begann nun, mit einer Hand Jinshis weiches, zerzaustes Haar zu streicheln. Er weigerte sich immer noch, seinen Kopf zu heben, als wolle er sich vor der gesamten Welt verstecken und nichts und niemanden mehr sehen. Seine Tränen durchtränkten ihre Kleidung. „Er braucht viel Ruhe. Ihn so in die Ecke zu drängen, macht alles nur noch schlimmer, wie Ihr seht.”

„Ich verstehe... Ich habe wohl für einen Moment die Kontrolle über mich verloren…”

Die Gesichtszüge des Kaisers, der dem panischen Jinshi mit weit aufgerissenen Augen perplex und ungläubig zugesehen hatte, waren weicher geworden, sodass er wieder mehr so wirkte wie gewöhnlich. Er schien seine Grobheit nun zu bereuen. 

Seine Majestät ging auf den Jüngeren zu und legte ihm vorsichtig die Hand auf den zitternden Rücken. „Verzeih mir... Ich glaube, ich gehe jetzt lieber..."

Maomao spürte, wie Jinshi angesichts seiner Berührung zusammenzuckte und sich noch enger an sie drückte.

***

Als der immer noch etwas verloren wirkende Kaiser gegangen war und all das von ihm angerichtete Durcheinander zurückgelassen hatte, erlaubte sich Maomao tief durchzuatmen und ihre Gedanken zu sammeln. Sie hatte keine Zeit, um über das vorhin Geschehene nachzugrübeln, sondern musste sich zuallererst um den verängstigten Jinshi kümmern.

„Ganz ruhig. Er ist weg, Eure Exzellenz, er wird Euch nichts mehr tun. Keiner wird Euch etwas tun," flüsterte sie ihm so beruhigend wie sie konnte ins Ohr, während sie ihm weiterhin den Rücken massierte. Der junge Herr schniefte und entspannte sich ein wenig, als er ihre Worte vernahm, doch hielt sie weiterhin so fest, dass sie sich kaum rühren konnte, immer noch direkt an seinem Bett stehend, auf dem er saß.

Da seine Atmung bereits ruhiger geworden war, vermutete sie, dass seine Kopfschmerzen ein klein wenig nachgelassen hatten, doch den leisen Schmerzenslauten nach zu urteilen, die er ab und zu von sich gab, waren sie immer noch ziemlich stark und ließen ihn nicht klar denken.

„Maomao...", wimmerte er.

„Psst. Alles ist gut." Die Apothekerin hatte nicht die geringste Erfahrung damit, andere Leute zu trösten, doch sie tat ihr Bestes. „Nicht weinen."

Sie hoffte sehr, dass jener Vorfall und seine daraus resultierende Panikattacke keine schlimmen Folgen für seine Gehirnerschütterung und Gesundheit allgemein nach sich ziehen würden. Ihrer Meinung nach hatte er nämlich bereits mehr als genug durchgemacht.

Auf einmal hörten sie wieder hastige Schritte und erstarrten beide auf der Stelle. Doch diesmal war es bloß Gaoshun, der den Kaiser zum Ausgang begleitet hatte und nun zu seinem Herrn zurückgeeilt kam.

„Wie geht es Seiner Exzellenz, Xiaomao?", erkundigte er sich besorgt, sobald er einen Fuß in den Raum gesetzt hatte. Ganz bestimmt hatte er den jungen Mann ebenfalls noch nie so gesehen. Vielleicht bloß in dessen Kindheit.

„Schon ein bisschen besser. Aber es wird sicherlich noch dauern, bis er sich wieder vollständig beruhigt hat."

„Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?"

„Ja, vielen Dank, verehrter Gaoshun. Auf dem Tisch neben dem Bett liegt ein kleiner Beutel mit Schmerzmittel. Bitte nehmt drei Pillen heraus und gebt sie mir, ich komme nämlich gerade nicht ran. Und bitte füllt noch einen Becher mit Wasser."

Der Assistent gehorchte rasch. Doch gerade als er ihr das Wasser reichen wollte, erschien Suiren, die irgendwo in einem anderen Teil der Residenz mit etwas beschäftigt gewesen war, im Zimmer und öffnete erschrocken den Mund, als sie ihren jungen Herrn heftig zitternd und sich verzweifelt an die Apothekerin klammernd vorfand.

„Was in aller Welt ist denn hier passiert?"

„Leider habe ich im Moment keine Zeit, es Euch zu erklären, Dame Suiren." Maomao streckte ihre freie Hand aus und schaffte es mit einiger Anstrengung, eines der Päckchen mit Kräutern zu ergreifen. Sie roch daran, um sicherzugehen, dass es das Richtige war, und fuhr dann fort. „Könnt Ihr bitte einen Tee aus diesen Kräutern aufbrühen? Es ist eine Mischung aus getrocknetem Baldrian, Kamille und Lavendel und wird Seiner Exzellenz dabei helfen, seine Nerven zu beruhigen."

„Verstanden." Die ältere Dame nahm ihr das Päckchen aus der Hand und eilte erneut davon. Sie hatte die Dringlichkeit der Lage begriffen und stellte keine weiteren Fragen.

Als Nächstes wendete Maomao sich wieder Jinshi zu.

„Herr?", sprach sie ihn leise an. „Würdet ihr bitte Euren Kopf von meiner Schulter nehmen?"

Auf der Stelle zuckte er wieder zusammen und sie konnte spüren, wie sein Herzschlag sich erneut beschleunigte.

„Hm? Was hat er denn jetzt?”, dachte sie, nicht ganz begreifend, was denn los war.

„N-Nein... bitte bleib bei mir... Maomao..."

Oh. Das war es also. Er hatte wohl angenommen, dass sie gehen wollte.

„Ich gehe nirgendwohin, Eure Exzellenz. Ich möchte Euch bloß noch mehr von dem Schmerzmittel geben und das kann ich nicht, wenn Ihr Euer Gesicht weiterhin an meine Schulter gedrückt haltet."

„G-Gut…”

Endlich hob er den Kopf und blickte die Apothekerin an. Diese spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, als sie sein bleiches Gesicht erblickte, und zog die Augenbrauen zusammen. Der junge Herr sah schwach und krank aus und in seinen traurigen und matten violetten Augen lag eine solch tiefe Erschöpfung, als habe er tagelang nicht geschlafen.

Maomao schluckte und kniete sich neben ihm auf das Bett, es ohne jeglichen Protest zulassend, dass Jinshi sie an seine Brust drückte, als sei sie ein Kissen. Dann zeigte sie ihm die drei Pillen auf ihrer Handfläche. 

„Hier, bitte öffnet den Mund, Herr. Eure Hände zittern immer noch, also werde ich Euch bei der Einnahme helfen, in Ordnung?"

Jinshi nickte und machte den Mund auf. Sie legte ihm die Medizin auf die Zunge und als er diese geschluckt hatte, half Gaoshun ihm dabei, das Wasser zu trinken.

„So, und wenn Ihr nachher noch den Tee trinkt, den Dame Suiren gerade macht, sollte es Euch schon bald deutlich besser gehen."

„Danke dir... Maomao...", brachte er heraus und gab ihr einen kraftlosen Kuss auf die Stirn. 

Die Apothekerin war zunächst verblüfft, doch dann legte sich ein Schatten über ihr Gesicht.

„Nichts zu danken...", murmelte sie. Gaoshun stand derweil neben ihnen und sah mit Sorge zu.

Und während sie auf den Tee warteten, griff Maomao nach Jinshis Kragen und entblößte seine Schultern. Die Hände des Kaisers hatten Abdrücke hinterlassen, die ziemlich schmerzhaft aussahen. 

Die Falte zwischen den Augenbrauen des Assistenten wurde bei dem Anblick tiefer und Maomao spürte, wie ihr Blut zu kochen begann.

„Warum? Warum bloß?", dachte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Als ob er nicht auch so schon genug Schmerzen für heute hatte!" Es kam ziemlich selten vor, dass sie wirklich ernsthaft wütend wurde, aber diesmal war sie es. Kaiser hin oder her, aber das war gewiss keine Art, einen Verletzten zu behandeln, der auch noch vollkommen unschuldig war und nichts für seine Verletzung konnte! Sie war diejenige, die den Zorn Seiner Majestät verdiente, nicht Jinshi!

Und noch seltener kam es vor, dass sie die Autorität von ihr höhergestellten Menschen hinterfragte und ihr Verhalten kritisierte (Jinshi selbst möglicherweise mal ausgenommen), aber wenn der Kaiser nicht gegangen wäre, hätte sie womöglich noch die Kontrolle über ihr Gesicht verloren und ihm, dem mächtigsten Mann der Nation, einen ihrer bösen Blicke geschenkt und ihn angefaucht, ganz wie eine Katze, die ihr Kätzchen beschützte. Gut, dass es nicht so weit gekommen war, denn die Folgen wollte sie sich nicht einmal ausmalen.

So in Gedanken versunken wie sie war, brauchte Maomao einen Moment, um zu begreifen, dass Jinshi angefangen hatte, ihr sanft den Rücken zu reiben. Sie sah in sein Gesicht auf und ihre Wut verrauchte augenblicklich, als sie seinen fragenden, besorgten Blick bemerkte.

„Maomao?", fragte er zögerlich und mit leicht bebender Stimme.

„Oh nein! Jetzt fehlt nur noch, dass ich ihm auch noch mit meinem Gesichtsausdruck Angst einjage!", dachte sie erschrocken und beeilte sich, ihre Gesichtszüge wieder zu entspannen. Den alten Jinshi hätte ihr Gesicht niemals ernsthaft verängstigt, doch bei dem neuen… konnte sie es nicht mit Sicherheit sagen. 

„Macht Euch keine Sorgen, Eure Exzellenz. Es ist alles in Ordnung."

Sie bedeckte seine Schultern wieder und nahm sich vor, am nächsten Tag eine Salbe herzustellen und sie ihm vorsichtig damit einzureiben, damit die Abdrücke schneller verheilten.

Einige Minuten später kam Suiren mit dem fertigen Beruhigungstee zurück und Maomao half Jinshi dabei, mehrere Becher davon mit kleinen Schlucken zu trinken. 

Der Effekt zeigte sich bereits nach kurzer Zeit: der Mondprinz entspannte sich nach und nach und legte die Wange auf Maomaos Kopf.

***

„Wieso musste dies alles geschehen? Was habe ich ihm da bloß angetan?", dachte die Apothekerin etwa eine halbe Stunde später voller Verbitterung und Reue, während sie auf Jinshis Bett saß und seine Hand hielt, dabei zusehend, wie er erneut einschlief.

Nein, so konnte sie ihn gewiss nicht allein lassen. Auf keinen Fall. Ihre Habseligkeiten würden warten müssen.

Notes:

Und hier haben wir eine Maomao, die ihre beschützerische und fürsorgliche Seite zeigt.
Das nächste Kapitel wird aus Jinshis Sichtweise geschrieben sein!

Puh, und nun mach ich für einige Tage Pause, bevor ich mit dem nächsten Kapitel beginne.

Chapter 61: Amnesie, Teil 4: Ganz allein in der Dunkelheit

Notes:

Und hier kommt, wie versprochen, ein Kapitel aus Jinshis Sichtweise geschrieben!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Jinshi schlug mit ein wenig Mühe die Augen auf und blinzelte verschlafen. Er lag auf dem Bauch, in derselben Position, in der er am Vorabend eingeschlafen war, brauchte jedoch trotzdem ein paar Sekunden, um sich ins Gedächtnis zu rufen, wo er überhaupt war. Obwohl man ihm mitgeteilt hatte, dass er jenen Ort eigentlich kennen müsste. Es war so finster, dass er zunächst den Eindruck bekam, als habe er die Augen immer noch geschlossen, doch nach und nach gelang es ihm dennoch, die Umrisse des Zimmers auszumachen. 

Dieses geräumigen Zimmers, in das man ihn gebracht hatte, mit der Erklärung, es handele sich dabei um seine eigene Schlafkammer in seiner eigenen Residenz.

Tief in seinem Inneren fühlte sich der Ort tatsächlich ein klein wenig vertraut an, doch der junge Herr erkannte nicht einmal einen Winkel des Gebäudes, geschweige denn jene Kammer wieder. Wie seltsam. Könnte das Haus denn wirklich ihm gehören?

Aber da er immer noch nicht den geringsten Schimmer hatte, wer er überhaupt war, blieb ihm keine andere Wahl, als alles zu glauben, was ihm jene Leute erzählten, die ihn so gut zu kennen schienen. Darauf zu vertrauen, dass sie ihn nicht hinters Licht führten.

Jinshi strich mit der Hand langsam über das Bettlaken, auf dem er lag, und drehte sich auf die Seite. Es war glatt und fühlte sich ein wenig kühl an, während das Bett selbst weich und bequem war. Ein leichter Parfümduft wehte außerdem durch den Raum. Angenehm und nicht zu aufdringlich.

Die Nacht selbst war jedoch das genaue Gegenteil, fast wie ein kompakter, dichter schwarzer Nebel. Kein einziger Lichtstrahl drang durch das Fenster, so als habe besagter Nebel selbst den Mond geschluckt.

Und auch kein Laut. Nur eine Eule stieß irgendwo leise in der Ferne ihre Rufe aus.

All jene Atmosphäre fühlte sich so ausgedehnt, so leer, so leblos an... als sei er aktuell tatsächlich der einzige Mensch auf jener Welt, in der er so plötzlich gelandet und die ihm so gänzlich unbekannt war. Jeder benahm sich so, als würde er, den sie Jinshi nannten, dort lückenlos hineinpassen, als sei dort sein ihm angestammter Platz auf Erden. Und doch war ihm alles so fremd, als sei Jinshi gar nicht er, sondern irgendjemand anderes. Als führe er derzeit das Leben eines Unbekannten.

Aber wenn er nicht jener Mann war, wer war er denn dann? Und wo gehörte er hin?

Er wusste es nicht. Er wusste überhaupt nichts. Das Gefühl des Verlorenseins war so heftig, dass er schlucken musste. Als würde er in einem riesigen Wald auf unbekannten Pfaden wandern, ohne die geringste Ahnung, wohin diese ihn führen würden. Und gleichzeitig ohne jede Möglichkeit, sie zu verlassen, da er sonst jederzeit riskieren würde, in einen Abgrund zu stürzen.   

Einen Abgrund, so dunkel und leer wie der Raum, in dem er sich befand... und wie sein Verstand. Eine undurchdringliche Finsternis, die seinen Kopf ausfüllte und nun kurz davor war, sich auszubreiten und seinen gesamten Körper einzuhüllen.

Wie ein riesiges, bodenloses schwarzes Loch, welches ihn zu verschlingen drohte, so wie es das bereits mit seinen Erinnerungen getan und ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war: ein Mann ohne Vergangenheit und ohne erahnbare Zukunft. Einer, der nur im Hier und Jetzt leben konnte.

Jene Gedanken verstärkten das stetige Pochen in seinem Kopf nur, doch noch war es recht erträglich. Alles andere als angenehm, aber erträglich. Es könnte schlimmer sein, wie er mittlerweile erfahren hatte. Der junge Mann schloss die Augen und legte sich die Hand auf die Stirn, die Textur der Verbände unter seinen Fingern spürend. Nach einer Weile öffnete er die Augen schließlich wieder.

Die Dunkelheit war immer noch da. Und auch die Stille. Eine endlose Einsamkeit.

Zwar war es warm im Zimmer, ziemlich warm sogar, doch irgendwie war ihm seltsam kalt. Und sobald ihm diese Tatsache erst so richtig bewusst wurde, wurde es nur noch schlimmer. Seine Hände und Füße fühlten sich eisig an.

Jinshi blies seinen warmen Atem auf seine Hände, rieb seine Handflächen aneinander und wickelte sich enger in seine Decke. Doch alles war vergeblich. Er zitterte immer noch und die Kälte blieb, als sei sie gar nicht von den Außentemperaturen ausgelöst worden, sondern kam direkt aus seinem Inneren... als hätte sich die Erinnerungen-verschlingende Finsternis auch seiner Gliedmaßen bemächtigt und würde sich zu guter Letzt einen Weg zu seinem Herzen bahnen. Dieses begann, bei dem Gedanken schneller zu schlagen.

Es war so beängstigend... Jinshi bekam das Gefühl, als würde er niemals einen Weg herausfinden, dazu verdammt, auf ewig im Dunkeln herumzuirren.

Niemals vollständig zu begreifen, wer er denn nun eigentlich war und niemals die Menschen um sich herum wiederzuerkennen. So wie jenen aufmerksamen und ernsten Mann mittleren Alters und die freundliche, fürsorgliche ältere Dame. Oder den furchteinflößenden Mann mit Bart. 

Und doch… gab es inmitten all der Dunkelheit einen Lichtstrahl... klein, jedoch gleichzeitig strahlend hell und stark... ein Licht, welches ihn aus der Finsternis hinausführen könnte.

„Maomao...", murmelte er in die Stille hinein. Es fühlte sich so gut an, jenes Wort auszusprechen.

Und jenes Licht stammte von der wortkargen, kleingewachsenen jungen Frau, die sich derzeit um ihn kümmerte. Sie war der allererste Mensch, den er nach seinem Gedächtnisverlust direkt nach dem Aufwachen erblickt hatte. Er hatte damals an schrecklichen Schmerzen und Übelkeit gelitten, hatte geblutet und sich übergeben, doch an das Gefühl ihrer Hände, die seinen Kopf vorsichtig, aber dennoch fest auf ihrem Schoß gehalten hatten, erinnerte er sich immer noch. Als sei es in seine Haut eingebrannt worden.

Welch Ironie, was? Sein gesamtes Leben zu vergessen, aber sich eine einfache Berührung so genau einzuprägen, als sei sie erst vor wenigen Sekunden passiert…

Seine Lippen krümmten sich zu einem kleinen Lächeln, als jene Gedanken es schafften, ihn ein wenig von der Dunkelheit abzulenken.

Sie nannte sich selbst Apothekerin... nun, eine wahrhaft passende Bezeichnung, wenn man bedachte, wie gut sie sich mit Medizin auskannte und wie viele verschiedene Kräuter und andere Dinge sie mit sich herumtrug. Und ihre Arzneien waren sehr wirksam, wie er zugeben musste. Ein Glück, dass sie bei ihm war.

Leider erinnerte er sich auch an sie kein bisschen, aber... jetzt wo er so darüber nachdachte, stellte er fest, dass er sich so gut wie von Anfang an zu ihr hingezogen gefühlt hatte, beinahe schon seit dem Moment, an dem sein Blick zum ersten Mal auf sie gefallen war. Wie ein dünner Faden, der sie beide verband. Was es genau war, begriff er nicht, doch es fühlte sich so an, als habe er sie sein Leben lang gekannt, obwohl er doch fast nicht das Geringste über sie wusste. Was für ein sonderbares und verwirrendes Gefühl. Aber nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil: es war so schön, wenn sie bei ihm war, er fühlte sich in ihrer Gegenwart einfach so unglaublich wohl, dass er es nicht einmal vermochte, es in Worten auszudrücken. Sogar sein Leben hätte er ihr ohne jeden Zweifel anvertraut. 

Jinshi bewegte ein wenig die Zehen. Sie waren bereits etwas wärmer geworden.

Maomao... was für ein süßer Name. Fast schon so süß wie sie selbst mit ihrer zarten Statur und ihren Sommersprossen. Und sie war auch noch so hübsch, vor allem ihre Augen. So wunderschöne blaue Augen, in denen man glatt versinken könnte. Jedes Mal, wenn sie ihn direkt ansah, bekam er ein heftiges Kribbeln im Bauch und sein Gesicht wurde heiß.

Aber wenn sie wollte, konnte sie auch ganz schön furchteinflößend dreinblicken. Es hatte ihn zunächst verwirrt und auch beunruhigt, sie so zu sehen, doch dann hatte er begriffen, dass ihre Wut nicht gegen ihn gerichtet war, sondern gegen denjenigen, der ihm wehgetan hatte. Zwar fühlte er sich ein klein wenig schuldig dabei, musste er zugeben… doch ihre Wut hatte sich für ihn wie ein wahrer Segen angefühlt, ein Beweis, dass er ihr tatsächlich wichtig war.

Hach, er wollte sich so gern an sie erinnern, doch egal wie sehr er es versuchte, brachte ihm dies nichts weiter als Kopfschmerzen ein. Aber solange sie einfach nur bei ihm war, würde er in Ordnung sein, das wusste er genau.

Und jenes Gerede davon, dass sie seine Bedienstete oder so sein sollte, gefiel ihm auch sowieso nicht wirklich. Deshalb würde er sie erstmal bloß weiterhin als Maomao, die Apothekerin, sehen, so wie sie sich ihm selbst vorgestellt hatte. Sein kleiner Lichtstrahl Maomao.

Jinshi griff sich ans Herz, welches angesichts des letzten Gedankens schneller zu schlagen begonnen hatte.

Und auch wenn sie auf den ersten Blick etwas kühl und unnahbar wirken mochte, hatte er beinahe von Anfang an instinktiv eine unglaubliche Wärme erahnt, die unter jener Kühle und ihrem die meiste Zeit neutralen Gesichtsausdruck verborgen war.

Eine Tatsache, welche sich bestätigt hatte, sobald er vor Angst und fürchterlichen Schmerzen in ihre Arme geflüchtet war, nachdem der wütende Mann, der von allen Majestät genannt wurde, ihm wehgetan und lauter Fragen gestellt hatte, die er nicht beantworten konnte. Die junge Frau hatte ihn beruhigt und vor der unerträglichen Situation gerettet, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Er hatte seinen zitternden Körper eng an sie gepresst und sich so sicher und geschützt gefühlt wie noch nie zuvor!

Von wegen kühl! Ihr Körper war zwar zugegebenermaßen ziemlich zierlich und dünn, sodass man beinahe Angst bekam, sie zu zerbrechen, aber gleichzeitig auch wunderbar weich und warm. So warm! Es war eine solch angenehme, tröstende, heilende Wärme, wie sie nicht eine einzige Decke auf der Welt jemals spenden könnte, eine Wärme, die rasch seine Schmerzen gelindert hatte, und ihm wurde klar... dass er sie erneut brauchte... nein, er brauchte Maomao! Sie war die Einzige, die in der Lage war, ihn aus der Dunkelheit herauszuholen. Er war vollkommen verloren ohne sie!

Und er vermisste sie! Er vermisste sie so sehr! Es war so, als sei sie ein Teil von ihm, als sei es unmöglich für ihn, ohne sie komplett zu sein. Wieso, konnte er nicht erklären, aber so war es.   

Sobald er dies begriffen hatte und sich an ihre Abwesenheit erinnerte, kam die Kälte schlagartig zurück, ganz wie eine tödliche Schneelawine. Nein, seine Gedanken an sie waren nicht genug... er brauchte die echte Apothekerin!

„Maomao...", murmelte Jinshi ein zweites Mal, während er sich auf den Rücken drehte und an die Decke starrte. Sein Lächeln war wieder verschwunden und er hatte erneut angefangen zu zittern. Ja, er brauchte sie! Brauchte sie dringend! 

Er packte die Bettdecke mit beiden Händen und schnappte nach Luft, als könne er auf einmal nicht mehr richtig atmen. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, so als sähe er direkt vor sich das schwarze Loch, welches nur darauf wartete, ihn endlich zu verschlucken. 

„Maomao..." 

Sein Gemurmel war indessen zu einem verzweifelten Wimmern geworden und neue Tränen sammelten sich in seinen Augen. Nicht zu wissen, wo sie war und wann sie wiederkommen würde, löste in ihm eine wahrhaft fürchterliche Angst aus, sie nie mehr wiederzusehen.

„Maomao... Maomao…”

Was er jedoch nicht ahnte, war, dass diejenige, nach der er rief, sehr viel näher war, als er vermutet hätte.

***

Nein, Jinshi konnte es nicht mehr länger ertragen, wie gelähmt herumzuliegen und entweder die Sekunden zu zählen, bis jene viel zu lange Nacht endlich aufhörte oder aufzugeben und darauf zu warten, bis er im großen Nichts ertrank. Trotz seiner Furcht, die dafür sorgte, dass seine Arme und Beine sich so schwer anfühlten wie Blei, musste er unbedingt aufstehen.

Aufstehen und sich auf die Suche nach seinem Licht machen.

Und so nahm er all seine Kraft zusammen, um sich zusammenzureißen und zuerst so gut es ging seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen, bevor er sich dann im Bett aufsetzte. Es klappte zwar nicht auf Anhieb, weil seine Arme zu sehr zitterten, doch er hielt mit zusammengebissenen Zähnen eisern durch und nach einigen Versuchen gelang es ihm endlich.

Nun kam der nächste Schritt: das eigentliche Aufstehen. Jinshi holte tief Luft und drehte den Kopf zur Seite...

Und erstarrte wieder auf der Stelle.

Direkt neben seinem Bett befand sich etwas auf dem Boden. Etwas Dünnes, Flaches und Rechteckiges…

Er blinzelte einige Male vor Verwunderung und verengte dann die Augen, um in der Finsternis besser sehen zu können. 

Und auf jenem Ding lag etwas. Nein, besser gesagt jemand… eine kleine, zierliche Gestalt, die er überall identifizieren würde!

„Maomao...", hauchte Jinshi und es war so, als wäre ihm eine tonnenschwere Last vom Herzen gefallen. Er war also doch nie allein gewesen! Die ganze Zeit war sie in seiner Nähe und er hatte keine Ahnung gehabt! Jinshi war so erleichtert, dass er beinahe losgelacht hätte.

Trotz seines leichten Schwindelgefühls beugte er seinen Oberkörper ein wenig nach unten, um sie sich ein wenig genauer anzusehen. Maomao lag zusammengerollt auf etwas, was wohl eine Strohmatte zu sein schien, und schlief, soweit er den regelmäßigen Bewegungen ihres Brustkorbes entnehmen konnte. Einige Tränen flossen Jinshis Wangen herab. Sie war bei ihm. Alles war gut. Die Dunkelheit würde ihn nicht verschlingen. 

Und noch bevor ihm so richtig bewusst werden konnte, was er da eigentlich tat, hatte er bereits die Hand in ihre Richtung ausgestreckt, es jedoch glücklicherweise noch rechtzeitig bemerkt, bevor er das Gleichgewicht verlieren und aus dem Bett fallen konnte.

Jinshi schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Trotz seiner immensen Erleichterung weigerten sich die Kälte und die Angst beharrlich, ihn endgültig zu verlassen. Er brauchte Maomaos Wärme immer noch.

Und so erhob er sich auf leicht unsicheren Beinen langsam aus dem Bett und schaffte es, sich dann ganz vorsichtig und so leise wie er nur konnte, neben die Apothekerin auf den Boden zu knien. Als dies vollbracht war, beugte er sich nach vorn und ergriff schließlich eine ihrer Hände, diese sanft drückend und sich schnell beruhigend, als er die ersehnte Wärme spürte, die von ihrer Handfläche ausging. Welch ein Kontrast zu seiner eigenen kühlen Haut!

Maomaos Hände waren so klein, dass sie beinahe alle beide in eine von seinen hineingepasst hätten, doch der Trost, den sie ihm schenkten, war einfach unvergleichlich. Ganz zärtlich strich er mit dem Daumen über ihre dünnen Finger, darauf Acht gebend, sie nicht aufzuwecken, da er sich bereits ausmalen konnte, wie erschöpft sie sein musste nach all dem, was am Vortag vorgefallen war. Sie brauchte ihren Schlaf, auch wenn es ihm ehrlich gesagt ziemlich missfiel, sie auf dem harten Boden schlafen zu sehen.

Und doch konnte er nicht das Wimmern unterdrücken, welches ab und zu immer noch seiner Kehle entfuhr, als sei selbst das Halten ihrer Hand immer noch nicht genug.

Nach einigen Minuten kam es schließlich, wie es kommen musste: die Apothekerin begann sich zu regen, offenbar im Schlaf auf die Laute reagierend, die er ausstieß, und rieb sich mit der freien Hand die Augen, bevor sie sie aufschlug.

Dann blinzelte sie einige Male, bestimmt nicht sofort begreifend, wo sie war, und drehte dann verschlafen den Kopf, um auf ihre andere Hand zu blicken, die er immer noch hielt.

Jinshi zog die Augenbrauen zusammen. Oh nein, das hatte er doch nicht gewollt…

Währenddessen war Maomao endlich klargeworden, was vor sich ging, und sie setzte sich auf der Stelle auf und drehte sich zu ihm.

„Eure Exzellenz? Was ist denn los?"

Sie stand auf.

Immer noch vor ihr kniend, ließ Jinshi ihre Hand los, zögerte einen Augenblick lang und schlang schließlich erneut seine Arme um sie, diesmal um ihre Taille.

„Maomao... tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe... aber ich hatte solche Angst... und mir ist so kalt..." 

Jene Worte ausstoßend, drückte er seinen Kopf an ihre Brust.

Maomao sagte eine ganze Weile lang nichts, doch ihrem fassungslosen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien sie kaum glauben zu können, was sie da gerade gehört hatte.

Notes:

Hier wurde ich ein wenig von einer Zeile aus einem spanischen Lied inspiriert, das ich sehr mag („Jueves" von La oreja de van Gogh):
„Yo aún no te conozco y ya te echaba de menos." („Ich kenne dich noch nicht und ich habe dich bereits vermisst.")
Ich fand es immer so schön.

Chapter 62: Amnesie, Teil 5: Was passiert bloß mit ihm?! (1)

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Es war nicht einmal zwei Stunden her, seit Maomao es nach ewigem Hin- und Herwälzen und jeder Menge quälender Gedanken endlich mit großer Mühe geschafft hatte, einzuschlafen, daher war sie leicht benommen, als sie so unerwartet aus dem Schlaf gerissen wurde.

Ohne Nachzudenken führte sie sich die Hand zum Gesicht und begann, sich die Augen zu reiben, danach langsam ihre schweren Lider öffnend. In ihren Schläfen pochte ein leichter Schmerz. Wahrscheinlich war es der Erschöpfung zuzuschreiben.

Die Dunkelheit verriet ihr, dass es immer noch tief in der Nacht sein musste. Noch kein Morgengrauen in Sicht. Sie fühlte sich, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen.

Die Apothekerin brauchte ein paar Sekunden, um sich zu erinnern, wo sie überhaupt war. Ach ja, sie befand sich in Jinshis Schlafkammer und lag auf einer Strohmatte, die Gaoshun freundlicherweise für sie hergeholt hatte, nachdem sie ihm erklärt hatte, dass sie den jungen Herrn nach seiner Panikattacke nicht alleine lassen konnte und in seiner Nähe bleiben musste. Für alle Fälle.

Dazu hatte ihr der Assistent außerdem eine Tasche mit mehreren Sätzen neuer Kleidung, die Bediensteten normalerweise zur Verfügung gestellt wurde, gebracht, darunter auch Schlafbekleidung und Unterwäsche, und noch Alltagsgegenständen wie einer Zahnbürste, zum Beispiel. All dies, ohne dass sie auch nur ein Wort hätte sagen müssen. Es erstaunte sie immer wieder, wie aufmerksam der Mann war und sie war ihm wirklich äußerst dankbar.

Bloß ihre Kräuter und Utensilien lagen immer noch im Schuppen der Jade-Residenz, aber da sie Gaoshun nicht noch mehr behelligen wollte, beschloss sie, diese irgendwann später selbst holen zu gehen.

Maomao blinzelte einige Male und begriff auf einmal, dass etwas ihre andere Hand festhielt.

„Maomao..."

Und da war es wieder, jenes leise Wimmern, welches sie glaubte, bereits im Schlaf vernommen zu haben... Moment mal!

Immer noch leicht verschlafen drehte sie den Kopf und war auf einen Schlag hellwach. Also war es doch kein Traum gewesen! Jinshi rief tatsächlich nach ihr! Und nicht nur das, er stand sogar neben ihr auf den Knien und hielt ihre Hand. Irgendetwas musste vorgefallen sein!

Sie setzte sich rasch auf und blickte ihm ins Gesicht. Soweit sie im Dunkeln erkennen konnte, waren seine Augenbrauen zusammengezogen und er sah unruhig aus.

„Eure Exzellenz? Was ist denn los?"

„Hm, vielleicht sind seine Schmerzen wieder stärker geworden", dachte sie, leicht besorgt die Stirn runzelnd. „Oder er muss zum Abort."

Sie stand auf, um ihn im Falle des Letzteren zu begleiten. Zwar hatte Jinshi glücklicherweise immer noch keine Probleme beim Laufen, doch Maomao und Suiren hatten trotzdem beschlossen, ihn die folgenden paar Tage besser nicht ohne Begleitung zum Abort gehen zu lassen, um zu verhindern, dass er sich in seiner derzeitigen Verfassung unterwegs verirrte, vor allem nachts. Daher ging eine von ihnen, meistens Maomao, mit ihm und wartete dann draußen auf dem Korridor, bis er fertig war, um ihn wieder zu seinen Gemächern zurückzubringen.

Daran dachte sie, während sie rasch in ihre Schuhe schlüpfte. Doch was als Nächstes kommen würde, hatte sie keineswegs erwartet:

Anstatt einer Antwort spürte sie, wie er erneut die Arme um sie schlang und den Kopf an ihre Brust drückte.

„Maomao... tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe... aber ich hatte solche Angst... und mir ist so kalt..."

Von seinem Körper ging ein Zittern aus, welches sich angesichts seiner festen Umarmung sogar ein wenig auf den ihren übertrug. Ihr Magen zog sich zusammen.

Die Apothekerin riss die Augen auf, so verblüfft von jenen Worten, dass sie eine ganze Weile lang kein Wort herausbringen konnte.

***

Jinshi währenddessen kniete immer noch vor Maomao und hielt sie mit beiden Armen umschlungen, als würde er sie verzweifelt um etwas anflehen. Sein Herzschlag war wieder beschleunigt.

„Angst?”, sprach sie endlich, nachdem sie sich erneut gefasst und ihre Stimme wiedererlangt hatte. „Hattet Ihr einen Albtraum, Herr?” Sie strich ihm sanft über die Wange und legte ihm die Hand dann prompt auf die Stirn, um seine Temperatur zu prüfen, als sei es bereits zu so etwas wie einem Reflex geworden. Verständlich, denn falls sich seine Wunde trotz aller Vorsichtsmaßnahmen entzünden sollte, wäre dies äußerst fatal.

Zwar war seine Temperatur ganz leicht erhöht, aber zum Glück immer noch kein Fieber. Maomao gestattete es sich, tief durchzuatmen. 

Sie konnte Feuchtigkeit an ihrer Kleidung spüren, wo diese mit Jinshis Gesicht in Berührung gekommen war.

„Schweiß? Tränen? Hat er etwa wieder geweint?"

„N-Nein... aber die Dunkelheit ist so gruselig... dass es sich fast wie einer angefühlt hat..." Er schniefte wie ein kleines Kind, welches sich nachts vor Gespenstern fürchtete und sich wimmernd unter der Decke verkroch, um sich vor ihnen zu verstecken.

Maomao wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte, daher beschränkte sie sich erstmal darauf, sachte mit den Fingern über seine Schultern zu streicheln, um zu prüfen, ob diese noch wehtaten. Der junge Herr zuckte bei ihrer Berührung nicht zusammen.

„Wenigstens etwas...", dachte sie und fühlte für einen Augenblick erneut heiße Wut in sich aufsteigen, als sie sich daran erinnerte, wie Jinshi vom Kaiser behandelt worden war. Die gleiche Art von Wut, die sie überkam, wenn sie an die eine Zofe von Gemahlin Lihua zurückdachte, die ihre Ohrfeige bestimmt für den Rest ihres Lebens nicht vergessen würde.

Obwohl, nein. Diesmal war zu ihrer eigenen Überraschung ihr Zorn noch stärker. Deutlich stärker. Sie würde nicht zulassen, dass ihm jemand wieder so wehtat. Ganz bestimmt nicht.

„Hä? Was denke ich mir da eigentlich?”

Leicht verwirrt von ihren eigenen ungewohnten Gedanken, schüttelte Maomao den Kopf. Für so etwas hatte sie aktuell keine Zeit.

„Ich habe mich so hilflos und verloren gefühlt...", fuhr er indessen fort und seine Stimme brach, als würde er jeden Moment anfangen zu schluchzen, während er seine Wange noch enger an die Apothekerin drückte.

„Psst. Bitte nicht weinen!", beeilte Maomao sich, ihn zu beruhigen, und begann, seine Schulterblätter zu massieren, während sie sich Mühe gab, sich einfallen zu lassen, was sie als Nächstes tun sollte. Diese Worte, die er gerade von sich gegeben hatte... das war garantiert nicht der Jinshi, den sie kannte! Zwar hatte er sich vor dem Unfall auch ab und zu wie ein Kind benommen, aber... aber doch nicht so! Nur ein einziges Mal hatte sie ihn so verletzlich gesehen, und zwar, als sie eines Nachts auf seinem Schoß gelandet war und er sich von hinten an sie geklammert und an ihrer Schulter geweint hatte.

Aber damals war er betrunken gewesen, also war sie sich nicht sicher, ob das wirklich zählte. 

Sie verurteilte ihn selbstverständlich nicht für seine Angst, schließlich war er, wie bereits gesagt, auch nur ein Mensch, aber das war das allererste Mal, dass sie ihn derart verängstigt erlebte und er seine Furcht und überhaupt seine Gefühle so direkt in Worte fasste.

„Ist das etwa eine Persönlichkeitsveränderung, ausgelöst durch seine Gehirnerschütterung? Ich muss ihn unbedingt erneut untersuchen!"

Es bereitete ihr große Sorgen. Denn wenn es tatsächlich so war, könnte es bedeuten, dass noch andere, möglicherweise sogar schwerwiegendere Symptome auftreten könnten. Das konnte keiner wissen. 

„Wie geht es Eurem Kopf? Sind die Schmerzen schlimmer geworden?"

„Nein... es tut zwar weh, ist aber nicht so schlimm." 

Sein Tonfall war wieder ruhiger geworden. Bestimmt tat ihm ihre Massage gut. Welch eine Erleichterung.

„Gut, dann werde ich Euch erstmal kein Schmerzmittel mehr geben. Bitte sagt mir Bescheid, falls es doch schlimmer werden sollte.”

Sie hatte nicht mehr viel davon übrig und wollte außerdem mögliche Nebenwirkungen vermeiden, da sie ihm am Vortag bereits vier Pillen davon gegeben hatte. In seinem aktuellen Zustand sollte man lieber vorsichtiger sein, fand sie.

Jinshi sagte nichts, sondern schloss bloß die Augen und rieb ihr mit einer Hand sanft über den Rücken, sich immer noch an sie drückend. Maomao beschloss, dies als ein „Ja" aufzufassen.

Sie machte weiter.

„Wie ist es mit Euren Augen? Könnt Ihr gut sehen?"

Er öffnete diese wieder, als er die Frage vernahm, und blickte zu ihr auf.

„Ähm, ja, ich denke schon. Soweit man das in dieser Dunkelheit sagen kann." 

Maomao überlegte kurz und klopfte ihm kurz auf die Oberarme.

„Könnt Ihr bitte aufstehen, Herr?", bat sie, vorsichtig an seinen Armen ziehend, um ihre Bitte zu unterstreichen. Jinshi öffnete den Mund. „Macht Euch keine Sorgen, ich gehe nirgendwohin", fügte sie rasch hinzu, bevor er etwas entgegnen konnte. „Ich möchte bloß mit Euch näher ans Fenster gehen, um mir Eure Augen genauer anzusehen. In unserer jetzigen Position sehe ich leider nicht viel."

„Ah, ist gut."

Sich am Bett hinter sich festhaltend, stemmte er sich mit etwas Mühe auf die Füße. Maomao hielt ihn währenddessen an der Taille fest, obwohl sie sich sehr wohl bewusst war, dass sie aufgrund ihrer Größe und geringen Körperkraft keine große Stütze für ihn war und ihn wohl kaum auffangen könnte, falls er fallen sollte. Und doch tat sie es trotzdem.

Sobald er stand, beugte Jinshi sich nach unten und rieb sich kurz die Beine. Bestimmt kribbelten sie ein wenig.

Als er sich wieder aufgerichtet hatte, griff die Apothekerin auf einmal nach seinem Schlafgewand und richtete es, um den Teil seiner Brust zu bedecken, der bis dahin entblößt gewesen war.

„Maomao..." Jinshis Wangen liefen leicht rosa an und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Ihr sagtet, Euch wäre kalt", murmelte sie bloß als Erklärung und griff dann nach seinem Handgelenk. „Und jetzt kommt bitte."

Jinshi schenkte ihr ein liebevolles Lächeln und ließ sich von ihr widerstandslos die wenigen Schritte zum Fenster führen. Von seiner Angst war, so wie es schien, nichts mehr geblieben, als sei sie überhaupt nie dagewesen. Und dies war ganz allein Maomaos Gegenwart und Berührungen zu verdanken.

Die Apothekerin positionierte Jinshi vor dem Fenster, sodass das wenige Licht der mondlosen Nacht direkt auf ihn fiel. Dann stellte sie sich ihm gegenüber und bat ihn, sich zu ihr zu beugen. Er tat wie geheißen und sie strich einige seiner nach vorn fallenden Haarsträhnen hinter seine Ohren und fasste ihn mit beiden Händen am Gesicht, es festhaltend.

Jinshi wurde knallrot und schluckte schwer, während sie ihm mit einem höchst konzentrierten Blick tief in die Augen sah. Weder sie noch er hatten bemerkt, dass sich seine großen Hände wie von selbst auf ihre schmalen Schultern gelegt hatten.

Mit leicht geöffnetem Mund starrte er sie wie hypnotisiert an, als würde die Welt um sie herum nicht existieren. Falls er seine Identität nicht bereits vergessen hätte, hätte er dies möglicherweise in genau diesem Moment getan.

Aus der Ferne wirkte die Silhouette der beiden beinahe wie die eines jungen Liebespaares, welches kurz davor war, sich zu küssen.

Nach einer Weile setzte Maomao schließlich einen frustrierten Gesichtsausdruck auf und seufzte.

„Nein, es nützt nichts. Es ist immer noch zu dunkel, ich kann nicht alles deutlich erkennen."

„Ah...", machte der immer noch rote Jinshi bloß, als er wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehrte. 

Die Apothekerin streckte sich ein wenig, um mit dem Ärmel ihrer Schlafbekleidung vorsichtig ein paar letzte Tränenspuren von seinen Wangen zu wischen, welche sie während ihrer Untersuchung entdeckt hatte, und ließ dann sein Gesicht los, während er seine Hände noch auf ihren Schultern behielt.

„Ich brauche mehr Licht...", murmelte sie vor sich hin.

In Jinshis Schlafkammer befanden sich zwar einige Laternen, doch sie hatte sie alle ohne Nachzudenken gelöscht, bevor sie sich auf ihre Matte gelegt hatte, was sie nun zutiefst bereute.

Daraufhin fielen ihr wieder die Kerzen ein, die sie am Vorabend vorbereitet, jedoch aufgrund der ganzen Geschehnisse vollkommen vergessen hatte. Sie lagen auf dem Tisch neben seinem Bett, zusammen mit der Wasserkaraffe und der Medizin.

Sie begab sich dorthin und nahm eine davon in die Hand, während sie sich die zweite nachdenklich zum Kinn führte. Jinshi folgte ihr schweigend und legte ihr erneut die Hand auf die Schulter, sich mit verengten Augen kurz umsehend, als prüfe er, ob in der Nähe irgendetwas Gefährliches lauerte. Etwas, was nur er sehen konnte.

Zumindest einige der im Korridor hängenden Laternen müssten jetzt brennen, also nahm die Apothekerin an, dass sie kurz hinlaufen und mit einer davon ihre Kerze anzünden sollte. Und diese dann für den Rest der Nacht brennen lassen, denn wer wusste schon, ob sie selbst oder Jinshi sie noch brauchen könnten.

Jedoch...

Sie drehte sich zu Jinshi um und schaute leicht stirnrunzelnd zu ihm auf. Er neigte ein wenig den Kopf zur Seite und schenkte ihr, erneut ein kleines Lächeln aufsetzend, einen fragenden Blick, soweit sie das in der Dunkelheit richtig erkennen konnte.

„Er könnte wieder in Panik geraten, wenn ich jetzt den Raum verlasse", dachte sie. „Tagsüber ist es meistens kein Problem, ihn für einen kurzen Zeitraum allein zu lassen, ich habe mich bereits selbst davon überzeugt, aber jetzt... möchte ich lieber kein Risiko eingehen. Gut, dann bleibt mir keine andere Wahl. Ich muss sowieso noch genauer überprüfen, ob er beim Gehen schwankt oder stolpert, also trifft sich das eigentlich ganz gut.”

Maomao seufzte und nahm seine Hand von ihrer Schulter.

„Kommt mit, Herr, wir gehen kurz in den Korridor, um diese Kerze hier anzuzünden, damit ich genug Licht habe, um Eure Augen zu untersuchen."

„In Ordnung."

Mit ihm an der Hand wollte Maomao bereits loslaufen, hielt dann jedoch plötzlich inne und runzelte noch stärker die Stirn.

„Maomao? Was ist denn los?"

„Eure Hand... ist eiskalt..."

Nun, da sie wieder aus ihren Gedanken aufgetaucht war, fiel es ihr erst so richtig auf. Dermaßen kalte Hände in einer solch warmen Sommernacht zu haben und überhaupt zu frieren... war definitiv nicht normal. Maomao wusste nicht genau, was sie davon halten sollte.

„Und deine ist so schön warm...", meinte er sanft.

Ohne seine Worte mit einer Antwort zu würdigen, nahm die Apothekerin seine Hand in ihre beiden und rieb sie, um wenigstens ein bisschen Wärme hineinzubekommen. Dasselbe tat sie mit seiner zweiten.

„Das alles gefällt mir überhaupt nicht! Ich muss mit Paps sprechen. So bald wie möglich."

Sie nahm sich vor, gleich am nächsten Tag einen Brief an ihren Adoptivvater im inneren Palast zu verfassen und ihn um Rat zu fragen und möglicherweise zu bitten, herzukommen und selbst einen Blick auf Jinshi zu werfen. 

Jinshi währenddessen öffnete zuerst vor Erstaunen den Mund und errötete erneut, schloss dann jedoch einfach die Augen und setzte ein glückseliges Lächeln auf, ihre Berührungen deutlich genießend. 

„Es ist wirklich finster heute Nacht...", sagte er mit einem leisen Seufzer. „Ich glaubte bereits, die Dunkelheit würde mich verschlucken, so wie die in meinem Kopf es bereits getan hat..."

„Aber was zur Hölle redet er denn da?", dachte Maomao entsetzt und hob beide Augenbrauen. „Das gibt's doch nicht! Hat er etwa Halluzinationen?!"

Sie spürte eine Enge in der Brust, die ihr das Atmen erschwerte, bemühte sich jedoch trotzdem, immer noch so gefasst zu wirken wie immer.

„Die Dunkelheit wird Euch nichts tun, Herr. Das kann sie gar nicht."

Die Apothekerin beschloss, so zu tun, als sei an seinen Worten nichts Ungewöhnliches gewesen, und erstmal mitzuspielen.

„Haha, ja, ich weiß. Weil du es nicht zulassen wirst, stimmt's?"

„Stimmt...", brachte sie einige Sekunden später mit leicht gepresster Stimme hervor, ohne zu wissen, welche Antwort sie ihm sonst geben sollte. Sie wusste es wirklich nicht.  

Und außerdem...

Maomao gab es nicht gerne zu, nicht einmal vor sich selbst... doch ihn so reden zu hören...

...machte ihr ernsthaft Angst... vor dem, was noch kommen könnte.

Unbewusst drückte sie seine Hand, die sie immer noch festhielt, etwas fester.

„Bist du in Ordnung?", erkundigte sich Jinshi besorgt und schlug erneut die Augen auf, als spüre er all die schrecklichen Gefühle, die sie (zum wiederholten Male) quälten. 

Und bevor sie es schaffte, ihm eine Antwort zu geben, beugte er sich etwas nach unten, legte seine andere Hand auf ihren Kopf und zauste ihr zärtlich durchs Haar.

Notes:

Dieses und das nächste Kapitel waren eigentlich als ein einziges geplant gewesen, aber als ich sah, dass es zu lang werden würde, hab ich beschlossen, es aufzuteilen. Nur zur Info, falls ihr euch über das (1) wundert.

Um ehrlich zu sein, schreib ich lieber kürzere Kapitel (max. 3000 Wörter) und lade dann häufiger hoch anstatt längere mit seltenerem Hochladen, da ich meine Geschichten in zwei Sprachen parallel veröffentliche. Da sind kürzere Kapitel viel einfacher zu handhaben.

Aber wenn ihr meine anderen Geschichten gelesen habt, wisst ihr das vielleicht schon.

Meine ersten drei Kapitel sind zugegebenermaßen ziemlich lang geworden, aber das war, weil ich beim Schreiben plötzliche Energieschübe hatte und mich nicht bremsen konnte.
Kann wieder passieren, wer weiß :)

Chapter 63: Amnesie, Teil 6: Was passiert bloß mit ihm?! (2)

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

„Puh. Alles gut. Mit Euren Augen ist alles in Ordnung."

Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung ließ Maomao ihre vorhin noch angespannten Schultern sinken und streckte sich, um die brennende Kerze in ihrer Hand auf den Tisch zu stellen. Etwas weiter weg von all den anderen Gegenständen, die dort lagen, damit sie nicht noch aus Versehen umgestoßen wurde und einen Brand auslöste.

Leicht flackernd tauchte die Kerze das geräumige Zimmer in ihr schwaches Licht und ließ es zumindest ein kleines bisschen heller erscheinen, dabei undeutliche Schatten auf die Wand hinter sich werfend.

„Das freut mich zu hören."

Jinshi, dessen Hände während der Untersuchung mal wieder auf Maomaos Schultern geruht hatten, lächelte sie an, als befänden sie sich gerade bei einer gemütlichen Teerunde nach einem anstrengenden Arbeitstag, anstatt mitten in der Nacht nebeneinander auf seinem Bett zu sitzen, wo sie ihn auf mögliche neue Symptome seiner Gehirnerschütterung prüfte, die ihm sein Gedächtnis geraubt hatte. 

Der sanfte Blick seiner wunderschönen mandelförmigen violetten Augen klebte förmlich an der Apothekerin, während sie noch einmal kurz nachzählte, wie viele Pillen vom Schmerzmittel ihr noch blieben, und sich dann wieder zu ihm zurückdrehte.

Genau noch rechtzeitig, um ihn am Handgelenk zu packen, als sie sah, was er gerade im Begriff war zu tun.

„Ihr dürft nicht an Eurer Wunde kratzen, Herr", ermahnte sie ihn in einem strengen Tonfall und zog seinen Arm nach unten, weg von seiner Stirn, danach seine Hand ergreifend, um ihre Worte zu betonen. „Sonst könnte sie wieder aufgehen und sich entzünden."

„Aber sie juckt...", protestierte er, versuchte jedoch auch nicht, seine Hand ihrem Griff zu entziehen.

Maomao blieb standhaft.

„Trotzdem. Eine Entzündung kann sehr gefährlich werden, also ertragt es bitte, ja?"

Jinshi schmollte für einen Augenblick (was sie ein wenig an sein früheres Selbst erinnerte), setzte dann aber ein erneutes Lächeln auf und nahm seine andere Hand von ihrer Schulter, um stattdessen seinen Kopf darauf zu legen, seine Stirn in ihrer Halsbeuge zu positionieren und die Augen zu schließen.

„Gut, dann nutze ich eben deine Wärme als Mittel dagegen."

„Vorsichtig, Herr. Übt nicht zu viel Druck auf Eure Wunde aus. Und außerdem hilft Wärme gar nicht gegen Juckreiz, sondern eher Kälte."

„Deine hilft sehr wohl. Sie hilft einfach gegen alles."

„Da habe ich so meine Zweifel", dachte sie mit einem leisen Schnauben, sprach es jedoch nicht aus.

Nun, apropos Wärme: seine Hände waren jedenfalls immer noch ziemlich kalt, wie Maomao feststellte, daher begann sie diejenige, die sie gerade hielt, zum wiederholten Male zu reiben. 

„Mmh", war alles, was Jinshi dazu zu sagen hatte, während er seine andere Hand auf die Taille der Apothekerin legte. Und doch war dieser eine Laut genug, um auszudrücken, wie sehr er es genoss.

Nach einer Weile nahm der junge Herr seinen Kopf wieder von ihrer Schulter und schenkte ihr einen Blick voller tiefer und ehrlicher Zuneigung. Einen Blick, den sie, die immer noch auf seine Hand konzentriert war, nicht sah.

Nicht sah, aber sehr wohl spürte.

Er war so viel größer und stärker als sie, schoss ihr unweigerlich durch den Kopf... und doch verhielt er sich gerade eher wie ein kleiner Junge als ein erwachsener Mann. Ein Junge, der sich irgendwo in einem tiefen Wald verirrt hatte und nun nach dem vertrauten Weg nach Hause suchte, diesen jedoch nicht finden konnte. Die Apothekerin wusste selbst nicht, wie sie auf jenen Vergleich kam, aber das war genau das Bild, welches sie vor ihrem inneren Auge sah. 

Von dem wunderschönen „Eunuchen", dessen honigsüßes, falsches Lächeln so gut wie jedes Herz zum Schmelzen bringen konnte, war jedenfalls nichts geblieben. Keine Spur. Nun enthielten sowohl seine Blicke als auch sein Lächeln nichts als Unschuld und Aufrichtigkeit, was ihn mehrere Jahre jünger erscheinen ließ. Ein ziemlich ungewohnter Anblick, musste sie zugeben.

Mit diesen Gedanken im Kopf nahm Maomao seine zweite Hand von ihrer Taille, um sie ebenfalls zu reiben.

„Warum sind sie bloß so kalt?", murmelte sie stirnrunzelnd. „Habt Ihr etwa Probleme mit Eurer Durchblutung... oder ist es noch Eurer gestrigen Panikattacke geschuldet? Nach so vielen Stunden?”

„Vielleicht stammt die Kälte ja von diesem schwarzen Loch, das meine Erinnerungen verschlungen hat", meinte Jinshi in einem beiläufigen Tonfall.

Maomao biss die Zähne zusammen. Seine Worte legten eine weitere Kette der Furcht und Besorgnis um ihren Brustkorb und sie verspürte den Wunsch, ihn anzuschreien, dass er gefälligst keinen solchen dummen Unsinn reden sollte. Doch sie tat es nicht. Natürlich nicht. Wie könnte sie ihn in seinem labilen Zustand noch anschreien? Er hatte bereits genug durchgemacht.

„Was soll ich tun?", überlegte sie, im Versuch, sich von all den überwältigenden Emotionen, welche weder ihr noch Jinshi etwas brachten, wenigstens ein bisschen abzulenken. „Oder sollte ich besser erstmal gar nichts unternehmen und einfach mal schauen, was der Morgen bringt? Hm..."

Sich zum wiederholten Male schmerzlich ihres eigenen Mangels an Erfahrung bewusst werdend, wünschte sie, ihr Vater wäre bei ihr, um sie anzuleiten. Aber im Moment befand er sich nun einmal nicht an ihrer Seite, sondern im inneren Palast, also blieb ihr keine andere Wahl als sich zusammenzureißen und sich so gut es ging auf ihre eigenen Fähigkeiten zu verlassen. So wie immer. Jedoch fiel es ihr dieses Mal ziemlich schwer. Schwerer als je zuvor, um genau zu sein.

Doch sie durfte sich ihre Unsicherheit auf keinen Fall anmerken lassen, denn die anderen verließen sich auf sie und vertrauten ihr. Gaoshun, Suiren, der Kaiser... und auch Jinshi selbst. Also musste sie alles tun, was in ihrer Macht stand.

Obwohl sie immer noch das Gefühl nicht losließ, dass sie all jenes Vertrauen überhaupt nicht verdient hatte.

Währenddessen hatte Jinshi das Kinn auf ihrem Kopf abgelegt und gähnte, sich mit der freien Hand die Augen reibend.

„Er ist erschöpft", dachte sie. „Kein Wunder."

Maomao schwieg noch einige Sekunden lang und zupfte dann an seinem Ärmel, bevor er seiner Müdigkeit erliegen und noch in seiner derzeitigen Position einschlafen konnte.

„Eure Exzellenz?"

„Hm?" Seine Stimme klang bereits leicht schläfrig, so, als ob er Mühe hätte, wach zu bleiben und seine Augen offen zu halten.

„Ich denke, es ist besser, wenn Ihr Euch wieder schlafen legen würdet, schließlich ist es noch Nacht und Ihr seid ganz offensichtlich müde, mal ganz zu schweigen davon, dass Ihr nach dem Unfall Ruhe braucht. Und ich werde…”

Die Apothekerin ließ Jinshi los und wollte sich bereits vom Bett erheben, damit er sich hinlegen konnte, doch bevor sie sich entsann, wurde sie bereits am Handgelenk gepackt und dazu gebracht, sich erneut hinzusetzen.

Ein leiser Laut der Überraschung entfuhr ihren Lippen und sie riss die Augen auf, als sie Jinshis Gesichtsausdruck bemerkte. Er sah so erschrocken aus, dass sie unwillkürlich schluckte, sich fragend, was denn mit ihm los war. Ihrer Meinung nach hatte sie doch überhaupt nichts gesagt, was ihm hätte Angst machen können, nicht wahr? Oder war mal wieder die Dunkelheit schuld, die er so oft erwähnte?

Aus Jinshis Augen liefen Tränen und er hatte erneut angefangen zu zittern. Seine Schläfrigkeit und Ruhe von vorhin waren komplett verschwunden.

„Maomao..."

„Was... Was ist denn los, Herr? Wieso weint Ihr?"

„W-Willst du etwa zu deiner Strohmatte zurückkehren? Bitte nicht, Maomao! B-Bleib bei mir, ich flehe dich an!”

„Aber ich..." Die Apothekerin wusste nicht einmal, wie sie ihren Satz beenden sollte. Nein, sie hatte nicht vor, sich wieder hinzulegen, aber selbst wenn, würde sie doch trotzdem noch im selben Raum bleiben, nicht wahr? Wo lag also demnach das Problem?

„Ich k-kann diese Dunkelheit nicht ohne dich ertragen! Die Kälte ja, aber nicht die Dunkelheit! Dass du einfach nur im selben Raum bist, ist nicht genug! I-Ich muss dich sehen und deine Nähe spüren! Bitte! Du bist doch mein Licht!”

Er hatte nun auch ihr zweites Handgelenk gepackt. Der Griff seiner immer noch kalten, langen Finger war so fest, dass sie sich nicht befreien könnte, aber sie merkte, dass er trotz allem darauf Acht gab, ihr nicht wehzutun. Sogar jetzt. 

„Herr..."

„Dass er Angst hat, hat er mir schon gesagt, aber ich hätte nicht gedacht, dass seine Furcht dermaßen tief sitzt, dass er bei der bloßen Aufforderung, zurück ins Bett zu gehen, so wird", dachte Maomao und zog die Augenbrauen zusammen. „Oh nein, ich will nicht, dass er noch eine Panikattacke bekommt!" Außerdem fragte sie sich, was sein letzter Satz wohl zu bedeuten hatte, beschloss jedoch, diesen erstmal nicht ernst zu nehmen, da dies nicht das allererste seltsame Zeug war, das er von sich gab, und sie sich um wichtigere Dinge kümmern musste.

Sie wünschte sich, noch etwas vom Beruhigungstee, den Suiren auf ihre Bitte hin aufgebrüht hatte, da zu haben, doch der Rest, der noch geblieben war, stand bereits seit Stunden im Becher herum und würde nicht mehr richtig wirken (und auch noch scheußlich schmecken).

„Bitte!", flehte Jinshi indessen verzweifelt. „Oh, ich weiß! Ich werde mich einfach zu dir auf deine Matte legen!"

„Nichts da!" Sie würde ihn auf keinen Fall auf dem harten Boden schlafen lassen, vor allem nicht in seinem Zustand.

Jinshis Pupillen schrumpften vor Schock, als er ihre Ablehnung hörte, die es deutlich machte, dass sie sich unter keinen Umständen umstimmen lassen würde. „Bitte, Maomao...", begann er dann nach einem Augenblick des Schweigens zu wimmern, während sein gesamter Oberkörper von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde. Sein Wimmern war leise und doch hallte es unfassbar laut durch den großen Raum in der Finsternis der Nacht. Oder zumindest klang es in Maomaos Ohren so.

Maomao musste zugeben, dass sie noch nie zuvor einen solch schmerzhaften Stich im Herzen beim Anblick eines weinenden Menschen verspürt hatte. Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.

Sie tat einen tiefen Atemzug, während sie sich dazu bereitmachte, ihn erneut zu trösten. Irgendwie schaffte sie es, eine ihrer Hände auf sein Knie zu legen und begann, es leicht zu streicheln. Hoffentlich würden seine Kopfschmerzen sich nicht erneut verschlimmern, sie wollte ihm wirklich nicht zu viel Schmerzmittel geben.

„Bitte beruhigt Euch, Herr." Die Apothekerin tat, was sie konnte, um ihre Stimme ruhig, aber dennoch fest klingen zu lassen. Jinshi vergoss immer noch unverändert Tränen, sodass sie sich nicht ganz sicher war, ob er überhaupt richtig zuhörte, doch sie fuhr trotzdem fort. „Ich habe nicht vor, mich wieder schlafen zu legen, sondern werde einfach weiterhin hier auf Eurem Bett sitzen, Eure Hand halten und über Euch wachen, während Ihr schlaft, so wie letzten Abend auch, als Ihr den Tee getrunken habt und danach eingeschlafen seid. Wäre das für Euch in Ordnung?"

Selbstverständlich würde sie in dieser Nacht nicht mehr schlafen. Wie könnte sie ihn auch aus den Augen lassen, wenn sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sich sein Zustand bis zum Morgen noch verändern könnte? Nach all dem, was bereits passiert war, könnte alles möglich sein. Im guten wie im schlechten Sinne.

„Ich glaube nicht, dass er etwas daran auszusetzen haben wird", dachte sie.

Doch zu ihrer Verwunderung...

Sobald er ihre Worte vernahm, schaute der junge Herr sie an, als ob er nicht glauben könne, was sie da gerade gesagt hatte, und schüttelte so heftig den Kopf, dass einige seiner Tränen durch die Luft flogen.

„Nein!"

Maomao war verwirrt. Was genau wollte er denn dann von ihr?

„Nein? Aber warum denn nicht?"

Er sah sie mit einer Mischung aus Verzweiflung und leichtem Ärger an.

„Warum? Das fragst du noch? Weil du auch deinen Schlaf brauchst, Maomao! Wie könnte ich es zulassen, dass du die ganze Nacht hier herumsitzt, während ich mich wieder schlafen lege? Du bist doch bestimmt auch erschöpft!" Er machte eine kurze Pause. „K-Komm einfach her und leg dich mit mir zusammen hin. Dieses Bett ist sowieso viel zu groß für mich allein!”

Auf einmal verstummte er jedoch, als er die Verblüffung auf dem Gesicht der jungen Frau bemerkte, wurde knallrot und begann, verzweifelt mit den Händen herumzuwedeln, endlich ihre Handgelenke loslassend.

„Entschuldige, i-ich weiß, wie sich das angehört hat! Aber ich werde dir nichts tun, Maomao, ich schwöre! Bitte glaub mir! Ich möchte dich bloß ganz nah bei mir haben! Und dass du bequem schlafen kannst!" 

Er weinte noch heftiger als zuvor und auch sein Körper bebte sogar noch stärker als vorher. 

Maomao erstarrte für einen Moment. Sie fühlte sich komplett entwaffnet, hatte keine Ahnung, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Das Einzige, was ihr einfiel, war, erneut nach seinem Gesicht zu greifen, es vorsichtig zu sich nach unten zu ziehen und nochmals behutsam mit ihrem Ärmel die Tränen wegzuwischen. Oder es zumindest zu versuchen, da immer neue herausströmten.

Auf einmal streckte Jinshi seine eigenen Arme aus und umschlang Maomao wieder einmal ganz fest, sie eng an sich heranziehend, als habe er nicht vor, sie jemals wieder gehen zu lassen. Sich so an sie klammernd, als würde er in einem endlos tiefen Ozean versinken und sie als sein persönliches Rettungsboot betrachten.

Die vollkommen überrumpelte Apothekerin fand sich an seine Brust gepresst und beinahe schon auf seinem Schoß sitzend vor und begann instinktiv, ein klein wenig zu zappeln. Nun, alte Gewohnheiten ließen sich eben nicht immer so schnell ablegen…

Sein Herz pochte wie verrückt direkt an ihrem Ohr, während sie eine seiner bebenden Hände auf ihrem Rücken spürte und die andere auf ihrem Hinterkopf, wo sie sich etwas unbeholfen in ihr leicht zerzaustes Haar grub.

„Es tut mir... so leid, Maomao...", brachte er zwischen Schluchzern hervor. „Bitte sei nicht sauer... aber i-ich habe wirklich schreckliche Angst... a-allein vom Gedanken, dass ich... dieser D-Dunkelheit wieder allein... gegenübertreten muss... wird mir schlecht..."  

Die in seinen Armen gefangene Maomao, die seine zittrigen Atemzüge deutlich spüren konnte, hatte sich inzwischen gefasst und erwiderte seine Umarmung nun, ihn bei den Hüften greifend.

„Ich bin nicht sauer, Herr."

Dies war die Wahrheit. Wäre er der „gewöhnliche" Jinshi gewesen, hätte sie sich selbstverständlich beschwert und alles getan, um sich zu befreien, aber in diesem Fall... konnte sie es nicht. Nein, überraschenderweise wollte sie es nicht einmal wirklich und es machte ihr auch gar nicht viel aus. Denn dieser Jinshi tat es nicht aus Spaß, nicht, um sie zu necken oder zu ärgern, sondern weil er sich ernsthaft fürchtete und gar nicht anders konnte. So viel war ihr klar, weshalb es ihr nicht einmal in den Sinn gekommen war, sauer auf ihn zu werden. Und außerdem war jene Furcht ihre Schuld. All sein derzeitiges Leiden war ihre Schuld. Wie könnte sie ihn demnach einfach so im Stich lassen? Unmöglich.

Und dazu noch musste sie nach einigem Nachdenken zugeben, dass er Recht hatte: eine schlaflose Nacht war tatsächlich keine gute Idee, denn im erschöpften Zustand würde sie sich wohl kaum anständig um ihn kümmern können. Schließlich war auch sie nur ein Mensch und verfügte über keine endlosen Energiereserven. Sicherlich hätte sie eine oder zwei Nächte ohne Schlaf ohne große Schwierigkeiten überstanden, aber was wäre mit den darauffolgenden? 

Sie legte ihre dünnen Arme so gut es ging um seinen breiten Rücken. 

„Psst… ganz ruhig... atmet... atmet einfach..."

Jinshi gehorchte und seine Atemzüge wurden etwas tiefer, auch wenn er immer noch nicht aufhören konnte zu schluchzen. Nach einigen Minuten lockerte er seinen Griff schließlich und begab sich in eine halb liegende, halb sitzende Position, um erneut seinen Kopf an ihre Brust zu drücken, so wie er es vorhin bereits getan hatte. So wie es aussah, versuchte er sich wohl zusätzlich selbst zu beruhigen, indem er ihrem Herzschlag lauschte.

Die Apothekerin bezweifelte, dass es ihm wirklich etwas bringen würde, da ihr Herz durch die Situation gerade ebenfalls ziemlich pochte, doch sie hielt ihn nicht auf. Stattdessen umschlang sie nun seinen Hals und zog ihn noch näher zu sich heran. Seine Tränen fingen zum wiederholten Male an, ihre Kleidung zu durchtränken, und tropften ihm dazu noch vom Kinn und auf ihren Schoß.

„Eure Exzellenz... psst, ist schon gut... ich werde bei Euch bleiben. So wie Ihr es wünscht."

Tja, so wie es aussah, hatte sie tatsächlich keine andere Wahl, als den Rest der Nacht in seinem Bett zu verbringen... Gut, dann war es eben so.

Daraufhin spürte sie, wie Jinshi seinen Kopf wieder hob und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Einen, der nichts mit dem schwachen vom vergangenen Abend gemein hatte.

„Danke! Ich d-danke dir, Maomao! Es tut mir so leid, d-dass ich dir solche Umstände bereite, wirklich!”

Maomao riss die Augen auf. Hatte sie da etwa... ein schlechtes Gewissen herausgehört?

„Hört endlich auf, Euch zu entschuldigen!", dachte sie leicht genervt. „Ich bin diejenige, die sich bei Euch entschuldigen sollte! Ihr habt doch überhaupt nichts falsch gemacht!"

Es brachte nichts. Egal, wie sehr sie auch versuchte, ihre eigenen Schuldgefühle vorübergehend zu unterdrücken und in eine leere Ecke ihres Verstandes zu schieben, wo sie nicht stören würden, um sich voll auf Jinshis Behandlung konzentrieren zu können, konnte sie es einfach nicht.

„Ihr müsst mir nicht danken. Legen wir uns jetzt einfach hin und schlafen, in Ordnung?”

„Ja!”

Notes:

Dieses Kapitel wird sogar noch länger als erwartet, sodass es nicht wie gedacht zwei, sondern ganze drei Teile haben wird! Ich glaub, ich werd den dritten Teil zum kommenden Wochenende fertig haben. :)

Es ist echt unglaublich, muss ich sagen: beinahe jedes Mal, wenn ich ein Kapitel aufteile, wird das Endergebnis deutlich länger als wenn ich es in einem Rutsch durchgeschrieben hätte. Bestimmt, weil kürzere Kapitel es mir erlauben, mich besser auf die einzelnen Szenen zu konzentrieren. Ja, das muss es sein!

Chapter 64: Amnesie, Teil 7: Was passiert bloß mit ihm?! (3)

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Wenige Minuten später lagen die zwei auch schon in Jinshis Bett, beide auf der Seite und einander gegenüber. Sanft beschienen vom orangefarbenen Licht der auf dem Tisch stehenden Kerze, die Maomao beschlossen hatte, für den Fall der Fälle bis zum Morgen brennen zu lassen. 

Und nun stand jene Kerze einfach nur da, ein kleines Licht, welches der undurchdringlichen Finsternis im Raum trotzte. Genauso wie Maomao es in Jinshis Augen tat.

Oder nein, nicht ganz. Denn Maomaos Licht war gewiss nicht so schwach, dass es von dem kleinsten Windhauch gelöscht werden konnte.

Es herrschte Stille. Keiner von ihnen sprach auch nur ein Wort und doch fühlte sich das Schweigen nicht gerade unangenehm an. Weder für sie noch für ihn.

Die Arme leicht an den Oberkörper angezogen, sah Maomao zu, wie Jinshi ein erneutes Gähnen von sich gab, ihr ein müdes Lächeln schenkte und schließlich nach der Bettdecke griff, um sie beide zuzudecken. Was in einer solch warmen Nacht eigentlich nicht unbedingt nötig war... doch da sie bereits wusste, dass der junge Herr fror, sagte sie nichts. Solange er sich wohlfühlte, würde sie die Hitze schon irgendwie ertragen. Keine große Sache.

Die Apothekerin musste zugeben, dass eine simple Strohmatte ganz klar nicht mit seinem Bett mithalten konnte, so weich und bequem wie es war. Auch wenn sie, um ehrlich zu sein, bereits gewusst hatte, wie es sich anfühlte, dort zu liegen. War ja nicht das erste Mal... doch sehr wohl das erste Mal, dass sie gemeinsam darin lagen.

Bei der Erinnerung an den Vorfall während des Rituals hätte Maomao beinahe ein Schnauben von sich gegeben. Es hatte wirklich ein bisschen etwas von Ironie: zuerst war sie diejenige gewesen, die mit einer Kopfwunde in eben jenem Bett geschlafen hatte, nachdem sie ihm quasi das Leben gerettet hatte, und nun war es Jinshi selbst, der ihretwegen eine Verletzung am Kopf erlitt. Auch wenn ihre eigene damals längst nicht solch schwere Folgen hatte wie seine.  

Es war tatsächlich ein wenig so, als würde das Schicksal sie beide verspotten, mit ihnen spielen. Wie mit Figuren auf einem Brettspiel.

Maomao seufzte leise und schloss die Augen. Was für unsinnige Gedanken... sie musste wirklich schrecklich müde sein.

Auf einmal spürte sie Jinshis Finger. Ganz sanft streichelte er Maomaos Schulter und Oberarm, als wolle er sicherstellen, dass sie auch wirklich neben ihm lag, zog sie dann noch etwas näher zu sich heran, legte den Arm um sie und schmiegte sich schließlich an sie, immer noch ein wenig fröstelnd. 

Maomao öffnete die Augen wieder. Langsam, fast wie eine Katze, die ein Schläfchen gehalten hatte, zusammengerollt auf dem Bett ihres Herrchens. Sie war nun erneut an Jinshis Brust gepresst und ihr Kopf ruhte auf dem Bizeps seines anderen Arms, wie auf einem Kissen.

„Oh, ich dachte, du schläfst bereits", hörte sie seine Stimme über sich und konnte spüren, wie sein Adamsapfel, der ihren Scheitel berührte, beim Sprechen leicht vibrierte. „Entschuldige, ich hoffe, ich habe dich nicht aufgeweckt."

„Habt Ihr nicht, Herr. Keine Sorge."

Jinshis wieder ruhigen Herzschlag an ihrem Körper spürend, konnte Maomao nicht mit Worten ausdrücken, wie froh sie war, dass er endlich aufgehört hatte zu weinen. Nur ein gelegentliches Hicksen, einige leichte Tränenspuren auf seinem Gesicht und seine etwas geschwollenen Augen waren noch als letzter Rest davon geblieben, quasi als Beweis, dass jener Mann, die sonst so anmutige „himmlische Nymphe", vor wenigen Minuten tatsächlich noch geheult hatte wie ein kleines Kind. 

Sie hatte bereits gedacht, sie würde ihn überhaupt nicht mehr beruhigen können. Welch eine Erleichterung. Bei dem Gedanken spürte sie eine heftige Welle der Erschöpfung in ihrem gesamten Körper. Nein, den Rest der Nacht auf dem Bett zu sitzen, wäre wirklich zu viel für sie gewesen...

Die Apothekerin legte die Hand auf seine Taille und ballte sie zur Faust, während ihre andere sich auf Jinshis Brust befand, die sich unter ihrer Handfläche hob und senkte. Hoffentlich würde es zu keinen weiteren Zwischenfällen bis zum Morgengrauen kommen. Viel zu viel war bereits geschehen für einen einzigen Tag.

Jinshi rührte sich ein wenig und Maomao, die bis zum Kinn zugedeckt war, sodass nur ihr Kopf herausschaute, wurde auf der Stelle aus ihren Gedanken gerissen und zuckte zusammen, als sie etwas Eisiges an ihren nackten Füßen spürte.

„Meine Güte, sind das etwa seine Füße?!", japste sie in Gedanken. „Die sind ja fast noch kälter als seine Hände!" Aber andererseits war es auch keine solch große Überraschung, wenn man so darüber nachdachte, fand sie.

„Was ist denn, Maomao?"

Er klang schläfrig, doch gleichzeitig auch leicht besorgt.

„Nichts. Eure Füße sind bloß eiskalt. So wie Eure Hände."

„Ah, tut mir leid..."

„Schon gut, Herr... Nein, lasst sie, wo sie sind." Sie klemmte seine Füße zwischen ihre eigenen, bevor er sie wegbewegen konnte. „Sie müssen ebenfalls aufgewärmt werden, zumindest ein bisschen." Ihre Füße waren zwar, genauso wie ihre Hände, deutlich kleiner als seine, aber sie hoffte, dass deren Wärme genug war.

Daraufhin fühlte sie, wie er sie noch ein wenig enger an sich drückte und mit dem Daumen leicht über ihre Wange strich.

„Ich bin so dankbar, dass du bei mir bist...", murmelte er.

Maomao sagte nichts dazu. 

Nach einigen Minuten bewegte sie jedoch den Kopf so, dass sie ihm ins Gesicht blicken konnte.

„Eure Exzellenz?", ergriff sie wieder leise das Wort, nachdem sie sichergestellt hatte, dass er noch nicht schlief. „Kann ich Euch eine Frage stellen?"

Jinshi blinzelte einige Male und begann, ein wenig mit ihrem Haar zu spielen, eine Strähne davon vorsichtig auf seinen Zeigefinger aufrollend.

„Natürlich."

„Was hättet Ihr getan, wenn ich nicht aufgewacht wäre, als Ihr vorhin neben mir gekniet habt?"

Dies war etwas, was sie sich schon die ganze Zeit gefragt hatte. 

Man sah dem Mondprinzen an, dass er solch eine Frage nicht erwartet hatte. Er überlegte kurz und lächelte dann wieder. Maomao spürte nun, wie sich seine Hand auf ihren Rücken legte und ihn erneut sanft zu reiben begann, als wäre dies bereits zu einer Gewohnheit für ihn geworden.

„Ich wäre trotzdem bei dir geblieben und hätte deine Hand gehalten und dir beim Schlafen zugesehen."

„Auf dem harten Boden?"

„Es hätte mir nichts ausgemacht, solange du bei mir bist. Und solange ich dich berühre, kann mir die Dunkelheit auch nichts anhaben."

„Verstehe..." Maomaos Stimme klang, als hätte sie einen Kloß im Hals. Sie wendete den Blick ab und in ihren Augen lag etwas, was sich nur schwer entziffern ließ.

***

Erneut fand er sich unter der Decke und auf dem glatten, kühlen Bettlaken wieder. Genauso wie vorhin. Schon wieder umhüllt von einer gnadenlosen Finsternis, denn die kleine flackernde Flamme auf dem Tisch reichte leider nicht aus, um diese zu verscheuchen.

Aber einen großen Unterschied gab es sehr wohl: nun war der in der Luft liegende Parfümduft mit einem diskreten Geruch nach Kräutern versetzt und eine wunderbare Wärme befand sich gerade in einem unerbittlichen Kampf gegen die in seinem Körper festsitzende eisige Kälte, die sich hartnäckig weigerte, seine Gliedmaßen in Ruhe zu lassen.

Beide Dinge, sowohl der Kräuterduft als auch jene kraftvolle Wärme, stammten von der zierlichen jungen Frau, die er gerade in seinen Armen hielt und fest an sich drückte.  

Nein, es war kein Traum, keine Illusion. Sein defekter, fehlerhafter Verstand war nicht so grausam, um ihm solche Streiche zu spielen, und mit bloßen Gedanken und Fantasien musste er sich diesmal auch nicht zufriedengeben. Jene zuckersüße kleine Apothekerin, bei der er sich so sicher und geborgen fühlte, ohne zu begreifen wieso, war wirklich da und lag neben ihm im Bett. 

Jinshi war so glücklich, dass er doch nicht ganz allein auf sich gestellt war in jener fremden, neuen Welt. Sie war bei ihm. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten. Keine Dunkelheit des Universums konnte ihm nun etwas anhaben.

Schmusen mit Maomao fühlte sich an, als befände er sich... im Paradies. Anders konnte man es einfach nicht beschreiben. Es war das allererste Mal seit seinem Erwachen nach dem Gedächtnisverlust, dass er sich wahrhaftig im Frieden fühlte, auch wenn sein Körper immer noch leicht zitterte und seine Hände und Füße sich einfach nicht aufwärmen wollten. Aber das war nicht schlimm. Mit Maomao an seiner Seite würde er alles überwinden können. Es kam ihm beinahe so vor, als sei sie direkt vom Himmel zu ihm gesandt worden.

Im Bett zu liegen, die Apothekerin im Arm zu halten, ihr weiches Haar zu streicheln und ihren schmalen Rücken zu reiben, fühlte sich wie Medizin an. Eine noch wirkungsvollere sogar als ihre Pillen und Tees, eine, die ihn seine Furcht vor der Dunkelheit, seine schwer zu erträgliche Einsamkeit, seine nicht enden wollenden Schmerzen und alles andere vergessen ließ, was ihm Leid verursachte. Zumindest vorübergehend. Als habe sie eine Art Schutzbarriere um ihn herum errichtet.

Er mochte sich nicht einmal vorstellen, was passiert wäre, wenn er sie nicht hätte, wenn es ihm verwehrt gewesen wäre, in jener Nacht ihre beruhigende Nähe zu spüren. Ganz bestimmt hätte er noch vor Morgengrauen vor Angst den Verstand verloren und hätte sich der Dunkelheit ergeben. Für immer.

Allein der Gedanke daran ließ ihn die Zähne zusammenbeißen und sein Herz wollte erneut anfangen, wie verrückt zu pochen, doch Maomaos kleine Hand auf seiner Brust gab ihm Halt und hielt es rasch davon ab.

Sie hatte ihn gerettet. Schon wieder.

Ach, aber eigentlich wollte er überhaupt an gar nichts mehr denken. Nach all dem, was er bereits durchmachen musste, hatte er einfach keine Kraft mehr dazu. Er war müde, so unfassbar müde und wusste, dass er besser schlafen sollte... und doch konnte er es einfach nicht. Wieso, hatte er keine Ahnung. Vielleicht lauerte ja immer noch eine Furcht irgendwo tief in seiner verwirrten, orientierungslosen Seele. Die Furcht, dass Maomao sich in Luft auflösen würde, sobald er einschlief.

***

„Versucht jetzt bitte zu schlafen, Eure Exzellenz. Ihr braucht Ruhe, vor allem nach all dem Weinen."

„Ja. Du auch, Maomao, du brauchst sie ebenso.”

„Vielleicht. Aber Ihr mehr als ich”, dachte sie. „Ich kann warten.”

Jinshis kalte Finger streichelten nun vorsichtig ihren Pony, sodass Maomao zusätzlich unweigerlich der Gedanke in den Kopf schoss, wie sanft jener Mann nach dem Unfall geworden war. Oder war er das etwa schon immer gewesen und sie hatte es bloß nie bemerkt, weil sie viel zu beschäftigt damit gewesen war, genervt zu sein, wann immer er sie berührt hatte? 

Ach, was soll's. Darüber konnte sie auch später nachgrübeln. Viel wichtiger war es jetzt, Jinshi zum Einschlafen zu bringen, da er es trotz seiner Müdigkeit einfach nicht allein zu schaffen schien. Aber wie? Wie konnte sie ihm helfen? Sie lag doch bereits in seinen Armen und wärmte ihn, was könnte sie da also noch tun?

Etwas ratlos und im Versuch, sich etwas einfallen zu lassen, verengte sie die Augen und begann, es ihm unbewusst nachzutun und mit behutsamen Bewegungen gedankenverloren sein langes Haar zu streicheln, welches seinen Rücken bedeckte und hinter ihm auf das Bettlaken fiel. Bis sie schließlich nach einer Strähne davon griff und sie ebenfalls auf ihren Zeigefinger aufrollte, ohne es zu merken.

Jinshi kommentierte dies nicht, aber als die Apothekerin erneut den Blick hob, sah sie, dass sein Lächeln etwas breiter geworden war und er die Augen jetzt halb geschlossen hielt. Nur noch ein wenig, nur noch ein klein wenig war noch notwendig, um ihn in das Land der (hoffentlich angenehmen) Träume zu befördern… 

Zum wiederholten Male runzelte sich Maomaos Stirn. Er sah so unfassbar erschöpft aus... und es war nicht die Art von Erschöpfung nach einem anstrengenden Tag voller Arbeit, sondern eine körperliche und auch seelische, die ihn vollkommen ausgelaugt hatte und es so wirken ließ, als hätte er nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf vom Kissen zu heben. Und doch schlief er immer noch nicht.

Mit einem unangenehmen Kribbeln in der Magengegend, welches nicht sehr weit von richtigem Schmerz entfernt war, und immer noch schweigend drückte Maomao das Gesicht an seine Brust und klammerte sich mit beiden Händen an seine Kleidung, woraufhin Jinshis Hand sich auf ihren Hinterkopf legte. Sein Duft gelangte in ihre empfindliche Nase. 

Größtenteils roch er genauso wie immer nach Sandelholz-Weihrauch und nach einem teurem, feinen Parfüm, welches wohl ein wenig auf seine Kleidung gesprüht worden war. Bloß war seinem Geruch nun auch noch ein schwacher Hauch der Medizin beigemischt, die sie ihm gegeben hatte. Fast schon wie zur Veranschaulichung, dass der jetzige Jinshi nicht derselbe war wie früher.

Und bevor sie sich versah, bevor sie sich auch nur bewusst werden konnte, was sie da eigentlich tat, öffneten sich leicht ihre Lippen und sie begann auch schon leise ein Lied zu summen. Ihre Stimme klang leicht gedämpft durch Jinshis Brustmuskeln.

Es war ein Schlaflied, welches Pairin, eine ihrer Schwestern aus dem Bordell und die einzige richtige Mutterfigur, die sie jemals hatte, ihr in ihrer frühen Kindheit vorgesungen hatte, wann immer sie vor ihrer Arbeit am Abend die Zeit fand, die Kleine in den Schlaf zu wiegen. Dies war kein sehr häufiges Ereignis gewesen und an den meisten Tagen wurde dem Kleinkind Maomao keine andere Wahl gelassen, als ganz allein in den Schlaf zu finden, wie man es ihr Jahre später erzählt hatte, doch die Erinnerung an das Lied ihrer Schwester war immer noch da, verborgen in einem hinteren Eck ihres Verstandes.

Na so etwas. Maomao hatte nicht einmal geahnt, dass sie jene Melodie noch immer auswendig kannte. Hoffentlich würde diese Jinshi beim Einschlafen helfen, genauso wie sie ihr selbst damals geholfen hatte. 

Sie spürte, wie der junge Herr sich zuerst leicht anspannte und für einige Sekunden den Atem anhielt, wahrscheinlich vor Überraschung, sie aber dann noch etwas fester umarmte, während ihr Lied, welches so sanft war wie das Licht der Kerze in der Dunkelheit, die nächtliche Stille erfüllte. Aber auch dieses Mal war seine Umarmung nicht fest genug, um ihr wehzutun.

Als Nächstes hörte sie einen Seufzer der Erleichterung und ein Gähnen und nahm das Gesicht von seiner Brust, um etwas lauter zu summen.

Es wirkte. Jinshi hörte endlich komplett auf zu zittern, seine Atemzüge wurden gleichmäßiger und tiefer, sein Griff lockerte sich ein wenig und seine Hand auf Maomaos Kopf hörte auf, diesen zu streicheln.

Endlich hatte er sich dem Schlaf ergeben.

Maomao summte noch für einige Minuten ihr Lied, während sie mit den Fingern langsam sein zerzaustes Haar kämmte. Fast so, als wolle sie ihm dadurch vermitteln, dass sie immer noch da war und weiterhin bei ihm bleiben würde, während er schlief.

***

Eine zarte, beruhigende Melodie hatte begonnen, die letzten Überbleibsel seiner Angst wegzuschmelzen. Jetzt war er endlich in der Lage, in den tiefen Schlaf zu sinken, den sein Körper so dringend benötigte.

Notes:

Die Idee mit dem Schlaflied hab ich von einem Leser der englischen Version dieser Geschichte hier auf ao3! :)

Das nächste Kapitel wird ein kurzes und kommt so Dienstag oder Mittwoch, denk ich.

Und danach werden die neuen Kapitel wohl nur alle 10-14 Tage kommen, weil ich etwas weniger Zeit zum Schreiben haben werd und außerdem längere Pausen zwischen den Kapiteln machen möchte. Aber dafür werde ich versuchen, die Kapitel selbst wieder etwas länger zu machen.

Chapter 65: Amnesie, Teil 8: Ganz allein mit ihren Gedanken

Notes:

Wie angekündigt kommt hier ein kurzes Kapitel, welches veranschaulicht, wie besorgt unsere Maomao ist.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Jinshi schlief nun tief und fest. Die einzigen Laute, welche er von sich gab, waren die leisen Atemgeräusche, die seinen leicht geöffneten Mund verließen.

Kein Wimmern mehr und auch kein Schluchzen. Bloß ein ruhiger Schlaf. Genau das, was er brauchte.

Maomao, die immer noch unverändert eng an ihn gedrückt lag und ihn schweigend beobachtete, seufzte. Wie sehr doch ein einziger Tag, nein, eine einzige Minute das Schicksal eines Menschen verändern konnte, entweder zum Guten oder zum Schlechten...

Diesmal war es offensichtlich Letzteres.

Wäre Jinshi doch nur ein kleines bisschen später beim Schuppen angekommen... dann hätte höchstwahrscheinlich sie sich verletzt und sich beim Aufprall mit dem Boden vielleicht ein paar gebrochene Knochen oder sogar selbst eine solche Kopfwunde zugezogen, wer wusste das schon, doch... zumindest ihm wäre nichts passiert.  

Aber nein. Das Universum hatte, so wie es aussah, ganz andere Pläne und nun lag sie nachts in Jinshis Bett und hielt einen amnestischen Jinshi in den Armen, der sich dermaßen vor der Dunkelheit fürchtete, dass er sogar geweint hatte. Wer hätte geglaubt, dass so etwas eines Tages tatsächlich geschehen könnte? Nun, sie jedenfalls nicht. Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen.

Seinen muskulösen Oberarm unter ihrem Kopf spürend und mit der Hand gedankenverloren seine Seite reibend, damit er so ruhig weiterschlief wie jetzt, versuchte die Apothekerin all dies zu verarbeiten, was sie vor Kurzem erlebt hatte. Leichter gesagt als getan. Oder anders gesagt: so schwierig, dass sie Kopfschmerzen bekam. Noch nie hatte sie den jungen Herrn so schutz- und hilflos erlebt. So bemitleidenswert, dass es ihr beinahe das Herz zerriss…

Sie musste zugeben, dass sie sich selbst ebenfalls ziemlich hilflos und verloren fühlte, denn sie wusste immer noch nicht so recht, wie sie mit jenem neuen" Jinshi genau umgehen sollte. Im Moment verließ sie sich dabei vor allem auf ihr Bauchgefühl, was wohl auch zu funktionieren schien, aber der Zweifel und die Unsicherheit waren hartnäckig und blieben.

Maomao senkte den Blick und seufzte erneut tief, als ihr ein neuer Gedanke kam. Ein ziemlich unglaublicher, um ganz ehrlich zu sein... So unglaublich, dass sie ihn selbst kaum fassen konnte, aber…

...sie wünschte sich den alten Jinshi, die himmlische Nymphe" zurück.

Ja, in der Tat.

Zugegeben, es hatte Zeiten gegeben, an denen sie auch mit seinem früheren Selbst nicht so wirklich klargekommen war (unwillkürlich rief sie sich einen gewissen Jagdausflug ins Gedächtnis und erschauderte so heftig, dass sie einen Moment lang fürchtete, Jinshi aufgeweckt zu haben), aber das war nun wirklich kein Vergleich zu jetzt. Nicht einmal annähernd.

Die Muskeln der Apothekerin spannten sich an und ein plötzlicher Schauer lief ihr über den Rücken, während eine fürchterliche, noch nie dagewesene Angst ihren Körper lähmte. Ganz anders als die angenehme Lähmung eines Giftes.

Was... was würde sein, wenn seine Kopfverletzung doch mehr Schaden angerichtet hatte als sie alle dachten? Was, wenn sein ungewöhnliches Verhalten und sein anormales Frieren nur der Anfang waren, ein Vorbote von etwas weit Schlimmerem?

Jener Gedanke war ihr bereits die ganze Zeit im Kopf herumgespukt und nun entfaltete er in der Stille der Nacht seine volle Wirkung.

Auf einmal fiel Maomao das Atmen schwerer, sodass sie beinahe schon nach Luft rang und ihre Hände sich in Jinshis Kleidung krallten. 

Was, wenn seine Verletzung sich letzten Endes als tödlich herausstellen sollte und weder sie noch irgendjemand sonst in der Lage wäre, sein Leben zu retten?

Immerhin gab es ja ab und zu Fälle, wo Menschen Kopfverletzungen erlitten und dann noch nach Tagen tot umfielen. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass dies vorkommen konnte, wenn im Kopf eine Ader riss und es im Schädel und Gehirn zu einer Blutung kam. Eine grauenhafte Vorstellung und eine noch grauenhaftere Art zu sterben.

Und ja, es war Maomao durchaus bewusst, wie oft sie sich beklagt hatte, dass Jinshi sie reizte, nervte, wie eine Klette an ihr klebte und sie in alle möglichen Schlamassel und Schwierigkeiten hineinzog, aber... das hieß doch noch lange nicht, dass er so etwas verdient hatte! Nein! Nichts davon hatte er verdient, weder die Schmerzen noch die Angst und schon gar nicht den Tod!

Nun, selbstverständlich wusste sie, dass ein Mensch gehen musste, wenn seine Zeit gekommen war, denn das war der natürliche Lauf der Dinge, dem man nicht entrinnen konnte, doch in diesem Fall wäre es einfach nicht richtig, viel zu ungerecht ihrer Meinung nach. Auch wenn die Welt sich selbstverständlich nicht um solch banale Dinge wie Gerechtigkeit scherte, wie sie allzu oft selbst miterlebt hatte…

Es war ihr egal, wie oft er ihr in Zukunft noch auf die Nerven gehen könnte, sie wollte einfach nur den alten Jinshi zurück!

Endlich schaffte sie es, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen und sah auf der Stelle erneut in Jinshis Gesicht. Er befand sich immer noch im Tiefschlaf. Gut. Sie drückte den Kopf wieder an seine Brust und starrte einige Minuten lang einfach nur, ohne einen Muskel zu rühren, in die Finsternis. Doch ihre verstörenden Gedanken ließen sie einfach nicht los.

Wenn sie diejenige wäre, die sterben sollte, hätte sie schon irgendwie damit leben können (das war jetzt nicht als Wortspiel gemeint), aber der Tod eines anderen Menschen wäre eine viel zu schwere Last für ihre schmalen Schultern. Eines Menschen, der noch vor einem Tag vollkommen gesund gewesen war und es jetzt immer noch wäre, wäre sie niemals auf ihn draufgefallen. 

Aber selbst wenn er nicht sterben würde... was, wenn er für immer so bleiben müsste? Für immer ohne jede Erinnerung an sein früheres Leben, so vollkommen fehl am Platz in jener Welt? Selbstverständlich kam ihr in den Sinn, dass man sie ohne jeden Zweifel bestrafen würde, sollte dies wirklich so eintreten und sie dem Befehl, den ihr der Kaiser erteilt hatte, nicht nachkommen können, aber im Moment machte ihr vor allem die Möglichkeit Sorgen, dass Jinshis Gehirn einen permanenten Schaden erlitten hatte...

Dann würde dies bedeuten, dass sie ihm, selbst wenn er in einem solchen Fall überlebte, praktisch für immer das Leben zerstört hatte…

Maomao presste die Lippen zusammen und ihre sonst so strahlend blauen Augen wurden allein von dem Gedanken ihres Glanzes beraubt.

Wenig später verzog sie das Gesicht, als hätte sie Schmerzen, und raufte sich mit einer Hand verzweifelt die Haare, dabei Jinshi zuliebe immer noch darauf Acht gebend, sich nicht zu viel zu bewegen, um ihn nicht zu stören.

Argh! Am allerliebsten hätte sie ihm mit einem scharfen Messer den Kopf aufgeschnitten und selbst nachgesehen, ob er innerlich blutete, aber das konnte sie natürlich nicht. Und nicht nur das, selbst für jenen Gedanken allein riskierte sie bereits, dass man ihren eigenen Kopf schnitt... und zwar von ihren Schultern. Aber sie konnte trotzdem nicht anders. All jene Ungewissheit war eine Qual.

Im Moment konnten sie so gut wie nichts anderes tun als zu beten, dass seinem Hirngewebe und seinem Schädel nichts Ernsthaftes zugestoßen war und dass er sich trotz seiner höchst beunruhigenden Symptome vollständig erholen würde.

Beinahe hätte die Apothekerin ein zynisches Lachen ausgestoßen. Beten? Ernsthaft? Ha! Wie lächerlich!

Nun begannen ihre eigenen Hände zu zittern. 

Das konnte doch nicht wahr sein! Wieso war sie bloß so nutzlos? Wieso?!

Auf einmal fiel ihr auf, dass sie die Hände so fest zu Fäusten geballt hatte, dass ihre Fingernägel sich schmerzhaft in ihre Handflächen gruben. Die Apothekerin schloss kurz die Augen und machte ein paar tiefe Atemzüge, um wieder zu sich zu kommen.

Sie durfte sich nicht von ihren Gedanken und Hypothesen überwältigen lassen... sie durfte nicht... und doch konnte sie einfach nicht dagegen ankommen. Noch nie im Leben hatte sie sich bisher einer solchen Situation stellen müssen...

Direkt unter ihrem Ohr hörte Maomao Jinshis Herzschlag und konnte auch immer noch seine Atembewegungen spüren. Beide waren im Moment normal, weder zu schnell noch zu langsam.

Und trotz all jener Beweise, dass er definitiv quicklebendig war, konnte sie einfach keine Ruhe finden. 

Und so legte sie zusätzlich noch einmal die Hand auf sein Herz, welches daraufhin unter ihrer Handfläche pulsierte, zählte eine Weile lang die Schläge, und griff dann mit der anderen, während sie noch mit ihren Füßen ein wenig seine kalten rieb, nach seiner Hand und hob sie behutsam von ihrem Hinterkopf.

Als Nächstes ergriff sie fest sein Handgelenk und fühlte seinen Puls. Obwohl sie ganz genau wusste, dass dies sinnlos war, da sie ja bereits das Pochen seines Herzens spürte, doch sie konnte nicht gegen jenes seltsame Bedürfnis ankommen.

Maomao...", hörte sie ihn leise und glücklich im Schlaf murmeln. Möglicherweise konnte er ihren Griff selbst in seinen Träumen spüren.

Doch die Apothekerin scherte sich nicht darum.

Nicht zulassen, dass Euch die Dunkelheit verschluckt...", dachte sie verbittert. Na sicher... als ob ich so mächtig wäre..." Dann vergrub sie die Stirn an seiner Brust und biss zum wiederholten Male die Zähne zusammen. Ratlos. Verzweifelt. Wütend. Verdammt... Verdammt nochmal!"

Trotz ihrer eigenen schrecklichen Erschöpfung schlief Maomao kaum in jener Nacht. Es kam ihr so vor, als würde sie in einem real gewordenen Albtraum feststecken.

Kurz vor Sonnenaufgang fiel sie endlich in einen leichten Schlummer.

Die ganze Zeit lang hatte sie Jinshis Handgelenk nicht losgelassen. Nicht einmal für eine Sekunde.

Notes:

Zuerst wollte ich dieses Kapitel hier in das letzte mit einschließen, entschied mich dann aber dafür, ein separates daraus zu machen, für den größeren Effekt, sozusagen.

Und jetzt kommen die Kapitel, wie bereits gesagt, ungefähr alle zwei Wochen. Also bis dahin :)

Chapter 66: Amnesie, Teil 9: Ein paar Tage später

Notes:

Bin wieder da, ganz wie versprochen! Und sogar ein wenig früher als gedacht :)

Chapter Text

Gelassenen Schrittes trat Maomao nach draußen und atmete tief die frische, jedoch immer noch brennende Sommerluft ein.

Drei Tage waren seit Jinshis Unfall und Gedächtnisverlust bereits vergangen und dies war das erste Mal, dass sie nach besagten Geschehnissen seine Residenz verließ, wo sie sich zusammen mit Suiren ununterbrochen um ihn gekümmert hatte (und auch Gaoshun war ab und zu vorbeigekommen, um zu helfen und nachzusehen, wie es seinem Herrn ging). Jene drei Tage kamen der Apothekerin unendlich lang und gleichzeitig auch wie im Flug vergangen vor. Ein seltsames Gefühl, welches sie nicht wirklich zu beschreiben vermochte.

Die Abendsonne, die noch nicht einmal angefangen hatte, unterzugehen, brannte immer noch erbarmungslos auf die Erde nieder. Maomao wischte sich beim Gehen mit dem Ärmel gedankenverloren den Schweiß von der Stirn, bevor sie nach der kleinen Schriftrolle in den Falten ihrer Kleidung tastete, um noch einmal sicherzustellen, dass sie diese auch wirklich dabeihatte.

Es war eine schriftliche Erlaubnis, nach Belieben den inneren Palast betreten und verlassen zu dürfen. Vom Kaiser höchstpersönlich unterschrieben und durch Gaoshun an sie übermittelt. Ohne dass sie darum hatte bitten müssen.

„Bestimmt hat Seine Majestät ein ganz schön schlechtes Gewissen, nachdem er Seine Exzellenz so verängstigt hat, was?" , dachte sie und in ihren gewöhnlich neutralen aussehenden Gesichtsausdruck schlich sich prompt ein leichter Zorn, der sie die Hände zu Fäusten ballen ließ. Wie sehr Jinshi nach dem Besuch des Kaisers in Panik verfallen war, konnte sie immer noch nicht vergessen. Zum Glück waren jedoch zumindest die Male, die die Finger Seiner Majestät auf den Schultern des jungen Mannes hinterlassen hatten, inzwischen komplett verblasst. Maomao hatte sie ihm mit einer Salbe eingerieben, um den Prozess zu beschleunigen.

Während sie über all dies nachsinnierte, beschleunigte die Apothekerin ihre Schritte ein wenig. Sie durfte nicht zu lange trödeln, denn sie hatte noch Einiges zu erledigen.

Jinshi nahm gerade mit Suirens Hilfe ein Bad und da Maomao aktuell nicht gebraucht wurde, hatte sie beschlossen, die Zeit zu nutzen, um der Jade-Residenz einen Besuch abzustatten und endlich ihre Sachen zu holen. Vor allem ihre Kräuter und Utensilien, da die Medizin, die sie mitgenommen hatte, langsam aber sicher ziemlich knapp wurde, sodass sie so schnell wie möglich Nachschub herstellen musste. Hauptsächlich Schmerzmittel, da Jinshi immer noch Kopfschmerzen hatte.

Er wusste Bescheid, denn sie hatte ihn informiert, dass sie kurz weg sein würde. Und solange sie das tat und ihm auch mitteilte, wann sie ungefähr wiederkommen würde, war es auch kein großes Problem für ihn. Denn er vertraute ihr bedingungslos, wie er selbst gesagt hatte.

Wieso, begriff Maomao ehrlich gesagt nicht so recht, da er sich noch immer nicht an sie (und auch an alle anderen) erinnern konnte, doch sie hinterfragte es auch nicht. Hauptsächlich, um ihre eigenen Schuldgefühle so gut es ging davon abzuhalten, sich mal wieder ihres Verstandes zu bemächtigen.

Und doch war es für sie nur tagsüber möglich, ihn allein zu lassen. Nachts sah die Sache bereits ganz anders aus. 

Es war beinahe so, als würde jemand einen Schalter umlegen und den Verstand des Mondprinzen aus heiterem Himmel mindestens um zehn Jahre verjüngen, sobald die Sonne unterging: er hatte immer noch wahnsinnige Angst vor der Dunkelheit, weinte, zitterte und klammerte sich noch mehr an Maomao, als er es am Tag ohnehin schon tat. Sie hatten bereits versucht, Kerzen und brennende Laternen in seinem Schlafgemach zu lassen, doch es brachte einfach nichts, egal wie viele es auch waren. Nur Maomao war in der Lage, ihm zu helfen. Wenn er sie nicht in den Armen hielt, während er im Bett lag, konnte er nachts überhaupt nicht mehr schlafen oder litt an Albträumen. Ab und zu sogar, wenn sie bei ihm war. So schlimm war es.

Und wenn das passierte, dauerte es in der Regel lange, bis er sich beruhigte. Zum Glück schien es ihm jedoch immer noch zu helfen, wenn sie ihn ganz fest umarmte, ihm sanft den Rücken rieb und das Schlaflied ihrer Schwester vorsummte. Also tat sie dies jedes Mal, wenn er aus einem seiner bösen Träume erwachte. 

Maomao gab einen tiefen Seufzer von sich. Sie hatte inzwischen angefangen, die Nacht zu verabscheuen... denn Nachtzeit bedeutete für sie einen verängstigten und weinenden Jinshi... und obwohl sie sehr wohl in der Lage war, seine Angst zu mindern, schaffte sie es trotz allem einfach nicht, sie ihm endgültig zu nehmen, dafür zu sorgen, dass sie nie mehr wiederkam. Und jene Tatsache quälte sie sehr.

Zu ihrem Erstaunen musste sie erneut zugeben, dass es ihr fast schon körperliche Schmerzen bereitete, ihn so leiden zu sehen. Nein, sogar stärker als körperliche, da sie diese deutlich besser aushalten konnte als die meisten anderen Menschen. Ein noch nie dagewesenes Gefühl, welches sie zutiefst verwirrte. Die einzige Erklärung, die sie dafür fand, war, dass es wohl ihre Schuldgefühle sein mussten, die ihr immer noch stark zusetzten. Ja, das musste es sein. Sie weigerte sich, die Vorstellung zuzulassen, dass es sich auch um etwas anderes handeln könnte.

„Hey, du bist doch... Stehengeblieben!"

Auf einmal wurde sie von einer weiblichen Stimme aus ihren Gedanken gerissen und blickte erstaunt auf. Nur, um sogleich die Stirn zu runzeln, sobald sie die kleine Gruppe an Hofdamen erblickte, die energisch auf sie zuschritt.

Ob es dieselben waren, die sie bedrängen wollten, kurz nachdem sie angefangen hatte, als Jinshis persönliche Zofe zu arbeiten, wusste sie nicht mehr, aber sie scherte sich auch nicht sonderlich darum.

„Was wollen die denn?" , dachte sie genervt und verengte die Augen. „Für sowas habe ich jetzt keine Zeit."

Und doch gehorchte sie und blieb kurz stehen, denn so wie die Frauen aussahen, würden sie ihr sicherlich nachlaufen, wenn sie es nicht täte.

„Urgh, bringen wir es hinter uns..."

„Wie kann ich euch helfen?", fragte sie und verbarg die Hände in den Ärmeln.

Doch anstatt zu antworten, wurde sie von den Damen bloß mit unfreundlichen Mienen angestarrt. Bis eine davon sie urplötzlich an den Schultern packte.

„Wie geht es Seiner Exzellenz? Hat er sich bereits von seiner Krankheit erholt?" 

Maomao blinzelte einige Male erstaunt, als sie die Fragen vernahm. Ach ja, richtig. Da Jinshi aufgrund seines derzeitigen Zustandes seine Residenz nicht verlassen und auch nicht arbeiten konnte, hatte man begriffen, dass man sich früher oder später eine Erklärung für seine lange Abwesenheit einfallen lassen musste. Und so wurde entschieden, den Leuten im kaiserlichen Palast mitzuteilen, dass der „wunderschöne Eunuch" erkrankt sei, sollte jemand von ihnen nach seinem Verbleib fragen. Selbstverständlich, ohne zu erläutern, um welche Krankheit es sich dabei handelte.

Und so schnell wie Neuigkeiten hier unter den vielen Frauen die Runde machten, war Maomao sich mehr als sicher, dass der gesamte innere Palast und zumindest ein Teil des äußeren bereits Bescheid wussten. 

„Ach, deshalb die vielen Blumen vor dem Eingang..."

Da es ja bereits mehr oder weniger bekannt war, dass Jinshi ihr direkter Arbeitgeber war, war es nur logisch, dass sie diejenige war, die man nach Einzelheiten fragen würde. Ach, wie lästig… 

„Wie es ihm geht? Schon etwas besser", sagte sie bloß kühl. Detailreiche Informationen würden sie von ihr nicht bekommen, so viel war sicher.

Daraufhin konnte sie Erleichterung in den Gesichtern der Frauen erkennen. Nun, nicht gerade erstaunlich, so wie sie alle den „Eunuchen" verehrten.

„Und wann werden wir ihn wiedersehen können?"

Maomao musste sich sehr bemühen, um nicht laut zu schnauben.

„Das weiß ich nicht. Und wenn ihr mich nun entschuldigen würdet, ich muss noch einige wichtige Dinge für seine Exzellenz erledigen.”

Sie wollte sich wieder in Bewegung setzen, wurde jedoch rasch erneut aufgehalten.

„Warte! Kannst du uns wenigstens sagen, woran er genau leidet?"

„Was geht euch das an, verdammt?", knurrte Maomao in Gedanken. „Lasst mich und ihn gefälligst in Ruhe!"

Doch dann kam ihr eine Idee, wie sie sich die nervigen Plagegeister schnell und effizient vom Hals schaffen könnte.

„Das darf ich leider nicht verraten", sagte sie in einem vollkommen gelassenen Tonfall und schenkte ihnen dann ein gemeines Grinsen. „Aber es ist ansteckend und da ich öfters in seiner Nähe bin, würde ich euch daher raten, mich lieber nicht anzufassen."

Die Frau nahm so rasch die Hände von ihren Schultern, als hätte sie sich verbrannt, und sehr bald konnte die Apothekerin ihren Weg auch schon fortführen.

Natürlich würde man sie nicht einfach so frei herumlaufen lassen, wenn Jinshis Krankheit tatsächlich ansteckend gewesen wäre, aber sie hoffte, dass sie die Damen genug verängstigt hatte, dass sie nicht genauer über das Ganze nachdachten und hinter ihre Lügen kamen.

Doch eine Sache war nicht gelogen gewesen: Auch wenn er sich immer noch an nichts erinnern konnte und trotz seiner nächtlichen Angst, ging es Jinshi tatsächlich schon ein wenig besser. 

Zu ihrer gewaltigen Erleichterung hatte er die erste Nacht und auch die nachfolgenden nach seinem Unfall überlebt, sodass es nur mehr oder weniger zur Tatsache geworden war, dass er sich nun außer Lebensgefahr befand. Seitdem Maomao dies klar geworden war, war auch sie deutlich ruhiger geworden. Auch wenn die Schuldgefühle sie noch immer nicht in Frieden ließen, vor allem nachts, wenn sie Jinshi leiden sah.

Und auch seine Wunde heilte gut, wie sie selbst und auch Luomen festgestellt hatten. Der alte Mann hatte nämlich am zweiten Tag Maomaos Brief mit Beschreibungen zu Jinshis Symptomen erhalten und war gekommen, um ihn selbst zu untersuchen. Mit Erlaubnis des Kaisers, natürlich. Zwar war auch Luomen der Meinung, dass besagte Symptome und der immer noch anhaltende Gedächtnisverlust beunruhigend waren, doch teilte seiner Adoptivtochter mit, dass sie aktuell leider nichts für ihn tun konnten, als weiterhin ein Auge auf ihm zu haben und abzuwarten, was geschehen würde. 

Zudem hatte er empfohlen, Jinshi zunächst ein paar Tage Ruhe zu gönnen und dann, wenn der Patient sich selbst bereit dazu fühlte, die ersten Versuche zu wagen, seine Erinnerungen zurückzubringen, ihm bekannte Gegenstände und Räume zu zeigen und von seinem früheren Leben zu erzählen. Langsam und in kleinen Schritten.

Genau dies hatte Maomao auch vorgehabt, denn der junge Herr war in den ersten Tagen nach dem Unfall ohnehin oft schläfrig und erschöpft gewesen. Was ihr, ehrlich gesagt, keineswegs gefiel, da dies ebenfalls ein Symptom für Schäden am Gehirn sein könnte. Aber selbst wenn, konnte sie trotzdem nichts anderes tun, als ihm weiterhin Medizin zu verabreichen und bei ihm zu bleiben. Was sie auch tat.

Und so hatte Jinshi den Großteil jener Tage damit verbracht, sich auszuruhen, Nickerchen zu halten und mit Maomao zu schmusen. So wie es schien, hatte er eine Vorliebe dafür entwickelt, die Arme um sie zu schlingen und seinen Kopf entweder an ihre Schulter oder Brust zu drücken. Maomao hatte nicht den blassesten Schimmer, was an Letzterem so toll sein sollte, da es ihr ja bekanntlich deutlich an Oberweite mangelte, und sie somit wohl eher kein sehr bequemes Kissen abgab, doch beschloss, keine Zeit mit unsinnigen Gedanken zu verschwenden und ließ ihn einfach gewähren, ohne sich zu beklagen. 

Maomao atmete tief aus und schüttelte den Kopf, erneut beschleunigend. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich in Gedanken zu verlieren.

Denn Jinshi würde bestimmt schon bald in seine Gemächer zurückkehren und auf sie warten. Und außerdem müsste sie dem jungen Herrn nach ihrer Rückkehr noch die Haare waschen.

Die Apothekerin hatte Suiren gebeten, während Jinshis Bad das Haarewaschen auszulassen und es ihr selbst zu überlassen, da kein Wasser und schon gar keine Seife an seine Wunde kommen durften und man mit ihr überhaupt noch sehr vorsichtig umgehen musste, solange sie noch heilte. Selbstverständlich war es nicht so, dass sie der älteren Dame nicht vertraute, das tat sie absolut und in ihren Augen gab es keinen geeigneteren Menschen auf der Welt, um sich um Jinshi zu kümmern, aber solche Dinge wollte Maomao dann doch lieber selbst übernehmen. Denn falls doch etwas passieren sollte, wüsste sie zumindest, was zu tun wäre.

Aber davon mal abgesehen war Maomao wirklich froh, dass Jinshi sich auch jetzt sehr gut mit Suiren und auch Gaoshun verstand und ihnen ohne weiteres erlaubte, ihm zu helfen. Auch wenn er sich immer noch nicht daran erinnern konnte, dass sie die Menschen waren, die ihn großgezogen hatten. Aber vielleicht spürte er es ja zumindest ein wenig.

Doch eines der größten Rätsel an seinem Verhalten war für sie, dass sie immer noch die Einzige war, an der er tatsächlich hing. Sogar stärker als früher…

Er schien wirklich jede freie Minute mit ihr verbringen zu wollen. Und so war es auch: die beiden waren nun beinahe ständig zusammen. Morgens, mittags, abends und nachts. Ausnahmen waren nur die Tätigkeiten, die Privatsphäre erforderten, zum Beispiel, wenn sie den Abort benutzten, sich wuschen oder sich umzogen (auch wenn Maomao ihm ab und zu dabei half, seine Kleidung zu wechseln).  

Und zu ihrer eigenen Überraschung musste Maomao zugeben, dass sie es bereits geschafft hatte, sich daran zu gewöhnen. Interessant... hätte man ihr früher erzählt, dass sie eines Tages beinahe ihre gesamte Zeit mit Jinshi verbringen und nachts sogar in seinem Bett schlafen würde, hätte sie bestimmt das Gesicht verzogen und gefaucht wie eine wütende Katze. Aber jetzt…

Die Apothekerin hob den Kopf und blieb stehen. Sie war vor dem Eingang des inneren Palastes angekommen.

***

Etwa dreißig Minuten später war Maomao auch schon in Jinshis Residenz zurückgekehrt und begab sich zusammen mit ihren Habseligkeiten in ihr Zimmer. Sie war leicht außer Atem, da sie den Weg zurück fast schon im Laufschritt bewältigt hatte (verflucht seien jene Hofdamen, die sie vorhin aufgehalten und ihre Zeit verschwendet hatten). Zum Glück hatte es draußen jedoch zumindest angefangen, ein kleines bisschen kühler zu werden.

Mit einem leisen Ächzen nahm die Apothekerin den schweren Korb mit ihren wichtigsten Kräutern, Arzneien und Utensilien vom Rücken und stellte ihn zusammen mit der Tasche, in die sie ihre Kleidung und andere persönliche Gegenstände gestopft hatte, auf den Boden. Dann rieb sie sich kurz die leicht schmerzenden Schultern und begann dann umgehend, immer noch ein wenig schwer atmend, danach zu stöbern, was sie mit in Jinshis Schlafkammer nehmen wollte.

Kleidung... einen Kamm (die letzten Tage über hatte sie mit Suirens Erlaubnis Jinshis benutzt)... einige handschriftliche Notizen über Heilkräuter... aber andererseits sollte sie diese lieber hierlassen, da sie die Medikamente für Jinshi sowieso in ihrem eigenen Zimmer herstellen würde... ein Päckchen mit zwei, nein, drei Pillen Schmerzmittel... ein erfreulicher Fund, doch sie würde am nächsten Tag zur Sicherheit noch mehr machen... und…

Maomaos Hand, mit der sie in ihrer Tasche wühlte, hielt für einen Augenblick inne, als sie etwas Ungewöhnliches ertastete. Was war das denn?

Leicht verwirrt zog sie den Gegenstand hervor. Ein Buch?

Auf einmal fiel es ihr wieder ein. Es war eine Kopie des Romans, der vor einiger Zeit im inneren Palast seine Runden gedreht hatte. Die besorgten Zofen von Dame Gyokuyou, denen sie und auch der Dame selbst kurz geschildert hatte, was Sache war, hatten sie ihr gegeben, da sie die Einzige war, die jene Geschichte noch nicht gelesen hatte, und um sie in ihrer schwierigen Situation „ein wenig aufzuheitern" (zusammen mit jeder Menge Süßigkeiten, die Maomao später an Suiren weitergeben wollte).

Da Maomao weder die Zeit noch den Willen hatte, das Geschenk abzulehnen, welches sie eigentlich nicht im Geringsten interessierte (war ja immerhin kein Buch über Gifte oder Heilkräuter), hatte sie es einfach ohne Nachzudenken in ihre Tasche gesteckt und mitgenommen.

Und da war es nun. Ach, wie auch immer. Die junge Frau zuckte die Achseln, verstaute die Sachen, die sie herausgenommen hatte, in ein Tuch, band es zu einem Bündel zusammen und eilte damit zu Jinshis Schlafkammer. 

Er selbst war zwar noch nicht wieder zurück (Maomao hatte ihm ausdrücklich mitgeteilt, dass er sich bei seinem Bad ruhig Zeit lassen konnte), würde aber wohl schon bald erscheinen. Maomao blieb stehen und schnürte ihr Bündel auf, um nun in aller Ruhe und einer Selbstverständlichkeit und Vertrautheit, die ihr selbst etwas eigenartig vorkam, einige ihrer Sachen auf den Tisch neben seinem Bett zu platzieren, wo bereits ihre anderen Arzneien standen.

„Maomao! Da bist du ja!" Die Apothekerin drehte sich um, als sie jene fröhliche Stimme hörte, und erblickte einen vor Freude strahlenden Jinshi an der Tür. „Hast du alles geholt, was du benötigst?"

Er sah so glücklich aus, als wäre es ihr erstes Wiedersehen nach mehreren Jahren.

„Habe ich, Herr", sagte sie bloß.

„Seine Haare habe ich nicht gewaschen, Xiaomao, so wie du es mir gesagt hast." Suiren, die den jungen Herrn begleitet hatte, ließ nun seinen Unterarm los. Sie war immer noch äußerst besorgt um ihn und hakte sich jedes Mal bei ihm unter, wenn sie ihn irgendwohin führte, um ihn beim Gehen ein wenig zu stützen. Zwar war dies nicht unbedingt nötig, doch da es Jinshi selbst überhaupt nichts auszumachen schien, sagte auch Maomao nichts dazu.

„Vielen Dank." Die Apothekerin verbeugte sich kurz vor der obersten Zofe. „Ich werde mich sogleich darum kümmern." 

„Sehr gut. Dann gehe ich und hole das Wasser.”

Währenddessen begab sich Jinshi, wie von einem Magneten angezogen, schnurstracks zu ihr, legte ihr einen Arm um die Schultern, drückte sie an sich, beugte sich nach unten und gab ihr einen Kuss auf die Wange, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Maomao hatte sich bereits so sehr daran gewöhnt, von ihm seit dem Tag des Unfalls so gut wie unaufhörlich mit Zuneigung überschüttet zu werden (na kein Wunder, schließlich hatte sie ganze drei Nächte hintereinander in seinen Armen geschlafen), dass sie nicht einmal das Gesicht verzog, sondern sich weiterhin seelenruhig ihren Sachen zuwendete. 

Er roch nach Seife und Parfüm, und sein Gesicht war leicht gerötet, sodass es auch ohne feuchte Haare sofort klar wurde, dass er soeben ein Bad genommen hatte. Wie so oft kam Maomao der Gedanke, dass ihn kein Außenstehender jemals so zu Gesicht bekommen durfte, während sie schweigend sein Schlafgewand richtete, welches während der Umarmung etwas nach unten gerutscht war und eine seiner Schultern, sein Schlüsselbein und die makellose Haut an seinem Hals entblößte. Auf keinen Fall. Und vor allem nicht in seinem derzeitigen Zustand, der ihn quasi schutzlos machte und in dem er wohl kaum in der Lage wäre, sich unerwünschte „Verehrer" vom Hals zu halten.

So sahen die Gedanken aus, welche sich in jenem Moment hinter ihrem vollkommen neutralen Gesichtsausdruck verbargen.

Aus dem Augenwinkel konnte Maomao erkennen, dass Suiren ihnen beiden ein mildes Lächeln schenkte, während sie ihnen ohne ein Wort zu sagen zusah. In jener Hinsicht hatte Jinshi sich ebenfalls verändert, fand die Apothekerin: nun war er in der Lage, ihr seine Zuneigung ohne jede Verlegenheit vor den Augen anderer Leute zu schenken. Früher hätte er rote Wangen bekommen, wenn jemand gesehen hätte, wie er sie so umarmte, mal ganz davon zu schweigen, dass er kaum ihren Namen über die Lippen bringen konnte, ohne zu stammeln. Und jetzt war all dies überhaupt kein Problem mehr für ihn, sodass er ihr nicht nur Umarmungen, sondern sogar Küsse gab (jedoch selbstverständlich nicht auf die Lippen). Ganz selbstverständlich und offen, wann immer er wollte, ohne sich um mögliches „Publikum" zu scheren.

Maomao hatte ganz ehrlich keine Ahnung, was sie davon halten sollte…

Die Apothekerin hüstelte und wendete sich wieder ihren Päckchen mit den Heilkräutern zu. Sie spürte Jinshis Arm immer noch um ihre Schultern und seinen warmen Atem an ihrem Ohr. So wie es aussah, hatte er sich erneut zu ihr gebeugt und schaute ihr gerade interessiert bei ihrer Tätigkeit zu. Das tat er häufig, wenn sie mit der Medizin und den Kräutern hantierte (sie zum Beispiel sortierte oder ihm Tee daraus kochte) und Maomao ließ ihn gewähren. Es machte ihr nichts aus.

„Benötigt Ihr gerade etwas, junger Herr?", hörte sie die ältere Dame fragen. Offenbar war sie kurz davor, den Raum zu verlassen. 

„Nein, danke dir, Suiren. Und auch vielen Dank für deine Hilfe eben."

Obwohl Jinshi, wie bereits früher erwähnt, sich noch immer an niemanden erinnern konnte, hatte er inzwischen angefangen, auch Suiren und Gaoshun beim Namen zu nennen, sobald er diese gelernt hatte. Und eine gewisse Vertrautheit zu ihnen zu entwickeln (auch wenn dies kein Vergleich dazu war, wie vertraut er mit Maomao umging). Maomao war wirklich, wirklich froh darum. Sie merkte ganz deutlich, dass dies die oberste Zofe glücklich machte und ihr Hoffnung gab. Und auch Gaoshun hatte ein kleines Lächeln gezeigt, als er zum ersten Mal seit dem Gedächtnisverlust seines Herrn seinen Namen aus dessen Mund gehört hatte.

„Hoffentlich ist das ein gutes Zeichen, dass er tatsächlich nicht für immer so bleiben wird" , dachte die Apothekerin. 

„Oh, das ist doch ein Buch, nicht wahr?", fragte Jinshi auf einmal und Maomao konnte sehen, wie er seine freie Hand ausstreckte und nach dem besagten Gegenstand griff, der auf einer Ecke des Tisches lag.

Mensch! Hatte sie das Ding also schon wieder mitgenommen, ohne es zu merken. Na wunderbar...

„Ja, Herr. Das ist ein Roman, den ich heute geschenkt bekommen habe." Sie verzichtete auf genaue Erklärungen, um ihn nicht zu verwirren.

„Wovon handelt er denn?"

„Das weiß ich nicht genau, aber soweit ich verstanden habe, ist es eine Liebesgeschichte."

„Ach?"

Jinshi ließ Maomao los und sie drehte sich zu ihm um und sah, dass er gerade dabei war, das Buch neugierig aufzuschlagen. Rasch nahm sie es ihm weg.

„Maomao?"

„Ihr dürft noch nicht lesen, Eure Exzellenz. Dies könnte Euer Gehirn zu sehr anstrengen. Wartet bitte noch ein paar Tage ab." Ihre Stimme klang streng, so wie immer wenn sie ihm etwas verbot, ihm klar machend, dass es keinen Raum für Widerworte gab. Nun, zumindest für den jetzigen, gehorsamen Jinshi. Der frühere hätte zweifellos protestiert.

„Oh..." 

Die Enttäuschung stand dem Mondprinzen ganz deutlich im Gesicht geschrieben. Es tat ihr leid, aber er litt nun mal immer noch regelmäßig an Kopfschmerzen und sie fürchtete, dass diese durch das Lesen verstärkt werden konnten. Daher wollte sie lieber nichts riskieren. Mal ganz zu schweigen, dass er eine solche Geschichte bestimmt sowieso langweilig finden würde. Auch wenn sie es nicht mit Sicherheit sagen konnte, da sie seine literarischen Vorlieben ja nicht kannte. 

Daraufhin sah sie, wie die immer noch lächelnde Suiren, statt aus dem Raum hinaus- nun auf sie beide zuschritt.

„Hm, wie wäre es denn, wenn du dem jungen Herrn vorliest, Xiaomao? Dann wäre es doch kein Problem mehr, oder?"

Auf der Stelle weitete Jinshi die Augen und öffnete leicht den Mund.

„Nun..."

„Bitte, Maomao!", unterbrach er die Apothekerin, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr direkt in die Augen. Sein Blick erinnerte sie an einen kleinen Welpen, der um einen Leckerbissen bettelte. „Bitte!"

Sie atmete tief aus. 

„Ich habe nichts dagegen, doch zuvor muss ich Euch die Haare waschen."

Und bevor sie sich versah, fand sie sich auf der Stelle in einer weiteren festen Umarmung wieder.

„Vielen Dank, Maomao!"

„Das Waschen kann ich doch erledigen, Xiaomao."

„Dame Suiren? Aber..."

„Ich weiß, dass du dir Sorgen um seine Wunde machst, aber ich versichere dir, dass ich wirklich vorsichtig sein werde, schließlich wasche ich es schon seit er ein kleiner Junge ist. Und falls trotz allem doch etwas passieren sollte, bist du ja jetzt da."

Nachdem sie solch überzeugende Argumente vernommen hatte, gab Maomao sich schließlich mit einem leisen Seufzer geschlagen.

***

Wenig später hatte Suiren bereits einen Bottich mit Wasser und alles Notwendige für das Haarewaschen geholt (sowohl Jinshi als auch Maomao wollten ihr beim Tragen helfen, doch sie lehnte ab) und trat hinter ihren Herrn, der brav auf einem Stuhl saß und auf die Prozedur wartete. Sie hob seine Haare an und platzierte ein Handtuch auf seinen Schultern. 

Maomao legte die Bandagen, die sie von seinem Kopf abgewickelt hatte, auf den Tisch und klemmte sich das Buch unter den Arm, um sich einen anderen Stuhl zu holen und diesen neben den seinen zu stellen, damit sie sich zum Vorlesen hinsetzen konnte. Sie musste zugeben, dass sie sogar ein wenig neugierig war, wie ihm jene (ihrer Meinung nach und dem nach zu urteilen, was sie von den anderen Frauen darüber gehört hatte) unfassbar kitschige und überpoetische Liebesgeschichte wohl gefallen würde.

„Maomao."

Gerade als sie nach dem Stuhl greifen wollte, hörte sie seine Stimme und drehte sich um.

„Ja, Herr?"

Jinshi streckte sanft lächelnd die Arme in ihre Richtung aus.

„Komm bitte her."

Die Apothekerin verstand nicht so ganz und hob eine Augenbraue.

„Einen Moment. Ich hole mir bloß schnell diesen Stuhl hier.”

„Das meinte ich nicht..." Der junge Herr kratzte sich an der Wange und wendete für eine Sekunde den Blick ab, ein wenig rot werdend. Nun sah er doch leicht verlegen aus.

Maomao begriff daraufhin noch weniger, was genau er von ihr wollte.

Aber dann sah sie, wie er sie erneut bittend anblickte und sich mit einer Hand auf den Schoß klopfte.

Oh. Jetzt hatte sie es kapiert.

Und wusste gar nicht so recht, was sie dazu sagen sollte.

Suiren bedeckte sich den Mund, wohl, um ein leises Lachen zu verbergen.

„Der junge Herr hat dich vermisst, weißt du, Xiaomao."

„Ich war doch nicht einmal eine Stunde weg…", dachte Maomao, nahm dann jedoch das Buch in die Hand und begab sich zu Jinshi. Ohne den Stuhl.

Chapter 67: Amnesie, Teil 10: Lesezeit

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Mit dem Roman in der Hand begab Maomao sich zu dem auf dem Stuhl sitzenden, lächelnden Jinshi und nahm nach einigen Augenblicken des Zögerns auf seinem Schoß Platz (denn sie hatte sich zwar an seine ständige Nähe gewöhnt, doch solche Dinge fielen ihr immer noch nicht leicht - vor allem, wenn sie dabei von jemand anderem beobachtet wurde). 

Umgehend schlang er seine Arme um sie und zog sie noch ein wenig näher zu sich heran, die Hände auf ihrem Bauch verschränkend, um sie an Ort und Stelle zu halten.

Seine Hände waren zwar immer noch ziemlich kühl, aber glücklicherweise längst nicht mehr so eiskalt wie noch vor einigen Tagen. Wie aus einem Reflex heraus begann die Apothekerin prompt, sie mit einer ihrer eigenen ein wenig zu reiben, zusätzlich zu der Wärme ihres Bauches, welche er an seinen Handflächen spüren musste.  

Leichtes Erstaunen legte sich zunächst auf Jinshis Gesicht, während er sie beobachtete. Aber dann setzte er ein noch breiteres Lächeln auf und hob kurz die Hand, um der jungen Frau statt eines gesprochenen Dankeswortes liebevoll mit dem Daumen über den Handrücken zu streicheln bevor er sie erneut mit beiden Armen drückte. Noch fester als zuvor.

Als Suiren dann wenig später ihre Vorbereitungen abgeschlossen und begonnen hatte, ihrem Herrn die Haare zu waschen, stets darauf Acht gebend, dabei nicht mit seiner Wunde in Berührung zu kommen, schlug Maomao schließlich das Buch auf und fing an, ihm die erste Seite vorzulesen.

Schon nach den ersten Sätzen musste sie sich zusammenreißen, um das Gesicht nicht zu verziehen und ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Was für ein übertriebener, peinlicher, kitschiger Stuss! Was war daran bloß so toll, dass so gut wie alle Frauen des inneren Palastes davon schwärmten und es bei einigen Mägden sogar den Wunsch erweckt hatte, Lesen und Schreiben zu lernen? Das war doch kaum zum Aushalten! Wenn Jinshi es gewagt hätte, so zu ihr zu sprechen, wie der Held im Roman es zur Protagonistin tat, wäre sie erschaudert und hätte sicherlich sogar für eine Sekunde vergessen, dass er ein Adeliger war, und ihm einen Tritt verpasst! Na ja, dem aktuellen Jinshi vielleicht nicht, aber dem früheren ganz bestimmt…

Der Geschmack anderer Leute war Maomao so ziemlich egal, doch sie konnte einfach nicht anders, als solche Gedanken zu hegen.

Wäre sie jetzt allein gewesen, hätte sie das Ding bestimmt einfach in irgendeine Ecke gepfeffert und wäre gegangen, um etwas Sinnvolleres zu tun, wie, zum Beispiel, Heilkräuter in ihrem Mörser zu zermahlen. Verstohlen hob sie den Kopf, um nach Jinshis Reaktion zu sehen. Er lächelte immer noch und seine Wangen waren leicht gerötet. Hm, also schien es ihm wohl trotz allem zu gefallen. Na gut, dann hatte sie eben keine Wahl, als weiterzulesen. 

„Ein wenig überrascht es mich schon, dass er solche Geschichten doch zu mögen scheint", dachte Maomao und runzelte leicht die Stirn. Aber dann entspannte sie sich wieder. Ach, was soll's, dann tat er es eben, na und? Wer war sie schon, um über ihn zu urteilen?

Einige Zeit lang war ihre Stimme das einzige Geräusch in der stillen Kammer, wenn man von Jinshis gelegentlichem Kichern absah, wenn sie beim Vorlesen die dramatischsten Monologe des Helden erreichte.

„Ach, dann findet er es also doch genauso peinlich wie ich, was?"

Nach einem weiteren solchen Monolog hielt Maomao es schließlich nicht mehr aus. Sie hatte sich schon zu lange zusammengerissen.

„Was sollst du unter den Blumen schon vergraben finden?! Pferdeäpfel! Pferdeäpfel findest du da! Mensch!", murrte sie genervt. Es war dieselbe Stelle, die Xiaolan ihr mal zitiert hatte, wie sie sich nun erinnerte. 

Als ihr bewusst wurde, was ihr da gerade herausgerutscht war, schlug sie sich erschrocken die Hand vor den Mund. Doch es war zu spät: die beiden anderen hatten sie zweifellos gehört und sahen sie mit großen Augen an.

„Xiaomao!", tadelte Suiren sie mit leichter Belustigung in der Stimme.

„Verzeihung..."

Jinshi dagegen sah so aus, als würde er gleich platzen, so rot wie er im Gesicht angelaufen war und wie sein Brustkorb zu beben begann.

Bis er letztendlich nicht mehr konnte und in Gelächter ausbrach. Er lachte so sehr, dass ihm Tränen in die Augen stiegen und er kaum Luft bekam. Maomao musste sich an seiner Kleidung festhalten, um nicht von seinem Schoß zu rutschen.

„Haha... Maomao... du… du solltest... hahaha... echt eine eigene Version dieses Buches verfassen.... das wäre bestimmt... haha... eine wahre Komödie..." Er tippte ihr mit dem Zeigefinger spielerisch auf die Nase.

„Was das wirklich so lustig?", dachte Maomao leicht verwirrt. Sie hatte doch bloß ein wenig Kritik geäußert, sonst nichts. 

Suiren hörte kurz mit dem Waschen auf und strich ihm über die immer noch bebenden Schultern, darauf wartend, dass er sich wieder beruhigte. Wäre die Situation eine andere gewesen, hätte sie ihn jetzt bestimmt ermahnt, und auch Maomao wäre sicherlich sauer geworden. Doch es war das erste Mal, dass er seit dem Unfall so herzlich lachte, sodass die beiden nicht das allerkleinste Verlangen verspürten, ihn zurechtzuweisen.

„Haha... entschuldigt bitte, ihr zwei...", brachte er nach einiger Zeit hervor und wischte sich die Lachtränen vom Gesicht, während ein paar kleine Rinnsale von schaumigem Wasser sein nasses Haar herab- und seine Schläfen entlangflossen.

„Schon in Ordnung, Herr", murmelte Maomao.

„Mach bitte beim Lesen noch mehr solcher Kommentare, ja?", bat Jinshi mit einem Grinsen, welches ihn wie einen frechen kleinen Jungen aussehen ließ.

„Hör nicht auf den jungen Herrn, Xiaomao, sonst werde ich ja nie mit dem Haarewaschen fertig!"

Maomao atmete tief durch und fuhr einfach mit dem Lesen fort, ohne ihnen eine Antwort zu geben.

Während die Hände der obersten Zofe behutsam den Schaum aus den langen Haaren des jungen Mannes spülten, ertönte die leicht monotone Stimme der Apothekerin erneut im Zimmer. Maomao hatte sich beim Lesen, ohne es zu merken, seelenruhig an seine Brust gelehnt, als wäre es ihr bereits zur Gewohnheit geworden. Nun, in gewisser Weise war es das auch, um ehrlich zu sein.

Doch bevor sie wieder einmal zur nächsten Seite umblätterte, hielt sie auf einmal kurz inne. Irgendetwas war… seltsam. Schon seit mehreren Minuten hatte sie von Jinshi weder ein Kichern noch ein einziges Wort gehört.

Seine Atemzüge waren tief und ruhig... ihr kam da ein gewisser Verdacht und sie blickte in sein Gesicht auf.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Schließlich war es ja nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. Nicht das erste Mal während der letzten Tage, genauer gesagt.

„Er ist eingeschlafen...", bemerkte sie leise und schlug das Buch zu. Überrascht klang sie nicht. Kein bisschen.

Suiren hörte daraufhin auf, sorgfältig das nun klare Wasser aus Jinshis Haaren in den Bottich zu drücken, und sah ihm ebenfalls ins Gesicht.

„Oh, tatsächlich. Und ich habe mich bereits gewundert, warum er so still geworden ist." Ihr war es also auch aufgefallen. „Nun, es ist ja bereits Abend."

Dass Jinshi an jenem Tag bereits vormittags und nachmittags jeweils ein Schläfchen gehalten hatte, ließen beide Frauen unerwähnt. 

„Irgendwie habe ich bereits geahnt, dass so etwas passieren würde...", dachte Maomao. 

***

Suiren und Maomao stießen gleichzeitig einen müden Seufzer aus. Sie bemühten sich stets, eine möglichst positive Atmosphäre um Jinshi herum aufrecht zu erhalten, um ihm keinen unnötigen Kummer zu bereiten, der seinen Heilungsprozess behindern könnte, aber da er nun schlief, konnten sie sich gestatten, zumindest ein bisschen von ihrer niemals endenden Besorgnis nach außen hin zu zeigen.

Denn auch wenn es ihm bereits besser ging als noch vor drei Tagen, machte sein Gedächtnis einfach keine Anstalten, zu ihm zurückzukehren, egal wie viel Zeit sie mit ihm verbrachten. Und selbst die Erinnerungen an seine eigene Residenz blieben fern, keinen einzigen Raum konnte er wiedererkennen. Der einzige Fortschritt war möglicherweise (wenn man es denn als solchen bezeichnen konnte), dass er sich mittlerweile zumindest seine Schlafkammer eingeprägt hatte und auch den Weg zum Abort.  

Und Maomao wusste: je länger eine Amnesie andauerte, desto mehr sank die Chance, dass das Gedächtnis überhaupt zurückkommen würde... Ein unangenehmes Gefühl, dass ihnen die Zeit davonlief, nagte an ihr Tag für Tag... und doch durfte sie nichts überstürzen, sondern musste geduldig sein mit Jinshi und es langsam angehen lassen. Denn andernfalls würde es ganz bestimmt nach hinten losgehen und alles nur noch schlimmer machen.

Die Apothekerin biss die Zähne zusammen. Sie durfte Jinshi nicht überfordern, sonst wären weitere Panikattacken und unerträgliche Kopfschmerzen und Albträume für ihn vorprogrammiert. Auch wenn sie wusste, dass sie ihn nicht für immer so schonen können würde... irgendwann MUSSTE Jinshi sich seiner Vergangenheit stellen, um sie wieder zurückzuerlangen. Es ging nicht anders.

Eine Vergangenheit, von der Maomao selbst so gut wie nicht die geringste Ahnung hatte (da sie sich größtenteils geweigert hatte zuzuhören, als er ihr die Wahrheit über sich selbst verraten wollte). Doch dem nach zu urteilen, was sie sehr wohl wusste, nahm sie an, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit ein ziemlich unangenehmer und auch schmerzhafter Prozess für ihn werden würde. Und da sie diejenige war, die all jenes Leiden über ihn gebracht hatte, würde sie selbstverständlich bei ihm bleiben und ihm zur Seite stehen. So gut sie eben konnte.

Maomao legte sich das Buch auf den Schoß und presste die Lippen zusammen. So wie es aussah... würde auch sie sich eines Tages Jinshis Vergangenheit stellen müssen, was? Jedoch war sie sich nicht sicher, ob sie dazu überhaupt bereit war... Oder nein, eher ob sie jemals dazu bereit sein würde... Aber sie musste. Auch bei ihr ging es nicht anders.

Sie seufzte erneut. Wie auch immer. Sich jetzt so zu quälen, würde sowieso nichts an dem Ganzen ändern. Sie würde einfach weiterhin Jinshis Gesundheit im Auge behalten und in den nächsten Tagen nach und nach beginnen, ihm die Räume seiner Residenz zu zeigen, in der Hoffnung, dass dies etwas brachte. Ihm mit viel Geduld alles erklären und ihm die Stütze sein, für die er sie hielt. Auch wenn sie sich immer noch ziemlich nutzlos vorkam, nicht gut genug, um ihm wirklich zu helfen.

Wie aufs Stichwort spürte sie daraufhin Jinshis Kinn auf ihrem Kopf. Sein eigener war im Schlaf nach vorne gekippt.

Doch sein Griff um ihren Bauch blieb fest.

Suiren, die inzwischen das Haar des jungen Herrn mit dem Handtuch abgetrocknet hatte, legte ihm Letzteres wieder zurück auf die Schultern und trat zur Seite. 

Sie und die Apothekerin blickten sich gegenseitig an.

„Er schläft ganz schön viel, nicht wahr?", brach die oberste Zofe schließlich nach einer Weile mit besorgter Stimme das Schweigen.

„Ja." Mehr konnte Maomao nicht dazu sagen. Sie hatte Suiren darüber informiert, dass Jinshi nachts hin und wieder Probleme beim Schlafen hatte, ihr jedoch die Einzelheiten dazu verschwiegen. Wieso? Nun, sie brachte es einfach nicht über sich, ihr und auch Gaoshun zu erzählen, dass Jinshi jede Nacht weinte. 

„Der arme Junge..."

Suiren strich ihm liebevoll durch das immer noch feuchte Haar. Eine Geste tiefer Zuneigung, die Maomao so noch nie von ihr gesehen hatte, doch sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass die ältere Dame bestimmt auch früher solche Dinge gemacht hatte, als er noch klein gewesen war. Sie war mehr als bloß eine Dienerin für ihn und er war mehr als bloß ihr Herr für sie. So viel war offensichtlich.

„Er hat so glücklich ausgesehen, als du zugestimmt hast, ihm das Buch vorzulesen. Deshalb habe ich angeboten, ihm an deiner statt das Haar zu waschen."

„Ich verstehe..." Ja, Maomao verstand es tatsächlich sehr gut. Der junge Mann machte gerade so viel durch, dass man einfach nicht anders konnte, als ihm jedes winzige Stückchen Glück zu gewähren, das er bekommen konnte. Wer konnte es auch besser begreifen als sie, die jede Nacht sein Zittern spürte und ihm die Tränen wegwischte?

Zum tausendsten Male kam ihr der bittere Gedanke, dass er das alles nicht verdient hatte.

Suiren begab sich zu einem Schrank und holte eine Decke hervor, die sie statt des Handtuchs um Jinshis Schultern legte und ihn und auch Maomao damit bedeckte. Denn sie wurde auch darüber informiert, dass er abends und nachts trotz der warmen sommerlichen Temperaturen öfters fror.

Maomao konnte sich immer noch an den Schock in Suirens Gesicht erinnern, als die oberste Zofe zum ersten Mal nach dem Unfall eine von Jinshis Händen berührt hatte, um ihm aus dem Bett zu helfen, und dabei feststellte, wie eiskalt diese war. Und das Schrecklichste dabei war gewesen, dass die Apothekerin ihr überhaupt nicht versichern konnte, dass es nichts Schlimmes bedeutete, denn sie wusste ja selbst nicht, ob es das tat.

„Weißt du, Xiaomao, während ich ihn durch die Korridore führte,das Bad für ihn vorbereitete und ihm mit seiner Kleidung half, hat der junge Herr ständig von dir gesprochen. Nur von dir allein.”

Maomao sagte nichts dazu. Es war nichts Neues für sie, wie sehr er seit seinem Gedächtnisverlust an ihr hing.

„Nun, einige Dinge ändern sich nie, vermute ich mal."

Daraufhin sah Maomao verblüfft zu der obersten Zofe auf. 

„Hä?"

Hatte sie sich da gerade verhört?

Doch Suiren schenkte ihr bloß ein leicht melancholisches Lächeln.

„Bring den jungen Herrn bitte ins Bett, sobald er aufwacht, Xiaomao."

„Sehr wohl..." 

Ohne ein weiteres Wort zündete Suiren einige Kerzen im Raum an, legte sich das nasse Handtuch auf die eigene Schulter, hob den Bottich mit dem schaumigen Wasser hoch und verließ den Raum, die immer noch etwas verwirrte Maomao mit dem schlafenden Jinshi zurücklassend.

***

Als die Tür sich hinter Suiren geschlossen hatte, blinzelte Maomao einige Male, drängte die Worte, die sie gerade gehört hatte, irgendwo in eine leere Ecke ihres Verstandes und hob die Hand, mit dem Zeigefinger behutsam Jinshis Wange berührend. Er schlief weiterhin tief und fest und reagierte nicht darauf. Seine Nackenmuskulatur war im Schlaf erschlafft und sein Kinn drückte schwer auf ihren Kopf. Wäre sie nicht auf seinem Schoß gesessen, hätte der junge Herr möglicherweise sein Gleichgewicht verloren und wäre vom Stuhl gekippt.

Die Apothekerin begann nachzudenken, was sie jetzt wohl am Besten tun sollte. Sie überlegte kurz, ihn aufzuwecken, schließlich hatte sie ja keine Ahnung, wie lange er noch so schlummern würde (seine Nickerchen tagsüber konnten auch schon mal mehrere Stunden dauern), aber andererseits... wollte sie es einfach nicht. Schließlich würde schon bald die Nacht anbrechen, die von ihr gehasste und von ihm so sehr gefürchtete Nacht, in der er so gut wie keine richtige Erholung bekam.

Maomao drehte den Kopf Richtung Fenster und blickte stirnrunzelnd auf die langsam untergehende Sonne, welche die Umgebung in ein orangefarbenes, fast schon blutrotes Licht tauchte. Wie würde die neue Nacht wohl werden? Eine mehr oder weniger ruhige oder eine fürchterliche wie die allererste nach dem Unfall? Das wusste keiner. Sie schauderte bei dem bloßen Gedanken daran, dass Jinshi sich bereits in wenigen Stunden erneut in Tränen aufgelöst und wie Espenlaub zitternd an sie klammern könnte. Vollkommen verängstigt und Schmerzen leidend.

Unbewusst legte sie ihre Hand auf eine von seinen, die sich immer noch auf ihrem Bauch befanden, und lehnte sich mit einem etwas schwer zu beschreibenden Gesichtsausdruck erneut an seine Brust. Es war entschieden: sie würde ihn erstmal einige Zeit lang schlafen lassen und dann weitersehen.

Sie gähnte, nun auch die eigene Müdigkeit spürend. Hm, seltsam, und dabei hatte sie doch den ganzen Tag nicht sonderlich viel gemacht. Nicht einmal Hausarbeiten musste sie aktuell erledigen. Vielleicht war sich um den amnestischen Jinshi zu kümmern doch anstrengender, als es ihr auf dem ersten Blick vorkam, und zehrte daher an ihren Kräften. Sogar mit Suirens Hilfe.

Ein wenig später begann sie zu fühlen, wie ihre Augenlider ein wenig schwer wurden. Vielleicht sollte sie die Zeit nutzen und ebenfalls ein wenig schlafen...

Doch stattdessen begannen ihre Gedanken erneut zu wandern und abzuschweifen, während sie zum wiederholten Male seinen gleichmäßigen Herzschlag an ihrem Körper spürte.

Unter anderem konnte sie nicht anders als erneut darüber nachzudenken, dass Jinshi, selbst wenn man die unruhigen Nächte bedachte, nun deutlich mehr schlief als früher. Und schneller müde wurde, manchmal so schnell, dass er einfach so ohne Vorwarnung einschlief. So wie jetzt. Es beunruhigte sie immer noch sehr. So sehr, dass sie darüber nachdachte, ihm ein Stärkungsmittel zu bereiten, jetzt wo sie ihre Sachen endlich geholt hatte. Aber würde es ihm wirklich etwas bringen?

„Wenigstens überarbeitet er sich nicht mehr", dachte sie. „Und für jemanden, der eine solche Kopfverletzung davongetragen hat, dass er sogar sein Gedächtnis verliert, geht es ihm doch sonst eigentlich ganz gut, nicht wahr? Bestimmt ist er schon bald wieder ganz der Alte."  

Tja, eine Optimistin war unsere Maomao zwar keineswegs, aber in einem solchen Fall verspürte selbst sie das Bedürfnis, nach positiven Aspekten zu suchen. 

„Maomao...", hörte sie ihn nicht zum ersten und ganz bestimmt auch nicht zum letzten Mal im Schlaf murmeln und erwischte sich bei dem Gedanken, wie es früher war, als er sie meistens bloß „Apothekerin" oder „das Mädchen" oder einfach nur „du" genannt hatte. In nur wenigen Tagen hatte sich so viel geändert…

Ach, wenn sie doch bloß die Zeit zurückdrehen und den Unfall ungeschehen machen könnte... Die Apothekerin biss sich auf die Unterlippe, sich erneut für ihre Dummheit verfluchend. Wenn sie diese blöden Vögel ignoriert hätte, wäre das alles nicht passiert... 

„Es tut mir so leid, Eure Exzellenz", sagte sie leise und klopfte ihm sanft auf den Arm. Wenn das alles irgendwann vorbei sein würde, würde sie sich noch anständig bei ihm entschuldigen. Und es ihm überlassen, ob er ihr tatsächlich verzeihen wollte oder nicht. Falls nicht, würde sie es verstehen... denn nicht einmal sie selbst hatte sich bisher verziehen.

Und als hätte Jinshi ihre Gedanken und Gefühle im Schlaf gespürt und wollte sie trösten, umarmte er sie noch etwas fester und murmelte erneut ihren Namen.

Das seltsame Gefühl, das sie während der letzten Tage verspürt hatte, machte sich daraufhin wieder einmal bemerkbar: das Gefühl, dass der neue Jinshi ihr gleichzeitig so fremd, aber auch so vertraut vorkam wie nie zuvor... so wahnsinnig vertraut und doch so anders. Es war, ehrlich gesagt, unfassbar verwirrend. 

Zum Beispiel hätte sie nie gedacht, dass Jinshi noch anhänglicher werden konnte als er bereits gewesen war. Wenn sie sich da mal nicht gründlich geirrt hatte.

Das Bild eines kleinen Entenkükens, welches piepsend seiner Mutter nachwatschelte, erschien vor ihrem inneren Auge und ließ sie aufseufzen. 

Jedes Mal, wenn sie bei ihm war, war es so, als würden seine Hände ein Eigenleben entwickeln und sich wie von selbst auf ihre Schultern oder ihren Kopf legen oder nach ihren Händen greifen. Und außerdem umarmte er sie ständig, wollte sie so nah wie möglich bei sich haben. Maomao kam sich ehrlich gesagt fast schon wie ein Stofftier vor, so oft wie sie gedrückt wurde. An einem einzigen Tag öfter als in ihrem gesamten Leben davor.

Und zu ihrer riesigen Überraschung... machte ihr dies nach all dem, was passiert war, nicht wirklich etwas aus. Aber es war immer noch erstaunlich.

Doch natürlich ging ihr das Ganze trotzdem ab und zu auf die Nerven, zum Beispiel, wenn er sie so fest umarmte, dass sie sich kaum bewegen konnte, doch sie beklagte sich nie. Auch wenn sie ihm klar machte, wenn es ihr doch zu viel wurde, und leicht zu zappeln begann. Dann lockerte er mit einer Entschuldigung seinen Griff, ließ sie jedoch nicht los. Letzteres tat er nur, wenn sie ihn mit Worten darum bat.

Was ihr dagegen sehr wohl und ganz schön heftig zu schaffen machte, war seine unfassbare Ehrlichkeit und Direktheit. Manchmal wusste sie einfach immer noch nicht, wie sie damit umgehen sollte.

Vorbei war es mit vagen Andeutungen und Ähnlichem. Nun sagte Jinshi genau das, was er dachte. Jederzeit. Und wenn es mal vorkam, dass er doch etwas nicht laut aussprechen wollte, schwieg er einfach und sah sie bloß an. Er log nie, das konnte sie ihm ganz genau ansehen.

Dies führte dazu, dass er manchmal schier unglaubliche Dinge von sich gab, die Maomao sprachlos machten.

„Du bist doch mein Licht!", hatte er ihr während der ersten Nacht gesagt. Zwar begriff sie immer noch nicht ganz, was damit genau gemeint war, doch wann immer sie an jene Worte zurückdachte, spürte sie ein seltsames Kribbeln in ihrer Magengegend. Leicht, aber deutlich bemerkbar.

Es war wirklich nicht einfach mit ihm. Auch wenn sie sich früher hin und wieder gewünscht hatte, dass er sein nerviges Gefunkel und sein falsches zuckersüßes Lächeln ablegen und sich ein wenig natürlicher benehmen möge.

„Man sollte aufpassen, was man sich wünscht", murmelte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Denn es könnte wahr werden..."

***

„Mmh?”

Etwa eine halbe Stunde später, als Maomao tatsächlich bereits im Begriff war einzunicken, begann Jinshi, sich zu regen, wachte mit einem herzhaften Gähnen auf und hob den Kopf.

Verschlafen blinzelnd kam er nach und nach wieder zu sich und weitete leicht die Augen, als er feststellte, dass er immer noch auf dem Stuhl saß und Maomaos angenehmes Gewicht auf seinem Schoß spürte. Sie beide waren in eine Decke gewickelt und die junge Frau blickte in sein Gesicht auf. Zwar sah sie weder verärgert noch genervt aus, gab jedoch auch kein Wort von sich.

Jinshi schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln.

„Ich bin eingeschlafen, nicht wahr? Tut mir leid..."

Er hatte es wirklich nicht mit Absicht gemacht.

„Nicht schlimm, Herr", sprach Maomao endlich und schälte sich aus der Decke, um aufzustehen. „Ihr seid müde. Kommt, ich bringe Euch ins Bett."

Sie legte das Buch auf den Tisch und untersuchte kurz Jinshis Wunde, bevor sie seinen Kopf erneut mit Bandagen umwickelte. Dann strich sie ihm durchs Haar, um zu prüfen, ob es nicht vielleicht noch ein wenig feucht war, und griff dann nach seiner Hand, damit er vom Stuhl aufstand.

Die ganze Zeit zierte ein kleines Lächeln Jinshis Lippen, welches nur zu deutlich verriet, wie wohl er sich in ihrer Nähe fühlte.

Notes:

Okay, so wie's aussieht, war ich wohl ein bisschen zu großzügig mit meiner 10-14 Tage-Einschätzung, (im Moment zumindest) sind es wohl eher 7-10 Tage, abhängig von meiner Freizeit und der Kapitellänge.

Chapter 68: Amnesie, Teil 11: Gegensätzliche Gedanken und Gefühle

Notes:

Drei Donnerstagsuploads hintereinander, hehe. :)
Dieses Kapitel besteht aus zwei Szenen, die ich eigentlich später irgendwo einfügen wollte, aber dann spürte, dass es HIER sein muss.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Es war eine weitere warme Sommernacht, gehüllt in eine tiefe, schwere Finsternis, die alles auf Erden zu verschlucken schien. Jedoch wurde sie nun zumindest schwach beleuchtet von einer dünnen, bleichen und am wolkenlosen Nachthimmel hängenden Mondsichel. Ein mäßiger Wind wehte durch den kaiserlichen Palast und riss einige von der tagsüber herrschenden Hitze ausgetrocknete Blätter von den Bäumen, sie durch die Luft fliegen lassend.

Ein paar brennende Kerzen und Laternen in Jinshis Schlafkammer leisteten dem fahlen Mondlicht mit ihren warmen kleinen Flammen Gesellschaft. Viel brachten sie zwar nicht, wurden jedoch trotzdem jeden Abend angezündet, im Versuch, ihm die Nacht zumindest ein wenig erträglicher zu machen.

Doch für ihn gab es nur ein Licht, das wirklich in der Lage war, ihm zu helfen.

Eine im Bett auf der Seite liegende Gestalt begann sich nun im Dunkeln zu regen und ganz leicht den Mund zu verziehen. 

Die Gestalt eines fast schon übernatürlich schönen jungen Mannes, der, obwohl er bis zu den Schultern zugedeckt war, leicht zitterte. Er drehte den Kopf, um seine mit Bandagen umwickelte Stirn gegen das weiche Kissen zu drücken.

Der pochende Schmerz in seinem Kopf, der ihn nun schon seit drei Tagen beinahe unaufhörlich begleitete, war wieder stärker geworden. So stark, dass er ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.

Aber zumindest war es kein Albtraum. Ausnahmsweise mal.

Der allererste Laut, der Jinshis Lippen nach dem abrupten Erwachen verließ, war ein leises, gewimmertes „Maomao…” und auch sein allererster unbewusster Gedanke galt seiner niedlichen kleinen Apothekerin. 

Noch bevor sein Verstand überhaupt vollständig registriert hatte, dass er nicht mehr schlief, hatte er bereits angefangen, nach ihr zu suchen.  

Angespannt und noch heftiger erzitternd wagte er es kaum zu atmen, geschweige denn die Augen zu öffnen, da er sich vor der Begegnung mit der Dunkelheit fürchtete, deren erdrückende Schwere so deutlich zu spüren war, als würde sie seinen Körper jeden Moment zerquetschen.

„Maomao…”

Wo war sie bloß? Wo...

„Ah…”

Jinshi atmete tief aus vor Erleichterung und seine Muskeln entspannten sich wieder. Da war sie. Ganz nah. Er konnte ihre wundervolle Wärme an seinem Körper spüren und ihre regelmäßigen Atemzüge unter seiner Handfläche, welche sich wohl auf ihrem Rücken befand.

Alles war gut. Er befand sich in Sicherheit.

Getröstet von jenem Gedanken, brachte er endlich den nötigen Mut auf, um langsam die Augen aufzuschlagen. Nichtsdestotrotz begannen auf der Stelle heiße Tränen in ihnen zu brennen, als er der dunklen Nacht begegnete, als habe diese nur auf sein Erwachen gewartet, um ihn gnadenlos zu quälen. Doch er blinzelte sie rasch weg. Er wollte nicht weinen, wenigstens eine einzige Nacht lang wollte er nicht weinen! Maomao war doch bei ihm! Es gab nichts, wovor er sich fürchten müsste!

Eine einzige widerspenstige Träne schaffte es, aus einem seiner Augen zu rollen und floss sein Gesicht herab, bis sie das Kissen erreichte. Der junge Herr spürte daraufhin bittere Enttäuschung in seinem Inneren aufsteigen und biss die Zähne zusammen. Er war nicht stark genug gewesen. Schon wieder.

Dann wanderte sein Blick leicht nach unten und all die unangenehmen Gefühle waren auf der Stelle vergessen, ersetzt durch so viel Liebe und Zuneigung, dass er schon glaubte, sein Herz würde es nicht verkraften. Sein Mund öffnete sich leicht, doch diesmal kam kein Laut heraus.

Auch in dieser Nacht lag sie in seinen Armen und schlief tief und fest, ebenfalls bis zu den Schultern zugedeckt. Ihr Kopf ruhte auf einem anderen Kissen neben dem seinen und ihr Körper war eng an seinen gedrückt.

Es war das erste Mal, dass er Maomaos schlafendes Gesicht aus einer solchen Nähe erblickte, und der Anblick ließ ihn beinahe sogar die Dunkelheit um sie beide herum vergessen. Sie war ja so süß!

So unfassbar entzückend, so friedlich wie sie schlief, als hätte sie nicht eine Sorge auf der Welt.

Jinshi seufzte bedrückt. Ach, wenn dem bloß so wäre...

Was hätte er nicht alles gegeben, um ihr tatsächlich all ihre Sorgen zu nehmen. Aber wie könnte er das... wenn er selbst doch der Grund für diese war?

„Maomao…”, brachte er diesmal mit dünner, erstickter Stimme hervor.

Die Apothekerin begann sich daraufhin, in seinen Armen zu regen, als würde sie auf den Schmerz in seinem Tonfall reagieren.

Jinshi erschrak. Oh nein, bitte nicht! Bitte nicht schon wieder!

„Psst…”, wisperte er ihr rasch ins Ohr. „Schlaf. Bitte, Maomao. Du bekommst meinetwegen nachts doch sowieso nicht genug Schlaf, du armes Ding. Es tut mir so leid... Psst. Mir geht es gut im Moment, also mach dir keine Sorgen und schlaf.”

Dann begann er ihr, mit sanften Kreisbewegungen den zierlichen Rücken zu reiben, genau so wie sie es bei ihm auch oft tat, wenn er Trost brauchte, und zu seiner riesigen Erleichterung entspannte sie sich nach einer Weile wieder und sank erneut in einen tiefen Schlaf.

Jinshi wusste zwar, dass sie tagsüber ebenfalls ab und zu ein Schläfchen hielt, doch er konnte einfach nicht anders, als sich unfassbar schuldig zu fühlen. 

„Wieso fürchte ich mich davor, dass die Dunkelheit mich verschlingt? Wieso bekomme ich diese Albträume? Wieso weigert sich mein Gedächtnis, zu mir zurückzukehren? Wieso bereite ich ihr und auch den anderen Menschen um mich herum solchen Kummer? Wieso bin ich nur so... nutzlos?”

Während all jene quälenden Fragen seinen Verstand ausfüllten, bewegte er seinen Kopf und drückte einen vorsichtigen Kuss auf Maomaos Stirn. Sein Gedächtnis hatte er zwar verloren, doch ein Dummkopf war er gewiss nicht und spürte ganz genau, wie sehr es der jungen Frau schwerfiel, ihre Sorge um ihn nicht zu zeigen. Es tat ihm mehr weh als die eigenen Schmerzen und doch konnte er nicht anders als sie ständig um Trost und Wärme anzuflehen. Wie armselig er doch war…

Jinshis Lippen blieben noch eine Weile lang auf ihrer Stirn. Er liebte es, ihre Haut zu küssen. Sie war so weich und roch so angenehm nach Kräutern…

Trotz all der schweren Last, die sie alle auf ihren Schultern und Rücken trugen, machte ihn ihre Nähe so glücklich, so unbeschreiblich glücklich... sein Lachen, während sie ihm das Buch vorgelesen hatte, war echt gewesen... Ach, wenn es in Zukunft doch bloß noch mehr solch schöner Momente gäbe... Momente, an denen fast schon Normalität zu herrschen schien... und vielleicht würden sie ja eines Tages so lachen können, wie er es vorhin getan hatte. Gemeinsam.

„Schlaf gut... mein Schatz…”

Er hatte es ja so satt, sie jede Nacht zu behelligen. Wie gerne würde er diesen verdammten Albträumen ein für alle Mal ein Ende bereiten, doch er schaffte es einfach nicht. Wie denn auch, wenn das schwarze Loch und die Dunkelheit allgemein so mächtig waren, dass sie ab und zu selbst Maomaos Schutzbarriere durchdrangen? Auch wenn die Apothekerin es jedes Mal nach einiger Zeit schaffte, sie zu reparieren und die Bedrohung mit ihrer sanften Melodie, ihrer Wärme und ihren Massagen wieder zu vertreiben, passierte es doch wieder und wieder. 

Und nie machte Maomao ihm auch nur den allerkleinsten Vorwurf. Nicht ein einziges Mal! 

Einige frische Tränen stahlen sich aus Jinshis Augen. Er konnte nicht fassen, wie viel Geduld sie mit ihm hatte! Wie lieb sie zu ihm war! Es war wirklich so, als sei sie vom Himmel gesandt worden.

Er fröstelte ein wenig, schmiegte sich noch ein wenig enger an sie und schloss erneut die Augen, im Versuch, sich einzig und allein auf ihre tröstliche Körperwärme zu konzentrieren, seine Gedanken zu beruhigen, die Dunkelheit möglichst zu ignorieren und wieder zurück in den Schlaf zu finden.

Eines stand jedenfalls fest: eine solch wunderbare Frau hatte er definitiv nicht verdient... eine, die bereit war, bei so einem wie ihm zu bleiben und für ihn da zu sein.

Schlussendlich schaffte er es doch ganz allein, erneut einzuschlafen. Und überraschenderweise schlief er diesmal sogar bis zum Morgen durch, ohne einen einzigen Albtraum.

Als hätte sein immer noch defekter Verstand sein Flehen erhört.

***

Als das Licht der morgendlichen Sonne dem jungen Herrn einige Stunden später ins Gesicht fiel, setzte er mit immer noch geschlossenen Augen ein kleines Lächeln auf, als er begriff, dass seine Gebete nicht vergebens gewesen waren. Er... er hatte tatsächlich die ganze Nacht lang keinen einzigen Albtraum gehabt!

Sich zum ersten Mal anständig erholt fühlend, war sein erster Wunsch nach dem Aufwachen, Maomao einen Guten-Morgen-Kuss auf die Stirn zu geben. Er konnte spüren, dass sie in unveränderter Position in seinen Armen lag, also schlief sie bestimmt noch. Dies erfüllte ihn mit Freude und Stolz. Endlich hatten sie beide eine ruhige Nacht gehabt, ohne dass er sie mit seinem Weinen gestört hatte! Hoffentlich würde das auch in Zukunft so bleiben.

Und so schlug er schließlich die Augen auf, bereit, das hübsche Gesicht der jungen Frau nun auch direkt im Tageslicht zu bewundern. Aber dann fiel ihm in der Helligkeit etwas ziemlich Erstaunliches auf. Das konnte doch nicht sein! War er etwa immer noch nicht ganz wach? Nein, er irrte sich definitiv nicht.

„Huch? Aber…”

***

Maomao begann sich zu regen, als sie sanfte Fingerspitzen in ihrem Gesicht spürte, und gähnte, sich leicht streckend. Mit einer ihr immer noch etwas ungewöhnlich vorkommenden Selbstverständlichkeit registrierte ihr Gehirn auf der Stelle, dass sie sich mal wieder in Jinshis Armen befand. Als ob sie bereits seit Jahren so aufwachen würde. Und... sie hörte kein Schluchzen. Es war ruhig... und hell.

„Ist es etwa schon Morgen?”, dachte sie, immer noch im Halbschlaf. „Also eine Nacht ohne Albträume... welch ein Glück.”

Jinshis kühle Finger strichen ihr immer noch über die Nase und die Wangen. Vorsichtig... aber irgendwie mit einem leichten, nie dagewesenen Zögern.

Unbewusst legte Maomao die Hand auf seine, öffnete die Augen und zuckte auf der Stelle leicht zusammen, als sie merkte, wie nah ihre Gesichter sich waren. So nah, dass sie jedes kleinste Detail seiner violetten Iris erkennen konnte. Seine Augen sahen sie mit einem eindringlichen, konzentrierten Blick an, als würde er versuchen, ein Rätsel zu ergründen.

„Was hat er denn?”

Als er merkte, dass sie wach war, setzte er ein Lächeln auf und hielt mit seinen Berührungen inne, um ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn zu geben. Dann führte er ihre kleine Hand zu seinen Lippen und küsste auch diese. Nichts Neues mehr für Maomao, weshalb sie ruhig blieb. Die Macht der Gewohnheit war wahrhaftig ein mächtiges, furchterregendes Ding.

„Guten Morgen, Maomao”, sagte er fröhlich.

„Guten Morgen, Eure Exzellenz.”

Ja, jener Morgen war tatsächlich ein guter, musste Maomao zugeben, die gut geschlafen hatte.

„Habe ich dich gerade aufgeweckt? Das tut mir leid, es ist nur... ähm, wie soll ich sagen…”

Maomao hob beide Augenbrauen, nicht ganz verstehend, was gerade vor sich ging. Wieso benahm er sich auf einmal so seltsam? Oder besser gesagt, noch seltsamer als vorher?

„Ja?”

„Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber deine Sommersprossen... sind verblasst…”

Auf einen Schlag war die Apothekerin hellwach und riss die Augen weit auf. 

„Oh, verdammt!” , lautete ihr einziger Gedanke. „Das habe ich ja vollkommen vergessen!”

Daraufhin spürte sie, wie Jinshi ihr erneut vorsichtig über die Wange strich.

„Maomao? Alles in Ordnung? Du siehst so erschrocken aus”, erkundigte er sich besorgt.

Die Apothekerin atmete tief durch und kam wieder zu sich. Nun, eigentlich war es ja klar gewesen, dass dies früher oder später passieren würde. Alles andere als überraschend.

Sie seufzte. Ach, sie hatte wirklich keine Lust, das Ganze erneut zu erklären, aber so wie es aussah, blieb ihr wohl keine andere Wahl, oder? Und vielleicht würde es ihm ja ein klein wenig dabei helfen, sein Gedächtnis zurückzuerlangen. Solange es auch nur die kleinste Hoffnung dafür gab, durfte sie nicht zögern.

„Nun... sie sind verblasst, weil sie nicht echt sind, Herr... bloß aufgemalt.” 

„Und einige davon auch mit einer Nadel eingestochen”, fügte sie in Gedanken hinzu, verzichtete jedoch darauf, jene Einzelheit laut auszusprechen.

„Aufgemalt?”

Jinshi weitete die Augen. Er wirkte ehrlich verwirrt und blickte sie eine Weile lang einfach nur an. Auf seine Reaktion wartend, spürte Maomao aus irgendeinem Grund eine leichte Nervosität in sich aufsteigen, doch sie schwieg.

Schließlich öffnete der junge Herr erneut den Mund, aber anstatt irgendetwas zu sagen, fasste er sie mit der einen Hand auf einmal am Hinterkopf und rieb mit dem Ärmel der anderen über ihr Gesicht. Behutsam zwar, aber immer noch fest genug, um die noch verbliebenen Sommersprossen wegzuwischen. Es war fast so, als würden seine Hände sich von selbst bewegen.

„Eure Exzellenz!”, protestierte sie und griff nach seinem Handgelenk. „Was soll das denn? Hört auf, Ihr macht noch Euren Ärmel schmutzig!”

„Verzeihung…”, murmelte er geistesabwesend, als würde er ihre Stimme kaum richtig wahrnehmen, nahm dann aber doch seinen Ärmel wieder aus ihrem Gesicht. Maomao öffnete die Augen, die sie während der Prozedur zusammengekniffen hatte, und stellte fest, dass er sie nun regungslos und mit offenem Mund anstarrte. Wie hypnotisiert. Als könne er gar nicht fassen, was er da sah. Seine Wangen hatten einen zarten Rosaton angenommen.

Sie runzelte leicht die Stirn, noch weniger begreifend, was gerade vor sich ging.

„Aber... aber warum malst du dir denn Sommersprossen auf?”, fragte Jinshi schließlich leise, als er wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt war.

Maomao versteifte sich. Da war sie, die gefürchtete Frage. Sollte sie ihm nun tatsächlich alles auf der Stelle erzählen oder war es vielleicht noch ein wenig zu früh dafür? Schließlich erinnerte sie sich noch genau, wie entsetzt er gewesen war, als sie es ihm zum ersten Mal erklärt hatte, damals während der Gartenfeier, und wer wusste schon, wie er diesmal reagieren würde. Auch wenn sie immer noch nicht ganz verstand, wieso er sich eigentlich so erschüttert gezeigt hatte.

Doch bevor sie zu einem endgültigen Entschluss kommen konnte, nahm Jinshi ihr die Entscheidung ab, indem er sie in die Arme schloss und fest an sich drückte.

„Oh. Es ist ein unangenehmes Thema für dich, nicht wahr?” Er streichelte ihr den Kopf. Traurigkeit und ein schlechtes Gewissen schwangen in seinem zwar nicht mehr so übertrieben honigsüßem, aber nun mit einer aufrichtigen Sanftheit erfüllten Tonfall mit.

Maomao antwortete ihm, indem sie sich mit der Stirn an seine Brust lehnte.

„Ich verstehe... alles gut. Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst. Ich war bloß neugierig, mehr nicht. Zwar würde ich wirklich gern alles über dich wissen, aber unter Druck setzen möchte ich dich nicht. Entschuldige, dass ich davon angefangen habe... und auch fürs Wegwischen.”

Überrascht davon, wie verständnisvoll er war, blickte sie ihm erneut ins Gesicht und entdeckte ein zartes Lächeln auf seinen Lippen.

„Möglicherweise ist das wirklich erstmal besser so”, dachte sie.  

Genau, solche Dinge konnten warten. Immerhin musste er vor allem seine eigene Vergangenheit wiederentdecken. Ihre war nicht so wichtig und für seinen Heilungsprozess auch so ziemlich überflüssig, ihrer Meinung nach, da ihr Leben im Rotlichtviertel überhaupt nichts mit Jinshi zu tun hatte.

„Ihr habt also nichts dagegen, dass ich sie mir erneut aufmale?”

„Aber nein, natürlich nicht. Wenn du dich so wohler fühlst, dann nur zu. Egal ob mit oder ohne Sommersprossen, für mich bist und bleibst du immer Maomao.”

„Ich danke Euch, Eure Exzellenz.”

Maomao erinnerte sich, dass der alte Jinshi ihr ebenfalls erlaubt hatte, ihre Sommersprossen zu behalten, nein, er hatte ihr sogar befohlen, sie welche aufzumalen. Wieso, begriff sie jedoch immer noch nicht so ganz.

Sein Lächeln wurde angesichts ihrer Worte breiter und sie merkte, dass er rot wurde, schluckte und für einen Moment den Blick abwendete.

„Was ist denn jetzt los?”

„Aber um ganz ehrlich zu sein, hätte ich nicht gedacht…”, ergriff er wieder das Wort, unterbrach sich jedoch.

„Hm? Was denn?”

„...dass du noch schöner werden könntest, als du ohnehin schon warst.”

Seine Ohren waren knallrot, als würden sie jeden Moment Feuer fangen, und doch hielt es ihn nicht davon ab, mal wieder seine Gedanken auszusprechen. Der frühere Jinshi hätte sich an dieser Stelle bestimmt eher auf die Zunge gebissen.

Nun starrte die Apothekerin wiederum ihn mit offenem Mund an.

„Soll das ein Scherz sein?”, murmelte sie entgeistert, bevor sie es verhindern konnte und obwohl sie spürte, dass er auch diesmal seine ehrliche Meinung ausdrückte.

„Was? Aber wieso sollte ich über solche Dinge scherzen? Ich meine es ernst. Du bist wunderschön.” Er klang ehrlich verwirrt und schien nicht weniger verblüfft als sie.

Und so blickten sie sich gegenseitig an: er, der nicht begriff, wie sie seine Worte als Scherz auffassen konnte, und sie, die nicht begriff, wie er diese bloß ernst meinen konnte. Welch komplizierte Situation.

Schließlich biss Maomao die Zähne zusammen.

„Ihr seid wunderschön, aber ich doch nicht”, dachte sie, sich fragend, ob er sich seit dem Unfall wohl selbst im Spiegel gesehen hatte. In seinen Gemächern hing jedenfalls einer, also ganz bestimmt.  

Wie ein solch schöner Mann nur so blind sein konnte, wollte ihr einfach nicht in den Kopf.

„Haha, aber wenn ich so darüber nachdenke, braucht es mich eigentlich nicht zu wundern, so besonders wie du bist.”

„Besonders? Was zur Hölle ist an mir bitteschön besonders?”

Und bevor sie sich versah, hatte sie, ohne dass sie es wollte, jene Frage auch schon laut ausgesprochen.

Diesmal schien Jinshi tatsächlich sprachlos geworden zu sein. Er starrte sie fassungslos an, als ob sie gerade eine andere Sprache gesprochen hätte.

„Schon in Ordnung, Herr. Es ist nicht wichtig. Vergesst, dass ich gefragt habe.”

„N-nein… nein, alles gut. Lass mich bloß kurz nachdenken.” Der junge Herr legte ihr die Hand auf die Schulter und ließ seinen Blick schweifen.

„Er… denkt ja tatsächlich ernsthaft darüber nach”, dachte Maomao überrascht.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wie ich es am Besten beschreiben soll”, ergriff er nach einiger Zeit wieder das Wort. „Du bist es einfach. Alles an dir ist besonders. Du bist so warm. Und so lieb. Und so geduldig. Und so stark. Und du riechst so gut... wie ein Kräutergarten... Kennst dich so gut mit Medizin aus. Mein Licht. Meine Retterin. Die Einzige, bei der ich mich wirklich sicher fühle…”

Maomao bereute bereits, dass sie überhaupt gefragt hatte. Wie, nur wie kamen ihm solche peinlichen Worte nur so mühelos über die Lippen, als seien sie eine unumstößliche Tatsache? Sie hielt es kaum noch aus und hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Oder ihn gebeten, die Klappe zu halten, sich so fühlend, als würde sie gerade mit Pfeilen beschossen werden. Jedoch leider nicht mit giftigen.

„Und diejenige, die Euch das alles eingebrockt hat, aber das wisst Ihr ja nicht”, dachte sie verbittert und ihr Magen zog sich zusammen. „Ihr irrt Euch. Es ist überhaupt nichts Tolles an mir und besonders bin ich auch nicht. Und ebenso kein so guter Mensch wie Ihr glaubt. Ich bin einfach nur ich. Mehr nicht.”

Auf einmal spürte sie einen weiteren Kuss auf der Stirn.

„Ich habe es schon mehrmals gesagt, aber ich kann immer noch nicht glauben, was für ein Glück ich habe, dass du an meiner Seite bist.”

Ja, Maomao bereute es wirklich sehr, ihm die Frage gestellt zu haben. Sie hätte besser den Mund halten sollen.

Notes:

Jinshis Liebe zu Maomao zu beschreiben und auszudrücken ist jedes Mal ein Genuss! Ich kann echt nicht genug davon bekommen!

Was das nächste Kapitel angeht: ich bin mir noch nicht sicher, ob ich es aufteile oder nicht, aber das entscheide ich dann während des Schreibens. Wenn nicht, wird's bis zum nächsten Update eventuell länger dauern. Nur zu eurer Info.

Oh, und ich kann kaum fassen, dass wir schon sehr bald die Froschszene im Anime sehen werden! YAY!

Chapter 69: Amnesie, Teil 12: Die Haarnadel

Notes:

Ein bisschen früher diesmal :)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Nach dem Frühstück verließen Jinshi und Maomao seine Privatgemächer und schritten Hand in Hand durch die Korridore seiner Residenz. Ohne ein Wort über die kleine Unterhaltung zu verlieren, welche sie an jenem Morgen im Bett geführt hatten. Maomao war froh darum.

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen und eine ganz leise Melodie vor sich hinsummend (Maomao hob eine Augenbraue, als ihr auffiel, dass es sich um ihr Schlaflied handelte), drehte Jinshi eine kleine getrocknete Blume zwischen den Fingern seiner freien Hand herum. Er wirkte ziemlich unbeschwert auf den ersten Blick.

Die Blume hatte er nach dem Aufstehen auf dem Boden in der Nähe des Bettes gefunden und aufgehoben. Die Apothekerin nahm an, dass diese am vergangenen Tag aus ihrem Bündel herausgefallen sein musste, und da es sich dabei bloß um eine harmlose Kamille handelte, sagte sie nichts dazu und gestattete ihm, sie zu behalten.

Maomao fasste sich kurz ans Gesicht, welches sie gerade eben mit neuen Sommersprossen bemalt hatte, und tastete nach der kleinen Dose mit dem Gemisch aus getrocknetem Ton, das sie zu deren Kreation benutzte. Es war nicht mehr viel drin, sie würde auch dafür bald Nachschub herstellen müssen…

Die Vormittagssonne schien hell durch die Fenster hinein und verhieß einen weiteren trockenen und heißen Sommertag. Maomao warf einen Seitenblick auf Jinshi. Sein Haar glänzte so sehr im Sonnenlicht, als würde es aus der feinsten Seide bestehen.

Sie seufzte. Trotz des schönen Wetters und des erholsamen nächtlichen Schlafes, den sie beide gehabt hatten, wollte die leichte Niedergeschlagenheit, die nach ihrem Gespräch auf ihrer Seele lastete, einfach nicht vergehen. Sie fühlte sich immer noch ein wenig verloren und konnte nichts dagegen machen.

Die Worte, die er ihr gesagt hatte, wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen.

„Ganz ehrlich, ich verstehe wirklich nicht, was er bloß an mir findet”, stellte sie sich zum wiederholten Male die gleiche Frage. Zwar hatte er ihr bereits eine Antwort darauf gegeben, doch... Maomaos Verstand weigerte sich beharrlich, diese anzuerkennen. Sie war Lob und Komplimente einfach nicht gewohnt (verdammt, es war sogar einfacher gewesen, sich daran zu gewöhnen, in Jinshis Armen zu schlafen!). Vor allem so überschwängliche wie seine. „Ich bin nicht so wie er glaubt. Bestimmt hat der Sturz bei ihm tatsächlich einen bleibenden Hirnschaden hinterlassen.”

„Maomao?”

Auf einmal spürte sie, wie ihre Hand etwas fester gedrückt wurde, und hob erneut den Blick. Jinshi sah sie besorgt an. Bestimmt hatte er ihren Seufzer gehört, auch wenn sie sich extra bemüht hatte, einen möglichst leisen von sich zu geben.

„Ja, Herr?”

„Alles in Ordnung mit dir? Du bist so schweigsam... mehr als sonst, meine ich.”

Das Blümchen hatte er sich in die Falten seiner Kleidung gesteckt. Vorsichtig, um es nicht kaputt zu machen.

„Es ist alles gut. Ich war bloß ein wenig in Gedanken versunken, mehr nicht.”

„Verstehe…” Er runzelte leicht die Stirn, als ob er nicht ganz wüsste, ob er ihr glauben sollte oder nicht. „Weißt du, Maomao, ich habe zwar vorhin gesagt, dass ich dich nicht unter Druck setzen möchte... aber falls dir etwas auf dem Herzen liegt, kannst du mir davon erzählen, wenn du willst. Ich höre dir gerne zu.”

„Ich danke Euch.” 

Zwar hatte Maomao gewiss nicht vor, sein Angebot anzunehmen und ihn zusätzlich zu dem, was er bereits durchmachte, auch noch mit ihren Problemen zu belasten, doch zumindest bedanken musste sie sich. Das wusste sie.

„Bitte zögere nicht. Du bist immer für mich da und auch ich möchte für dich da sein. In Ordnung?”

„Ja, in Ordnung.”

Auch solche Worte aus seinem Mund zu hören, war etwas Neues für Maomao. Oder, Moment, war es das wirklich? Wenn sie so darüber nachdachte, erinnerte sie sich, dass er sie mehrmals gebeten hatte, sich bei Problemen und Schwierigkeiten jederzeit an ihn zu wenden. Das war, nachdem er sie freigekauft hatte und sie seine persönliche Zofe geworden war. Aber damals hatte er es gesagt, weil er ihr Arbeitgeber war. Und jetzt...  

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als er ihr sanft über den Kopf strich, wohl aus Freude über ihre Zustimmung. Das Lächeln war wieder in sein Gesicht zurückgekehrt. Er... vertraute ihr wirklich, nicht wahr?

„Sag mal, wohin gehen wir eigentlich, Maomao?”

„In mein Zimmer. Ich muss neue Medizin für Euch herstellen.”

„Ach so. Alles klar.”

„Langsam muss ich anfangen, ihn im Gebäude herumzuführen und ihm die Räume zu zeigen. Hoffentlich hilft es ihm”, dachte sie. „Und da ich sowieso in mein Zimmer muss, fange ich eben damit an. Und als Nächstes kommt seine Schreibstube dran.”

Sie glaubte, dass er nun bereit dazu war. Die albtraumlose Nacht, die sich nach all den durchlebten Ängsten immer noch wie ein kleines Wunder anfühlte, war ein sehr gutes Zeichen. 

***

Als sie angekommen waren, ließ Maomao Jinshis Hand los und begab sich schnurstracks zu ihren Kräutern, um die benötigten auszuwählen und eine kleine Waage herauszuholen und sie abzuwiegen. Ohne Zeit zu verschwenden.

„Bitte tretet ebenfalls ein, Herr.”

Jinshi, der an der Türschwelle stand, hörte ihre Aufforderung und trat ebenfalls ein, die Hände auf dem Rücken verschränkend und neugierig seinen Blick schweifen lassend.

„Und das ist dein Zimmer? Ganz schön klein. Und nach Kräutern riecht es auch so gut wie nicht.”

„Ja, Herr. Für mich ist es ist groß genug und in letzter Zeit bin ich kaum hier gewesen.”

„Diese Residenz gehört mir, nicht wahr? Wie wäre es dann, wenn ich dir ein größeres gebe?”

„Nicht nötig, Eure Exzellenz. Es ist groß genug, das versichere ich Euch.”

„Na gut, wie du meinst.”

Dass sie Jinshi einst gebeten hatte, in den Stall umziehen zu dürfen, um mehr Platz für ihre Kräuter zu haben, verschwieg die Apothekerin geflissentlich. Selbstverständlich.

Sie setzte sich an den Tisch.

„Bitte habt ein wenig Geduld, ich werde jetzt neues Schmerzmittel für Euch herstellen. Es wird nicht sehr lange dauern. Ihr könnt Euch derweil genauer umsehen. Zwar gibt es hier drin nicht viel, das weiß ich, aber vielleicht findet Ihr ja etwas, das Euch hilft, Euer Gedächtnis zurückzuerlangen.”

Sie zweifelte daran, dass ihm ihr spärliches Mobiliar irgendwie helfen könnte, doch einen Versuch war es wert.

„Mich genauer umsehen? Darf ich? Das ist ja dein Zimmer.”

„Natürlich. Schließlich ist es Eure Residenz und ich bin nichts weiter als Eure Bedienstete.”

Da sie mit dem Rücken zu ihm saß, sah sie nicht, wie Jinshi angesichts ihrer Worte die Stirn runzelte.

„Und außerdem habe ich nichts zu verbergen und meine Unterwäsche ist weggeräumt”, fügte sie in einem beiläufigen Tonfall hinzu.

„U-Unterwäsche... V-Verstehe…”

„Wieso stottert er denn so?”, dachte Maomao. „Er hat mich doch bereits in Unterwäsche gesehen, oder? Ach ja, er hat's vergessen. Aber es ist trotzdem keine große Sache, schließlich habe ich nicht viel zu zeigen und da er mich jeden Tag umarmt und den Kopf an meine Brust drückt, müsste ihm diese Tatsache eigentlich schon bekannt sein.”

Sie begab sich jedes Mal in ein anderes Zimmer, um sich umzuziehen, oder tat es, wenn er nicht anwesend war, demnach hatte Jinshi sie seit seinem Unfall kein einziges Mal in Unterwäsche gesehen. 

Danach herrschte Stille. Maomao wog schweigend ihre Kräuter ab und Jinshi, dessen Röte vergangen war, rieb sich kurz am Kinn und begann dann, durch das etwas beengte Zimmer Richtung Fenster, welches sich nahe des Bettes befand, zu schreiten und sich umzublicken.

Außer Bett, Tisch, Stuhl und einer Kommode gab es tatsächlich nicht viel in dem Raum und die meisten von Maomaos Sachen befanden noch in dem Korb und der Tasche, die sie am vorherigen Tag aus der Jade-Residenz angeschleppt hatte. Jinshi rührte sie nicht an, wahrscheinlich, weil es ihm widerstrebte, in ihren persönlichen Sachen herumzukramen. Auch wenn Maomao tatsächlich (ihres Wissens nach) nichts zu verbergen und so viel Zeit mit ihm zusammen verbrachte wie niemals zuvor, war sie in gewisser Weise dankbar dafür. Denn ihre Privatsphäre schätzte sie trotz allem.

Nach einigen Minuten ohne ein Wort lehnte der junge Herr sich schließlich gegen eine Wand und verschränkte die Arme.

Maomao drehte sich zu ihm um.

„Und, Eure Exzellenz?”

Er zuckte hilflos mit den Achseln.

„Nein, nichts. Tut mir leid.”

„Schon gut. Vielleicht fällt Euch ja etwas ein, wenn Ihr später Euer Arbeitszimmer seht.”

So richtig etwas erwartet hatte Maomao zwar nicht, da er ja nach wie vor nicht einmal seine Privatgemächer erkannte, aber sie fühlte sich trotzdem leicht enttäuscht. Insgeheim konnte sie einfach nicht anders als Hoffnungen zu hegen, auch wenn ihr selbstverständlich sehr wohl bewusst war, dass es keine so einfache Lösung geben konnte.

Mit einem Seufzer drehte sie sich zurück und nahm ihre Tätigkeit wieder auf. Sie konnte Jinshis Blick auf sich spüren. Bestimmt hatte das, was sie da tat, mal wieder sein Interesse erregt, und er würde gleich näherkommen, um Fragen zu stellen. Na gut. Das machte ihr nicht viel aus, vor allem wenn es sich um Kräuter, ihr Spezialgebiet handelte.

Und wie aufs Stichwort hörte sie Schritte und dann wie er sich direkt hinter sie stellte, ihr die Hände auf die Schultern legend.

„Volltreffer”, dachte sie.

„Maomao, was... oh…”

„Hm?”

Verwirrt legte die Apothekerin den Kopf nach hinten und sah zu ihm auf. Der Blick seiner leicht geweiteten Augen war auf den Tisch gerichtet.

„Eure Exzellenz? Was ist denn los?”

Jinshi antwortete nicht, sondern hob bloß eine seiner Hände und streckte sie Richtung Tisch aus, als wolle er etwas nehmen. Doch die Hand erstarrte mitten in der Bewegung. Er zögerte.

„Herr?”

Maomao zog sachte am Ärmel seiner anderen Hand, die immer noch auf ihrer Schulter lag, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Seit seinem Unfall zeigte er ab und zu und scheinbar aus heiterem Himmel ein höchst rätselhaftes Verhalten. Als gäbe es Dinge, die nur er hören und sehen würde, vor allem in der Nacht. 

Sie konnte nicht behaupten, dass sie ihn vor seinem Gedächtnisverlust immer perfekt verstanden hatte (eher war das Gegenteil der Fall gewesen), doch nun war es wirklich etwas Anderes.

Jinshi antwortete immer noch nicht, sondern beugte sich über den Tisch und hob nun tatsächlich etwas auf. Einen langen Gegenstand mit zugespitztem Ende.

„Eine Haarnadel…”, murmelte er, als würde er so ein Ding zum allerersten Mal sehen. Fast schon fasziniert drehte er die Nadel herum und musterte sie von allen Seiten.

Die Apothekerin beobachtete ihn schweigend. Diese Haarnadel... war die, die er ihr einst während der Gartenfeier geschenkt hatte. Na so etwas. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie diese überhaupt mitgenommen hatte, als sie in der Jade-Residenz ihre Sachen gepackt hatte. Genauso wie das Buch. Aber andererseits war sie ein wenig in Eile gewesen, da war es nicht gerade überraschend, dass sie ein paar Dinge in ihre Tasche gestopft hatte, ohne genau hinzusehen.

Der junge Herr hielt sich die Haarnadel vors Gesicht, sie mit konzentriertem Ausdruck genauestens studierend.

Maomao erwischte sich dabei, wie sie den Atem anhielt. Konnte... Konnte es etwa sein, dass er sich gleich an etwas erinnern würde? Konnte es wirklich sein?

„Herr…”

Der Klang ihrer Stimme schien Jinshi nun endlich aus seiner Versunkenheit zu reißen.

„Oh, entschuldige, ich war in Gedanken. Eine schöne Haarnadel hast du da. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich von ihr angezogen, haha.” Er kicherte leise.

Die Atmung der Apothekerin normalisierte sich wieder. Nein, natürlich nicht. Er hatte sich nicht erinnert. Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.

„Das wundert mich kaum. Immerhin hat sie früher Euch gehört.”

„Was?” Jinshi, der die Nadel wieder auf den Tisch zurücklegen wollte, erstarrte erneut und blinzelte einige Male. „Mir?”

„Ja. Ihr wart derjenige, der sie mir gegeben hat.”

„Wirklich?”

Maomao seufzte. Tja, so wie es aussah, würde die Medizin warten müssen. Jinshis verlorenes Gedächtnis hatte eindeutig Vorrang.

Sie stand auf und nahm ihn bei der Hand.

„Kommt. Ich erzähle Euch davon.”

Die beiden setzten sich auf Maomaos Bett und die Apothekerin begann, mit ruhiger Stimme zu erzählen, dabei Acht gebend, nicht zu viele Details einzubauen, um ihn nicht zu überfordern. Aber da sie von Natur aus sowieso ein Mensch von wenigen Worten war, der sich beim Sprechen automatisch auf das Wesentliche beschränkte, fiel ihr dies nicht sonderlich schwer.

Mit der Haarnadel in seinen Händen herumspielend, hörte Jinshi ihr aufmerksam zu. Es war ihm anzusehen, dass er Fragen hatte, doch er stellte diese erst, als Maomao ihren Bericht beendet hatte, um sie nicht zu unterbrechen.

„Eine Gartenfeier, sagtest du? Und du hast dort als Zofe einer der kaiserlichen Gemahlinnen teilgenommen?”

„Ja.”

„Der Kaiser, das ist doch dieser Mann, den ihr alle Majestät nanntet, nicht wahr?”

„Ganz genau, Herr.”

Sie merkte, dass er leicht zusammenzuckte. Jene Panikattacke hatte gewiss tiefe Spuren in seiner Seele hinterlassen.

„Und was tat ich bei dieser Feier?”

„Wie bereits gesagt, seid Ihr der Aufseher des Inneren Palastes, also habt Ihr selbstverständlich auch teilgenommen.”

Sie erzählte ihm nicht, dass er sich als Eunuch maskiert hatte. Das wäre im Moment noch zu viel für ihn gewesen und außerdem kannte sie den Grund dafür ja selbst nicht.

„Ach? Und da habe ich dir also diese Haarnadel überreicht, nachdem ich dich dort, genau wie heute morgen, zum ersten Mal ohne Sommersprossen gesehen habe.” Er schien das Ganze nochmal für sich zusammenfassen zu wollen. Nun gut, wenn es ihm half...

„So ist es. Ihr habt sie mir auf einmal ins Haar gesteckt und seid gegangen.”

„Einfach so gegangen? Ohne ein Wort?”

„Ihr habt Euch bei mir entschuldigt und bloß gemeint, dass sie für mich ist.”

„Mit geröteten Wangen”, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Verstehe. Hast du mir denn damals den Grund genannt, wieso du dir Sommersprossen aufmalst?”

Sie zögerte ein wenig und wendete den Blick ab. 

„Habe ich.”

„Maomao…”

„…”

Maomao sagte nichts mehr, sich fragend, ob sie ihm ihren Grund vielleicht doch noch einmal verraten sollte. Ein Geheimnis war es ja nicht. Doch dann spürte sie, wie er den Arm um sie legte und sie zu sich heranzog, sie ganz fest umarmend, so wie er es gerne tat.

„Hab keine Angst! Ich bleibe bei dem, was ich dir heute gesagt habe. Du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst, wirklich. Ich zwinge dich zu nichts.”

Wieder begann Maomao eine gewisse Erleichterung zu verspüren.

Er legte das Kinn auf ihren Kopf.

„Aber... ich kann mir vorstellen, dass es etwas Trauriges sein muss.”

„Kann man so sagen.” Vielmehr war es einfach nur das, was man im Rotlichtviertel fast schon „Alltag” nannte. Oder genauer gesagt: Realität. Etwas, was einfach geschah. Doch für diejenigen, die nicht so wie sie dort aufgewachsen waren, musste es sich wohl ziemlich traurig anhören. Schrecklich sogar. 

„Verstehe…”

Jinshi blickte die Haarnadel nachdenklich an, während er Maomao immer noch an sich gedrückt hielt.

„Ja... ich glaube, ich verstehe es wirklich.” Sein Tonfall wurde leise und ganz sanft.

Verwundert sah Maomao ihn an und wartete darauf, dass er noch etwas sagte. Was genau er da verstanden hatte, wollte sich ihr nicht entschließen. 

„Was versteht Ihr, Eure Exzellenz?”

„Den Grund… meinen Grund.”

Das war Maomao auch keine große Hilfe, doch Jinshi schien noch nicht fertig zu sein.

Er fasste sie bei der Schulter, um sie wieder ein wenig von sich wegzubewegen, hob die Haarnadel hoch und sah der Apothekerin tief in die blauen Augen.

Stumm erwiderte sie seinen Blick, bereits erahnend, was er vorhatte. Und sie hatte sich nicht geirrt: einige Augenblicke später spürte sie ein leichtes Ziehen in ihrem Haar.

Jinshi hatte ihr die Nadel ins Haar gesteckt. 

Ein wenig vorsichtiger zwar als während der Gartenfeier, aber die Atmosphäre ähnelte irgendwie der von damals. Selbst die leichte Röte auf seinen Wangen war dieselbe. Nur einen kleinen Unterschied gab es doch: diesmal lächelte er sie an.

Obwohl sie beide dieses Mal auf Maomaos Bett saßen, hatte die Apothekerin irgendwie das seltsame Gefühl, durch die Zeit gereist und zu dem Zeitpunkt der tatsächlichen Gartenfeier zurückgekehrt zu sein, auch wenn dies natürlich Unsinn war. Doch trotzdem konnte sie beinahe den beißend kalten Wind erneut auf ihrer Haut spüren. In ihrem Magen kribbelte es.

Auch Jinshi schien sich in einer Art Trance zu befinden. Seine Augen weiteten sich und sein Mund öffnete sich leicht, während seine Finger die Haarnadel zurechtrückten, damit sie gut hielt, und dann liebevoll über Maomaos Schläfe strichen bis zu ihrem Kinn herab. Er hielt ihr Gesicht. Fast wie von selbst hob sich auch ihre Hand und legte sich zuerst vorsichtig auf die Haarnadel und dann auf seinen breiten Handrücken.

„Er ist doch derjenige, der sich erinnern muss”, dachte sie. „Aber wieso… wieso bin ich stattdessen die, die gerade in Erinnerungen versinkt?”

„Leider erinnere ich mich immer noch nicht daran, aber.. so habe ich das also damals getan, ja? Alles klar”, murmelte er und sein Lächeln kehrte zurück.

Die Apothekerin schüttelte ein wenig den Kopf, um wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren, und schenkte ihm einen fragenden Blick.

„Was genau meint Ihr, Herr?”

„Oh, ich dachte mir bloß, dass ich das damals sicherlich tat, um dir zu verstehen zu geben, dass du unter meinem Schutz stehst.”

Maomao ließ seine Hand wieder los. Es kam ihr vor, als hätte ihr Herz einen Schlag ausgesetzt. 

„Ach, das war es also... was?”, murmelte sie gedankenverloren und drückte ihre Handflächen aneinander. So lange hatte sie nachgegrübelt, wieso genau sie dieses Ding von ihm bekommen hatte, aber solch eine Erklärung war ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Natürlich nicht, wieso denn auch? Sich vorzustellen, dass ein Adeliger wie er eine einfache Dienerin wie sie beschützen wollte, war ja wohl ein wenig anmaßend und weit hergeholt. Oder?  

Sie sah erneut zu ihm auf. Nun... so wie es aussah, vielleicht auch nicht. 

Er hatte gerade so sicher geklungen, dass sie nicht anders konnte als ihm zu glauben. Denn wer verstand Jinshi wohl besser als Jinshi? Auch wenn es nicht derselbe war…

Aber wieso hatte er sich so gefühlt? Weder die Situation im Rotlichtviertel noch die Tatsache, dass sie entführt und gegen ihren Willen in den inneren Palast verschleppt worden war, war seine Schuld…

„Euren... Schutz? Wovor denn?”

Überrascht blinzelte Jinshi einige Male. Solch eine Frage hatte er offensichtlich nicht erwartet.

„N-Na ja, vor allem, was dir schaden könnte eben. Zumindest glaube ich, dass das meine Absicht war, auch wenn es sich, ehrlich gesagt, immer noch so anfühlt, als würde es gar nicht um mich gehen, sondern um jemand anderes.” Er kratzte sich am Kopf, so als wolle er zeigen, wie seltsam und verwirrend das Ganze für ihn war. „Wenn es jetzt gewesen wäre, hätte ich ganz bestimmt…”

Doch er verstummte abrupt, als er ihre zusammengezogenen Augenbrauen sah.

„Ah.... Liege ich... etwa falsch?”, murmelte er vollkommen verwirrt und mit einem Hauch Enttäuschung in der Stimme.

„Ich weiß es nicht…”, gab Maomao zu. Das war alles, was sie ihm antworten konnte. Ihr Verstand fühlte sich gleichzeitig überfüllt und gähnend leer an, während sie versuchte, jene plötzliche Enthüllung zu verarbeiten. Sie hatte keine Ahnung, was sie davon halten und wie sie sich nun fühlen sollte, denn noch nie hatte sie sich mit solchen Dingen auseinandersetzen müssen.

Es war so schwierig…

Auf einmal spürte die Apothekerin, wie Jinshi die Stirn an ihre Schulter drückte. Sein Körper zitterte leicht und er begab sich in eine halb-liegende Position, sich mit einer Hand an den Kopf fassend, während er sich mit der anderen am Bett abstützte, um möglichst nicht zusammenzubrechen und die zierliche Maomao unter seinem Gewicht zu begraben.

Umgehend tauchte sie aus ihren Grübeleien auf. 

„Uh…” Er kniff die Augen zusammen und verzog den Mund.

„Eure Exzellenz! Sind Eure Kopfschmerzen wieder schlimmer geworden?”

„J-Ja…”

So gepresst wie seine Stimme klang, mussten es wirklich schreckliche Schmerzen sein.

Mit etwas Mühe schaffte Maomao es, seinen Kopf von ihrer Schulter zu nehmen. Sie musste etwas unternehmen! Schnell!

Die Apothekerin fasste Jinshi bei der Taille, im Versuch, ihn wieder in eine stabilere Position hochzuziehen. Natürlich langte ihre Muskelkraft dafür nicht aus, doch glücklicherweise schien er ihre Absicht gespürt zu haben und setzte sich selbst auf, sich danach wieder an den Kopf fassend.

„Es tut so weh... Maomao…”, wimmerte der arme Kerl, so klingend, als würde ihm jemand den Schädel spalten. Sein Atem ging stoßweise.

Hastig sprang Maomao auf und holte ein kleines Päckchen aus ihrem Ärmel heraus, welches sie aufwickelte. Eine einzige Pille lag darin. Mehr war ihr vom Schmerzmittel nicht geblieben.

„Gleich wird es besser, Herr! Bitte öffnet den Mund.”

Jinshi tat wie geheißen und sie legte ihm die Medizin auf die Zunge. Er schluckte die Pille.

„Sehr gut. Und jetzt noch ein wenig Wasser.”

Als Nächstes holte sie ein kleines Fläschchen hervor, welches sie vor ihrem Aufbruch mit frischem Wasser gefüllt und (glücklicherweise) für alle Fälle ebenfalls mitgenommen hatte. Sie öffnete es und hielt es ihm an die Lippen. Jinshi umfasste die Flasche mit einer Hand (und damit auch Maomaos eigene, die sie hielt) und trank. 

Dann umarmte er Maomao, die neben ihm am Bett stand, und zog sie an sich heran, wie so oft den Kopf an ihrer Brust vergrabend und die Augen schließend, während er auf die Wirkung des Medikaments wartete.

Die Apothekerin strich ihm beruhigend durchs Haar, das beschleunigte Pochen seines Herzens spürend. Auch ihr eigenes hatte angefangen, schneller zu schlagen.

Und so warteten sie beide schweigend, bis seine Schmerzen nachließen.

„War es doch etwas zu früh gewesen?”, dachte sie und runzelte vor Sorge die Stirn. „Vielleicht hätte ich ihm noch mehr Ruhezeit gewähren sollen... aber irgendwann muss ich schließlich anfangen und ich wusste ja, dass es nicht einfach werden würde... da müsst Ihr durch, Eure Exzellenz, so leid es mir auch tut.” Wütend darüber, dass es nicht möglich zu sein schien, ihn sein Gedächtnis schmerzfrei zurückerlangen zu lassen, biss sie die Zähne zusammen. Doch sie konnte wirklich nichts anderes tun, als ihn mit Medikamenten zu behandeln.

Einige Minuten später schien es Jinshi bereits etwas besser zu gehen. Seine Atmung hatte sich wieder normalisiert, doch er hielt Maomao noch immer fest umklammert.

Sie rieb ihm die Schultern und stellte fest, dass er angefangen hatte zu gähnen.

„Die Schmerzen haben an seinen Kräften gezehrt. Er ist erschöpft. Kein Wunder. Da hilft auch eine erholsame Nacht nicht viel.”

Und ihrer Erfahrung aus den letzten Tagen zufolge, würde es nun nicht mehr lange dauern, bis er einschlief.

„Eure Exzellenz?”, sprach sie ihn leise an und klopfte ihm vorsichtig auf die Schulter.

„Hm?” Er öffnete ein Auge, um zu zeigen, dass er ihr zuhörte. 

„Möchtet Ihr vielleicht ein wenig schlafen?”

Jinshi hob den Kopf und sah sie entschuldigend an. Dann nickte er.

„Gut. Dann legt Euch bitte hin. Mein Bett ist zwar deutlich kleiner als Eures, aber ich hoffe, das macht Euch nichts aus.”

Sie hätte ihn wieder zurück in seine Gemächer bringen können, fürchtete jedoch, dass er selbst für den kurzen Weg zu erschöpft war.

Jinshi wendete den Blick ab. In seinen müden Augen lag tiefer Kummer.

„Es tut mir so leid... für all die Umstände... Maomao…”

„Bitte hört auf, Euch zu entschuldigen.”

Als Antwort fasste der junge Herr sie mit seinen leicht zitternden Händen beim Gesicht, zog es etwas nach unten und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Als Nächstes half Maomao ihm dabei, seine Schuhe auszuziehen und sich in ihr Bett zu legen, welches sie seit ihrer Rückkehr in seine Residenz nicht ein Mal benutzt hatte. Dann deckte sie ihn zu und setzte sich an den Bettrand, in der Absicht, dort zu bleiben, bis er eingeschlafen war. 

Jinshi nahm ihre Hand und sah aus halbgeschlossenen Augen zu ihr auf.

„Maomao?”, fragte er schläfrig.

„Ja, Herr?”

Er drückte sanft ihre Hand, bevor er fortfuhr.

„Weißt du... selbst wenn ich vorhin tatsächlich falsch lag, will ich... will ich, dass... Ich weiß, dass aktuell du diejenige bist, die mich beschützt, und dass ich im Moment so ziemlich nutzlos bin... aber ich will, dass du weißt... ähm... dass ich dich immer beschützen werde. So gut ich kann.”

Und schon wieder hatte Maomao nicht die geringste Ahnung, wie sie reagieren sollte. Zum hundertsten Mal kam ihr der Gedanke, wie schwierig es doch war, mit der Ehrlichkeit des neuen Jinshi umzugehen. Viel zu schwierig.

„Danke, Eure Exzellenz”, sagte sie daher lediglich leise.

Er schenkte ihr ein warmes, erschöpftes Lächeln und holte dann mit langsamen, leicht unbeholfenen Bewegungen etwas aus den Falten seiner Kleidung, was er ihr vorsichtig in die Hand legte, bevor er in einen tiefen Schlaf sank. Als wolle er damit seine Worte betonen.

Maomao blickte auf ihre Handfläche. 

Es war die kleine getrocknete Kamille.

Die Apothekerin betrachtete sie gedankenverloren, während ihre andere Hand sich erneut unbewusst hob und sich auf die Haarnadel legte, die sie immer noch im Haar trug.

Notes:

Auch wenn dieses Kapitel hier wie ein komplettes aussieht, ist es eigentlich bloß der erste Teil eines aufgeteilten (der zweite Teil kriegt aber einen anderen Titel, der besser passt).
Und der zweite Teil wird kürzer als der erste.

Aus verschiedenen Gründen wird's übrigens einige Wochen (oder Monate) lang wieder kürzere Kapitel geben.

Hehe, diese Geschichte ist bereits über 100 Seiten lang!

Chapter 70: Amnesie, Teil 13: Schutz

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Ein leiser Seufzer unterbrach die in dem kleinen, zur Residenz des jungen Herrn gehörenden Raum, herrschende Stille. Ungefähr eine Stunde war es her, seit dort das letzte Wort gesprochen worden war.

Maomao hob sich die kleine Flasche an die Lippen, aus der sie Jinshi vorhin trinken ließ und trank die letzten paar Schlucke Wasser, die diese noch enthielt, um ihre trockene Kehle zu befeuchten. Dann lehnte sie sich zurück und streckte sich ein wenig, auf den Tisch herunterblickend, auf dem fünfzehn kleine, längliche Pillen lagen, die sie gerade aus zerstoßenen Kräutern geformt und auf einem Stofftuch ausgelegt hatte.

Ein schwacher Duft nach Kräutern hatte sich im einst makellos sauberen Zimmer ausgebreitet, beinahe wie zum Beweis dafür, dass seine einstige Bewohnerin tatsächlich zurückgekehrt war.

„Das müsste erstmal reichen”, dachte sie. „Zu viel davon sollte ich ihm auch nicht geben.”

Die Apothekerin seufzte erneut, als ob ihre häufigen Seufzer der einzige Weg waren, wie sie es schaffte, während ihrer und Jinshis komplizierten und anstrengenden Situation gefasst zu bleiben, und drehte sich Richtung Bett, in dem Jinshi immer noch auf dem Rücken lag und friedlich und fest schlief. Seine gerunzelte Stirn hatte sich entspannt, daher hoffte Maomao, dass er wenigstens im Schlaf keine Schmerzen empfand.

Seine rechte Hand ruhte auf der Bettdecke und seine Finger bewegten sich ein wenig. Bestimmt träumte er gerade.

Er wirkte ja so fehl am Platz in ihrem einfachen, engen Bett.

Sonnenlicht schien durch das Fenster hinein und direkt auf Jinshi drauf, doch dies schien seinen Schlaf nicht zu stören. Seine Erschöpfung musste wirklich tief sein...

„Wann er wohl aufwachen wird?”

Jinshis Nickerchen konnten ab und zu mehrere Stunden dauern, daher würde Maomao wohl noch einige Zeit warten müssen. 

„Dame Suiren hat Recht. Er schläft wirklich ganz schön viel.”

Aber das machte ihr nicht viel aus, sie konnte die Zeit ja nutzen, um die noch verbliebenen Sachen aus ihrer Tasche zu packen und zu verstauen und den Zustand ihrer mitgebrachten Kräuter zu überprüfen. Aufwecken wollte sie Jinshi jedenfalls nicht. Er brauchte Ruhe.

Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und drehte sich wieder zurück.

Die getrocknete Blume und die Haarnadel lagen direkt neben ihrem Ellenbogen. Maomao besah sie sich mit leicht gerunzelter Stirn.

„...ich will, dass du weißt... ähm... dass ich dich immer beschützen werde. So gut ich kann.”

Jinshis Worte, die er ihr kurz vor dem Einschlafen mit einem Lächeln im Gesicht gesagt hatte, wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Wieso wollte er sie unbedingt beschützen? Es fiel ihr wahrhaftig schwer, es zu verstehen, egal wie sehr sie sich auch anstrengte.

Der junge Mann war und blieb ein Rätsel für sie. Egal ob mit oder ohne Erinnerungen.

Sie überlegte kurz und stand dann auf, um Jinshi zu untersuchen. Sein Kopfschmerzanfall war ganz schön heftig gewesen und hatte seinem Körper zugesetzt, da wäre es nicht verkehrt, ab und zu nach ihm zu sehen.

Fast schon auf Zehenspitzen begab sie sich zu ihm und setzte sich erneut an den Bettrand, sich sein nymphenartiges Gesicht genauer ansehend. Es war nach wie vor vollkommen entspannt und keine einzige Träne benetzte seine feinen, langen Wimpern. Sein Mund war leicht geöffnet und seine Atemzüge tief und ruhig.

Maomao holte ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und wischte behutsam den dünnen Speichelfaden weg, der aus seinem Mundwinkel floss. Seit dem Unfall hatte sie dies bereits unzählige Male getan, während er geschlafen hatte, daher dachte sie sich absolut nichts dabei.

Als Nächstes griff sie nach seinem Handgelenk und prüfte seinen Puls. Auch dieser war in Ordnung. Ein Glück. 

Unwillkürlich erinnerte sie sich an die erste Nacht nach dem Unfall, in der sie stundenlang sein Handgelenk gehalten hatte, voller Angst, dass jener Puls, dass sein Herz jeden Augenblick zum Stillstand kommen könnte, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können. Ihr schlechtes Gewissen, ihre Hilflosigkeit... all das war so überwältigend gewesen.

Und jetzt... jetzt hatte sie zwar immer noch keine Ahnung, wie es mit Jinshi weitergehen würde und was ihn und auch sie selbst noch erwarten mochte, aber es war bereits ein großer Trost zu wissen, dass er zumindest definitiv nicht (mehr) in Lebensgefahr schwebte. Dass er nicht an seiner Verletzung sterben würde. Auch wenn ihr Wunsch, ihm in den Kopf hineinsehen zu können, um herauszufinden, was zur Hölle bloß mit seinem Gehirn los war, sich immer noch weigerte, sich vollständig aufzulösen. Tja…

Jinshi bewegte seine Hand, als wolle er nach etwas greifen.

„M-Mao... mao…”, murmelte er im Schlaf. Seine Mundwinkel hatten sich zu einem kleinen Lächeln gehoben.

Auch das war Maomao bereits mehr als gewohnt und verzog daher keine Miene. Sie ließ sein Handgelenk los und nahm stattdessen seine Hand. Auf der Stelle schlossen seine langen Finger sich um ihre kleine, zerbrechliche Hand. Genauso liebevoll wie wenn er wach war.

Die Apothekerin ließ es geschehen, mit Erleichterung die sanfte Wärme spürend, die von seiner rauen Handfläche ausging und Stück für Stück wieder zu ihm zurückkehrte. Ach, wenn es mit seinem Gedächtnis doch genauso wäre…

„Kümmert Euch nicht um mich, Herr”, dachte sie. „Im Moment sind Eure Gesundheit und Euer verlorenes Gedächtnis das Einzige, worauf Ihr Euch konzentrieren solltet.”

Genau. Alles andere war unwichtig. Schließlich machte er gerade auch so schon mehr als genug durch.

Und überhaupt war Maomaos Schutz etwas, wofür sie praktisch ihr gesamtes Leben lang meistens ohne fremde Hilfe sorgen musste, also würde sie das auch weiterhin tun und sich vor allem auf sich selbst verlassen, genau wie damals, als sie sich zur Sicherheit mit Ölpapier umwickelt hatte, bevor sie losgezogen war, um Fengming, die oberste Zofe der ehemaligen Gemahlin Ah-Duo zu konfrontieren. Ohne jemandem auch nur ein Wort davon zu erzählen.

Die Apothekerin hatte diese Tatsache niemals hinterfragt, denn so waren die Dinge nun einmal. Noch nie hatte sie sich wirklich hundertprozentig sicher gefühlt, wie ihr nun klar wurde. 

Konnte man dies als traurig bezeichnen? Möglicherweise. Doch für Maomao war das normal.

Aber nun hatte sie jemanden, der ihr direkt ins Gesicht sagte, dass er ihr vertraute und sie beschützen wollte. Alle Gründe dafür mal beiseite, war es das allererste Mal, dass sie sich in einer solchen Situation wiederfand.

Maomao war noch nie gut darin gewesen, Gefühle zu benennen, also war sie sich nicht sicher, wie sie das beschreiben sollte, was diese Worte in ihr auslösten.

Doch Eines stand fest: es war etwas vollkommen Neues für sie und… um ehrlich zu sein, missfiel es ihr überhaupt nicht. Oder zumindest deutlich weniger, als sie zuerst geglaubt hatte.

Und sie begriff, dass auch sie ihm vertraute… und ihn beschützen wollte.

Auch wenn sie bloß ein kleingewachsenes, schwaches, unscheinbares, mageres Ding war, verspürte sie trotzdem einen solchen Wunsch. Sich daran erinnernd, wie wütend sie geworden war, als der Kaiser Jinshi in die Ecke gedrängt und eingeschüchtert hatte. Und wie sie stets versuchte, den jungen Herrn so gut sie konnte zu trösten, wenn er nachts vor Angst in ihren Armen zitterte und weinte.

Ihre Schuldgefühle waren wirklich heftig, nicht wahr?

Maomao ließ seine Hand los und strich ihm stattdessen sachte mit den Fingerspitzen über den Handrücken. Noch mehr Erinnerungen bahnten sich ihren Weg in ihren Verstand. In ihren, nicht in seinen. Schon wieder zur falschen Person.

Erinnerungen daran, wie Jinshi sie nach ihrem Tanz auf der Mauer gepackt und vor dem Fall bewahrt hatte… Wie er sie auf der Stelle und ohne jedes Zögern vor den Geschossen der Faustrohre abgeschirmt hatte…

Und wie er… sie mit seinem Körper aufgefangen hatte, als sie vor einigen Tagen von der Leiter gefallen war. Der Grund für seinen Gedächtnisverlust.  

Jinshi war wohl wirklich der Einzige, der so ohne Nachzudenken zu ihrer Rettung eilen würde, was?

Maomaos Hand zuckte leicht und hielt inne.

Er hatte sie tatsächlich die ganze Zeit beschützt. Und sie bemerkte es erst jetzt.

Auch wenn sie immer noch nicht wusste, wieso er das tat. Oder sich, besser gesagt, nicht sicher war, ob sie es überhaupt wissen wollte. 

Die Apothekerin schluckte und presste die Lippen aufeinander. Dann trat sie einen Schritt vom Bett zurück, drehte sich um und begab sich wieder zu ihrem Stuhl, um weiterhin auf Jinshis Erwachen zu warten.  

***

Ungefähr eine halbe Stunde später vernahm sie hinter sich das leise Rascheln von Bettwäsche, gefolgt von einem Gähnen.

„Mm? Ah... Maomao!”

Den weiteren Geräuschen nach zu urteilen, streckte Jinshi sich gerade im Bett und dabei musste sein Blick auf sie gefallen sein. Maomao musste nicht einmal hinsehen, um zu wissen, dass nun ein strahlendes Lächeln sein Gesicht zierte. Schließlich lächelte er immer, wenn er sie direkt nach dem Aufwachen erblickte. So gut wie jedes Mal. Die einzigen Ausnahmen waren, wenn er von Albträumen gequält wurde.

Gelassen schob sie die Kräuter beiseite, die sie gerade inspiziert hatte, und wischte sich kurz die Hände am Rock ab, bevor sie sich zu ihm umdrehte.

„Fühlt Ihr Euch bereits besser, Eure Exzellenz? Wie geht es Eurem Kopf?”

Nach seinem Gedächtnis fragte sie gar nicht erst, da sie ja bereits wusste, dass es noch nicht zurück war. Und ihn unter Druck zu setzen und es noch schlimmer zu machen, wollte sie ebenfalls nicht.

Jinshi, der sich inzwischen im Bett aufgesetzt hatte, schenkte ihr einen sanften Blick und fuhr sich durch das vom Schlaf leicht zerzauste Haar.

„Er tut immer noch weh, aber längst nicht so sehr wie vorhin. Alles gut, Maomao, wirklich.”

„Er hat aufgehört, sich bei mir zu entschuldigen”, dachte sie. „Endlich.”

Die Apothekerin atmete tief durch vor Erleichterung. Sie hatte sich bereits darauf eingestellt, ihm noch mehr Schmerzmittel geben zu müssen, doch zum Glück schien dies nicht nötig zu sein. Im Moment zumindest.

„Sag mal, was machst du da eigentlich?”, fragte er als Nächstes neugierig und hievte sich immer noch leicht verschlafen aus dem Bett, offensichtlich Anstalten machend, sich auf der Stelle zu ihr zu begeben. Barfuß.

Maomao seufzte.

„Zieht Euch bitte Eure Schuhe an, Herr.”

„Ah, ja, natürlich.”

Während der junge Herr sich erneut hinsetzte und ihrer Bitte nachkam, drehte Maomao sich wieder zurück und wollte bereits aufstehen, um mit ihm zusammen zu seinen Gemächern zurückzukehren, da spürte sie, wie er sich erneut hinter sie stellte, sich leicht herunterbeugte und die Arme um ihre Schultern schlang, bevor er sich nach einigen Augenblicken wieder aufrichtete und sie mitsamt Stuhl etwas näher zu sich heranzog. Maomaos Hinterkopf war nun an seine Magengrube gedrückt.

Sie hob den Blick und sah ihm in die Augen.

„Während Ihr geschlafen habt, habe ich noch mehr Schmerzmittel hergestellt und sehe mir nun meine anderen Kräuter an.”

„Ach so. Was sind das denn für welche?”

Er deutete mit dem Finger auf ein kleines Häufchen getrockneter Blüten auf dem Tisch. Dabei fiel sein Blick auch auf die kleine Kamille und die neben ihr liegende Haarnadel, woraufhin sein Lächeln noch breiter wurde und seine Wangen sich vor Freude röteten. Da Maomao ihren eigenen Blick jedoch bereits wieder gesenkt hatte, bemerkte sie dies nicht.

„Die sind gegen Magenschmerzen und Verdauungsstörungen. Im Moment habt Ihr zwar zum Glück keine, doch es schadet nie, welche von diesen Blüten zu haben”, antwortete sie geduldig, so wie jedes Mal, wenn er diese Fragen stellte. Ob er sich all dies merken konnte, bezweifelte sie zwar, doch erklärte ihm trotzdem alles, was er wissen wollte. 

„Eigentlich sollte ich ihm keine solchen Dinge beibringen und ihm das Gehirn mit Informationen vollstopfen, die ihm nichts nützen” , dachte sie, machte jedoch weiter. Tief in ihrem Inneren musste sie zugeben, dass es sie ein wenig freute, dass sich jemand für ihre Kräuter interessierte. Und sein Interesse war echt, das spürte sie definitiv.

„Ja, da hast du Recht. Und was sind das für Zwiebeln?”

„Narzissen. Die kann man verwenden, um Wunden und Verbrennungen zu behandeln, aber sie finden auch als Brechmittel Anwendung. Jedoch sollte man damit vorsichtig sein, sie sind nämlich giftig.”

„Was?! Giftig?!”

Und bevor Maomao sich versah, schlang Jinshi auch schon die Arme um ihre Mitte und hob sie ganz plötzlich hoch, von den gefährlichen Pflanzen weg, als sei sie ein freches Kätzchen, das etwas fressen wollte, was es nicht durfte. Bei der abrupten Bewegung fiel der Stuhl um und landete mit einem lauten Knall auf dem Boden.

Die Apothekerin bekam zunächst einen Schreck, fasste sich dann jedoch wieder.

„Oh ja, manche Dinge ändern sich tatsächlich nie. Er ist immer noch zweifellos derselbe Jinshi”, dachte sie genervt, während ihre Füße hilflos über dem Boden baumelten. „Auf die Art Schutz kann ich getrost verzichten…”

Notes:

Und jetzt nehme ich mir eine Auszeit (zwei Wochen oder so, weiß noch nicht genau), um mich auszuruhen und an meinen Plänen für die nächsten Kapitel zu arbeiten. Zuerst dachte ich, ich bräuchte keine Pause, hab aber nach dem Hochladen des vorherigen Kapitels begriffen, dass ich sehr wohl eine brauche.

Chapter 71: Amnesie, Teil 14: Unvernünftige Bitten

Notes:

Ich bin zurück! :)
Hier kommt zur Abwechslung mal ein längeres Kapitel!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Im Korridor stehend, nahm Maomao die Hände aus den Ärmeln, um eine davon auszustrecken und die Tür zu Jinshis Schlafkammer zu öffnen. 

Die friedliche Atmosphäre eines sonnigen Sommermorgens lag in der Luft, während die Bewohner des kaiserlichen Palastes nach und nach erwachten (die adeligen selbstverständlich, denn die Bediensteten waren schon längst wach). Einige kleine Wolken schwebten gemächlich über den blauen Himmel und Vogelgezwitscher ertönte von draußen, wie als Gruß des neu angebrochenen Tages.

Die Apothekerin runzelte leicht die Stirn, als ein besonders lauter Vogel sich in der Nähe eines Fensters niederließ. Seit dem, was nun vor knapp zwei Wochen geschehen war, konnte sie keinem Vogelgesang mehr lauschen, ohne umgehend an Jinshis Amnesie erinnert zu werden. Auch wenn die eigentliche Schuld für das Ganze zugegebenermaßen nicht bei den Vögeln, sondern einzig und allein bei ihr selbst lag.  

Maomao schüttelte ein wenig den Kopf, um jene Gedanken zu verdrängen, und öffnete endlich die Tür. Sie hatte sich nach dem Aufwachen in ihr Zimmer begeben, um sich das Gesicht zu waschen und sich umzuziehen, und war nun zurückgekehrt. Jinshi, dem morgens für gewöhnlich Suiren in die Kleidung half, wartete bestimmt bereits auf sie. Das tat er immer, egal ob sie für eine halbe Stunde wegging oder für lediglich fünf Minuten.

Den letzten Tag hatte sie damit verbracht, ihm seine Schreibstube, in der er früher so viel Zeit zu verbringen vermochte, zu zeigen. 

Ganz langsam, Schritt für Schritt hatte sie mit ihm den gesamten Raum erkundet und mit ihm zusammen in den Schubladen gestöbert. Wo sie außer den üblichen Tintenbehältern und Pinseln auch eine Flasche Wein gefunden hatten, bei dessen Anblick Maomao trotz aller Selbstkontrolle nicht anders konnte, als leuchtende Augen zu bekommen. Jinshi hatte wiederum sie zunächst mit funkelnden Augen und roten Wangen angestarrt, dann angefangen zu lachen und angeboten, ihr die Flasche zu schenken. Sie war versucht gewesen, das großzügige Geschenk anzunehmen, hatte aber dann schweren Herzens das Angebot ausgeschlagen und gesagt, dass sie den Wein lieber aufbewahren sollten, um ihn zusammen zu trinken, wenn er sein Gedächtnis wiederhatte. Und so hatte sie an jenem Tag statt Wein eben eine feste Umarmung von einem gerührten Jinshi erhalten. Tja, auch gut…

Darüber hinaus war sie direkt neben ihm gestanden, als er sich mit leichtem Zögern an seinen einst „geliebten” Schreibtisch gesetzt und einen Pinsel in die Hand genommen hatte, ein weißes Blatt Papier vor sich, als würde er so wie immer gleich anfangen zu arbeiten. Maomao hätte ihm als Hilfestellung gerne ein paar Dokumente gegeben, doch leider waren sie alle mitgenommen worden, da Jinshi nicht mehr in der Lage war, sie zu bearbeiten, was seinen Schreibtisch beinahe erschreckend leer aussehen ließ.

Und am Ende, als seine Kopfschmerzen erneut schlimmer geworden waren und er eine Pause gebraucht hatte, hatten sie sogar gemeinsam ein Schläfchen auf dem Sofa im Raum gehalten (während dem Maomao zum tausendsten Male wie ein Stofftier gedrückt worden war). Das Sofa war eigentlich ein bisschen zu eng für zwei Leute, doch Jinshi hatte sie so fest in seinen Armen gehalten, dass sie sich kaum bewegen konnte, geschweige denn herausfallen.

Aber wie auch immer. Das Ergebnis jenes kleinen Ausflugs war jedenfalls ein riesiges, unfassbares... Nichts. Gar nichts. Jinshi blieb ohne Gedächtnis. Egal, wie sehr sie sich anstrengte, es wollte einfach keine einzige Erinnerung zu ihm zurückkehren…

Da ihre Anstrengungen einfach nicht fruchteten, begann Maomao nach und nach tatsächlich ein wenig den Mut zu verlieren, doch sie versuchte, nicht daran zu denken und es sich auch nicht anmerken zu lassen. Sie durfte nicht aufgeben. Auf keinen Fall! Und erst recht nicht, wenn sie sah, wie Jinshi ganz ehrlich sein Allerbestes gab.

Solange nicht alles Mögliche versucht worden war, gab es noch Hoffnung. Und zum Glück ging es ihm zumindest gesundheitlich Tag für Tag ein wenig besser. Zwar wurde er nach wie vor nachts von bösen Träumen gequält, doch sie waren seltener geworden, und auch seine Hände und Füße hatten ihre ursprüngliche Wärme zurück (obwohl er Maomaos selbstverständlich immer noch genoss und sie ab und zu bat, ihm die Hände zu reiben, weil er es liebte).

Da sie wusste, dass sie trotz allem nichts überstürzen durfte, hatte sie beschlossen, ihm einen oder zwei Tage Ruhe zu gönnen und sich dann zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollte.

Die Tür hinter sich schließend, betrat Maomao mit ihrem üblichen neutralen Gesichtsausdruck das Zimmer und blickte Richtung Fenster, welches sie vor ihrem Weggang geöffnet hatte, um die Kammer ein wenig durchzulüften.

Jinshi stand dort, mit dem Rücken zu ihr und mit beiden Händen auf dem Fensterrahmen. Er schien nicht bemerkt zu haben, dass sie wieder zurück war. 

Die Apothekerin wollte bereits nach ihm rufen, doch dann überlegte sie es sich anders und trat mit leisen Schritten neben den jungen Herrn, ein wenig neugierig, was er denn so Interessantes draußen entdeckt hatte.

Jinshi betrachtete einige Zeit lang die anderen Gebäude in der Nähe und die um sie herumwachsenden Bäume und hob dann die Augen Richtung Himmel, sie mit einer Hand vor der Sonne abschirmend. Es war ein Anblick wie auf einem Gemälde. Dem Gemälde einer Nymphe, die in den Himmel sah, von dem sie herabgestiegen war.

Maomao neigte den Kopf leicht zur Seite, als sie den Blick in Jinshis Augen bemerkte.

Dieser wirkte irgendwie verloren. Erfüllt mit Sehnsucht. Wie der eines Vogels im Käfig, der anderen Vögeln beim Fliegen zusah.

Sie kannte jenen Blick. Viel zu oft hatte sie ihn in den Augen von Kurtisanen gesehen, die von einem Fenster oder Balkon aus auf die Leute draußen heruntergeblickt haben. In einem stillen Wunsch, ebenso frei zu sein wie sie.

Auf einmal stockte ihr der Atem. Konnte es etwa sein, dass...

Wie als Antwort darauf drehte er leicht den Kopf zur Seite und schien ihre Gegenwart endlich zu bemerken. Sofort erschien das übliche strahlende Lächeln auf seinen Lippen, das er jedes Mal aufsetzte, wenn er die junge Frau erblickte.

„Oh, du bist zurück, Maomao!”

„Was macht Ihr da, Herr?”

„Ach, ich wollte bloß ein wenig frische Luft, es ist nämlich leicht stickig hier drin.” Er richtete den Blick wieder Richtung Fenster. „Das Wetter ist so schön. Ich würde wirklich gerne mal nach draußen gehen.”

Maomao seufzte. Sie hatte es geahnt.

„Nun, Ihr habt Eure Residenz seit Eurem Unfall tatsächlich kein einziges Mal verlassen, aber... im Moment ist es noch zu riskant, Euch nach draußen zu lassen, Herr. Es tut mir leid.”

Jinshi ließ enttäuscht die Schultern hängen.

„Wieso?”, fragte er leise. 

Maomao überlegte ein wenig, bevor sie antwortete.

„Ihr seid eine sehr wichtige Person am Kaiserlichen Hof und nur eine Handvoll Menschen weiß überhaupt, dass Ihr Euer Gedächtnis verloren habt. Falls diese Information sich verbreitet, wird Chaos herrschen.”

Das war zwar nicht gelogen, aber auch nicht die ganze Wahrheit. In Wirklichkeit wollte Maomao es vor allem vermeiden, dass sich Horden von aufgeregten und erfreuten Hofdamen auf den nun ziemlich hilflosen Jinshi stürzten, sein Gehirn überforderten und eine neue Panikattacke und ein Trauma bei ihm auslösten. Und so wie sie seine „Verehrerinnen” kannte, war dies durchaus nicht auszuschließen.

Das wollte sie ihm auf jeden Fall ersparen, aber da sie ihm auch keine Angst machen wollte, behielt sie jene Bedenken für sich. 

„Und bitte steht nicht zu nah am offenen Fenster. Jemand könnte Euch sehen.”

Maomao griff nach seinem Ellenbogen, als wolle sie ihn selbst wegziehen.

Jinshi trat gehorsam einige Schritt zurück. Er sah aus wie ein kleines Kind, dem man eine Süßigkeit direkt vor der Nase weggeschnappt hatte.

„Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit?”, hakte er niedergeschlagen nach, während die Apothekerin das Fenster schloss.

Sein Anblick und auch die Tatsache, dass sie ihm selbst einen solch bescheidenen Wunsch ausschlagen musste, taten ihr in der Seele weh, doch wenn sie sich ausmalte, was die Hofdamen mit ihm in seinem derzeitigen Zustand anstellen könnten, begann ihr Blut zu kochen. Verdammt, übermäßige Schönheit war tatsächlich eher Fluch denn Segen!

Sie strich ihm beruhigend über den Arm. Manchmal nervte es sie ja selbst, wie überfürsorglich sie sich ihm gegenüber verhielt, doch sie konnte einfach nicht anders. Körperlich war Maomao viel zu schwach, um ihn zu beschützen, also blieb ihr keine andere Wahl als es auf eine solche Weise zu machen.

Und ihn bei den Temperaturen mit einer Tuchmaske draußen herumlaufen zu lassen, wollte sie auch nicht. Zu deutlich war die Erinnerung daran, wie er vermummt unter der Hitze gelitten hatte.

Aber dass es nicht für immer so weitergehen konnte, war auch ihr bewusst. Denn auch wenn Jinshi, soweit sie wusste, eigentlich nie richtig frei gewesen war, befand er sich doch derzeit in seiner Residenz wie ein Vogel in einem Käfig.

Das musste ziemlich schwierig für einen jungen Mann wie ihn sein und war seiner Genesung auch gewiss nicht förderlich.

„Nun, ich gebe ja zu, dass es nicht gesund für ihn ist, die ganze Zeit eingesperrt drinnen zu hocken”, dachte sie. „Wenn er doch bloß keine solche Angst vor der Dunkelheit hätte... dann könnte ich zumindest nachts für einige Zeit mit ihm rausgehen…”

„Ich werde mir etwas einfallen lassen, Herr.”

Ihre Antwort brachte den Glanz in Jinshis Augen zurück. Lächelnd strich er ihr über den Kopf.

„Ich danke dir, Maomao!”

Maomao seufzte. 

***

Mit gerunzelter Stirn und verschränkten Armen stand Jinshi einige Zeit später hinter Maomao und sah zu, wie sie mit einem feuchten Tuch den Staub von den Tür- und Fensterrahmen im Korridor wegwischte.

„Bestimmt langweilt er sich”, dachte sie, seinen Blick in ihrem Nacken spürend. „Und dabei habe ich ihm doch gesagt, dass er in seiner Schlafkammer bleiben und sich ausruhen sollte, während ich putze. Aber er wollte ja unbedingt mitkommen.”

„Nur noch ein wenig Geduld. Ich bin gleich fertig, Eure Exzellenz.”

Etwa zwei Wochen war es bereits her, dass Maomao zurück zu Jinshi gezogen war, doch bisher hatte sie sich während jener Zeit ausschließlich um ihn selbst gekümmert und sonst nichts weiter getan. Was an sich schon zweifellos eine ziemlich anstrengende Aufgabe war, doch sie fand es trotzdem unglaublich, wenn man bedachte, wie unfassbar viel Zeit sie früher, bevor sie an Dame Gyokuyou „verliehen” worden war, mit Putzen verbracht hatte. 

Und auch wenn es selbstverständlich wichtiger war, sich um den gedächtnislosen Jinshi zu kümmern als Hausarbeiten zu erledigen und ihr keiner einen Vorwurf machte, konnte Maomao trotzdem nicht anders, als sich ein wenig schuldig zu fühlen, wenn sie Suiren allein putzen sah. Die Tatsache, dass sie bei der Wiederherstellung von Jinshis Erinnerungen keine Fortschritte machte, verstärkte dieses Gefühl nur noch, und daher hatte sie beschlossen, die ältere Dame um ein paar Aufgaben zu bitten, während er sich erholte. Um sich zumindest ein bisschen nützlich zu fühlen.

Suiren war zwar leicht überrascht gewesen, als sie ihren Wunsch vernommen hatte, doch dann hatte sie gelächelt und die Apothekerin gebeten, Staub zu wischen. Und das tat Maomao also nun.

„Hm”, brummte Jinshi bloß als Antwort. Er beobachtete sie noch ein paar Minuten lang schweigend und trat schließlich näher an sie heran, um ihr seine Hand auf die Schulter zu legen. „Maomao... sag mal, kann ich dir vielleicht helfen?”

Maomao fiel vor Überraschung der Lappen aus der Hand.

Hatte sie das gerade tatsächlich richtig gehört? Das konnte nicht sein!

Entgeistert fuhr sie herum und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

„Ihr wollt mir beim... Putzen helfen?”, fragte sie in einem ungläubigen Tonfall, das Wort „Putzen” dabei besonders betonend.

Jinshi sah sie verwirrt an, nicht verstehend, wo denn das Problem lag. Er zuckte die Achseln und setzte dann ein kleines Lächeln auf.

„Ähm, ja, zu zweit geht das doch schneller und einfacher, nicht? Komm, lass mich dir helfen, ja, Maomao?”

„Auf keinen Fall!” Maomao drehte sich wieder zurück und hob ihren Lappen auf.

Jinshis Lächeln erstarb.

„Aber... aber wieso denn nicht?”

„Weil Ihr ein Adeliger und auch noch mein Dienstherr seid. Aufgaben wie diese sind den Bediensteten vorbehalten.”

Maomao konnte kaum glauben, dass sie diese Unterhaltung tatsächlich führten. War das denn nicht offensichtlich? Auch ohne sein Gedächtnis musste er doch inzwischen begriffen haben, auf welch hoher Position er sich befand. Nicht wahr?

„Warum in aller Welt würde er Putzaufgaben übernehmen wollen?”, dachte sie, immer noch verblüfft ob seiner aufrichtig aussehenden Enttäuschung angesichts ihrer Worte. Da hatte sie geglaubt, sie würde ihn endlich zumindest ein bisschen besser verstehen, aber nun stellte sich heraus, dass sie ihn in Wirklichkeit sogar noch weniger verstand als vorher.

Jinshi stieß einen tiefen Seufzer aus und wendete den Blick Richtung Boden ab, beide Arme hängen lassend. Seine Schultern zitterten leicht.  

Die Apothekerin hob eine Augenbraue, ihn erneut ansehend. Auch wenn ihr sein Verhalten rätselhaft erschien, tat es ihr doch eigentlich auch ein wenig leid, ihm schon wieder einen Wunsch abschlagen zu müssen. Doch auch hier hatte sie keine Wahl und so fügsam wie er seit seinem Unfall geworden war, würde er ihre Antwort bestimmt akzeptieren und sich geschlagen geben. So wie er es vorhin schon getan hatte.

Maomao nahm sich vor, ihm später ein wenig aus dem Roman vorzulesen, um es wiedergutzumachen. Obwohl er nun wieder selbst lesen durfte, hatte er ihr mehrere Male mitgeteilt, dass er gerne ihrer Stimme lauschte, daher nahm sie an, dass sie ihn damit wenigstens ein bisschen aufheitern könnte.

Jedoch...

„Aber Maomao!”

Überrascht von dem trotzigen Tonfall blickte sie wieder auf und stellte fest, dass er... schmollte. Genauso wie früher, mit zusammengezogenen Augenbrauen und aufgeblasenen Wangen. Wie ein stures Kind, das kein „Nein” hören konnte.

Trotz allem spürte Maomao bei dem Anblick eine gewisse Nostalgie in sich aufsteigen. So hatte sie ihn ja ziemlich lange nicht mehr gesehen. Tja... jetzt blieb bloß die Frage, was sie nun am Besten tun sollte. Nachgeben kam jedenfalls nicht in Frage, denn die Apothekerin selbst war nicht weniger stur als der junge Herr.

„Es tut mir wirklich leid, Herr.”

Jinshi ergriff mit der rechten Hand seinen linken Unterarm und bohrte seine Finger hinein, als klares Zeichen der Frustration. Seinem Gesichtsausdruck zufolge schien ihm klar zu sein, dass er diesmal mit Flehen nicht weiterkommen würde. Maomao würde definitiv nicht nachgeben.

„Ein Adeliger... na und? Ich kann mich sowieso nicht daran erinnern, einer zu sein…”

„Selbst wenn, Ihr seid einer.”

„Und ich sehe dich nicht als Dienerin…”

„Bin ich aber.”

„Aber es ist doch niemand da…”

Er grub die Finger noch stärker in seinen Arm, sodass Maomao sich bereits leichte Sorgen machte, dass seine Nägel auf seiner Haut Spuren hinterlassen könnten.

„Jetzt nicht, aber falls ich einwillige und ganz zufällig Dame Suiren vorbeikommt und uns sieht, wird sie mir den Kopf abreißen. Und wie sie das wird.”

„Oh…” Jinshis Augen weiteten sich ein wenig. So wie es aussah, hatte er es endlich begriffen und war zur Vernunft gekommen. „So schlimm?”

„Ja.” 

Der aktuelle Jinshi hatte Suiren noch nie zornig erlebt, daher hatte er keine Ahnung, wie furchteinflößend sie sein konnte. 

„V-Verstehe... ich will dich natürlich nicht in Schwierigkeiten bringen…” 

Seine Antwort ließ Maomao erleichtert aufatmen. Sich denkend, dass die Sache damit erledigt war, wollte sie mit dem Putzen fortfahren, hielt dann aber inne, als sie noch etwas von ihm hörte:

„Ich wollte doch auch nützlich sein... wenigstens ein bisschen…” Jene Worte waren leise, jedoch erfüllt mit Traurigkeit und Verbitterung. „Du tust so viel für mich... und ich selbst kann nichts tun... gar nichts…”

Beinahe hätte Maomao den Lappen wieder fallen gelassen, als ihr nun alles klar wurde. Das war es also! Da hatte sie noch über seine Beweggründe gerätselt und es stellte sich heraus, dass es dieselben waren wie ihre eigenen! 

Ach, richtig. Er konnte ja aktuell nicht arbeiten und da seine Arbeit früher so viel von seiner Zeit eingenommen hatte, hatte er nun auf einmal zu viel davon. Während ihrer Zeit als seine persönliche Bedienstete hatte Maomao mit eigenen Augen gesehen, dass Jinshi in Wirklichkeit ein ziemlich fleißiger Mann war, mit bloß gelegentlichen Anflügen von Faulheit (eine Tatsache, die sich auch nach dem Unfall bestimmt nicht geändert hatte), der sich häufig überarbeitete, also musste zu viel Freizeit zusammen mit der Tatsache, dass er in seiner Residenz eingesperrt war, eine wahre Qual für ihn sein, vor allem nachdem sich sein Gesundheitszustand verbessert hatte. Sie erinnerte sich an den Blick, mit dem er am Morgen aus dem Fenster hinausgesehen hatte. Ja, zweifellos eine Qual.

Den ewigen Papierkram hatte er zwar kein bisschen gemocht, aber zumindest hatte er da etwas zu tun gehabt. Aufgaben erledigt. Zu lange überhaupt nichts zu tun zu haben, war nicht einfach, das wusste die ebenfalls fleißige Maomao aus eigener Erfahrung. 

„Zugegeben, ich wollte, dass er weniger arbeitet”, dachte sie, an sein bleiches, vom Schlafmangel gezeichnetes Gesicht und die Augenringe zurückdenkend, die sie früher regelmäßig an ihm gesehen hatte. „Aber... doch nicht so!”

Man sollte wirklich aufpassen, was man sich wünschte.

***

Die Zeit verging und kein einziges Wort fiel zwischen den beiden.

Jinshi stand mit gesenktem Blick und bedrücktem Gesichtsausdruck da und Maomao putzte, dabei ab und zu in seine Richtung schielend und sich überlegend, was sie tun könnte, um seine Laune zu heben. Seinen Wunsch zu erfüllen und ihn putzen zu lassen kam auf keinen Fall in Frage, so viel war klar. Aber was dann?

Eine höchst komplizierte Angelegenheit, aber auf einmal kam ihr dann doch eine Idee. Ja, das sollte gehen. Falls Suiren sie erwischte, könnte sie eventuell trotzdem Ärger bekommen, aber zumindest milderen.

Mit dem Tuch in der Hand trat sie vor eine der Türen, blickte hoch zum Türrahmen, stemmte die Hände in die Hüften und gab einen tiefen (und hoffentlich nicht zu übertriebenen) Seufzer von sich. 

„Ach, wie lästig…”, murrte sie in einem genervten Tonfall und schielte dann zu Jinshi, um zu prüfen, ob sein Interesse geweckt war. „Daran habe ich ja überhaupt nicht gedacht.”

Tatsächlich hob er den Blick und machte einen Schritt auf sie zu.

„Was ist denn, Maomao?”

„Ich habe ganz vergessen, dass ich ja auch den Staub vom oberen Teil der Türrahmen wischen muss, aber ich komme nicht ran.” Wie um dies zu demonstrieren, streckte sie einen Arm nach oben aus und zuckte dann, scheinbar resigniert, die Achseln. „Da muss ich wohl oder übel eine Leiter holen, aber leider habe ich vergessen, wo ich hier eine finden kann.” Das war eine glatte Lüge. Sie sah noch einmal zu Jinshi, der sie leicht erstaunt anblickte. „Wenn es doch nur eine andere Möglichkeit gäbe…”  

Jinshis Gesicht erhellte sich auf der Stelle, sobald er begriff, worauf sie da anspielte, und seine Traurigkeit verschwand spurlos.

„Die gibt es, Maomao, die gibt es!”, rief er erfreut. 

„Ach ja? Welche denn?”, stellte sie sich mit einem kleinen Lächeln unwissend. Es hatte funktioniert. So wie es aussah, war sie eine bessere Schauspielerin als sie gedacht hatte.

Der junge Herr breitete die Arme aus.

„Komm, ich hebe dich hoch und helfe dir, diese Stellen zu erreichen. Lass mich dir helfen, Maomao, ja? Bitte!”

Trotz seiner Begeisterung war seiner Stimme deutlich zu entnehmen, dass er Angst hatte, auch diesmal ein „Nein” zu hören zu bekommen.

„Hm, lasst mich überlegen... Tja, hier habe ich wohl tatsächlich keine andere Wahl. Von mir aus, Eure Exzellenz.”

Und bevor sie sich versah, befand sie sich auch schon in einer solch festen Umarmung, dass es ihr beinahe den Atem raubte.

„Vielen Dank, Maomao! Endlich kann ich dir helfen! Ich freue mich ja so!”

Und schon wieder antwortete sie darauf mit einem Seufzer.

„Hach... Hauptsache, er ist glücklich.”

***

„Hört bitte auf damit, Herr, so kann ich nicht richtig arbeiten.”

„Haha, tut mir leid, aber du bist so süß, dass ich einfach nicht anders kann als dich ständig zu umarmen und zu küssen.”

Und wie zur Unterstreichung seiner Aussage gab Jinshi Maomao einen fünften Kuss auf die Schläfe, bevor er kurz seine Wange an die ihre rieb und sie dann endlich mit dem Putzen fortfahren ließ. Die Tatsache ausnutzend, dass sie sich aktuell auf seiner Augenhöhe befand.

Sie in seinen Armen tragend (wie stets so mühelos, als würde sie überhaupt nichts wiegen), trat er einen Schritt näher zur Tür, damit die Apothekerin, die sich mit einer Hand an seiner Schulter festhielt, den Türrahmen bequemer erreichen konnte.

Maomao beeilte sich beim Staubwischen, so gut sie konnte, ohne dabei die Qualität ihrer Arbeit zu vernachlässigen. Nicht, weil es ihr missfiel, von Jinshi getragen zu werden (es hatte ihr, um ganz ehrlich zu sein, nicht einmal vor dem Unfall etwas ausgemacht), sondern weil sie absolut keine Lust auf ein mögliches Publikum hatte, dem sie das Ganze würde erklären müssen.

„Ich bin fertig, Herr”, meinte sie schließlich nach etwa zehn Minuten und klopfte ihm auf die Schulter, um ihm zu verstehen zu geben, dass er sie wieder runterlassen konnte.

„Was denn, schon?” In seiner Stimme schwang eine leichte Enttäuschung mit. „Hm, na gut. Warte einen Moment.”

Und mit diesen Worten drückte er sie noch einmal ganz fest an sich. Als wäre es ein Abschied für mehrere Monate.  

Maomao schlang instinktiv die Arme um seinen Hals, gab dabei jedoch Acht, ihn nicht mit dem schmutzigen Lappen zu berühren, während sie geduldig darauf wartete, wieder auf den Boden gestellt zu werden.

Doch stattdessen nahm er sie behutsam unter den Armen und hob sie noch ein wenig höher, sodass sie nun auf ihn herabblickte.

Gut. Langsam wurde sie doch ein wenig ungeduldig und strampelte leicht mit den Beinen.

„Eure Exzellenz? Wärt Ihr vielleicht so gut, mich wieder runterzulassen?”

„Ah, tut mir leid, Maomao. Ich war bloß ein wenig in Gedanken. Als ich dich vorhin hochgehoben habe, ist mir nämlich etwas aufgefallen…”

Endlich kam er ihrer Bitte nach und legte ihr auf der Stelle die Hände auf die Schultern, ihr in die Augen schauend.

Fragend erwiderte sie seinen Blick. Sein Tonfall verwirrte sie, denn sie stellte fest, dass es der gleiche war, den er stets angeschlagen hatte, wenn er sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigte, wenn sie verletzt oder eindeutig übermüdet gewesen war.

„Etwas aufgefallen? Was denn?”

„Du... Du bist so leicht. Isst du auch genug?” Jinshi runzelte die Stirn und schenkte ihr einen besorgten Blick. „Mir ist schon früher aufgefallen, dass deine Portionen kleiner sind als meine, aber da du selbst kleiner bist, habe ich mir zunächst nichts dabei gedacht. Aber jetzt mache ich mir Sorgen…”

Maomao stand die Verblüffung ganz deutlich im Gesicht geschrieben. Sie hatte Vieles erwartet, aber gewiss nicht das.

„Moment mal... War das etwa das, was er ausdrücken wollte, als er mir damals in der Höhle sagte, dass ich ein wenig zunehmen sollte?”

Der junge Herr schien ihre Reaktion falsch interpretiert zu haben, denn er lief rot an und begann verzweifelt mit den Händen zu wedeln.

„Nein! Versteh mich bitte nicht falsch, Maomao, du bist für mich perfekt, egal, wie viel du wiegst, und wirst es auch immer sein! Ich sorge mich bloß um deine Gesundheit! Bitte sei mir nicht böse!”

„Ich bin Euch nicht böse, Herr. Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, ich esse genau so viel, wie ich benötige.” Seinen ersten Satz überhörte sie geflissentlich. Aber selbstverständlich tat sie das.

Jinshi seufzte vor Erleichterung.

„Wirklich? Dann ist ja gut. Aber wenn es doch mal zu wenig ist, zögere bitte nicht, bei Suiren um Nachschlag zu bitten.”

„In Ordnung, Herr. Kommt, lasst uns gehen.”

Sie streckte ihre saubere Hand aus, um die seine zu ergreifen, und wollte bereits losgehen. Doch dann spürte sie, wie er zurückblieb und sie zurückhielt. Überrascht und sich fragend, was denn nun los war, hielt sie inne und sah ihn wieder an.  

Jinshi kratzte sich mit der freien Hand unbeholfen am Hinterkopf und wendete kurz den Blick ab. Seine Wangen waren rot.

„Hm? Ist er etwa verlegen?”, fragte sie sich. „Das Thema mit meinem Gewicht haben wir doch gerade geklärt. Was ist also nun schon wieder?”

„Was habt Ihr, Eure Exzellenz?”

„Ähm, Maomao... Ich hätte da einen kleinen Wunsch... äh... Etwas, worum ich dich eigentlich schon lange bitten wollte...aber jetzt mehr denn je…”

„Ja?”

„Könntest du bitte aufhören, so formell mit mir zu sprechen und mich „Herr” und „Exzellenz” zu nennen?...”

„Bitte, was?!”

„Von wegen „kleiner Wunsch”!”

Was für ein Tag... Eine Überraschung nach der anderen…

***

Jinshi drückte die Hand der entsetzten Maomao, um sie zu beruhigen. Sie starrte ihn an, als sei ihm gerade ein zweiter Kopf gewachsen.

„Natürlich nur, wenn wir unter uns sind und keiner zuhört, damit du meinetwegen keinen Ärger bekommst!”, versicherte er rasch.

„Aber... wieso?” Die Apothekerin sah immer noch aus, als halte sie das Ganze bloß für einen schlechten Scherz. Und dabei hatte sie geglaubt, dass sie nichts mehr würde überraschen können, nachdem sie von ihm den Wunsch vernommen hatte, ihr beim Putzen zu helfen. Ach, wie sehr sie sich doch geirrt hatte.

„Hoffentlich war das die letzte Überraschung für heute”, dachte sie leicht ermüdet.

Jinshi begann, nervös mit seinen Fingern herumzuspielen, Maomaos Blick ausweichend.

„N-Na ja, es fühlt sich eben so distanziert an. Als wären wir tatsächlich nur Herr und Dienerin und das... mag ich nicht.”

Maomao blinzelte einige Male.

„Aber das sind wir doch…”

„Nein! Du bist für mich viel mehr als das!” Der junge Herr klang beinahe schon verzweifelt, als er erneut nach ihren Schultern griff. „Und deshalb möchte ich, dass du mich duzt und Jinshi nennst. Einfach nur Jinshi. So heiße ich doch, oder? Zwar weiß ich immer noch nicht so genau, wer ich bin, aber ich will gar keine Exzellenz sein, sondern einfach nur... ich. Einfach nur ein Mensch. So wie du.”

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Dann schüttelte Maomao den Kopf.

„Das geht nicht, Herr.”

„Du... willst nicht?” Seine Stimme bebte, als würde er gleich anfangen zu weinen. Das wollte Maomao selbstverständlich nicht, doch eine andere Antwort konnte sie ihm nicht geben.

„Nein. Ich kann bloß nicht. Ihr steht weit über mir, Eure Exzellenz, daher muss auch in meiner Sprechweise Euch gegenüber stets ein gewisser Respekt gewahrt werden. Diese darf nicht zu vertraulich sein.” 

Auch wenn sie inzwischen ein starkes Band geknüpft hatten und sich in letzter Zeit so nahe gekommen waren wie nie zuvor... Auch wenn sie seine verletzlichsten Seiten kennengelernt hatte, mit ihm im selben Bett schlief und regelmäßig mit ihm schmuste... Auch wenn sie die Tatsache akzeptiert hatte, dass sie einander vertrauten und sich gegenseitig beschützen wollten... Auch wenn er vergessen hatte, wer er war… gab es doch gewisse Grenzen, die nicht überschritten werden durften. Daran konnte sie nichts ändern.

Nun, eigentlich hatte sie sich in der Vergangenheit bereits hin und wieder Dinge erlaubt, für die ein anderer Adeliger sie gut und gerne einen Kopf kürzer hätte machen können. Allein ihre Blicke, als sei er ein widerliches Insekt. Aber trotzdem... das zu tun, worum er sie jetzt bat, wäre eindeutig zu viel.

Auch wenn sie tief in ihrem Inneren in Wirklichkeit gar nichts dagegen hatte, hieß dies noch lange nicht, dass sie es auch tatsächlich durfte. Selbst wenn er sie höchstpersönlich darum bat.

„Heute macht Ihr es mir wirklich nicht leicht”, dachte sie, während sie sich überlegte, wie sie ihn noch überzeugen konnte. Denn diesem Wunsch konnte sie unter keinen Umständen nachgeben, egal wie sehr er sie auch anflehte.

„Aber das will ich nicht! Ich will, dass wir uns ebenbürtig sind!” Er schüttelte sie leicht, um zu verdeutlichen, wie ernst es ihm war. „Dass du meine Maomao bist und ich dein Jinshi…” Jener letzte Satz war ein kaum hörbares Flüstern, so leise, dass sie ihn nicht mitbekam.

Doch Maomao ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Ebenbürtig? Das ist absolut nicht möglich, Herr.”

Jinshi riss die Augen weit auf. Seine Hände ließen sie los, als hätte ihn auf einen Schlag alle Kraft verlassen. Er wirkte so am Boden zerstört, als sei etwas in seinem Inneren zerbrochen. Als seien Maomaos Worte ein Hammer und hätten seine Seele wie eine Glasscheibe in Scherben geschlagen, die ihm nun das Herz durchbohrten.

Schuld und Reue überfielen die Apothekerin, als sie seine Reaktion sah. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Aber es war zu spät.

„Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen…”

Jinshi antwortete nicht. Er sah sie nicht einmal an, sondern starrte immer noch geschockt zu Boden, als habe ihre Entschuldigung ihn überhaupt nicht erreicht.

Sie hatte ihn wirklich tief verletzt.

Wortlos hob Maomao ihre Sachen auf, sich überlegend, wie sie das Ganze wiedergutmachen könnte. Ihr fiel nichts ein. Verdammt, wenn sie doch bloß die Zeit zurückdrehen könnte! Wenn sie doch, wenn schon nicht den Unfall, dann zumindest die letzten Minuten ungeschehen machen könnte... Aber das konnte sie nicht.

Ohne eine Ahnung, was sie sonst tun sollte, nahm sie Jinshi erneut bei der Hand, um in seine Gemächer zurückzukehren. Er schwieg immer noch, wies sie aber auch nicht ab, sondern ging folgsam und mit gesenktem Kopf mit ihr mit. Die Atmosphäre war angespannt, die Stille unangenehm.

***

Nachdem Maomao die Putzutensilien an ihren Platz zurückgebracht, sich die Hände gewaschen und zusammen mit Jinshi seine Schlafkammer betreten hatte, blieb er auf einmal in der Nähe der Türschwelle stehen und ließ ihre Hand los.

Sie sah ihn fragend an und wollte sich bereits erkundigen, was los war, doch als sie in sein Gesicht blickte, blieben ihr die Worte im Halse stecken. Tränen liefen über Jinshis Wangen. Er wischte sie mit dem Ärmel ab, doch es kamen immer neue nach. Unaufhaltsam, ohne ein Ende in Sicht.

Der Kloß in Maomaos Hals ließ sie kaum atmen. Das Wissen, dass der Grund für seine Tränen diesmal weder körperliche Schmerzen noch ein Albtraum waren, sondern sie selbst, war beinahe unerträglich.

Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, doch bevor sie auch nur ein Wort von sich geben konnte, fiel Jinshi aus heiterem Himmel auf die Knie, als könnten seine Beine ihn nicht mehr halten, schlang die Arme um die erstarrte Apothekerin und vergrub das Gesicht an ihrer Brust.

So verzweifelt, als habe er Angst, dass sie ihn jeden Moment verlassen würde.

„Maomao…”, wimmerte er, bitterlich weinend und ihre Kleidung mit seinen Tränen durchtränkend.

„Psst…” Hilflos begann sie ihm den Rücken zu reiben, sich unwillkürlich an sein Verhalten während des ersten Tages und der ersten Nacht nach dem Unfall erinnernd. „Ich hätte das wirklich nicht sagen sollen. Es tut mir sehr leid…” Hoffentlich würde es keine Auswirkungen auf seinen Gesundheitszustand haben…

Jinshi schniefte und sah ihr erneut ins Gesicht. Seine violetten Augen schwammen in Tränen, was ihm ein ziemlich bemitleidenswertes Aussehen verlieh.

„Weißt du…”, begann er erneut zwischen Schluchzern. „I-Ich möchte dir etwas… g-gestehen….”

Maomao spannte sich leicht an, doch wartete geduldig, dass er fortfuhr, während sie ihm nun mit einer Hand den Kopf streichelte. Sie musste ihm zuhören, ganz egal, wie sehr es ihr widerstrebte, jenes „Geständnis” zu hören. Sie musste.

Auch wenn sie sich nun am allerliebsten die Ohren zuhalten würde.

„Als… A-Als ich am Tag d-des Unfalls… auf deinem S-Schoß aufgewacht bin… u-und dann später im Bett… d-dachte ich ganz ehrlich, du wärst…” Er drückte erneut das Gesicht an ihre Brust, sodass sie seinen Ausdruck nicht sehen konnte, doch ihr fiel auf, dass seine Ohren knallrot angelaufen waren. „...meine Frau…”

Seine Stimme war gedämpft, doch sie hörte jene zwei Worte deutlich.

Maomao musste sich nun ernsthaft zusammenreißen, um selbst nicht auf die Knie zu fallen. Oder sich aus seiner Umarmung zu reißen und wegzulaufen.

Sie kam sich vor wie in einem wahrgewordenen Albtraum. Ihre Gedanken rasten.

Doch Jinshi blickte abermals auf und fuhr gnadenlos fort, während sie ihn fassungslos anstarrte. Seine Stimme bebte weiterhin, doch sein Tonfall verriet nur allzu deutlich, dass er ihr gerade seine tiefsten Gefühle offenbarte.

„I-Ich hatte von Anfang an das G-Gefühl… dass du mich in und auswendig kennst… b-besser als jeder andere. Dass d-du e-ein Teil von mir bist… v-von dem, der ich war… Ich spürte es, Maomao, und spüre es immer noch! Jedes Mal, wenn ich dich ansehe! So viele Gefühle… dass ich gar nicht weiß, wie ich es beschreiben soll! A-Aber… aber du sagst mir ständig, dass du nichts weiter a-als meine Dienerin bist! D-Das kann nicht stimmen! Niemals!”

Er ließ ihre Taille los und nahm sie, immer noch auf dem Boden kniend, bei den Händen, ihr einen solch flehenden Blick schenkend, dass Maomao heftig schlucken musste. Ihr Herz pochte wie verrückt.

„K-Kümmerst du dich etwa nur um mich… weil es deine Pflicht ist? Magst du m-mich denn überhaupt nicht? B-Bin ich dir als Mensch egal? Sag es mir, Maomao! Sag es mir, ich flehe dich an!”

Jinshi senkte für einen Moment den Blick und sah ihr dann erneut direkt in die Augen. Er zitterte wie Espenlaub.

„Ich habe eine solch wundervolle Frau wie dich nicht verdient, ich weiß…”, flüsterte er. „Aber ich bin verloren ohne dich…”

Maomao spürte, dass er sie nicht loslassen würde, bis er die Wahrheit aus ihrem Mund gehört hatte. Ihre Hände begannen zu schwitzen.

Nun musste sie etwas tun, was sie nur sehr selten in ihrem Leben getan hatte: ihr Herz sprechen lassen.

Notes:

Gemeiner Cliffhanger, was? *grins*
Ich hab noch keine Ahnung, ob ich das nächste aufteilen werde oder nicht, seh ich dann.

Chapter 72: Amnesie, Teil 15: Wer bist du... für mich?

Notes:

Los geht's!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

„K-Kümmerst du dich etwa nur um mich… weil es deine Pflicht ist? Magst du m-mich denn überhaupt nicht? B-Bin ich dir als Mensch egal? Sag es mir, Maomao! Sag es mir, ich flehe dich an!”

Wie ein endloses Echo hallten jene Worte in Maomaos Ohren wider.

Sie fühlte sich von Jinshis Fragen in Stücke gerissen. Wusste nicht, wohin sie flüchten oder ob sie überhaupt flüchten sollte, während sie wie versteinert in seine immer noch weinenden Augen starrte. Ihre Atmung beschleunigte sich und ihr Herz schlug so laut, dass Jinshi es bestimmt hören konnte. Und auch sie war sich sicher, das Klopfen seines Herzens zu vernehmen. 

„Das... kann doch nicht sein…”, verzweifelte sie in Gedanken. „Wieso nur?... Wieso?”

Zu behaupten, dass sie tief in ihrem Inneren nicht geahnt hätte, dass eine solche Situation eines Tages eintreten könnte, wäre gelogen (Jinshis Verhalten ihr gegenüber und die Worte, die sie während der letzten zwei Wochen von ihm gehört hatte, hatten es deutlich klargemacht), doch sie hatte jenen Gedanken stets verdrängt, gehofft, dass sie es bis dahin schaffen würden, sein Gedächtnis wiederherzustellen, und es zu umgehen. Damit alles wieder so werden würde, wie es vor dem Unfall gewesen war.

Welch törichte Hoffnung...

So wie es aussah, befand sich das Glück wohl auch diesmal nicht an ihrer Seite.

Jinshi gab keinen Laut mehr von sich, doch auch er hatte angefangen, schwerer zu atmen, während er mit fest zusammengepressten Lippen und tränennassen Wangen auf ihre Antwort wartete, ihre Hände drückend, die nun ganz glitschig geworden waren von dem ganzen Schweiß.

Der junge Herr sah wirklich wie das Elend selbst aus.

Seine Handflächen, in die die Apothekerin während der letzten zwei Wochen so viele Male Wärme hineingerieben hatte, fühlten sich nun fast schon unerträglich heiß an, versengten beinahe ihre Haut. Oder kam ihr das bloß so vor?

Wie auch immer, jedenfalls durfte sie ihn nicht noch länger warten lassen, denn auch wenn es ihr so erschien, als würde die Zeit stehenbleiben, vergingen die Sekunden trotzdem gnadenlos und aufhaltsam, und ihn weiterhin so zappeln zu lassen, wäre viel zu grausam.

Aber was sollte sie dem Mann, der da zitternd und voller Angst vor einer Ablehnung vor ihr kniete, bloß sagen?

Maomao schluckte, im Versuch, den riesigen Kloß, der in ihrem Hals steckte, loszuwerden. Vergeblich. Sie musste die richtigen Worte finden, nein, eher ihre eigenen, wahren Gefühle erfassen und in Worten ausdrücken. Aber wie machte man das? Noch nie hatte jemand so etwas von ihr verlangt. Noch nie…

„Egal, was passiert, für mich werdet Ihr immer Eure Exzellenz Jinshi bleiben.”

Das war das einzige Mal gewesen, dass sie so etwas getan hatte, aber das war aus eigenem Willen gewesen, ohne dass sie jemand dazu gedrängt hätte. Und nun…

Endlich öffneten sich leicht ihre Lippen.

„Herr…”

Jinshis Augen weiteten sich und sein Kiefer spannte sich an. Sicherlich biss er gerade die Zähne zusammen. Und hielt den Atem an.

„Ich…”

Der Anfang war gemacht. Aber wie ging es weiter? Um ihr Herz sprechen zu lassen, musste Maomao zunächst selbst begreifen, was es überhaupt sagte. Aufhören, so zu tun, als sei es stumm geworden oder als könne sie es gar nicht hören. Das war… unfassbar schwierig für sie.

„Ja, Maomao?”, brachte Jinshi mit dünner Stimme hervor, sie zum Weitersprechen animierend.

„Ich…”

War er ihr zuwider? Nein, kein bisschen. War er ihr gleichgültig? Definitiv nicht. Dies alles war ihr bereits vor einiger Zeit klargeworden. 

Aber bedeutete es tatsächlich, dass sie ihn mochte?  

„Ich habe nichts dagegen, so viel Zeit mit Euch zu verbringen, Herr. Egal, ob es zu meiner Pflicht gehört oder nicht und egal, ob Ihr mein Dienstherr seid oder nicht.”

Dies war nichts als die reine Wahrheit und doch fühlte sie sich aus irgendeinem Grund unfassbar verletzlich, während sie jene Worte von sich gab. Als würde sie gerade ihre Seele offenbaren.

„Zugegeben, er geht mir ab und zu ziemlich auf die Nerven und es war nie besonders einfach, mit ihm umzugehen, weder jetzt noch früher, aber ich nehme an, dass ich ihn trotz allem mag… irgendwie.”

Jinshis Kinn bebte noch ein wenig stärker. Er blinzelte einige Male und blickte ihr dann tief in die Augen, als wolle er daraus die gesamte Wahrheit herauslesen.

„Also fühlst du dich nicht gezwungen, bei mir zu sein?” In seiner leisen Stimme lag noch ein letzter Rest Zweifel. Als sei die Antwort, die sie ihm gerade gegeben hatte, viel zu schön, um wahr zu sein.

„Nein.”

Zuerst hatte sie fest daran geglaubt, dass ihre Schuldgefühle, die Verursacherin seines Gedächtnisverlustes zu sein, das Einzige waren, was sie dermaßen an ihn band. Dermaßen eng, dass sogar sie in der Lage war, es zu merken... Aber nein, dem war nicht so. Sie machte sich ehrliche Sorgen um ihn. Es war nicht nur Schuld, nicht nur schlechtes Gewissen, sondern richtige Zuneigung.

„Ist das wahr, Maomao? Du… hasst mich nicht?”

Er zuckte bei der letzten Frage zusammen, als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten, sie auch nur auszusprechen.

„Was? Wie kommt er denn darauf?”

Soweit sie wusste, hatte Maomao nie etwas getan, um ihn so etwas denken zu lassen. Oder?

„Selbstverständlich nicht, Eure Exzellenz. Ich habe Euch nie gehasst…”

„Und ich bezweifle ernsthaft, dass ich es jemals tun werde”, fügte sie in Gedanken hinzu. Egal, was auch passierte, egal, was Jinshi in der Zukunft noch tun mochte, sie glaubte nicht, dass sie jemals in der Lage wäre, ihn zu hassen. Sondern eher andersherum, sollte er jemals erfahren, dass sie diejenige war, die ihm diese Amnesie angetan hatte. Aber das hätte sie ihrer Meinung nach verdient. Falls das jemals geschah, würde sie wohl oder übel damit leben müssen.

„Das heißt… ich bedeute dir etwas als Mensch?”

„Urgh… Wann hören diese ewigen Fragen endlich auf?!”

Sie erinnerte sich daran, wie sehr es ihr wehtat, mitanzusehen, wie er an Angst und Schmerzen litt, und wie auch ihr eigenes Wohlbefinden sich verbesserte, wann immer sie ihn glücklich erlebte.

„Ja, das tut es… Ihr seid mir wichtig.”

Ihm beim Sprechen in die Augen zu sehen, fiel ihr immer schwerer und schwerer, und doch wagte sie nicht, den Blick abzuwenden.

„Maomao…” Jinshi gab einen erneuten Schluchzer von sich und einige frische Tränen rollten seine geröteten Wangen herab. Abermals drückte er ihre kleinen Hände und hob sie schließlich zu seinen Lippen, um sie sanft zu küssen, zuerst die eine und dann die andere, bevor er sie an sein Herz drückte. Wohl um sie spüren zu lassen, wie sehr es pochte.

Maomao atmete tief aus. Die Wärme seiner Hände hatte angefangen, sich wieder angenehm anzufühlen. So angenehm wie die seiner Brust.

„Danke… Vielen Dank, Maomao…”

Seine Stimme klang so, als sei ihm gerade eine riesige Last von der Seele gefallen.

Auch die Spannung war aus der Atmosphäre entwichen und die Zeit schien wieder normal zu vergehen. So wie zuvor.

„Und nun steht bitte vom Boden auf. Eure Knie tun bestimmt schon weh, nicht wahr, Herr?”

Da Maomao gerade keine Hand frei hatte, lehnte sie sich vor und berührte mit der Stirn vorsichtig Jinshis, um ihre Bitte zu unterstreichen.

Doch er schien noch nicht fertig zu sein und blieb, wo er war. Falls er Schmerzen in den Knien hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

„Maomao... also bist du nicht frustriert und enttäuscht von mir, weil ich immer noch nicht geschafft habe, mein Gedächtnis zurückzuerlangen?”

„Noch mehr Fragen?!”

„Kein bisschen. Es ist ja nicht Eure Schuld.”

„Bin ich, aber von mir selbst, nicht von Euch.”

„Und... auch meine Umarmungen machen dir nichts aus?”

„Nein. Wenn sie mir etwas ausmachen würden, hätte ich Euch nie erlaubt, mich so zu umarmen und zu küssen, wie Ihr es tut, Herr, egal, ob Ihr mein Arbeitgeber seid oder nicht.”

Auch das war vollkommen ernst gemeint. Zu ihrer eigenen Überraschung begriff sie, dass es tatsächlich so stimmte. Zwar war Jinshi ab und zu ein wenig überschwänglich, das stimmte schon, aber sie hatte sich längst daran gewöhnt. Und nicht nur das: ihr Herz verriet ihr auch noch, dass Jinshi der einzige Mensch war, dem sie dies erlauben würde. Selbst bei ihrem Adoptivvater und ihren Schwestern aus dem Bordell hätte sie nach einiger Zeit protestiert (nicht, dass Luomen sie auch nur annähernd so häufig umarmte wie Jinshi, aber er tat es ab und zu).  

Sie stundenlang, nein, nächtelang und jede Nacht im Arm halten, sie so fest umarmen, dass sie sich kaum rühren konnte, den Kopf an ihre Brust drücken, sie hochheben und herumtragen... dies alles durfte nur Jinshi.

Mal ganz davon abgesehen, dass es sich eigentlich ganz schön anfühlte und ziemlich gemütlich war, in seinen Armen zu schlafen (auch wenn ihr aktuell, in den warmen Sommernächten, doch ein wenig zu heiß dabei wurde).

Endlich ließ Jinshi ihre Hände los und verbarg als Nächstes sein Gesicht an ihrer Halsbeuge, sich mit beiden Händen an ihrer Taille festhaltend und immer noch keine Anstalten machend, sich zu erheben. Er schluchzte so heftig, dass sein gesamter Körper erneut erbebte.

„W-Was für eine Erleichterung… Du m-magst mich… Du magst mich tatsächlich… I-Ich habe mir solche Sorgen gemacht…”

Maomao gab einen tiefen Seufzer von sich und schlang die Arme um seine Schultern. Jetzt wo sie darüber nachdachte, kam ihr in den Sinn, dass das Thema auch für sie noch nicht ganz abgeschlossen war: Es gab noch etwas, was sie hinzufügen musste, um zu verhindern, dass ein Missverständnis entstand… es war unangenehm, doch unvermeidlich.

„Eure Exzellenz… es ist sehr wahrscheinlich, dass mein „Mögen” eine etwas andere Bedeutung hat als Euer „Mögen”... nur damit Ihr es wisst…”

Während sie sprach, begann sie erneut, mit langsamen, beruhigenden Bewegungen sein langes, weiches Haar zu streicheln, um die Wucht ihrer Worte etwas abzumildern. Doch auch wenn jene Aussage zunächst etwas grausam klingen mochte, war es eigentlich eine Art Gnade ihrerseits. Denn ihrer Meinung nach wäre es deutlich grausamer und auch absolut ungerecht von ihr, ihm falsche Hoffnungen zu bereiten und ihn träumen zu lassen, bis jene Hoffnungen und Träume dann irgendwann wie eine Seifenblase zerplatzten. Also musste sie so rasch wie möglich einige Dinge klarstellen… so sanft, wie sie nur konnte. Etwas anderes als Ehrlichkeit hatte Jinshi nämlich nicht verdient…

Nichtsdestotrotz hoffte sie, dass es nicht nötig sein würde, zu erklären, was sie genau ausdrücken wollte. Dass er es auch so verstand.  

Einige Augenblicke lang herrschte vollkommene Stille. Selbst Jinshis Schluchzer verklangen.

Danach spürte sie, wie seine großen Hände ihre Taille losließen und stattdessen ihre Oberarme ergriffen. Und wie er den Kopf hob, um sie abermals anzusehen.

Sicherlich war das bloß die Ruhe vor dem Sturm. Die Apothekerin schluckte, sich bereit machend, ihn erneut trösten zu müssen.

Doch zu ihrem Erstaunen… entdeckte sie ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen.

Maomao war vollkommen perplex. Sie verstand die Welt nicht mehr. Was zum…?

War der Kerl etwa wirklich so schwer von Begriff oder tat er nur so?

Jinshi ließ einen ihrer Arme los und strich ihr zärtlich über die Wange.

„Ich… verstehe. Aber zumindest habe ich nun die Gewissheit, dass du mich nicht hasst.” Trotz seiner Worte war die Traurigkeit in seinem Lächeln und seiner Stimme kaum zu übersehen und zu überhören. Maomao starrte ihn ungläubig an, sich fragend, ob sie sich da eventuell verhört hatte. „Und… mit der Zeit kann es ja immer noch zu meinem „Mögen” anwachsen… nicht wahr?”

Er sah sie mit großen, runden Augen an, so sehr erfüllt mit Hoffnung und Sehnsucht, dass sie es kaum mit ansehen konnte.

„Das kann doch nicht wahr sein! Also hat er es doch falsch verstanden… Nein, oh nein, verdammt! Was soll ich jetzt nur tun?!”

Die sonst so gefasste Apothekerin begann langsam, aber sicher in Panik verfallen und verspürte erneut einen fast schon unwiderstehlichen Drang wegzulaufen. Doch sie konnte nicht. Sie war gefangen, in die Ecke gedrängt.

Um seine Frage wahrheitsgemäß zu beantworten, müsste sie alles, wirklich alles! um sie herum ausblenden und vergessen: ihre jeweiligen Positionen, die Umstände, in denen sie sich befanden, die ganze Welt… so wie Jinshi es getan hatte… und sie beide einfach nur als zwei Menschen betrachten, nicht als den Adeligen, Seine Exzellenz Jinshi, und die bürgerliche Apothekerin und Dienerin Maomao, sondern bloß als Jinshi und Maomao, sonst nichts… so tuend, als befänden sie sich in einem Universum nur für sie allein, wo sie an keinerlei Regeln gebunden waren, sondern tun und lassen konnten, was auch immer sie wollten…

…und als sei dies nicht bereits unmöglich genug, würde sie dazu noch gezwungen sein, ihrem Herzen nicht einfach bloß zuzuhören, sondern es von den Ketten zu befreien, welche sie bereits in ihrer Kindheit um es herum geschnürt hatte. Von allen Ketten!

Und sie hatte schreckliche Angst davor. 

Das konnte nicht gutgehen! Niemals! Solch eine Liebe würde doch zu nichts führen und sie beide bloß ins Verderben stürzen! Ihnen nichts als Schmerzen bereiten!

Jinshi eine gewisse Zuneigung zu schenken und sich um ihn zu kümmern, sich Sorgen um ihn zu machen, ihn zu trösten, zu wärmen und zu unterstützen… ihn zu beschützen!... ihn glücklich sehen zu wollen!... das ging ja noch, aber romantische Liebe… war etwas ganz anderes!

Sie verstand Liebe nicht! Sie könnte Jinshi niemals so lieben, wie er es gerne wollte! So jemand wie sie, die in ihrem gesamten Leben noch nie richtig geliebt worden war, war doch überhaupt nicht in der Lage dazu!

Mal ganz davon abgesehen, dass er, laut dem, was sie wusste, eine unfassbar wichtige Person am Hofe sein musste, wenn ihn schon der Kaiser höchstpersönlich in seiner Residenz aufsuchte. Wie zur Hölle könnte ein solcher Mann sich bloß für sie entscheiden?! Ausgerechnet für sie!

„Nein! Sag ihm einfach „nein” und beende dieses Gespräch ein für alle Mal! Tu es! Komm schon!”

Doch egal wie sehr sie sich selbst in Gedanken drängte und anbrüllte, brachte sie es einfach nicht über sich, jenes Wort auch tatsächlich auszusprechen…

Maomao keuchte… sie bekam das Gefühl, als könne sie nicht mehr richtig atmen…

„Ich… weiß… es… nicht…”

Außerstande, es noch länger zu ertragen, stürzte sie auf einmal ebenfalls auf die Knie und begann nun selbst wie Espenlaub zu zittern.

Ja, es war ein wahrgewordener Albtraum. Ohne jeden Zweifel…

***

„Maomao?”

Fassungslos und verwirrt starrte Jinshi auf die bleiche und stoßweise atmende Apothekerin, die gerade vor seinen Augen ganz plötzlich auf die Knie gefallen war.

„Maomao, was hast du? Bist du in Ordnung?” Leichte Panik mischte sich in seinen Tonfall, während er nach ihren Schultern griff, um sie zu stützen. „Nein, natürlich bist du das nicht! Habe... Habe ich dich etwa aus der Fassung gebracht? Das wollte ich nicht, ich schwöre! Es tut mir so leid!”

Er setzte sich rasch im Schneidersitz auf dem Boden hin, fasste Maomao unter den Armen und hob sie auf seinen Schoß, sie eng an sich drückend. Ihre Hände zuckten leicht, doch sie widersetzte sich nicht nur nicht, sondern klammerte sich sogar an seine Kleidung, fast so, als würde sie ihn bitten, sie zu beschützen vor... ja, wovor denn eigentlich?

Doch was auch immer es sein mochte, der junge Herr kam ihrer Bitte auf der Stelle nach und begann, in einer tröstlichen Geste ihren schmalen, bebenden Rücken zu reiben. Genauso hilflos wie sie vorhin, aber so liebevoll wie er konnte.

„Pssst... alles ist gut. Da habe ich dir versprochen, dich nicht unter Druck zu setzen, und nun habe ich es doch getan... Bitte verzeih mir! Und auch fürs Weinen! Und dafür, dass ich an dir gezweifelt habe! Ich bin so ein Idiot! Natürlich sind deine Wärme und Güte mir gegenüber immer echt und ehrlich gewesen, das habe ich doch gespürt! Aber... Aber deine Worte haben mir eine solche Angst eingejagt, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat... psst... atme... atme bitte.”

Er küsste ihr Haar und massierte weiterhin ihren Rücken, im Versuch, sie beim Atmen zu unterstützen.

Maomao fühlte sich seltsam. Der Wunsch, wegzulaufen, der gesamten Situation zu entfliehen, war immer noch stark, so stark, dass es beinahe wehtat. Doch gleichzeitig konnte sie einfach nicht anders als sich an Jinshi zu klammern und seiner Stimme zu lauschen. Sie wollte ihn nicht loslassen… und auch nicht, dass er sie losließ.

Tiefe Atemzüge machend, lehnte sie sich mit der Stirn an seine Brust und schloss die Augen.

„Komm, Maomao.”

Auf einmal spürte sie, wie er seine Hand von ihrem Rücken nahm und mit ihr in den Armen vom Boden aufstand, um sich einige Sekunden später wieder hinzusetzen, sie erneut auf seinem Schoß und mit dem Kopf auf seiner Brust, sich mit beiden Händen an ihm festhaltend.

Die Apothekerin öffnete die Augen. Jinshi saß nun auf dem Bett… und hatte sich leicht nach vorne gebeugt, um nach der auf dem Tisch stehenden Wasserkaraffe zu greifen.

Wenig später hielt er ihr einen vollen Becher an die Lippen.

„Hier, trink bitte.”

Maomao gehorchte. Die Karaffe war bestimmt erst vor Kurzem aufgefüllt worden, denn das Wasser war noch ein wenig kühl und fühlte sich angenehm an auf ihrer ausgetrockneten Kehle.

Nachdem sie ausgetrunken hatte, schlang Jinshi erneut beide Arme um sie und hielt sie einfach nur fest. Ohne ein Wort zu sagen. Stattdessen begann er leise das Schlaflied zu summen, mit dem Maomao ihn nachts beruhigte.

Die Zeit verging und die Apothekerin kam allmählich zur Ruhe. Auch die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück.

„Fühlst du dich wieder besser, Maomao?”, fragte Jinshi irgendwann leicht zögerlich.

Sie hob den Kopf und blickte ihm ins Gesicht. Sein Gesichtsausdruck verriet nur allzu deutlich, wie schuldig er sich fühlte.

„Wieso sieht er mich so an?”, dachte sie immer noch leicht benommen. „Ich bin doch diejenige, die grausame Dinge zu ihm gesagt und ihm wehgetan hat. Er muss sich nicht schuldig fühlen… schließlich kann er nichts dafür, dass wir sind, wer wir sind…”

„Ja… tut mir leid, Herr.”

Er lächelte sie an und wuschelte ihr sanft durchs Haar. Seine Augen war zwar immer noch leicht geschwollen von dem vielen Weinen, doch die Tränen bereits längst getrocknet.

„Nicht doch. Mir tut es leid. Ich bin derjenige, der dich in die Ecke gedrängt hat.” Der junge Herr gab ihr einen Kuss auf die Stirn und legte ihr schließlich das Kinn auf den Kopf. „Alles gut, mach dir keine Gedanken um unser Gespräch vorhin. Das Allerwichtigste für mich ist, dass du mich nicht hasst und es dir nichts ausmacht, an meiner Seite zu sein. Wenn ich dich jeden Tag sehen, mit dir reden, dich umarmen und nachts an mich drücken kann, bin ich schon glücklich, ehrlich. Du bist immer noch mein Licht, mein Sonnenschein, Maomao, und es ist bereits ein Segen, dich überhaupt hier bei mir zu haben. Mein Leben ist nicht komplett ohne dich… Ohne… ohne Erinnerungen kann ich leben… aber nicht ohne dich…”

Maomao hatte keine Ahnung, was sie dazu sagen sollte, also blieb sie stumm. Noch immer klammerten ihre Hände sich an seine Kleidung, so fest, dass sie sie zerknitterten.

„Bitte bleib einfach nur bei mir”, murmelte Jinshi. „Das ist momentan alles, worum ich dich bitte… Es ist nämlich viel zu einsam, zu gruselig, zu unerträglich ohne dich… in Ordnung?”

„Ja… in Ordnung…” Ihre Stimme war genauso leise wie seine. Welch eine unnötige Frage… Sie hatte sowieso nicht vorgehabt, ihn im Stich zu lassen.

„Er hat sich definitiv verändert”, dachte sie. „Ist er etwa... reifer geworden? Der frühere Jinshi hätte sich mit einer so vagen Antwort, wie ich sie ihm vorhin gegeben habe, bestimmt nicht zufrieden gegeben... oder?”

Aber wie auch immer... jedenfalls schien die Angelegenheit erstmal zum Glück vorbei zu sein. Maomao konnte ihre Erleichterung, dass Jinshi davon abließ, sie weiter zu drängen, nicht mit Worten beschreiben.

Sie gab ein Gähnen von sich.

„Oh, bist du müde? Kein Wunder... ich auch.” Er gähnte ebenfalls. „Lass uns ein wenig ausruhen.”

Und mit diesen Worten legte der junge Herr sich auf den Rücken, sodass Maomao nun auf ihm drauflag, stellte den leeren Becher neben sich auf der Bettdecke ab und wickelte die Apothekerin in sein äußeres Gewand wie in einen schützenden Kokon, als wolle er sie vor allem abschirmen, was ihr Schaden zufügen könnte, bevor er erneut seine Arme um sie legte.

Maomao schaute ihm ins Gesicht, ließ es jedoch kommentarlos geschehen und legte einfach wieder den Kopf auf seine Brust.

Die zwei dösten erschöpft vor sich hin. Beide hatten das Gefühl, als seien sie sich gerade noch ein Stückchen näher gekommen.

Zwar hatte Maomao keine Ahnung, ob das gut oder schlecht war, doch aktuell hatte sie weder die Kraft noch die Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Da würde sie später noch genug Zeit dafür haben.

Trotz allem, was gerade geschehen war... musste sie zugeben, dass sie sich gerade seltsam sicher fühlte, während sie so mit ihm dalag. So sicher wie noch nie zuvor, um ganz ehrlich zu sein. Und doch hinterfragte sie es nicht einmal mehr.

Was für ein Tag…

Notes:

Hier kämpft Maomao im wahrsten Sinne des Wortes mit sich selbst, aber am Ende ist dann doch alles gutgegangen. :)

In ein paar Tagen fang ich an, am nächsten Kapitel zu arbeiten!

Ach, übrigens, bei diesem Kapitel hab ich den Großteil des ersten Entwurfs per Hand auf Papier geschrieben... ohne besonderen Grund, mir war einfach danach.

Chapter 73: Amnesie, Teil 16: Der nächste Tag

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Es war eine finstere, friedliche Sommernacht. Nur der Mond schien fahl zwischen einigen Wolken hervor und durch die Fenster einer gewissen Residenz, als wolle er deren Bewohner heimlich beim Schlafen beobachten. Ein leichter Nieselregen trommelte leise gegen die Fenstergläser und erschuf eine Art entspannendes, natürliches Schlaflied.

Welches jedoch leider nicht bei jedem effektiv war.

Mit gerunzelter Stirn lag Maomao im Bett und lauschte dem fallenden Regen draußen. Seit wie vielen Stunden versuchte sie bereits, die Augen zu schließen und ein wenig Schlaf zu finden? Mindestens zwei. Oder waren es drei? Oder vier? Doch egal, wie viel Mühe sie sich auch gab, egal, wie sehr sie sich abzulenken versuchte, der Schlaf wollte einfach nicht kommen.

Das Einzige, was sie davon abhielt, sich im Bett hin- und herzuwälzen, war die Tatsache, dass Jinshi sie wie jede Nacht in den Armen hielt. Er selbst schlief tief und fest, immer noch ermüdet von all den Ereignissen des vergangenen Tages. Maomao konnte fühlen, wie sich sein Brustkorb in einer ruhigen, regelmäßigen Atmung hob und senkte.

Sie dagegen war einfach außerstande ihre Gedanken über besagte Ereignisse davon abzuhalten, jeden Winkel ihres Verstandes einzunehmen. Es war einfach zu überwältigend und ihr Herz zuckte immer noch gelegentlich bei der Erinnerung an das Geschehene zusammen, als wolle es zeigen, wie aufregend es doch war, nach all der Zeit endlich erhört zu werden (auch wenn Maomao diese ganzen „Nachwirkungen” dann eigentlich doch ein klein wenig lächerlich erschienen, denn verglichen mit Jinshis Unfall von vor zwei Wochen, war der letzte Tag doch fast gar nichts gewesen, aber sie konnte trotzdem nichts dagegen tun).

Die Apothekerin spürte die Wärme, die von Jinshis Körper ausging. 

Wenn sie so darüber nachdachte, fand sie, dass seine Persönlichkeit sich tatsächlich ein gutes Stück verändert hatte, im Vergleich zu dem, wie er vor dem Gedächtnisverlust gewesen war (oder besser gesagt, wie sie ihn gekannt hatte). Mal ganz von seiner neuen Direktheit ihr gegenüber abgesehen, kam es ihr so vor, als sei er ein wenig ruhiger geworden als früher und auch sanfter. Dazu manchmal schier unfassbar kindisch und andere Male reifer als sie ihn jemals zuvor erlebt hatte.

Oder war er etwa schon immer so gewesen und es war ihr bloß nie aufgefallen, da sie bisher noch nie so viel Zeit mit ihm verbracht hatte? Oder aber… lag es eventuell an seiner Kopfverletzung, die zu bleibenden Veränderungen im Gehirn geführt haben könnte? Dies waren Fragen, die sie sich in letzter Zeit ziemlich häufig gestellt hatte.

Welcher war der wahre Jinshi? Der frühere oder der jetzige? Oder sogar beide? Es war so verwirrend, dass sie davon beinahe Kopfschmerzen bekam… und doch konnte sie nicht anders als sich voller Neugier dafür zu interessieren, ob und wie eine Gehirnerschütterung und Amnesie sich wohl auf die Persönlichkeit eines Menschen auswirken könnten. Ihr Vater hatte so etwas nämlich nie erwähnt… Hm, vielleicht sollte sie ihn mal fragen, wenn sie ihn das nächste Mal sah.

Aber wie auch immer. Theoretisch musste allein die Tatsache, dass Jinshi alles vergessen hatte, bedeuten, dass er im Moment nichts als seine wahre Natur zeigen musste, richtig? Denn einen Grund, diese zu verbergen, hatte er ja nicht mehr.

Maomao weitete die Augen und schluckte hörbar, als ihr dämmerte, dass es genau so sein musste, dass der Jinshi, den sie jetzt sah, höchstwahrscheinlich der echteste Jinshi war, der jemals existiert hatte. Ein Jinshi, den, im Gegensatz zu ihr, nichts und niemand davon abhielt, auf sein Herz zu hören, das auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging, und jederzeit seine wahren Gefühle zu offenbaren. Ein Jinshi, der nichts, rein gar nichts zu verstecken hatte. Eine irgendwie etwas beängstigende Vorstellung, musste Maomao zugeben.

Die „himmlische Nymphe” war bloß eine Verkleidung gewesen. Und jetzt war sie fort. Würde sie jemals wiederkehren? Dies wusste keiner.

Und was war denn nun eigentlich mit ihrer Beziehung zueinander? Als was konnte man diese aktuell bezeichnen? Als Liebesbeziehung offensichtlich nicht (Maomao zuckte bei dem Gedanken zusammen), aber dass es zu etwas mehr, zu etwas Engerem geworden war als früher, konnte selbst sie und vor allem nach ihren eigenen Worten an ihn nicht mehr abstreiten…

Aber was auch immer es war, ihre Beziehung als Herr und Dienerin war nichtsdestotrotz immer noch da und würde auch bleiben, egal, was geschah. Und da Jinshi sich nicht mehr dessen bewusst war, war es eben an ihr, dafür zu sorgen, dass jene Tatsache weder in den Hintergrund trat noch in Vergessenheit geriet. Was sich in manchen Momenten doch als ein wenig schwierig herausstellte, egal ob es Maomao nun gefiel oder nicht.

Und doch waren die Dinge, die vor dem Unfall zwischen ihnen vorgefallen waren (mit einem Schaudern dachte die Apothekerin kurz an die Froschszene zurück), trotzdem vorgefallen. Sie waren nicht auf irgendwelche magische Weise ausradiert worden, nur weil er sich nicht mehr daran erinnern konnte…

Maomao schnaubte leise. So war es. Und wenn schon? Wieso kümmerte es sie überhaupt? Wieso musste ihre Beziehung zueinander unbedingt einen speziellen Namen erhalten? Sie waren, wie sie waren und auch er war, wie er war, und im Moment war das genug… Das Allerwichtigste für sie in jener Hinsicht war Jinshis Wohlbefinden. Dass er gesund und glücklich war und eines Tages seine Erinnerung zurückerlangte. Mehr nicht.

Trotzdem konnte sie nicht anders als sich zu fragen, wie es wohl weitergehen, wie die Zukunft aussehen würde… sowohl seine als auch ihre… vor allem, wenn man die Tatsache bedachte, dass Jinshi nach wie vor gedächtnislos blieb und keiner sagen konnte, wie lange jener Zustand noch anhalten könnte. Keiner. Sie hatte gedacht, nein, vielmehr gehofft, dass es genug sein würde, ihn in seiner Residenz herumzuführen, aber ganz klar war es das nicht. Hach…

Nun gut, dann hatte sie eben keine andere Wahl, als einfach zu warten und zu schauen, was die Zukunft ihnen noch bringen würde… während sie sich weiterhin den Kopf darüber zerbrach, was sie noch tun könnte, um dem jungen Herrn zu helfen.

Ganz genau. All jene Gedanken über Beziehungen waren doch reine Zeitverschwendung, denn sie hatte ja bereits alles Wichtige ausgesprochen. Und auch Jinshi.

Maomao seufzte, schloss die Augen und drückte ihr Ohr enger an Jinshis Brust, im Versuch, sich selbst zu beruhigen, indem sie seinem Herzen lauschte und dessen vertraute Schläge zählte. Aber es brachte nichts, diesmal war es genauso nutzlos wie die Geräusche des Regens. Sie war immer noch nicht in der Lage einzuschlafen.

Doch auf einmal spürte sie, wie Jinshi sanft ihre Hand drückte, die er im Schlaf hielt, und öffnete erneut die Augen. War er wach? Hatte sie ihn trotz ihrer Vorsicht, sich nicht allzu viel zu rühren, aufgeweckt? Oder... stand da etwa gleich ein Albtraum bevor? 

Die Apothekerin bewegte sich so, dass sie ihm ins Gesicht blicken konnte. Nein, er schlief immer noch fest, und es waren auch keine Anzeichen von Angst zu erkennen. 

Sie entspannte sich wieder und atmete tief aus vor Erleichterung, sich fragend, ob sie es sich vielleicht bloß eingebildet hatte, ob ihr erschöpfter Verstand seine Späße mit ihr trieb. So wie es schien, nicht… Denn daraufhin spürte sie, wie er nun mit dem Daumen langsam über ihren Handrücken strich, genauso wie er es immer tat, wenn er sie…

…trösten wollte.

Maomao blinzelte einige Male und öffnete leicht den Mund. Oh. Konnte es etwa sein, dass er… tatsächlich selbst im Schlaf spüren konnte, dass sie etwas belastete, und sie automatisch zu trösten versuchte? Das konnte doch nicht sein… viel zu weit hergeholt.

Sie schüttelte leicht den Kopf. Doch sie konnte trotzdem nicht verhindern, dass sich ein kleines, sanftes Lächeln auf ihre Lippen stahl.

Sie mochte ihn wirklich… wie könnte sie das auch nicht?

Doch dieses „Mögen” würde nie zu etwas Größerem werden… da war sie sich sicher. Es durfte nicht… denn Maomao wollte Jinshi nicht noch mehr wehtun als sie es bereits getan hatte.

***

Am nächsten Tag nach dem Frühstück saß Maomao im Schneidersitz auf Jinshis Bett und gähnte ausgiebig, sich den Mund mit der Hand bedeckend. Wegen all der Gedanken, die ihr nachts im Kopf herumgespukt hatten, war sie erst kurz vor Tagesanbruch eingeschlafen und konnte nun kaum die Augen offen halten. Ihr Kopf schmerzte vor Erschöpfung und sie rieb sich kurz die Stirn.

Aber das war keine große Sache, war ja nicht das erste Mal. Wichtiger für sie war, dass zumindest Jinshi eine friedliche und erholsame Nacht ohne schlechte Träume gehabt hatte. 

Und bevor sie es verhindern konnte, schlich sich der vorherige Tag zurück in ihren Verstand und nahm ihn erneut ein. Als ob sie sich nicht schon mehr als genug Gedanken darum gemacht hätte! Sie zog genervt die Augenbrauen zusammen, sich die Fähigkeit wünschend, ihre Grübeleien nach Belieben ausschalten zu können. Wie ein Fenster, das man schloss, wenn es regnete, um die Regentropfen draußen zu halten. Aber das ging leider nicht. Tja…

Maomao konnte immer noch kaum glauben, wie offen sie mit Jinshi gewesen war. So offen wie noch nie in ihrem Leben mit einem anderen Menschen. Es war ziemlich beängstigend gewesen, fand sie, aber sie sah ein, dass es auch ihr selbst geholfen hatte, ihre eigenen Gefühle besser zu verstehen. Auch wenn sie nach wie vor nicht sicher war, ob sie das wirklich sollte... Aber was geschehen war, war geschehen. Es nützte nichts, es zu bereuen (nicht dass sie das tat). 

Jinshi hatte sich nach ihrem kurzen Nickerchen noch einige weitere Male bei ihr entschuldigt und sie hatte ihm versichert, dass es nicht nötig sei, denn sie war keineswegs sauer auf ihn, also gab es auch nichts, was sie verzeihen könnte. Sie wusste ja genau, dass es nicht seine Absicht gewesen war, ihr Angst einzujagen oder ihr Unbehagen zu bereiten.

Und zum Glück verhielt er sich ihr gegenüber genau so, wie er es vor ihrem Gespräch getan hatte. Auch wenn es ihr vorkam, als würde er nun noch etwas häufiger lächeln als zuvor. Jedenfalls war sie ihm wirklich dankbar, dass er Rücksicht auf sie nahm und die Angelegenheit nicht mehr erwähnte.

Maomao streckte ihre Arme und ihren Rücken, in einem vergeblichen Versuch, wenigstens etwas von ihrer Müdigkeit loszuwerden, und richtete ihren Blick erneut auf Jinshi, der vor dem (diesmal nur leicht geöffneten) Fenster stand und mit einem ernsten und konzentrierten Ausdruck im Gesicht ein Holzschwert schwang, als würde er gegen einen unsichtbaren Gegner kämpfen. Sein Oberkörper war entblößt und Schweiß tropfte ihm vom Kinn und rann seinen nackten Rücken und seine Brust herab, was seine makellose Haut zum Glänzen brachte. Wie die paar immer noch verbleibenden Regentropfen auf dem Fensterglas nach dem nächtlichen Regen.

Gaoshun war während der letzten Tage einige Male erschienen, um mit dem jungen Herrn Schwertübungen durchzuführen, damit dieser in Form blieb und zumindest ein bisschen Bewegung bekam. Die Apothekerin hatte absolut nichts dagegen einzuwenden, ganz im Gegenteil, denn obwohl Jinshi zur Sicherheit immer noch Bandagen um seinen Kopf gewickelt trug, war seine Wunde in Wirklichkeit so gut wie verheilt und auch die Nähte wurden bereits vor einigen Tagen gezogen, somit stellte körperliche Aktivität überhaupt kein Problem dar (von der Narbe selbst war schon fast nichts mehr zu sehen, ihr Vater hatte somit wie nicht anders erwartet, exzellente Arbeit geleistet).

Und nun trainierte Jinshi allein und schien auch wirklich gut zurechtzukommen. Aber trotzdem zog Maomao es vor, ihn während des Trainings im Auge zu behalten. Nur für alle Fälle.

Zu Gaoshuns und auch Maomaos Überraschung hatte es sich herausgestellt, dass der junge Herr sich an die Mehrheit der Schwertkampfbewegungen, die er einst in der Vergangenheit gelernt hatte, erinnern konnte, was sich auch jetzt in seiner geübten Handhabung des Schwertes widerspiegelte. Möglicherweise war es ja nicht sein Gehirn, sondern eher seine Muskeln, die sich die Bewegungen eingeprägt hatten.

Apropos Muskeln…

In diesem Augenblick drehte Jinshi den Kopf leicht zur Seite und bemerkte, dass Maomao ihn beobachtete. Auf der Stelle entspannte sich sein Gesicht und sein Mund krümmte sich zu einem strahlenden Lächeln, während er die rechten Hand, in der er das Schwert hielt, senkte und den linken Arm so beugte, dass sich seine Armmuskeln wölbten. Dabei direkt zur Apothekerin schauend, als wolle er prüfen, ob sie auch ja zu ihm hinsah.

Maomao hob eine Augenbraue. Was denn, versuchte er etwa gerade, sie mit seinem durchtrainierten Körper, der vor Kraft nur so strotzte, zu beeindrucken? Wie unfassbar kindisch und auch absolut überflüssig…

…denn Maomao war auch so schon ziemlich beeindruckt davon, bereits seit sie seine Muskeln zum ersten Mal gesehen hatte (als sie ihn noch für einen Eunuchen gehalten hatte). Mal ganz davon abgesehen, dass sie diese bei jeder seiner Umarmungen spürte…

Jinshi legte das Schwert auf den Boden und winkte ihr zu, als würden sie sich auf einem offenen Feld und nicht im selben Zimmer befinden. Die Apothekerin winkte zurück. Gut, wenn es ihn glücklich machte, dann tat sie ihm eben den Gefallen und hielt weiterhin ihren Blick auf ihn gerichtet. 

Sie lehnte sich vor und stützte die Ellenbogen auf ihren Knien und die Wangen auf ihren Handflächen ab und gähnte erneut. Schön, dass die Schwertübungen es schafften, ihn zumindest ein bisschen von der Tatsache abzulenken, dass er immer noch in seiner Residenz eingesperrt war. Auch wenn dies nichts daran änderte, dass er immer noch frische Luft benötigte. Sie musste sich unbedingt noch etwas dazu einfallen lassen, verschob dies jedoch erstmal auf später. Aktuell war sie einfach zu schläfrig dazu.

„Zu dumm, dass er nicht einmal einen Balkon besitzt…”, grummelte sie gedanklich und fischte einen kleinen Zettel aus ihrem Ärmel, auf dem sie alle Kräuter notiert hatte, die sie aktuell besaß. Da sie ziemlich oft Beruhigungstees für Jinshi zubereitet hatte, ging ihr Vorrat an getrockneter Kamille langsam zur Neige, weshalb sie bald neue pflücken gehen musste (sie hatte gesehen, dass im inneren Palast ziemlich viel davon wuchs). Kurz wanderten ihre Gedanken zu der einen kleinen Kamille, die ihr Jinshi vor einigen Tagen gegeben hatte und die aktuell auf dem kleinen Tisch beim Bett lag. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Nein… die würde sie nicht anrühren.

„Alles in Ordnung, Maomao?”, vernahm sie auf einmal Jinshis Stimme und sah erneut in seine Richtung. „Du hast schon den ganzen Morgen lang ziemlich erschöpft ausgesehen… Möchtest du vielleicht ein wenig schlafen?” Das Holzschwert auf dem Boden lassend, kam Jinshi mit besorgtem Gesichtsausdruck auf sie zu und hockte sich vor dem Bett hin, sodass sie sich auf derselben Augenhöhe befanden.

Er streckte eine Hand aus und tätschelte Maomaos Kopf.

„Nein, schon gut. Mir fehlt nichts, Herr”, antwortete sie gelassen und stopfte das Papierchen in ihren Ärmel zurück. Um ehrlich zu sein, wusste sie selbst nicht so ganz, weshalb sie sich sträubte, doch irgendwie fühlte es sich einfach falsch an zu schlafen, während er trainierte.

„Wirklich? Bist du sicher? Du bist ein wenig blass und Augenringe hast du auch.” Jinshis Hand wanderte zu ihrer Wange und streichelte auch diese liebevoll, während seine violetten Augen sie sanft anblickten. Seine Handfläche fühlte sich ein wenig wärmer an als sonst, bestimmt durch die ganze Bewegung.

„Ja, bin ich. Macht Euch keine Sorgen um mich.” Maomao legte ihre eigene kleine Hand auf seine und streichelte diese, damit seine zärtliche Geste erwidernd.

„Gut. Aber falls du deine Meinung doch ändern solltest, zögere nicht, dich hinzulegen, ja?” Er setzte ein kleines Lächeln auf, klopfte ihr auf die Schulter und erhob sich wieder, um zum Fenster zurückzukehren. „Und ich übe noch ein wenig mit dem Schwert. Die Bewegung tut gut.”

„Wie Ihr wünscht, Eure Exzellenz”, antwortete sie mit einem weiteren Gähnen und nahm ihre bisherige Sitzposition wieder ein, um ihn weiter zu beobachten.

***

Es folgten etwa zwanzig Minuten Schweigen. Schlussendlich atmete Jinshi tief durch, um seine durch das Training beschleunigte Atmung wieder zu beruhigen, legte erneut das Schwert nieder und griff nach einem auf einem Stuhl liegenden Handtuch, um sich damit zu einer Wasserschüssel zu begeben, die im Voraus für ihn vorbereitet worden war. 

Zufrieden lächelnd, tunkte er das Handtuch hinein und wischte sich damit den Schweiß vom Gesicht, den Armen und dem Oberkörper, wohlig erschaudernd, als das Wasser auf angenehme Weise seine von der Bewegung erhitzte Haut kühlte, bevor er sich das Handtuch zu guter Letzt um die Schultern legte. Normalerweise machten Maomao oder Suiren solche Dinge für ihn (trotz seiner Einwände, dass er es auch allein konnte), aber die ältere Zofe war derzeit nicht da und Maomao so müde, dass er sie keineswegs behelligen wollte. Und außerdem hatte die Apothekerin auch kein Wort gesagt, als er sich das Tuch geschnappt hatte, also schien sie wohl nichts dagegen zu haben.

„Gut, genug für heute…”, meinte er, das Fenster noch ein wenig weiter öffnend. „Hach, was für ein angenehmer Wind... Hast du auch Durst, Maomao? Komm, lass uns Suiren um ein wenig kalten Tee bitten gehen, was meinst du?”

Danach nahm er sich jedoch vor, darauf zu bestehen, dass die Apothekerin ein Schläfchen hielt, denn trotz ihrer Beteuerungen, dass sie in Ordnung war, konnte Jinshi einfach nicht anders, als sich weiterhin Sorgen zu machen. Er hatte dem armen Ding während der letzten zwei Wochen mit seinen nächtlichen Albträumen schon mehr als genug Schlafmangel bereitet, demnach hatte er sie öfter müde erlebt als ihm lieb war und las daher an ihrem Gesicht ab, dass sie aktuell in Wirklichkeit so erschöpft sein musste, dass sie bestimmt kaum klar denken konnte.

Und nun, da sich sein eigener Gesundheitszustand immer weiter besserte, war er fest entschlossen, seine verdammte Nutzlosigkeit zu bekämpfen und sich so gut um die Apothekerin zu kümmern, wie er nur konnte. Viel für sie tun konnte er leider immer noch nicht, aber was er tun konnte, würde er auch.

Zum Beispiel, dafür sorgen, dass sie genug Schlaf abbekam.

Seine Frage blieb unbeantwortet.

„Maomao?”

Immer noch Stille.

Endlich drehte sich Jinshi in Richtung des Bettes um und musste sich sogleich den Mund mit der Hand bedecken, um nicht laut loszulachen.

„Haha, ich wusste es doch! Wunderbar, das macht die Sache natürlich einfacher. Dann wird der Tee eben warten müssen.”

 Immer noch mit den Wangen auf den Handflächen dasitzend, schlief Maomao tief und fest.

***

Immer noch vor sich hinkichernd wie ein freches Kind, ging Jinshi leise auf Maomao zu und hockte sich erneut vor ihr hin, um sie lächelnd und mit leicht geröteten Wangen beim Schlafen zu beobachten. Sein ursprünglicher Plan war gewesen, so zu tun, als sei er selbst müde und wolle sich hinlegen, und sie dann zu bitten, sich ihm anzuschließen. Doch dies hatte sich nun erübrigt.

„Ach, wie süß du doch bist…”, wisperte er glücklich und tippte ihr mit dem Zeigefinger leicht auf die Nase, was Maomao wegen ihres tiefen Schlafes nicht mitbekam. Jinshi hatte das Gefühl, als könne er ihr für alle Ewigkeit so zusehen. Wenn sie schlief, war sie so entzückend, dass er sich einfach nicht an ihr sattsehen konnte. Und nicht nur, wenn sie schlief. Sondern immer. „Oh, aber diese Schlafposition ist doch ein wenig unbequem, nicht? Komm, lass mich dich hinlegen, ja?”

Er stand auf und beugte sich zu ihr, ihr eine Hand auf den zierlichen Rücken legend. Doch dann hielt er für einen Moment inne, als ihm ganz plötzlich eine andere, bessere Idee kam, und schob seine andere Hand unter ihre Knie, um die Apothekerin stattdessen in seine Arme zu heben. So vorsichtig wie es ging, um sie nicht aufzuwecken. Maomao verzog kurz das Gesicht und ballte die Hände zu Fäusten.

„Pssst…”, beruhigte Jinshi sie, sie an seinen nach wie vor nackten Oberkörper lehnend, sodass ihr Kopf sich nun auf seinem Oberarm befand, und kicherte erneut vor sich hin, als ihr warmer Atem leicht seine Haut kitzelte. „Schlaf, Xiaomao… meine kleine Katze…”

Die ganze Zeit hörte er, wie Gaoshun und Suiren die Apothekerin bei diesem niedlichen Kosenamen nannten (der übrigens wunderbar zu ihr passte) und wollte es schon immer selbst mal tun, hatte jedoch bisher gezögert, da er sich nicht sicher war, ob er es wirklich einfach so durfte. Aber nach dem, was sie ihm am vorherigen Tag gesagt hatte (und wenn man bedachte, wie nahe sie sich standen), wäre es eigentlich unwahrscheinlich, dass es ihr etwas ausmachen würde. Jedoch zog er es im Moment vor, sie nur so zu nennen, während sie schlief. 

Jinshis Lächeln wurde noch ein wenig breiter. So wie sie da in seinen Armen schlief, sah sie tatsächlich so aus wie ein kleines Kätzchen. Ganz sanft drückte er die Lippen auf ihre Stirn. Maomao reagierte darauf, indem sie im Schlaf ein wenig die Beine bewegte und sich mit einem leisen Seufzer noch ein bisschen enger an ihn drückte.

Dies erfüllte sein Herz mit einer unbeschreiblichen Wärme.

Nachdem er sichergestellt hatte, dass Maomao es bequem hatte und nach wie vor fest schlief, setzte er sich in Bewegung und begab sich mit langsamen Schritten zum Fenster, wo er mit der Apothekerin in den Armen stehenblieb und einfach nur dastand und den engen Kontakt zu ihr genoss. 

Eine leichte Brise wehte von draußen hinein und Jinshi schloss mit Hilfe seines Ellenbogens das Fenster, damit der Wind Maomaos Schlaf nicht störte, bevor er sich behutsam auf den neben dem Fenster stehenden Stuhl setzte, auf dem sein Handtuch gelegen war. 

Der junge Herr wiegte die Apothekerin ein wenig, sie mit einer solchen Verehrung anblickend, als würde er seine gesamte Welt in seinen Armen halten. 

Nein. Nicht „als ob”. Sie war seine Welt.

Ganz plötzlich weiteten sich seine Augen, als ein unerwartetes, seltsames Gefühl durch seinen Körper schoss. Ein Gefühl, als habe er Maomao bereits mehrere Male auf diese Weise in den Armen gehalten… doch es verschwand genauso schnell, wie es gekommen war, also beschloss er, sich keine Gedanken darüber zu machen und richtete seinen Blick zurück auf Maomao.

„Du hast heute Morgen so müde ausgesehen…”, murmelte er, mit dem Daumen sanft ihre Schulter streichelnd, und ein dunkler Schatten legte sich auf sein Gesicht. Der fröhliche Tonfall war aus seiner Stimme verschwunden, vertrieben vom altbekannten schlechten Gewissen, welches von innen heraus wie ein Messer auf ihn einschnitt. „Dass du letzte Nacht nicht gut schlafen konntest… ist meine Schuld, nicht wahr? Ja, natürlich ist es meine, wessen denn sonst?” Er gab einen traurigen Seufzer von sich und legte die Wange auf ihren Kopf. „Es tut mir so leid… ja, ich weiß, du hast gesagt, dass ich aufhören soll, mich zu entschuldigen, aber ich kann einfach nicht… Es tut mir wirklich, wirklich leid.” Dann verzogen sich seine Lippen erneut zu einem kleinen Lächeln. „Alles gut, mach dir keine Sorgen, mein Kleines, ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Solange du an meiner Seite bist und ich dich in meinen Armen halten kann, bin ich glücklich. Es klingt immer noch ziemlich egoistisch, ich weiß, aber ich kann nicht anders… ich kann ernsthaft nicht ohne dich leben…”

Er konnte es immer noch kaum fassen, dass jene wunderbare Frau, jenes wundervolle Mädchen tatsächlich gesagt hatte, dass er ihr wichtig sei. Es kam ihm nach wie vor wie ein Traum vor, auch wenn er schon die ganze Zeit gespürt hatte, seit dem Tag an dem er sein Gedächtnis verloren hatte, dass er ihr etwas bedeuten musste. Aber es direkt aus ihrem Mund zu hören, war etwas ganz Anderes. Wie ein Wunder.

„Du bist mir auch wichtig, Maomao… so unglaublich wichtig… nein, warte, das trifft es nicht ganz… Du bist alles für mich, mein Ein und Alles…”

Maomao bewegte leicht den Kopf, als habe sie ihn gehört.

Jinshi gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn und stand vorsichtig auf, um sie ins Bett zu legen.

Nachdem dies getan war, deckte er Maomao zu, damit seine süße Apothekerin auch ja nicht fror, und nahm sich sein Gewand, welches er vor seinen Übungen ausgezogen und auf den Stuhlrücken gehängt hatte.

„Uh…”

Mit dem Gewand in den Händen erstarrte Jinshi auf der Stelle, als er jenen Laut hinter seinem Rücken vernahm. Erstarrte so sehr, dass er für einen Augenblick zu atmen aufhörte.

„Maomao! Was ist los? Hast du einen bösen Traum?” Der junge Herr spürte eine leichte Panik in sich aufsteigen, denn er wusste aus eigener Erfahrung ganz genau, was für eine Qual solch ein Albtraum war. Er wollte nicht, dass Maomao so etwas durchmachte! Bitte nicht! Lieber quälte er sich selbst durch zehn schreckliche Träume, als zuzulassen, dass sie auch nur einen von der Sorte hatte!

Umgehend eilte er zum Bett zurück, bereit, die junge Frau zu trösten. Doch dann atmete er tief aus, als er sah, dass sie immer noch ruhig und mit entspanntem Gesicht auf dem Rücken lag. Nur ihre Hände, die sich an beiden Seiten neben ihrem Kopf befanden, bewegten sich ein wenig im Schlaf.

Erleichtert fasste Jinshi sich an sein pochendes Herz.

„Nein, kein Albtraum... ein Glück…”

Maomao schlief tief und fest, doch einige Sekunden später bewegten sich ihre Hände erneut. 

Etwas verwirrt, aber auch neugierig beugte Jinshi sich zu ihr.

„Wovon du wohl gerade träumst... Hoffentlich von etwas Schönem…”

Er lächelte sie an.

Maomaos Hände hoben sich nun. Fast schien es so, als würde sie... nach etwas suchen...

Jinshi wollte nach einer davon greifen, doch dann öffnete sich ihr Mund…

Und als das Wort, welches sie daraufhin leise im Schlaf murmelte, das Gehör des jungen Herrn erreichte, fiel ihm sein Gewand aus der anderen Hand und Tränen sammelten sich in seinen Augen, um schon bald seine Wangen herabzufließen. Seine Schultern bebten.

Es war nicht bloß Einbildung gewesen, nein.

„Jinshi…”, wiederholte sie.

„Ich bin hier, mein Schatz, gleich hier…”, brachte er mit erstickter und kaum hörbarer Stimme hervor und warf sich, vor Glück und Ergriffenheit schluchzend, neben sie auf das Bett, um sie fest an sich zu pressen, während er ihr einen Kuss nach dem anderen auf das Gesicht und die Hände drückte. „Meine süße Xiaomao…”

Konnte es... Konnte es tatsächlich sein, dass sie sich so sehr daran gewöhnt hatte, in seinen Armen zu schlafen, dass sie instinktiv nach ihm zu suchen begann, sobald dies nicht der Fall war?

Jinshi fühlte sich wie der glücklichste Mann auf Erden. Er brachte kein Wort mehr heraus, konnte nur noch weinen. Aber seine Gefühle waren so gigantisch, so überwältigend, dass es sowieso nicht genug Worte im gesamten Universum gab, um sie zu beschreiben.  

Er wünschte, es gäbe einen Weg, Maomao zu vermitteln, wie sehr sie doch geliebt wurde…

Denn nicht einmal die Worte „Ich liebe dich” wären genug, um alles auszudrücken, was er für sie empfand...

„Mmh? Eure Exzellenz? Was ist passiert? Wieso weint Ihr denn?”

Oh. Seine stürmische Freude hatte Maomao aufgeweckt...

***

Etwa eine halbe Stunde später öffnete sich die Tür zu Jinshis Schlafkammer und Suiren trat mit einem Tablett, auf dem sich eine kleine Kanne mit einem wohlduftenden kalten Tee, zwei Becher und Gebäck befanden, in den Raum ein.

„Junger Herr, Xiaomao, ich habe euch eine kleine Erfrischung gebracht… nanu?”

Abrupt verstummte die ältere Dame und blieb nach einigen Schritten stehen, ihren erstaunten Blick auf das Bett gerichtet. Doch bereits nach einigen Sekunden erschien ein mildes Lächeln auf ihren Lippen und sie stellte das Tablett so geräuschlos wie möglich auf dem Tisch ab, um die beiden jungen Leute nicht zu stören, die eng aneinandergeschmiegt auf dem Bett lagen und tief schliefen.

Jinshi, dessen Oberkörper entblößt war, hatte seine Arme um Maomao gelegt, die zusammengerollt dalag und ihr Gesicht in seiner nackten Brust vergraben hatte. Sie waren beide mit seinem Gewand zugedeckt und man konnte vage darunter erkennen, dass eine von Maomaos Händen auf Jinshis Taille ruhte.

Der junge Herr hielt die Apothekerin fest an sich gedrückt und lächelte breit im Schlaf.

Suiren lachte leise in sich hinein und schüttelte immer noch lächelnd den Kopf.

„Ihr beide seid nun so gut wie unzertrennlich geworden, nicht wahr?”, murmelte sie und begab sich zu einem Schrank, um eine anständige Decke für die zwei zu holen, damit sie sich nicht erkälteten. Vor allem ihr Herr. Denn auch wenn es Sommer war, war es trotzdem nicht ratsam, halbnackt zu schlafen.

Notes:

Kleines Geständnis: schon seit ich diese Szene, wie Jinshi nach seinem Albtraum halbnackt Schwertübungen macht, im Kanon zum ersten Mal gesehen hab (muss vor ca. zwei Jahren gewesen sein), wollte ich unbedingt, dass Maomao ihm dabei zuschaut, und nun hab ich eine solche Szene endlich selbst erschaffen! Yay!

Und auch diesmal werde ich in ein paar Tagen mit dem nächsten Kapitel beginnen, ich muss nämlich noch am Plan dafür arbeiten.
Übrigens werden die nächsten Kapitel kürzer, ich brauch nach den letzten langen eine kleine Verschnaufpause.

Chapter 74: Amnesie, Teil 17: Der Spaziergang (1)

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Einige Tage später lag Maomao eines frühen Morgens rücklings im Bett und hatte den Kopf Richtung Fenster gedreht, auf den dunklen Himmel draußen blickend, der gerade von zarten Violett- und Rosatönen gefärbt wurde und allmählich heller zu werden begann.

Ein wunderschöner Sonnenaufgang, der ein Gefühl der Zufriedenheit hinterließ, welches sie angenehm von innen heraus wärmte, obgleich durchmischt mit einem Hauch Aufregung und ein wenig Besorgnis.

Sie gähnte. Seit ungefähr einer halben Stunde lag sie bereits so da und wartete auf den Anbruch des neuen Tages.

Der Himmel zeigte sich nun in einem lebhaften Orange.

Das Warten war es wert gewesen, fand Maomao, vor allem, wenn sie erstmal Jinshis Reaktion auf ihren Plan sehen würde. Da war sie sich sicher. Sie konnte sich seine Freude bereits ausmalen, und setzte, ohne es zu merken, ein kleines Lächeln auf, während sie nach einer Strähne seines langen Haars griff, um ein wenig damit herumzuspielen.

Noch ein paar Minuten.

Jinshi lag friedlich schlafend auf der Seite und hatte seine Arme um die Apothekerin gelegt, so wie es seiner Gewohnheit entsprach. Seine Nase war in ihrem zerzausten Haar vergraben und sie konnte seine ruhige Atmung an ihrer Schläfe spüren.

Maomao tätschelte seinen Arm.

Sie hoffte, dass ihm ihre Überraschung gefiel. Aber ganz sicher würde sie das, da machte sie sich keine Sorgen.

Alles klar, die Zeit war gekommen!

Maomao legte ihm die Hand auf die Schulter und begann, behutsam daran zu rütteln.

Zunächst brachte dies nichts, doch schließlich runzelte er mit immer noch geschlossenen Augen die Stirn und rührte sich ein wenig.

„Mmh?”

Sie rüttelte noch ein bisschen stärker. 

„Eure Exzellenz... wacht bitte auf.”

Jinshi drückte sie noch ein wenig enger an sich und gähnte herzhaft, bevor er schließlich ein Auge öffnete.

„Ist was passiert, Maomao?”, fragte er schlaftrunken, so klingend, als habe er noch nicht so ganz begriffen, dass er wach war. Doch wenn man genau aufpasste, konnte man einen Anflug von Sorge in seiner Stimme heraushören. Seine Muskeln spannten sich leicht an.

Maomao schaffte es mit einiger Anstrengung, sich auf die Seite zu drehen, sodass sie sich nun gegenüber lagen. Auf der Stelle legten sich seine Hände auf ihren Rücken.

„Ich habe eine Überraschung für Euch, Herr.”

Daraufhin spürte sie, wie er sich wieder entspannte, und blickte ihm ins Gesicht. Zwar wirkte er immer noch ein wenig verschlafen, schenkte ihr jedoch eines seiner sanftesten Lächeln. Offensichtlich schien er es ihr nicht übel zu nehmen, dass sie ihn aufgeweckt hatte. Wie erwartet.

Jinshi gähnte erneut und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, wie er es jeden Morgen tat.

„Eine Überraschung? So früh am Morgen? Welche denn?”

Die Apothekerin streckte sich ein wenig, um ihm ins Ohr zu flüstern. Jinshis Augen weiteten sich.

Und im nächsten Augenblick befand sie sich auch schon in einer solch festen Umarmung, dass es ihr beinahe den Atem raubte. Sie eng an seine Brust drückend, achtete Jinshi jedoch wie stets darauf, dass er ihr nicht wehtat.

Unerwartet kam das Ganze jedoch nicht, daher gab sie auch keinen Laut der Verwunderung von sich, sondern öffnete bloß instinktiv den Mund.

„Danke... Ich danke dir, Xiaomao!” Er klang gerührt und außer sich vor Glück.

„Nichts zu danken, Herr. Ich habe Euch ja versprochen, mir etwas einfallen zu lassen”, antwortete Maomao gelassen und schaffte es mit ein wenig Anstrengung, einen ihrer Arme zu befreien und Jinshi auf den vor überwältigender Freude bebenden Rücken zu klopfen. „Und jetzt lasst uns bitte aufstehen, denn in spätestens einer Stunde müssen wir bereit sein. Umarmen könnt Ihr mich auch später.”

„Ja! Verstanden!”

Der junge Herr lockerte seinen Griff, doch entgegen ihrer eigenen Worte war es nun die Apothekerin selbst, die keine Anstalten machte, sich zu erheben. Sie hatte eine Augenbraue gehoben, als sei ihr gerade etwas aufgefallen.

„Hm? Was hast du denn?”

Jinshi hatte sich im Bett aufgesetzt und fasste sie behutsam unter den Armen, um sie ebenfalls in eine sitzende Position hochzuziehen und ihr dann in einer liebevollen Geste einige Haarsträhnen hinter die Ohren zu streichen, während er sie fragend ansah.

„Xiaomao?”, murmelte sie schlussendlich verwirrt und erwiderte seinen Blick. Dass sie von Suiren und Gaoshun regelmäßig so genannt wurde, war sie ja gewohnt, aber von Jinshi kam jener Spitzname gerade... zum allerersten Mal. Und obwohl daran absolut nichts Besonderes war, verspürte sie aus irgendeinem Grund ein leichtes Kribbeln in der Magengegend.

Jinshi erstarrte für einen Augenblick, als auch ihm dämmerte, wie er sie gerade genannt hatte, und wedelte dann leicht erschrocken mit den Händen herum.

„Ah, entschuldige!”

Die Apothekerin schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen und ihren gewohnten ruhigen Gesichtsausdruck aufzusetzen.

„Ihr müsst Euch nicht entschuldigen, Eure Exzellenz. Es ist keine große Sache.”

„Dann... macht es dir nichts aus, wenn ich dich so nenne?” Sein Tonfall war leise, zögerlich.

Sie zuckte die Achseln.

„Kein bisschen. Ihr könnt mich nennen, wie Ihr wollt.”

Sie durfte ihn nicht auf eine zu vertraute Weise ansprechen, aber für ihn galt jene Beschränkung nicht.

Seine Augen leuchteten auf.

„Wirklich? Heißt das, „mein Schatz” wäre auch in Ordnung?”

Maomao zuckte kurz vor Schreck zusammen, rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht und wendete den Blick ab.

„Ähm, bleibt bitte lieber bei „Xiaomao”, Herr.”

„Was zur Hölle war das denn?!”

Maomao war sich sicher, vor Scham tot umzufallen, sollte jemand jemals mitbekommen, wie er sie „Schatz” nannte (Und dem früheren Jinshi wäre es bestimmt genauso ergangen).

Egal wie oft es auch passierte, sie konnte nach wie vor kaum glauben, was für unfassbar peinliche Dinge er einfach so von sich geben konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Umarmungen und Küsse waren ja eine Sache, aber Worte... eine ganz andere. Gut, dass sie alleine in dem Raum waren…

„Alles klar! Danke dir, Xiaomao!”

Und schon wieder drückte er sie ganz fest.

„Na gut, wenigstens besteht er nicht mehr darauf, dass ich ihn ohne Titel anspreche”, dachte sie mit einem Seufzer.

Und während sie da noch umarmt wurde und sich endlose Dankesworte anhören musste, kurz davor, ihn erneut daran zu erinnern, dass sie ja auf die Zeit achten mussten, ging auf einmal die Tür auf und eine lächelnde Suiren betrat den Raum mit einem Satz frischer und nach dezentem Parfum duftender Kleidung. Viel früher als gewöhnlich und ganz offensichtlich, um Jinshi beim Umziehen zu helfen.

„Selbstverständlich hat Dame Suiren nicht vergessen, was ich zu ihr gesagt habe”, dachte Maomao. „Wie erwartet.”

Und Gaoshun musste bestimmt ebenfalls schon zu ihnen unterwegs sein. Auf die beiden konnte man sich eben verlassen und umso mehr, wenn es um ihren Herrn ging.

„Oh, wie ich sehe, seid Ihr bereits wach, junger Herr”, meinte die ältere Dame.

Immer noch die Apothekerin umschlungen haltend, strahlte Jinshi seine oberste Zofe an, ganz wie ein kleiner Junge, der seiner Großmutter etwas ganz Aufregendes erzählen wollte.

„Suiren! Ich kann heute endlich nach draußen gehen!”

„Wirklich? Das sind ja wundervolle Neuigkeiten.” 

Suirens Überraschung war selbstverständlich gespielt, denn sie wusste ja bereits über alles Bescheid.

„Und Maomao hat mir gerade erlaubt, sie Xiaomao zu nennen!”

„Ach, hat sie das, ja?” Suiren bedeckte sich mit einer Hand den Mund, doch Maomao konnte trotzdem hören, wie sie leise in sich hineinlachte. „Na, das wurde aber auch Zeit.”

„Was ist denn daran so lustig? Ihr nennt mich doch auch so”, dachte die Apothekerin leicht verlegen. „Hm, vielleicht weil er früher so ein Aufhebens veranstaltete, als es darum ging, mich anstatt „Apothekerin” beim Namen zu nennen, aber es jetzt mit einem Spitznamen so tut, als sei es die normalste Sache der Welt.” 

Sie fasste sich jedoch schnell wieder und seufzte erneut, Jinshi zum wiederholten Male sanft auf den Rücken klopfend, damit er seinen Enthusiasmus ein klein wenig zügelte und endlich das Bett verließ.

Die ältere Zofe legte die Kleidung auf dem Bett ab und ihre Hand auf Maomaos Schulter.

„Meine Güte, was für gute Neuigkeiten gleich so früh am Morgen. Dann steht bitte auf, damit ich Euch für heute vorbereiten kann. Und mach auch du dich fertig, Xiaomao. Der gnädige Gaoshun wartet bereits am Eingang mit einer Kutsche auf euch beide.”

„Sehr wohl.”

Maomao befreite sich aus Jinshis Armen und stand auf, um zu ihrem eigenen Zimmer zu eilen und sich dort umzuziehen. Sie war froh, dass ihre Überraschung gelungen war und noch froher, dass ihr endlich eine zufriedenstellende Idee gekommen war, wie sie Jinshis Wunsch auf eine möglichst risikoarme Art erfüllen konnte.  

Sie hatte sich auch so schon den Kopf darüber zerbrochen und da war kürzlich auch noch Suiren auf sie zugekommen, während sie auf dem Weg zu ihrem Zimmer gewesen war, und hatte sie um ein kurzes Gespräch unter vier Augen, außerhalb von Jinshis Hörweite gebeten.

Maomao war zunächst ein wenig verwundert gewesen, doch schon bald hatte sie begriffen, wieso die ältere Dame nicht wollte, dass ihr Herr ihre Worte mitbekam, denn es würde bei ihm ganz sicher ein schlechtes Gewissen auslösen: es ging nämlich darum, dass Suiren sich große Sorgen um Jinshi machte, weil sein Appetit in letzter Zeit nachgelassen hatte. Selbst sein Lieblingsessen zu kochen, brachte nichts.

Die Apothekerin hatte kurz darüber nachgedacht und eingesehen, dass dem tatsächlich so war: seit einigen Tagen aß er weniger als sonst. Sie verfluchte sich dafür, dass es ihr selbst nicht schon früher aufgefallen war, war es doch eigentlich ihre Aufgabe, sich um seine Gesundheit zu kümmern.

Vielleicht war es ihr ja entgangen, weil sich sonst nichts zum Schlechteren verändert hatte: er war immer noch fröhlich und lächelte in ihrer Gegenwart und hatte auch weniger Albträume als früher. Aber dies musste noch lange nicht heißen, dass er nicht in Wirklichkeit litt, möglicherweise machte er sich ja auch Gedanken um die Zukunft, sorgte sich, dass es ihm immer noch nicht gelingen wollte, sein Gedächtnis zurückzuerlangen. Und jenes stille Leiden hatte unweigerlich zu physischen Symptomen geführt.

Und obwohl sie sich ständig an seiner Seite befand, hatte sie nichts bemerkt. Maomao spürte einen Kloß im Hals.

Wenn er weinte, tröstete sie ihn zwar so gut sie konnte, doch gegen eine solche Art von Kummer schien wohl selbst sie machtlos zu sein. Vielleicht, weil sie selbst von denselben Sorgen geplagt wurde... und nicht der Typ Mensch war, der anderen leere Versprechen gab, dass schon alles gut werden würde...

Auf jeden Fall musste so schnell wie möglich eine Idee her, um ihn von seinen Sorgen abzulenken, zumindest vorübergehend. Sonst könnte es sein, dass er noch an Gewicht verlor und sogar krank wurde.

An seinen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster konnte sie sich noch so gut erinnern, als sei es erst vor wenigen Minuten geschehen. Doch wie zur Hölle sollte sie ihn bloß nach draußen bekommen, ohne bei ihm Stress auszulösen oder für Aufruhr am Hofe zu sorgen? Wie?!

Bis ihr eines Nachts, als sie einzuschlafen versuchte, schließlich die rettende Idee gekommen war: der kaiserliche Obstgarten im inneren Palast! Genau der, wo sie in der Vergangenheit einige Male hingegangen war, um Kräuter zu sammeln oder sich ein paar Früchte, ähm, „auszuborgen”.

Das war doch der ideale Ort! Ziemlich ruhig, leicht abgelegen und nicht viel besucht, außer von den Eunuchen, die sich um die Obstbäume kümmerten. Aber um ganz sicher zu gehen, dass sie ungestört sein würden, müssten sie sich früh am Morgen dorthin begeben und mit der Kutsche gebracht werden (das mochte für eine solch kurze Entfernung zwar recht lächerlich klingen, aber in Jinshis Fall konnte man nicht vorsichtig genug sein, fand Maomao).

Während Jinshi am darauffolgenden Tag ein Schläfchen gehalten hatte, hatte sie Suiren und Gaoshun von ihrer Idee erzählt, und beide waren einverstanden gewesen.

Jinshi selbst dagegen hatte sie kein Wort verraten, da sie fürchtete, dass er vor Aufregung kaum noch schlafen könnte. Und außerdem waren die Voraussetzungen für ihren „Ausflug” eine albtraumlose Nacht und schönes Wetter am nächsten Morgen, also hatte sie geduldig gewartet, bis beide erfüllt waren, und beschlossen, ihm erst direkt vor dem Aufbruch alles zu erzählen.

***

„So schön…”

Mit Maomao an der Hand betrat Jinshi etwa eine halbe Stunde später den Obstgarten und blickte mit leuchtenden Augen auf die großen Bäume, deren Blätter sich leicht in dem noch etwas kühlen Morgenwind wogen, und auf den strahlend blauen Himmel über sich. Tief die frische, mit dem Duft nach Äpfeln, Pfirsichen und Erde versetzte Luft einatmend. 

Die Apothekerin sah sich noch ein letztes Mal mit verengten Augen um, um ganz sicher zu gehen, dass sich außer Gaoshun, der ihnen als ihr Bodyguard in einer Entfernung von etwa dreihundert Metern folgte, auch wirklich niemand sonst in der Nähe befand, und entspannte sich dann endlich. Sich einredend, dass sich ganz bestimmt keiner in einer solchen Frühe in den Garten verirren würde.

Dann schaute sie in Jinshis Gesicht auf. Er sah aus wie ein Kind, welches zum ersten Mal die Welt um sich herum bestaunte. Aber das war wohl kaum verwunderlich, wenn man so wie er zuerst das Gedächtnis verloren und dann fast drei Wochen sein Haus nicht verlassen hatte.  

Aber trotzdem wirkte ein solcher Ausdruck unschuldiger Freude ein klein wenig komisch im Gesicht eines erwachsenen jungen Mannes. Maomao setzte ein kleines Lächeln auf, welches jedoch von einem Hauch Traurigkeit getrübt war.

Denn Jinshi wirkte so glücklich, dass es ihr beinahe schon widerstrebte, ihn in ein paar Stunden wieder zurück in seine Residenz bringen zu müssen, wo neuer Schmerz und Kummer unweigerlich auf ihn warten würden. Schmerz und Kummer, die sie ihm eingebracht hatte. Doch sie schüttelte den Kopf. Eine andere Wahl hatte sie ja sowieso nicht, also brachte es auch nichts, sich zum wiederholten Male zu quälen. Auch ihr würde es guttun, sich ein wenig von den ganzen Problemen abzulenken.

Während sie mit Jinshi langsam durch den Garten spazierte, hängte sie sich die Tasche, die sie mitgebracht hatte, über die Schulter. Diese enthielt eine Flasche Wasser (Maomao würde nicht zulassen, dass Jinshi erneut dehydrierte, oh nein), das von Suiren eingepackte Frühstück (Jinshi war viel zu aufgeregt gewesen, um etwas zu essen, und auch Maomao hatte keinen Hunger gehabt), eine Picknickdecke und eine Tuchmaske, Verbandszeug und Schmerzmittel (zur Sicherheit).

„Gibt es vielleicht etwas, was Ihr gerne tun möchtet, Herr?”

„Ja!” Jinshi strahlte beinahe vor Glück, während er Maomaos Hand noch ein wenig fester drückte. „Lass uns ein wenig laufen, Xiaomao!”

Maomaos Lächeln erstarb.

„Wie bitte?!” Doch bevor sie die Chance bekommen konnte, zu begreifen, wie ihr überhaupt geschah, war der junge Herr bereits vorgeprescht, sodass sie, die er immer noch an der Hand hielt, keine andere Wahl hatte, als mit ihm mitzurennen. 

Oder besser gesagt, hinter ihm, da sie auf ihren kürzeren Beinen Mühe hatte, mit seinem Tempo mitzuhalten. 

Er rannte so schnell, dass sein Haar vom Wind zerzaust wurde und in alle Richtungen flog.

Während Maomao beim Laufen versuchte, die Orientierung nicht zu verlieren, schaffte sie es, aus dem Augenwinkel zu erspähen, dass Gaoshun mit ernstem Gesicht hinter ihnen herlief, und verspürte sogleich Mitleid mit ihm. Es war wirklich nicht leicht, als Jinshis Assistent zu arbeiten, egal ob dieser sein Gedächtnis verloren hatte oder nicht.

Einige Minuten lang tolerierte und ertrug sie das Ganze noch, doch irgendwann konnte sie nicht mehr. Ihre Ausdauer konnte einfach nicht mit der der beiden Männer verglichen werden.

„Könnten wir… bitte… anhalten?”, brachte die Apothekerin keuchend und knallrot im Gesicht hervor. Ihr war leicht schwindelig, ihre Lunge brannte und sie fühlte sich so, als würde sie sich gleich übergeben müssen. Gut, dass sie kein Frühstück gehabt hatte…

Auf der Stelle riss Jinshi die Augen auf, als er ihre Worte vernahm und begriff, was er da eigentlich tat, und hielt an, sich gerade noch rechtzeitig umdrehend, um Maomao aufzufangen, deren Beine schwer wie Blei waren und die beinahe gestolpert und hingefallen wäre.

„Oh nein, es tut mir leid, Maomao, ich war bloß so glücklich, draußen zu sein, dass ich mich davon mitreißen ließ…”

Seine eigene Atmung war bloß leicht beschleunigt.

„Schon…gut… Herr…” Maomao war zwar zugegebenermaßen ein klein wenig sauer, doch ließ es sich ihm zuliebe nicht anmerken.

„Komm her.”

Er hängte sich ihre Tasche über die eigene Schulter und hob die Apothekerin in seine Arme, um sie in den Schatten unter einem Apfelbaum zu tragen. Dort stellte er sie wieder vorsichtig auf die Beine, umarmte sie und begann ihren Rücken zu reiben, bis sie wieder normal atmen konnte, während beide gegen den Stamm des Baumes gelehnt standen. Sie widersetzte sich nicht, sondern lehnte bloß den Kopf an seinen Arm.  

Gaoshun währenddessen, stand mit den Händen in den Ärmeln hinter einem anderen Baum und sah ihnen zu. Er gab einen tiefen Seufzer von sich und setzte dann ein mildes Lächeln auf, welches dem von Suiren ähnelte.

Als es der Apothekerin wieder besser ging, ließ der junge Herr sie los. Maomao nahm ihm die Tasche wieder ab und holte die Wasserflasche hervor, um ein paar Schlucke daraus zu nehmen und sie an Jinshi weiterzugeben.

Er trank ebenfalls und strich ihr dann durchs Haar.

„Dann ruh dich bitte aus. Ist es in Ordnung, wenn ich noch ein bisschen herumlaufe?”

„Kaum zu glauben, dass diese Frage von einem erwachsenen Mann kommt”, dachte Maomao. „Aber es freut mich wirklich, dass er heute so viel Energie hat.”

„Wie Ihr wünscht, Eure Exzellenz, aber bitte entfernt Euch nicht allzu weit von mir. Dieser Obstgarten ist groß und allein könntet Ihr Euch verlaufen.”

„Nicht dass der gnädige Gaoshun so etwas zulassen würde, aber trotzdem”, dachte sie, Jinshis zerzaustes Haar ein wenig mit ihren Fingern kämmend.

„Alles klar!”

Jinshi schenkte ihr ein breites Lächeln, gab ihr die Wasserflasche zurück, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und lief los.

Maomao sah einige Minuten lang zu, wie er zwischen den Bäumen herumrannte, und breitete dann die Picknickdecke auf dem Gras unter dem Baum aus, zu dem er sie vorhin gebracht hatte, um sich hinzusetzen.

„Ich wette, er durfte solche Dinge nicht einmal tun, als er tatsächlich noch ein Kind war”, vermutete sie in Gedanken, während sie den kühlen Schatten des Baumes genoss. „Gut, dann lasse ich ihm eben seinen Spaß. Schließlich tut er damit niemandem weh.”

Noch herrschten in dem kaiserlichen Obstgarten Ruhe und Frieden. Doch weder Maomao noch Jinshi und auch Gaoshun ahnten nicht, dass ihre Idylle nicht sehr lange anhalten würde.

Notes:

Ich liebe es, Jinshi sich wie ein kleines Kind benehmen zu lassen, das ist so lustig :)

Chapter 75: Amnesie, Teil 18: Der Spaziergang (2)

Notes:

Und hier kommt Teil 2!

Chapter Text

Immer noch auf der Picknickdecke sitzend, streckte Maomao sich wie eine Katze, die ein Schläfchen in der Sonne gehalten hatte, gab ein leises Gähnen von sich und rieb sich kurz die Wadenmuskeln, in denen sie die Auswirkungen ihres „Morgensports” nach wie vor spüren konnte. Ihre Beine zitterten immer noch ein wenig.

„Ich bin schon ziemlich lange nicht mehr so gerannt”, dachte sie. „Das wird morgen bestimmt einen Muskelkater geben. Schließlich bin ich ja kein durchtrainierter Schwertkämpfer wie ein gewisser Jemand.”

Der „gewisse Jemand” dagegen rannte immer noch fröhlich zwischen den Bäumen herum, seine vorübergehende Freiheit genießend.

„Wann er wohl endlich genug haben wird?” 

Während die Apothekerin darüber nachgrübelte, wie lange Jinshi wohl noch so laufen würde, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen den Stamm des Apfelbaumes und tat ein paar tiefe Atemzüge, denn auch in ihrem Fall war es eine Weile her, seit sie frische Luft geatmet und die Wärme der Sonne auf ihrer Haut gespürt hatte.

Es war schön, einfach ab und zu solch simple Dinge zu genießen.

„Hach, aber ich wünschte, ich hätte jetzt etwas Alkoholisches zu trinken”, dachte sie wehmütig. „Dann wäre es perfekt.”

Sie drehte den Kopf zur Seite und ihre Augen weiteten sich ein wenig, als sie die Blumen bemerkte, die in etwa fünfzig Metern Entfernung wuchsen.

„Oh, Kamillen! Ich wusste doch, dass ich im inneren Palast welche gesehen habe. Die kommen mir gerade recht, ich wollte sowieso bald welche pflücken gehen.”

Und so leerte sie erfreut ihre Tasche, legte den Inhalt auf der Decke ab, warf noch einen Blick auf Jinshi, um sicherzugehen, dass er in Ordnung war, und begab sich zu den Blumen, um sich neben ihnen auf das Gras zu knien und zur Tat zu schreiten.

Als die Tasche bereits halb voll war mit den weiß-gelben Pflanzen, spürte Maomao plötzlich, wie etwas Leichtes auf ihrem Kopf landete. Hm, vielleicht ein Blatt. Sie richtete sich auf und fasste sich ins Haar, um es runterzunehmen. Und hob prompt beide Augenbrauen.

„Hä? Eine Kamille? Aber wie kommt die denn dorthin? So stark, um Blumen aus der Erde zu reißen, ist der Wind garantiert nicht.”

Und bevor sie sich versah, landete noch eine zweite auf ihr. Und dann noch eine dritte und eine vierte. Bis sie sich auf einmal unter einem wahrhaftigen Blumenregen wiederfand.

Direkt hinter sich vernahm sie leises Gelächter.

„Ach, da hat wohl jemand Lust auf einen Streich gehabt”, dachte sie und drehte sich um. Hinter ihr kniete ein grinsender Jinshi, der die Hände voller Kamillen hatte, in der ganz klaren Absicht, auch diese über Maomaos Haupt zu streuen. So wie es aussah, war er heimlich an sie herangeschlichen, hatte sich lautlos hinter ihr hingekniet und die Blumen gepflückt, ohne dass sie, die auf ihr eigenes Pflücken konzentriert gewesen war, etwas davon mitbekam.

„Erwischt, Eure Exzellenz”, sagte Maomao und erwiderte sein Grinsen.

„Ich helfe dir bloß beim Blumenpflücken, Xiaomao”, erwiderte der junge Herr mit einem frechen Kichern und ließ die Blumen erneut auf sie niederregnen, diesmal auf ihre Schultern.

„Aber sicher tut Ihr das.”

Die Apothekerin gab einen kleinen Seufzer von sich. Wäre so etwas vor dem Unfall passiert, wäre sie ganz bestimmt unfassbar genervt gewesen und hätte ihm einen Blick geschenkt, als sei er ein widerwärtiges Insekt, aber nun freute sie sich sogar, dass er so verspielt war. Denn es bedeutete, dass es ihm bereits ein wenig besser gehen musste.

Immer noch breit grinsend, half Jinshi der Apothekerin dabei, die auf dem Gras verstreuten Blumen einzusammeln und in die Tasche zu stopfen, bevor er zusammen mit ihr zur Picknickdecke zurückkehrte und sie sich dort niederließen.

Der junge Herr wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß vom Gesicht und machte sich dann daran, einige noch verbleibende Blumen aus Maomaos Haar herauszuziehen, die dort vorhin hängengeblieben waren.

„Haha, Xiaomao, du bist ja ein wahres Blumenmädchen heute”, witzelte er und prustete erneut los, sodass seine Schultern bebten, während er die letzte Blume aufhob und hinter Maomaos Ohr klemmte.

„Oh ja, sehr lustig.” Sie gab ein Schnauben von sich, doch ihr Gesicht machte es nur allzu deutlich, dass sie in Wirklichkeit kein bisschen sauer war.

Während die Apothekerin sich sein kleines „Geschenk” wieder vom Ohr entfernte und die Tasche beiseitestellte, legte Jinshi sich, einen zufriedenen Seufzer ausstoßend, auf den Rücken, bettete den Kopf auf seine Arme und blickte zu den dicht belaubten und mit Äpfeln beladenen Ästen des Baumes hoch. Dann schloss er die Augen, nach wie vor mit einem seligen Lächeln auf den Lippen.

Maomao legte ihm eine Hand auf den Arm, um zu prüfen, ob er möglicherweise eingeschlafen war. In letzter Zeit war die Anzahl seiner plötzlichen Erschöpfungsanfälle tagsüber zwar deutlich zurückgegangen, aber man wusste ja nie.

„Vielleicht hätte ich ihn doch nicht so viel herumlaufen lassen sollen”, dachte sie seufzend.

„Seid Ihr müde, Herr?”

Zu ihrer Erleichterung öffnete Jinshi auf ihre Frage hin die Augen.

„Nein, ich genieße bloß die Sonne. Magst du auch?”

Er hob eine Hand und machte eine Geste, die ihr zu verstehen gab, dass er sie einlud, sich neben ihn zu legen.

„Schon gut, ich sitze im Moment lieber.”

„Wie du willst.” Er lächelte sie sanft an und machte die Augen wieder zu.

Einige Minuten lang beobachtete Maomao ihn einfach nur schweigend, doch dann wanderte ihr Blick zur Tasche zurück und ein teuflisches Grinsen erschien auf ihren Lippen, als ihr ganz plötzlich eine tolle Idee kam, wie sie ihm seinen kleinen Streich heimzahlen könnte. Immerhin war er ja nicht der Einzige, der sich ein wenig amüsieren durfte, nicht wahr?

„Eh?” Überrascht schlug Jinshi die Augen auf, als er auf einmal spürte, wie ihm etwas Leichtes auf Brust und Bauch segelte, und stellte fest, dass die junge Frau neben ihm kniete und ihre Tasche über ihm ausleerte, nun ihn selbst unter einem Blumenregen begrabend.

„Jetzt seid Ihr das Blumenmädchen hier, Herr!”, bemerkte sie in einem neckenden Tonfall.

Jinshi blinzelte einige Male lang verblüfft und brach dann erneut in lautes Gelächter aus, eine Hand hebend und Maomao durchs Haar wuschelnd. Sie protestierte ein wenig, hielt ihn jedoch nicht auf.

Er lachte so sehr, dass ihm Tränen über das Gesicht liefen.

Als die Blumen dann zum zweiten Mal gemeinsam eingesammelt worden waren, fasste der junge Herr, der wieder auf der Decke saß, sich auf einmal in den Ärmel.

„Ach ja”, meinte er lächelnd und zog etwas hervor. Maomao blickte auf seine Handfläche und entdeckte zwei kleine, reife Pfirsiche, an denen noch ein paar Blätter hingen. „Die da sind vorhin auf mich draufgefallen. Lass sie uns zusammen essen!”

Er hielt ihr die Früchte hin, in einer deutlichen Aufforderung, sich einen zu nehmen, doch stattdessen stand Maomao wortlos auf, umfasste mit beiden Händen das Gesicht des jungen Mannes und sah ihm mit einem ernsten Blick direkt in die Augen. Von ihrem verspielten Verhalten von vorhin war keine Spur mehr geblieben. Jinshi errötete und schluckte schwer, ihr wie gebannt in die atemberaubend blauen Augen starrend und nicht begreifend, was denn los war.

„Auf Euch draufgefallen? Wohin? Doch nicht etwa auf Euren Kopf?”

Sie war bereits dabei, seinen Pony mit den Fingern beiseitezustreichen, um einen Blick unter die Bandage werfen auf das, was von seiner Wunde übriggeblieben war. Ein weiterer Schlag auf den Kopf, und sei er auch noch so leicht, könnte fatal sein. Ihr Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken und ihr Magen zog sich zusammen.

Jinshi schluckte erneut und kam wieder zu sich, Maomao sanft beim Handgelenk ergreifend, um sie aufzuhalten.

„Nein... auf meine Schulter, während ich mich kurz vom Laufen ausruhte und mich gegen einen Baum lehnte. Es tut überhaupt nicht weh, also mach dir keine Sorgen, Xiaomao, ja?”

Lächelnd küsste er ihre Hand und die Apothekerin atmete tief durch vor Erleichterung und setzte sich wieder hin.

Gaoshun, der sie immer noch als Bodyguard beobachtete, entspannte sich ebenfalls. Von seinem Standpunkt aus konnte er zwar kaum hören, was die beiden sagten (und zu nahe kommen und sie stören wollte er nicht), doch soweit er begriffen hatte, hatte sich die Apothekerin Sorgen gemacht, dass sein Herr sich verletzt hatte, doch dieser hatte sie beruhigt, dass alles in Ordnung sei. Ein Glück. Sollte Jinshi während dieses Spaziergangs nämlich etwas zustoßen, würden sowohl Gaoshun als auch Maomao es sich niemals verzeihen.

***

Ein wenig später herrschte erneut eine friedliche Atmosphäre, während die beiden jungen Leute auf der Decke saßen und das mitgebrachte Frühstück und die Pfirsiche aßen. Ein paar kleine Wolken waren am Himmel aufgetaucht, doch es sah glücklicherweise nicht nach Regen aus.

„Xiaomao…” Jinshi schluckte den Bissen, den er im Mund hatte, herunter und blickte auf die Apothekerin, die zu ihm aufsah.

„Ja, Herr?”

„Ich... wollte dir bloß sagen, dass ich alles tun werde, um mein Gedächtnis zurückzuerlangen.”

„Ihr tut doch bereits Euer Bestes. Das weiß ich.”

Maomao sah ihn fragend an, sich wundernd, wieso er so plötzlich jenes Thema ansprach. Waren sie denn nicht hinausgegangen, um sich ein wenig davon abzulenken? Doch sie stellte keine Fragen, da der junge Herr so aussah, als wolle er ihr etwas mitteilen, was ihm auf dem Herzen lag. Moment... machte er sich etwa immer noch Sorgen, dass sie enttäuscht von ihm und seinen unzulänglichen Mühen war? Hatte sie ihm denn nicht schon mehr als deutlich gemacht, dass dies nicht stimmte?

Sie öffnete den Mund, um ihn abermals zu beruhigen, doch er war schneller.

„Schon, aber... ich werde mir noch mehr Mühe geben, versprochen. Dir zuliebe.”

Er sah sie ernst an und klopfte sich entschlossen auf die Brust.

Sie seufzte.

„Ihr solltet es lieber Euch selbst zuliebe tun, Eure Exzellenz, nicht meinetwegen. Und bitte überanstrengt Euch ni-...”

Auf einmal verstummte sie und weitete die Augen, als sie ganz unerwartet etwas vernahm. Waren das etwa... Schritte? Ein Blick zu Gaoshun bestätigte ihr, dass der Assistent immer noch an Ort und Stelle stand, also waren es nicht seine. Kam da also jemand?

„Maomao? Was hast du denn?”, fragte Jinshi besorgt und legte ihr die Hände auf die Schultern.

Sie ergriff seine Hände und erhob sich, daran ziehend, um ihn ebenfalls zum Aufstehen zu bewegen.

„Wir müssen hier weg, Eure Exzellenz. Kommt!”

Er wirkte noch verwirrter als vorher.

„Was? Aber wieso?”

„Oh, da ist ja Seine Exzellenz Jinshi!”

„Ah, du hast Recht!”

„Hach, er ist so wunderschön wie immer…”

„Verdammt!”, dachte Maomao. „Zu spät! Was zur Hölle machen die hier in einer solchen Frühe? Sich vor der Arbeit drücken oder was?”

Mit zusammengebissenen Zähnen sah sie zu, wie eine Gruppe aus vier Frauen, ihrer Kleidung zufolge, Waschmägde, mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen direkt auf sie zueilte. Möglicherweise hatte sie ja früher sogar mit ihnen zusammengearbeitet, als sie noch selbst eine gewesen war, aber da Maomao sich Namen und Gesichter nicht sehr gut merken konnte, hatte sie keine Ahnung, wer sie waren, doch es kümmerte sie auch nicht. Im Moment waren die Frauen nichts weiter als eine Bedrohung in ihren Augen.

Auf der Stelle sprang sie vor Jinshi hin, beide Arme hebend, als wolle sie ihn abschirmen. Ihm jetzt noch die Maske anzulegen, hatte keinen Sinn mehr, da die vier ihn ja bereits erkannt hatten.

Auch wenn ihr bewusst gewesen war, dass jederzeit ein Risiko bestand, entdeckt zu werden, hatte sie jenen Gedanken beiseitegeschoben und war unachtsam geworden, hatte sich von der ruhigen Stimmung mitreißen lassen. Wie dumm von ihr... jetzt musste sie sich rasch überlegen, wie sie die Situation handhaben sollte. Die Frauen durften auf keinen Fall bemerken, was mit Jinshi los war!  

„Bitte bleibt hinter mir, Herr”, raunte sie ihm zu. „Und überlasst das Reden mir.”

„Äh... gut…” Der junge Herr blickte zwischen der Apothekerin und der kleinen Gruppe an Frauen hin und her und sah aus, als begreife er immer weniger, was gerade vor sich ging. Er stand etwas zögerlich auf und legte eine Hand auf Maomaos Schulter, ihr damit zeigend, dass er ihr vertraute, egal, was auch geschah.

Gaoshun währenddessen kam mit langsamen Schritten näher, den Blick nicht von den Waschmägden abwendend und jederzeit bereit, einzugreifen und seinen Herrn zu beschützen, falls die Lage eskalieren sollte. Schließlich war er genau deshalb als Jinshis und Maomaos Begleitung mitgekommen.

Maomao ballte die Hände zu Fäusten und bedachte die Damen mit einem Blick, als sei sie eine Wildkatze, die sie gleich anfauchen, anspringen und beißen würde. Sogar ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sollten sie sie doch für ein Monster halten, das war ihr egal! Sie wollte bloß, dass Jinshi in Ruhe gelassen wurde.

Die Frauen schauderten und erbleichten zwar, als sie ihr Gesicht sahen, doch liefen nicht weg und blieben auch nicht stehen. Bestimmt dachten sie sich, dass die magere, mickrige Maomao ihnen schon nichts tun würde. Oder zumindest nicht in der Gegenwart der beiden Herren. Auch wenn sie sich ganz sicher fragten, was in aller Welt bloß in sie gefahren war.

Die Apothekerin schnalzte gereizt mit der Zunge.

„Tsk. Diese sturen, nervigen…”

Aber obwohl die vier sie mehr oder weniger ignorierten, hielten sie zumindest einen Abstand von etwa vier Metern zu Jinshi ein, also musste sie sie doch zu einem gewissen Grade eingeschüchtert haben.

Rasch wendeten sie sich ihm zu. Die Entzückung und die Röte waren in ihre Gesichter zurückgekehrt und sie kicherten dümmlich, so aussehend, als würden sie gleich dahinschmelzen, auch wenn der „schöne Eunuch” sie ausnahmsweise mal nicht anlächelte, sondern bloß verwundert anblinzelte.

„Eure Exzellenz!”

„Wir haben Euch schon so lange nicht gesehen, Herr!”

„Macht Ihr gerade einen Spaziergang?”

„Wir haben gehört, dass Ihr eine ansteckende Krankheit habt. Das waren solch schreckliche Neuigkeiten! Habt Ihr Euch bereits davon erholt?”

Die Atmosphäre hatte sich merklich abgekühlt und selbst die Sonnenstrahlen fühlten sich nicht mehr so warm an wie zuvor. Zumindest für Maomao und Jinshi.

Jinshi hatte bereits den Mund aufgemacht, erinnerte sich dann aber an Maomaos Anweisungen und schloss ihn schnell wieder.

„Das geht euch verdammt nochmal nichts an!”, dachte Maomao wütend.

„Seiner Exzellenz geht es wieder besser, daher genießt er gerade das schöne Wetter und die frische Luft in diesem Obstgarten”, sagte sie, sich Mühe gebend, möglichst ruhig zu klingen. „Leider hat er jedoch vorübergehend seine Stimme verloren, deshalb übernehme ich das Reden für ihn. Wenn ihr Fragen habt, seid ihr willkommen, sie mir zu stellen.” Der säuerliche Ausdruck auf ihrem Gesicht vermittelte jedoch das genaue Gegenteil.

Die Frauen schlugen sich entsetzt die Hand vor den Mund und traten unbewusst noch ein paar Schritte näher. Maomao funkelte sie warnend an, doch sie sahen es nicht.

„Seine Stimme verloren? Wie furchtbar!”

„Seine wunderschöne, honigsüße Stimme…”

„Sie wird schon wiederkommen, nur keine Sorge”, antwortete die Apothekerin trocken.

Irgendwann schaffte es Maomao es ihnen schließlich (ohne Blutvergießen) klarzumachen, dass der junge Herr seine Ruhe brauchte, um wieder vollständig gesund zu werden, und dass ihre Anwesenheit „ein klein wenig” störend war (sie dabei so ansehend, als hätte sie ihnen am allerliebsten einen saftigen Tritt in den Allerwertesten verpasst, um sie höchstpersönlich zu verscheuchen.)

Mit verengten Augen blickte sie ihnen nach und entspannte schließlich ihre Gesichtszüge, um sich zu Jinshi umzudrehen, der immer noch seine Hand auf ihrer Schulter hatte.

„Es tut mir wirklich leid, Herr”, sagte sie seufzend und mit ehrlichem Bedauern. „Aber wir müssen unseren Ausflug hiermit abbrechen. In spätestens einer Stunde weiß bestimmt der halbe innere Palast, dass Ihr hier seid.”

Jinshi reagierte zunächst gar nicht, doch beugte sich dann zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr.

„Eine… ansteckende Krankheit?”

Maomao schluckte und wendete den Blick ab, auf einmal das Gras höchst interessant findend.

„Ich frage mich, wo die einen solchen Unsinn aufgeschnappt haben…”, murmelte sie. „Ihr seid nicht ansteckend, Herr…”

***

Während die drei damit beschäftigt waren, sich zum Aufbruch vorzubereiten und ihre Sachen einzusammeln, zupfte Jinshi an Maomaos Ärmel. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie in sein Gesicht aufblickte und die Traurigkeit darin sah.

„Xiaomao…”

„Ja, Herr?”, fragte sie leise.

Doch er antwortete nicht sofort. Stattdessen steckte er die Hand in die Tasche und holte wortlos eine Kamille heraus. Dann beugte er sich zu der Apothekerin, klemmte ihr die Blume behutsam hinter das Ohr und gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er sich wieder aufrichtete und sie umarmte.

„Bitte fühl dich nicht schuldig, ja? Auch wenn unser Spaziergang ein solch unerfreuliches Ende genommen hat, hatte ich wirklich viel Spaß heute. Danke dir nochmal.”

„Nichts zu danken…”, murmelte Maomao, während sie sich mit der Stirn an seine Brust lehnte, sich ertappt fühlend. Sie musste nicht hochblicken, um zu wissen, dass sein Gesicht nun von einem sanften, wenn auch etwas bedrückten Lächeln geziert wurde.

Den ganzen Rückweg über sprachen sie kein Wort, sondern hielten sich einfach nur bei der Hand, selbst während sie in der Kutsche saßen. Sich gegenseitig tröstend.

Jedoch konnte Maomao in Jinshis Augen sehen, dass er immer noch Fragen zum gerade Geschehenen hatte.

Sie konnte sich bereits ausmalen, was das für Fragen waren, sagte aber nichts.

 

Chapter 76: Amnesie, Teil 19: Ein schwieriges Gespräch

Notes:

Warnung: dieses Kapitel wird WEHTUN. Aber es ist wichtig für die Handlung, denn ihr erfahrt hier, wieso Jinshi sein Gedächtnis noch immer nicht zurück hat. Nur zur Info.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Am Abend saß Jinshi schweigend in seiner Schlafkammer auf einem Stuhl vor dem Fenster und betrachtete den immer noch hellen blauen Himmel, unter dem er an jenem Morgen noch vollkommen unbeschwert durch den Kaiserlichen Obstgarten gerannt war und mit Maomao herumgealbert hatte. Gerade einen halben Tag war es her, doch seinen zusammengezogenen Augenbrauen und seinem nachdenklichen Blick nach zu urteilen, musste er besagte Momente bereits so vermissen, als seien sie in einem anderen Leben geschehen. 

Die Apothekerin währenddessen stand hinter ihm und kämmte ihm vorsichtig das immer noch ein wenig feuchte lange Haar, so wie sie es nun jeden Abend tat. Auch sie gab kein Wort von sich.

Sie hatten nacheinander ein Bad genommen und trugen nun ihre Schlafbekleidung.

Die Atmosphäre im Raum war ziemlich ruhig und friedlich, obgleich jene Begegnung am Ende ihres Ausfluges einen bitteren Nachgeschmack bei ihnen beiden hinterlassen hatte, der nach wie vor in der Luft hing. Jedoch bereute weder er noch sie den Besuch des Obstgartens. So viel war klar.

Das Einzige, was Maomao bereute, war, nicht vorsichtig genug gewesen zu sein. 

„Er hat mir zwar gesagt, dass ich mich nicht schuldig fühlen soll, aber ich hätte wirklich besser auf die Umgebung achten sollen”, dachte sie mit zusammengepressten Lippen und seufzte. „Und doch hat er Recht. Was geschehen ist, ist geschehen.”

Sie begab sich zum Tisch, um dort den Kamm abzulegen. Jinshi drehte den Kopf zu ihr.

„Alles in Ordnung, Xiaomao?”, fragte er.

Die Apothekerin schob ihre unangenehmen Gedanken auf der Stelle beiseite, als sie die ehrliche Sorge in seinen violetten Augen sah, und entspannte sich wieder, sich neben ihn stellend.

„Alles gut, Herr.”

Er schenkte ihr einen sanften Blick und bewegte sich so, dass er den Kopf an ihre Brust lehnen konnte.

„Mein süßes Blumenmädchen…”, sagte er mit einem leisen Kichern.

Sie zwickte ihn in die Nase.

„Keine peinlichen Kosenamen bitte, Eure Exzellenz.”

„Au! Hahaha! Ach stimmt, du bist ja eher ein Kräutermädchen, mein Fehler, haha!”

Maomao gab ein belustigtes Schnauben von sich und legte ihm eine Hand auf die Schulter, froh über seine gute Laune. Nein, sie bereute es wirklich nicht, ihn nach draußen geführt zu haben.

Nach einer Weile wurde er jedoch wieder ernst und hob den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen.

„Xiaomao... darf ich dich etwas fragen?”

„Ja?”

Sie erstarrte für einen Augenblick. Der Moment war gekommen, was? Jetzt würde er ihr bestimmt die Fragen stellen, die ihm vorhin auf dem Rückweg durch den Kopf gegangen waren. Zweifellos.

„Sag mal, als diese Frauen kamen... ist ein mögliches Chaos tatsächlich der einzige Grund, weshalb du mich so verzweifelt vor ihnen abgeschirmt hast? War das nicht... ein bisschen übertrieben? Es fühlte sich irgendwie an, als stecke da noch mehr dahinter…”

„Ich habe es gewusst”, dachte sie, als sie ihre Vermutungen bestätigt sah. „Natürlich ist es ihm aufgefallen. Wie denn auch nicht?”

Maomao seufzte. Es würde nichts bringen, es weiterhin zu verbergen, also beschloss sie, ihm die Wahrheit zu sagen. Denn auch wenn sie ihm damit Angst einjagte (und das würde sie ganz bestimmt), wäre es einfach nicht gerecht ihm gegenüber, ihn anzulügen.

„Nein, Herr, das ist tatsächlich nicht der einzige Grund. Um ehrlich zu sein, war es vor allem, um sie daran zu hindern, Euch etwas anzutun.”

„Mir etwas antun? Was meinst du denn damit?” Er hob beide Augenbrauen und sah sie verblüfft an. „Die vier sahen ziemlich harmlos aus, finde ich... nur vielleicht ein wenig, ähm, emotional.”

„Harmlos? Nun, möglicherweise waren sie das auch, aber so genau kann man das hier am Kaiserlichen Hofe und vor allem im inneren Palast nie wissen. Nicht nach all dem, was bereits geschehen ist.” Maomao machte eine Pause und schaute zu Jinshi, der sie immer noch mit großen Augen ansah, ohne zu begreifen, was genau sie ihm da mitteilen wollte.  

„Was ist denn geschehen?”, fragte er nach. In einem zögerlichen Tonfall, als hätte er Zweifel, ob er es überhaupt wissen wollte.

Maomao tat einen tiefen Atemzug, während sie sich rasch überlegte, wie sie es am Besten in Worten ausdrücken sollte.

„Nun, man kann sagen, dass es Euch am Hofe an „Verehrerinnen” nicht mangelt. Viele davon sind tatsächlich harmlos und bloß nervig, aber einige wirklich hartnäckig. Ein paar haben sogar versucht…” Sie legte ihm die zweite Hand auf die andere Schulter und wisperte ihm den Rest des Satzes ins Ohr. „Und auch…” Auch diese Information wurde zu einem Flüstern.

Beim Zuhören weiteten sich Jinshis Augen und sein Gesicht wurde zuerst rot und dann bleich. Bleich wie ein Laken. Er atmete scharf ein und fing an, vor Entsetzen zu zittern.

„Einige versuchten... WAS?! Ernsthaft?!”

„Ja, Herr. Und manchmal nicht nur Frauen.” 

„Und ich musste mich... wie oft damit herumschlagen?”

Jinshi sah so aus, als würde es ihm schreckliche Mühe bereiten, ihre Worte zu verdauen. Als ob er hoffte, dass sie ihm jeden Moment mitteilen würde, dass es bloß ein Scherz gewesen war. Maomao konnte es ihm nicht verübeln. Jedem anderen wäre es an seiner Stelle genauso ergangen. Sie nahm ihn bei der Hand und drückte diese.

„Hoffentlich werden seine Albträume davon nicht schlimmer”, dachte sie. „Aber ich konnte es wirklich nicht länger vor ihm verheimlichen. Leider.”

„Dame Suiren zufolge... sehr oft, Herr. Genau deshalb habt Ihr bloß einer Handvoll Leuten erlaubt, Eure privaten Gemächer zu betreten, und allerlei andere Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, so wie das Tragen einer Maske oder Verkleidung, wann immer Ihr den Kaiserlichen Palast verlassen habt.”

„Das war es also... das war der Grund für dein Verhalten, nicht?... Jetzt begreife ich es…” Der junge Herr raufte sich mit seiner freien Hand die Haare, die die Apothekerin gerade gekämmt hatte, und ergriff dann ihre Hand mit seinen beiden, sie voller Verzweiflung ansehend. „Aber warum? Warum tun Leute mir solche Dinge an? Mir nachstellen... zu versuchen, in mein Zuhause einzubrechen... mir... Sachen ins Essen und Trinken zu mischen... und sogar in meinem Müll herumzuwühlen, sagtest du... Was habe ich ihnen getan?”

„Getan? Nichts. Es liegt an Eurem Aussehen, Eure Exzellenz.”

Er sah sie fragend an.

„Mein Aussehen? Was ist damit?”

Nun war Maomao an der Reihe, ihn vollkommen fassungslos anzustarren, als ihr klar wurde, dass er tatsächlich keinen Schimmer hatte, wovon sie da sprach.

„Alles klar... er ist definitiv blind…”, dachte sie.

„Habt Ihr Euch... im Spiegel angesehen?”

„Äh, ja... Und?”

Es folgten einige Augenblicke vollkommener Stille. Bis es Maomao schließlich zu bunt wurde und sie ihn mit ihrer freien Hand am Ärmel packte.

„Ihr, Herr, seid so schön wie eine himmlische Nymphe! Nein, sogar noch schöner!”, brach es schließlich aus ihr heraus. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie es wirklich aussprechen musste. War das denn nicht offensichtlich?

Jinshi starrte sie mit offenem Mund an. Er war knallrot und schien für ein paar Sekunden sogar seinen Schock von vorhin vergessen zu haben.

„Danke…”, murmelte er.

Maomaos Mund stand nun ebenfalls offen, als ihr so richtig bewusst wurde, was ihr da gerade über die Lippen gekommen war.

„Das war kein Kompliment! Oh, na gut, irgendwie schon, aber... habt Ihr es wirklich nicht selbst bemerkt?”

Er kam wieder zu sich und kratzte sich am Kopf.

„Na ja... nicht wirklich, muss ich gestehen”, meinte er schulterzuckend und schenkte ihr ein kleines entschuldigendes Lächeln. „Die einzige Schönheit, die ich gesehen habe, war deine…”

Maomao hätte sich beinahe die Hand vors Gesicht geschlagen. Jener Mann war blind! Blind! Blind! Blind! Wie, bloß wie konnte ihm nicht aufgefallen sein, wie umwerfend schön er war?! Nicht sie! Er!  

„So schön wie eine Nymphe, sagst du... Aber…”, hörte sie ihn leise weitersprechen. „Aber ist diese Schönheit dann nicht eher... ein Fluch? Wenn Menschen allein wegen meines Äußeren zu solchen Dingen fähig sind, meine ich…”

Die Apothekerin seufzte.

„Das kann ich nicht abstreiten…”

Jinshi schluckte heftig.

„M-Meine Güte, Maomao! Wie in aller Welt habe ich das bloß alles ertragen können?!”  

Maomao strich ihm sanft über den Arm, im Versuch, ihn zu beruhigen.

„Ich... weiß es nicht, Eure Exzellenz. Ehrlich nicht”, gab sie zu. „Ihr hattet wirklich schwere Lasten zu tragen. Sogar schwerer als ich es mir vorstellen kann.”

„Schwere Lasten…”, murmelte er betrübt vor sich hin. „Ich habe bereits gespürt, dass es so etwas sein würde. Und ich muss sie erneut tragen, sobald ich mein Gedächtnis zurück habe... richtig?” Seine Stimme war von tiefer Traurigkeit erfüllt, als spräche er eine Tatsache aus, die er nur mit Mühe akzeptieren konnte.  

Es zerriss Maomao das Herz, doch auch hier würde sie ehrlich zu ihm sein.

„Ja. Leider habt Ihr keine andere Wahl…”

„Keine andere Wahl…”, wiederholte er erneut in einem ganz leisen Tonfall. „Ich weiß. Das weiß ich... Ich werde nicht davonlaufen... Ich kann nicht davonlaufen... nein... ich werde mein Bestes geben. Für dich. Für mich selbst. Für alle.” 

Er ließ Maomaos Hand los und fasste sie an der Taille, sie auf seinen Schoß ziehend und ganz fest an sich drückend. Sie ließ es widerstandslos geschehen.

Jinshi vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter.

„Ich muss... ich muss mir Mühe geben... Und das tue ich... Das tue ich ehrlich... Bitte glaub mir…”

Maomao streichelte sein Haar.

„Natürlich glaube ich Euch, Eure Exzellenz. Ich sehe es doch selbst.”

„Ich gebe mir Mühe, Maomao, aber... jedes Mal, wenn ich versuche, mich meiner Vergangenheit und meinen verlorenen Erinnerungen zu stellen, tut es so weh, dass ich es kaum aushalten kann! Ich fühle mich dann immer so krank und habe solche Angst vor dem, was ich über mich, über das Leben meines früheren Ichs herausfinden könnte! Und ich verstand nie, wieso, und war so frustriert über mich selbst... Aber jetzt ist es mir klarer geworden…”

Die Apothekerin konnte warme Nässe an ihrer Schulter spüren und erstarrte für einen Moment, als sie begriff, dass Jinshi angefangen hatte zu weinen…

„Keine Ahnung mehr, was überhaupt furchterregender ist…”, wimmerte er. „Meine Albträume oder die Realität…”

***

Jinshis Körper wurde von einem solch heftigen Zittern befallen, dass es sich sogar ein wenig auf die Apothekerin übertrug. Als er fortfuhr, war seine Stimme erstickt und leise, kaum ein Murmeln nahe Maomaos Ohr, und doch fanden seine Worte trotzdem einen Weg nach draußen, als wären sie die ganze Zeit in seinem Herzen gefangen gewesen und hätten nur darauf gewartet, befreit zu werden.

Sie konnte seine von Schluchzern unterbrochene Atmung an ihrer Schulter spüren.

„Es ist so beängstigend, ohne Vergangenheit zu leben, gezwungen zu sein, ziellos in einer unbekannten Welt umherzuwandern und sich zu fragen, wer zur Hölle man eigentlich ist... aber auch nicht weniger beängstigend, zu versuchen, jene verlorene Identität wiederzufinden... fast schon so, als ob man mit jedem Schritt riskiert, in einen Abgrund zu stürzen, der noch finsterer ist als die Nacht, die einen beim lebendigen Leib verschlingen will... und dazu tut es noch so weh... aber ich muss es trotzdem weiterhin versuchen... ich muss... weil ich dir in meinem derzeitigen Zustand nur eine Last bin…”

Maomao erstarrte, als sie jene Worte vernahm, und es verschlug ihr die Sprache.

„Nicht doch!”, dachte sie erschrocken. „Hat er etwa die ganze Zeit seit dem Unfall so gedacht? Und ist das der Grund, wieso er mir heute morgen sagte, dass er sich mir zuliebe mehr Mühe geben wird?”

Auf der Stelle keimte daraufhin ein Verdacht bei ihr auf: Könnte es möglicherweise sein, dass er seine Erinnerungen tief in seinem Inneren eigentlich nicht wirklich zurückhaben wollte? Dass er sich fürchtete, sowohl vor dem Prozess des Zurückerlangens als auch vor seiner Vergangenheit selbst? So sehr, dass sein verwundeter Verstand unbewusst darauf reagierte und seinen verlorenen Erinnerungen den Weg zu seinem Gehirn versperrte?

Wenn die Dinge tatsächlich so standen, dann war es kein Wunder, dass sie mit ihren Versuchen nicht das Geringste erreichten... Je länger sie darüber nachdachte, desto logischer erschien es ihr. Ja, das musste es sein.

Maomao biss die Zähne zusammen, als sie eine ungeheure Wut verspürte, die in ihrem Inneren wie Feuer brannte.

Eine schreckliche Wut... 

...auf sich selbst.

Seit Wochen verbrachte sie Tag und Nacht an Jinshis Seite, lebte mit ihm im selben Raum, aß mit ihm am selben Tisch, schlief mit ihm im selben Bett und sogar in seinen Armen, ließ sich von ihm umarmen, drücken, küssen, hochheben... trocknete seine Tränen, wenn er weinte, beruhigte ihn, wenn er aus Albträumen hochschreckte, summte ihm ein Schlaflied vor, wenn er nicht schlafen konnte, lauschte seinem Herzschlag, wenn sie an ihn gedrückt wurde... 

... und doch... und doch hatte sie bis jetzt lediglich angenommen, dass er bloß Angst vor der nächtlichen Dunkelheit hatte und tagsüber mehr oder weniger in Ordnung war, wenn sein Kopf nicht allzu sehr wehtat... dass er nichts vor ihr verbarg, weil es für ihn nichts mehr zu verbergen gab!

Aber nur stellte sich heraus, dass der junge Herr unaufhörlich litt und sich, als ob das nicht schon genug wäre, auch noch wie eine Last fühlte. Bestimmt war das auch der wahre Grund für seine Appetitlosigkeit. Und dabei hatte er ihr einmal sogar klipp und klar gesagt, dass er nützlich sein wollte! Und sie so oft gefragt, ob sie enttäuscht von ihm sei, weil er seine Erinnerungen immer noch nicht zurück hatte! Maomao fühlte sich unfassbar dämlich, dass sie es nicht schon früher begriffen hatte. Begriffen, dass sein Leiden noch viel tiefer lag als sie gedacht hatte.

„Und ich habe ihn als blind bezeichnet…”, dachte sie, während ihre Schuldgefühle sich erneut mit voller Wucht bemerkbar machten. „Dabei war ich in Wirklichkeit noch viel blinder als er…” 

Außerdem hatte sie mit ihren Enthüllungen über die Taten jener durchgedrehten Frauen auch noch zusätzlich Salz in die Wunde gestreut und ihn zum Weinen gebracht.

Sie legte ihre kleine Hand auf eine von seinen, welche sie an der Taille festhielten.

„Ihr seid keine Last, Herr!”

Wie konnte sie das bloß wiedergutmachen? Ihm helfen, seine Ängste zu überwinden? Gab es überhaupt einen Weg? Schließlich war seine Vergangenheit wie sie war, sie konnte sie nicht ändern... und das Ganze auch nicht weniger schmerzhaft für ihn machen... 

Was, wenn er sein Gedächtnis tatsächlich für immer verlieren und so bleiben würde, wie er jetzt war? Dann hätte sie ihm mit jenem verdammten Unfall wahrhaftig das Leben zerstört!

„Doch!” Seine Stimme wurde lauter und klang so, als würde er alle Kraft in sie hineinstecken, die ihm noch geblieben war. „Glaub nicht, ich würde die Traurigkeit in deinen und Suirens Augen nicht sehen, die immer sichtbar wird, wann immer ihr denkt, ich würde nicht hinschauen!” 

„Er hat es bemerkt!”

„Natürlich machen wir uns Sorgen, Herr, aber-”

„Und ich sehe auch, wie furchtbar erschöpft du nach jeder Nacht aussiehst, in der ich dich mit meinen Albträumen wachhalte! Ich bereite nichts als Sorgen und Probleme! Also bin ich eine Last! Eine riesige Last!” Sein Weinen erfüllte den Raum und Tränen hingen in seinen langen Wimpern und durchtränkten Maomaos Kleidung, während er sie sogar noch enger an sich drückte. „So will ich dich nicht sehen! Ich will, dass du entspannt und glücklich bist, dass du dir keine Sorgen mehr machst und vor allem nicht um mich! Genau das war der Hauptgrund, weshalb ich unseren Ausflug heute so genossen habe... nicht nur, weil ich endlich nach draußen gehen konnte... sondern weil du dir endlich eine kleine Pause davon gönnen konntest, dich um mich kümmern zu müssen... Wir haben sogar einander Streiche gespielt... du hast gelächelt... Wieso kann es bloß nicht immer so sein?!”

Der letzte Satz war beinahe ein verzweifelter Schrei, ein Schrei der Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt.

Er verstummte für einen Moment und griff nach Maomaos Hand, die gerade sanft seinen Arm rieb, um sie auf sein Herz zu legen, welches wie verrückt pochte, bevor er sie erneut mit beiden Armen umschlang. Instinktiv begann sie, auch dieses zu reiben, im Versuch, es zu beruhigen.

„Und ich weiß ganz genau, dass ich dich von all jenen Problemen erlösen könnte, wenn ich nur mein Gedächtnis zurückerlange... aber trotzdem kann ich einfach nicht anders, als mich zu fürchten. Schau! Ich zittere ja schon von der bloßen Vorstellung, mich erneut diesen Schmerzen stellen zu müssen, die meinen Kopf in Stücke reißen! Und außerdem weine ich schon wieder… verdammt!” Er schniefte. „Es tut mir leid, dass ich solch ein Feigling bin! So schrecklich leid…” 

Nachdem er all dies herausgebracht hatte, brach seine Stimme endlich und er konnte nichts anderes tun, als in Maomaos Schulter hineinzuschluchzen.

Die Apothekerin sagte eine Weile lang nichts, sondern saß einfach nur still auf seinem Schoß und in seinen Armen. Dann nahm sie ihre eine Hand von seiner Brust, befreite auch irgendwie ihre andere und bewegte sich so dass sie sein verweintes Gesicht umfassen konnte, es vorsichtig von ihrer Schulter hebend und ihre Stirn an die seine drückend, ihn dazu bringend, ihr in die Augen zu sehen, während sie ihm tröstend mit den Daumen über die Wangen strich. Ihre Nasenspitzen berührten sich beinahe. Er widersetzte sich kein bisschen.

„Nein, Ihr seid kein Feigling, Herr... und auch keine Last. Es ist keineswegs Eure Schuld, dass all diese Dinge passieren, und Ihr braucht Euch auch gewiss nicht für Eure Angst zu schämen. Es ist vollkommen natürlich, sich vor Schmerzen zu fürchten, und Ihr seid schließlich auch nur ein Mensch. Und habe ich Euch nicht gesagt, dass es mir nichts ausmacht, so viel Zeit mit Euch zu verbringen? Dass Ihr mir wichtig seid? Denkt Ihr etwa, ich habe gelogen?”

„Was?! N-Nein... natürlich nicht…”

„Na also. Dann hört bitte auf, so zu sprechen, Eure Exzellenz.”

Jinshi starrte sie verblüfft und mit weit aufgerissenen und immer noch in Tränen schwimmenden Augen an.

„D-Du... Du bist so ein lieber, wunderbarer Mensch…”

Maomao seufzte bloß. Jene Meinung teilte sie nicht, beschloss jedoch, dies für sich zu behalten, und wischte ihm mit den Daumen behutsam ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.

***

Einige Minuten später lagen die beiden auch schon nebeneinander in einer innigen Umarmung im Bett (auf Maomaos Bitte hin, da Jinshis Kopfschmerzen während seines Gefühlsausbruchs schlimmer geworden waren und es außerdem ja bereits Abend war). Jinshi, der inzwischen ein Schmerzmittel geschluckt und sich schon ein wenig beruhigt hatte, aber nach wie vor leicht zitterte, hielt die Apothekerin an seine Brust gedrückt, während sie ihm zärtlich den Rücken und die Schultern massierte. Genauso wie sie es nach einem Albtraum stets tat.

„Das einzig Gute in meinem Leben bist du”, sagte der junge Herr mit erschöpfter Stimme, als habe das Weinen seine gesamte Energie aufgebraucht. Was höchstwahrscheinlich auch stimmte. Eine seiner Hände befand sich auf ihrem Hinterkopf und spielte träge mit ihrem Haar, genau wie er es während der ersten Nacht nach dem Unfall getan hatte. „Das Einzige, was meine Schmerzen lindert, was meine Angst vertreibt, zumindest vorübergehend. Ohne dich hätte ich schon längst den Verstand verloren... Du bist mein Schatz, mein heller, warmer Sonnenschein, mein Ein und Alles…”

Maomao hatte nicht die geringste Ahnung, was sie dazu sagen sollte, und konnte es auch kaum ertragen, solche Worte zu hören. Und doch unterbrach sie ihn nicht, sondern ließ ihn alles aussprechen, was er wollte, Hauptsache, es ging ihm besser. Sie streckte lediglich ihre Hand aus und wischte ihm mit dem Ärmel die Tränen weg, die nach wie vor flossen, wenn auch deutlich schwächer als zuvor.

Er drückte mehrere Küsse auf ihre Stirn.

„Dein Anblick, die Unterhaltungen mit dir, deine Umarmungen, deine Wärme, dein beruhigender Kräuterduft... alles an dir ist Medizin... solange du an meiner Seite bist, schaffe ich es irgendwie, die Kraft zum Weitermachen zu finden.”

Maomao sagte immer noch nichts, sondern blickte bloß auf seine Brust, die sich immer noch leicht zittrig hob und senkte.

„Gibt es irgendetwas, was Ihr Euch wünscht, Herr? Ehrlich wünscht?”, fragte sie auf einmal und blickte ihm ins Gesicht. Sie wusste selbst nicht so genau, wieso sie ihm solch eine Frage stellte, denn ihre Möglichkeiten waren leider begrenzt. Aber sie wollte, dass er über etwas Schönes sprach, damit er sich noch ein bisschen mehr beruhigte. Damit die Wirklichkeit ihn nicht mehr so sehr quälte. Auch wenn das Wort „Glück” ihnen beiden derzeit so fern vorkam wie der Himmel selbst... obwohl sie doch erst am Morgen eine kleine Kostprobe davon gehabt hatten...

Jinshi sah sie erstaunt an und schenkte ihr dann ein kleines Lächeln. Ein solch trauriges, dass Maomao unwillkürlich schlucken musste.

„Ich wünsche mir, dass ich mein Gedächtnis zurückbekomme, damit dein Leben wieder leichter wird…”

„Nein... nicht für mich... für Euch selbst…”

Jinshi antwortete eine ganze Weile lang nicht, sondern blickte sie bloß an. Maomao glaubte bereits, dass er ihr Gemurmel nicht gehört hatte, und öffnete den Mund, um ihre Worte zu wiederholen. Doch dann spürte sie einen erneuten Kuss auf ihrer Stirn.

„Ich wünsche mir ein Leben ohne Schmerzen... Bloß ein einfaches Leben, in dem wir zwei so glücklich sind wie wir es heute Morgen waren... Ich ertrage das Ganze dir zuliebe, weil du mir alles wert bist, alles auf der Welt, aber in Wahrheit... habe ich es so satt, Schmerzen zu leiden, Maomao…” Der letzte Satz wurde von einem leisen Schluchzen begleitet, während er fest die Augen zusammenkniff.

In Maomaos Brust wurde es für einige Momente so eng, dass sie kaum atmen konnte. Anstatt es besser zu machen, hatte sie alles nur noch schlimmer gemacht, denn es war ihr ganz entfallen, dass es noch mehr wehtun konnte, über Wünsche zu sprechen, von denen man ganz genau wusste, dass sie unerfüllbar waren. Am liebsten hätte sie sich selbst eine Ohrfeige verpasst...

Jinshis Zittern wurde stärker... kein Wunder, denn er hatte ihr gerade seine tiefsten Gedanken und Gefühle verraten... so tief, dass er sie die ganze Zeit mit aller Macht unterdrückt hatte, um ihr nicht noch mehr Kummer zu bereiten.

„Mir ist kalt…”, wimmerte er hilflos.

Immer noch ihm gegenüber auf der Seite liegend, schlang Maomao einen Arm um ihn, im Versuch, ihn mit ihrem zierlichen Körper so gut zu wärmen, wie sie nur konnte. Er drückte sie noch enger an sich und vergrub die Nase in ihrem Haar, während sie beide in das durch das Fenster einfallende Licht der untergehenden Sonne getaucht wurden.

*** 

Etwa eine halbe Stunde später war Jinshi schließlich vor Erschöpfung eingeschlafen.

Maomao lag noch einige Minuten lang einfach nur in seinen Armen und in Gedanken versunken da, nahm dann den Kopf von seiner Brust und streckte sich ein wenig, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben.

„Ihr seid kein Feigling, Herr, kein bisschen... sondern wirklich tapfer…”, flüsterte sie in die Stille hinein.

Schließlich hatte jeder Mensch seine Grenzen... und Maomao konnte sich nicht einmal ausmalen, wie sehr Jinshi während der letzten Wochen gelitten hatte... ohne auch nur ein Wort zu sagen... und dazu noch ihr zuliebe... als ob sie so einer Geste würdig sei...

„Kümmert Euch bitte nicht um mich, Eure Exzellenz... Ich bin doch diejenige, die Euch das Ganze angetan hat…” Und mit jenem kraftlosen Wispern vergrub sie das Gesicht erneut an seiner Brust.

Um seine Erinnerungen wiederzuherstellen und der ganzen Tortur endlich ein für alle Mal ein Ende zu setzen, musste Jinshi erst einmal seine Furcht bezwingen. Und Maomao hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie ihm dabei helfen könnte...

Notes:

Und das nächste Kapitel kommt in ein paar Tagen und wird ganz kurz sein.
Aber es ist ein echt wichtiges und wird genau deshalb (für den größeren Effekt) als separates Kapitel hochgeladen. Wenn es da ist, werdet ihr schon verstehen, was ich meine.

Und danach wird mir die Realität einen Strich durch die Rechnung machen und mir weniger freie Zeit zum Schreiben lassen, voraussichtlich bis Ende Juni oder sogar noch länger. Also werden die neuen Kapitel bis dahin nur etwa alle zwei Wochen rauskommen (diesmal mein ich's ernst!).

Chapter 77: Amnesie, Teil 20: Die Entscheidung

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Es war früher Abend. Die Tür zu den privaten Gemächern des Kaisers öffnete sich leise und ein ernst aussehender Mann mittleren Alters trat ein und grüßte mit in den Ärmeln verborgenen Händen und einer tiefen Verbeugung den Herrscher der Nation, der gerade mit einigen Papieren auf dem Schoß auf einem Sofa saß und sich einen Becher Wein zu den Lippen führte.

„Ihr habt mich hergerufen, Eure Majestät?”

Der Kaiser nahm einen kleinen Schluck Wein und blickte von den Papieren auf.

„Ah, Gaoshun. Ja, in der Tat. Ich wollte wissen, wie es Zuigetsu nun geht. Dein letzter Bericht ist drei Tage her.”

Mit einer Handbewegung bedeutete er dem Assistenten näher zu kommen, was dieser nach einer weiteren Verbeugung auch tat.

„Leider hat der junge Herr sein Gedächtnis noch immer nicht zurückerlangt. Aber er strengt sich an und tut alles, was er kann, auch wenn es ihm Schmerzen bereitet. Viele Schmerzen”, antwortete Gaoshun in einem ruhigen Tonfall. Es war nicht das erste Mal, dass er solche Worte aussprach.

Der Kaiser runzelte die Stirn und strich sich über den Bart. Dann gab er einen tiefen Seufzer von sich.

„Das Apotheker-Mädchen... ist immer noch bei ihm, nehme ich an?”

„Selbstverständlich, Eure Majestät. Xiaomao ist Tag und Nacht an seiner Seite und gibt ebenfalls ihr Bestes, indem sie sich um den jungen Herrn kümmert und ihn tröstet. Um ehrlich zu sein... ist sie die Einzige, die tatsächlich in der Lage ist, ihn zu beruhigen. Ihre Anwesenheit ist wie Medizin für ihn.”

Gaoshun, der die Residenz seines Herrn regelmäßig besuchte, tat alles, was er nur konnte, um zu vermitteln, wie wichtig die junge Frau für den Mondprinzen war. Nicht nur wichtig, sondern unersetzlich. Denn es wäre fatal, sollte der Kaiser mit Maomao unzufrieden werden und sie für ihr derzeitiges Scheitern bei der ihr zugewiesenen Aufgabe bestrafen wollen. Das durfte auf keinen Fall passieren. 

Der andere Mann seufzte erneut und trank noch einen Schluck Wein.

„Ich verstehe... Du hast mir bereits erzählt, wie glücklich er mit ihr im Obstgarten war.”

Gaoshun verspürte eine gewisse Erleichterung, als er jene Worte vernahm. Obwohl er natürlich wusste, dass es noch zu früh war um sich zu freuen.

„Ja. Und nicht nur dort. Er ist immer glücklich, bei ihr zu sein, man kann sie sogar als seinen stützenden Pfeiler bezeichnen. Sie lenkt ihn von seinen Schmerzen und seiner Angst ab.” Der Assistent verbarg nichts vor seinem Kaiser.

Dieser dachte einige Minuten lang nach und sprach dann erneut.

„Nun, ich habe gelesen, dass Stress sich tatsächlich negativ auf Amnesiepatienten auswirken kann.”

Er klopfte auf die Papiere auf seinem Schoß und Gaoshun sah nun, dass es sich um einige medizinische Texte zum Thema Amnesie handelte. Seine Majestät hatte sie sich wohl besorgen lassen, um sich selbst zum Thema weiterzubilden.

„Jedoch muss er eines Tages sein Gedächtnis wiederherstellen. Dies kann nicht für immer so weitergehen.” Er machte eine kurze Pause. „Also gut, Gaoshun. Ich habe eine Entscheidung getroffen.”

Der Assistent hob den Blick von den Dokumenten und verbeugte sich zum dritten Mal.

„Ich höre, Eure Majestät.”

***

Maomao lag auf Jinshis Bett und blickte mit halbgeschlossenen Augen an die Decke, während sie geistesabwesend das Haar des jungen Herrn streichelte, der ebenfalls dort lag und schlief, zusammengerollt und mit dem Kopf auf ihrem Bauch.

Sie war so müde, dass sie es kaum mit Worten zu beschreiben vermochte, und doch hielten ihre Gedanken an die vergangenen Tage sie wach.

Vor zwei Tagen waren die beiden nämlich zu Suiren gegangen, um sich einen Liebesroman aus ihrer Sammlung auszuleihen, den Maomao Jinshi vor dem Schlafengehen vorlesen könnte, und dabei hatte Jinshi in der Schlafkammer der obersten Zofe eine Kiste entdeckt und war voller Neugier darauf zugegangen…

Genau. Es war die Kiste, in der seine Spielzeuge lagen, die man ihm in seiner Kindheit weggenommen hatte.

Als Maomao und Suiren, die mit dem Aussuchen eines Buches für den jungen Herrn beschäftigt gewesen waren, endlich bemerkt hatten, was vor sich ging, war es schon zu spät: Jinshi saß mit der Kiste auf dem Schoß auf Suirens Bett und hielt bereits einen kleinen Holzsoldaten in der Hand.

Und was danach passierte, konnte man bloß als einen wahr gewordenen Albtraum bezeichnen.

Der junge Mann war so in Gedanken versunken gewesen, fast wie in einer Trance, während er das Spielzeug betrachtete, dass die beiden Frauen ihn mehrmals ansprechen und sogar an den Schultern schütteln mussten, bis er endlich reagierte. Und selbst dann hatte er einen irgendwie leeren, verlorenen Blick in seinen Augen und sagte kaum ein Wort. Die Apothekerin hatte daraufhin die Bücherauswahl abgebrochen und ihn bei der Hand genommen, um ihn zurück in seine eigene Schlafkammer zu führen. Dort hatte sie ihn gebeten, sich hinzusetzen, damit sie ihn untersuchen konnte, doch kaum hatte er dies getan, fing er auf einmal an, seinen Kopf zu halten und bitterlich zu weinen…

Und zu Maomaos Entsetzen bekam er kurz darauf auch noch Fieber.

Zusammen mit der besorgten Suiren, die gekommen war, um nach ihrem Herrn zu sehen, hatte sich Maomao um ihn gekümmert und ein Fiebermittel für ihn hergestellt. Es war an jenem Tag besonders schwierig gewesen, ihn zu beruhigen, und die darauffolgende Nacht war gefüllt mit schrecklichen Träumen… doch zum Glück normalisierte sich zumindest seine Temperatur wieder.

Nachdem all jene Tortur endlich beendet war, waren sowohl Jinshi als auch Maomao dermaßen erschöpft gewesen, dass sie beinahe zwölf Stunden lang tief und fest geschlafen hatten, und auch danach waren sie im Bett geblieben, da der arme Kerl einfach nicht die Kraft fand aufzustehen und nichts weiter tun wollte als dazuliegen und Maomao an sich zu drücken. Sie und Suiren hatten sogar eine geschlagene Stunde gebraucht, um ihn zu überreden, zumindest eine kleine Schüssel Reisbrei zu essen.

„Maomao… wieso fühle ich mich auf einmal so traurig… und einsam? Ich… verstehe das nicht…“, hatte er nach der Rückkehr aus Suirens Schlafkammer gewimmert, während ihm Tränen das gerötete Gesicht herabgerollt waren.

„Hat er da etwa dieselben Gefühle durchgemacht wie in seiner Kindheit, als man ihm diese Spielzeuge weggenommen hat?”, fragte Maomao sich nun. Möglich wäre es… denn soweit sie verstanden hatte, hatte es damals ein großes Trauma bei ihm hinterlassen. Also kein Wunder, dass ihn in seinem aktuellen Zustand der bloße Anblick der Spielzeuge krank gemacht hatte.

Sie hob den Kopf und blickte in sein schlafendes Gesicht. Zumindest ging es ihm nun endlich wieder besser.

Ein kleiner Trost und doch hatte Maomao keine Ahnung, wozu das Ganze noch führen würde. Wenn das so weiterging, würde Jinshi noch ernsthaft krank werden. Das Gefühl der Hilflosigkeit, welches die Apothekerin nun Tag und Nacht begleitete, fühlte sich langsam überwältigend und erdrückend an.

Auf einmal öffnete sich jedoch die Tür und riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte auf und sah Gaoshun eintreten. Daraufhin wollte sie sich aufsetzen, doch der Assistent gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie liegenbleiben konnte.

„Störe ich gerade, Xiaomao?”

„Nein, macht Euch keine Sorgen, gnädiger Gaoshun. Seine Exzellenz schläft.”

Gaoshun trat neben das Bett und warf seinem Herrn einen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit erneut der Apothekerin widmete. Seinem Gesichtsausdruck zufolge war er nicht bloß gekommen, um nach Jinshi zu sehen. Maomaos Magen zog sich zusammen und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Irgendwie hatte sie ein schlechtes Gefühl dabei.

„Gut. Ich muss dir nämlich etwas mitteilen.”

„Ja?” Maomaos Mund fühlte sich auf einmal fürchterlich trocken an.  

Der Assistent atmete tief durch, bevor er weitersprach.

„Ich hatte gerade ein Gespräch mit dem Kaiser. Seine Majestät hat eine Entscheidung getroffen und mir befohlen, dich auf der Stelle davon in Kenntnis zu setzen.”

„Eine Entscheidung? Welche denn?” Spürend, dass es um sie beide ging, runzelte Maomao die Stirn und legte die Arme instinktiv um Jinshis Kopf, ihn etwas enger an sich drückend.

Gaoshun blickte ihr in die Augen.

„In drei Tagen wirst du zurück nach Hause geschickt, zu deiner Apotheke im Vergnügungsviertel.”

Maomao vergaß für einen Moment, wie man atmete. Das konnte doch nicht wahr sein! Wurde sie da etwa verbannt?!

„Was?! Und was ist mit Seiner Exzellenz?!”, rief sie erschrocken aus. Ihre Gedanken rasten wie verrückt.

„...und Seine Exzellenz kommt mit dir mit. Ihr werdet dort einen Monat lang zusammen leben und danach wieder hierher zurückkehren, damit ihr die Versuche, sein Gedächtnis zurückzuholen, fortführen könnt. Seine Majestät denkt, es ist am Besten, den jungen Herrn für einige Zeit von allem abzulenken, was ihm Schmerzen bereitet.”

Nun hätte Maomao für einen Augenblick vergessen, wie man atmete UND blinzelte.

„Mmh? Was ist los?”, murmelte Jinshi schlaftrunken, den die ganze Aufregung geweckt hatte.  

Notes:

Und? Ist meine Überraschung gelungen? :)

Okay, dann sehen wir uns, wie bereits erwähnt, in etwa zwei Wochen wieder!

Chapter 78: Amnesie, Teil 21: Aufbruch und Ankunft

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Der gerade erst erwachte Jinshi rieb sich die Augen und gähnte, bevor er den Kopf langsam von Maomaos Bauch hob und sich im Bett aufsetzte, ihr ins Gesicht blickend.

„Xiaomao?”, fragte er besorgt und beugte sich über sie, um ihr mit seinen Fingerspitzen vorsichtig über die Wange zu streicheln. „Was ist denn passiert? Wieso schaust du so erschrocken? Du bist so bleich… Fühlst du dich nicht gut?”

Die Apothekerin lag immer noch schweigend und mit geweiteten Augen auf dem Rücken und machte keinerlei Anstalten, seine Fragen zu beantworten. Sie sah so aus, als würden Hunderte von Gedanken auf einmal durch ihren Kopf rasen.

„Xiaomao?” Langsam bekam Jinshi es mit der Angst zu tun. Hilflos richtete er seinen Blick auf Gaoshun, der sie beide entschuldigend ansah.

„Ich habe gerade einen Befehl des Kaisers übermittelt, Eure Exzellenz. Dieser lautet…”

Doch bevor der Assistent seinen Satz beenden konnte, kam wieder Leben in Maomao, die es (womöglich mit etwas Hilfe von Jinshis zärtlichen Berührungen) anscheinend endlich geschafft hatte, die Neuigkeit einigermaßen zu verdauen, und eine Hand hob, sich ebenfalls aufsetzend.

„Entschuldigt bitte, aber ich denke, es wäre besser, wenn ich es ihm selbst erkläre... Schließlich betrifft es ja uns beide.”

Mit der anderen Hand nahm sie Jinshis, welche gerade noch ihr Gesicht gestreichelt hatte, und drückte sie sanft.

Gaoshun nickte.

„Ich verstehe. Du hast Recht. Dann werde ich mich zurückziehen, damit ihr in Ruhe sprechen könnt. Und morgen komme ich noch einmal, um alles ausführlich mit dir zu besprechen, Xiaomao.”

Er verbeugte sich kurz vor Jinshi und verließ den Raum.

„Befehl?”, fragte dieser mit der bebenden Stimme von jemandem, der eine Menge durchgemacht hatte und noch mehr davon fürchtete. „Was für ein Befehl?”

Maomao atmete tief durch, um ihre Gedanken zu sammeln. Sie hatte den anfänglichen Schock überwunden und musste nun zugeben, dass sie sogar neugierig war, wie Jinshis Reaktion wohl ausfallen würde.

Auf einmal spürte sie, wie er sie unter den Armen fasste und auf seinen Schoß setzte, sie danach fest umarmend. Sein Körper hatte angefangen, ein wenig zu zittern.

„I-Ist es etwas Schlimmes? Dir passiert d-doch nichts, oder? Oder, Xiaomao? W-Will der Kaiser dir etwa wehtun? Das l-lasse ich nicht zu!”

Der junge Herr legte sein Kinn auf ihren Kopf, während er sich verzweifelt an sie klammerte.

„Psst…” Die Apothekerin beeilte sich, ihn zu beruhigen, indem sie sanfte Kreise in seinen Rücken rieb. „Ganz ruhig. Niemand will mir wehtun und Euch auch nicht. Ich verrate Euch gleich, worum es geht.”

Spürend, wie sich seine Muskeln unter ihren Handflächen entspannten, hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen. Ihre Blicke trafen sich.

Sie beschloss, nicht um den heißen Brei herumzureden und einfach alles so zu sagen, wie es war, sich um einen möglichst gelassenen Tonfall bemühend.

„Der Kaiser hat uns beiden befohlen, für einen Monat zu mir nach Hause zu ziehen. Ihr werdet für den Zeitraum als Bürgerlicher leben müssen.”

„Als Bürgerlicher?”

„Ja, Herr. Es tut mir leid, ich weiß, dass es unerwartet kommt. Ich war selbst überrascht, wie Ihr gesehen habt.”

Jinshi starrte sie mit weit aufgerissenen Augen und ohne sich zu rühren an. Selbst seine Umarmung wurde lockerer.

„Bitte kneif mich, Xiaomao…”, sagte er nach mehreren Minuten endlich.

Maomao hob eine Augenbraue. Sie fand seine Bitte ein wenig ungewöhnlich, tat ihm jedoch den Gefallen und kniff ihn in den Arm.

„Au! Es tut weh! Also bin ich wach! Es ist kein Traum! Es ist tatsächlich kein Traum!”

In lautes Gelächter ausbrechend, als habe er Jahre in einem dunklen Verlies verbracht und sähe nun endlich wieder die Sonne, schloss er die Arme erneut eng um die Apothekerin und ließ sich rücklings auf das Bett fallen.

„Also werde ich keine Exzellenz mehr sein?”, fragte er freudestrahlend.

„Schon, aber Ihr werdet wie ein Bürgerlicher leben müssen, also werde ich Euch, während wir dort sind, wohl oder übel nicht mehr so nennen.” Immerhin sollte ja bestimmt niemand herausfinden, dass Jinshi dort lebte, nahm sie an.

Jinshi war so glücklich, dass er keine Worte für seine Gefühle fand, sondern einfach nur erneut zu lachen begann, Maomao fest an seine Brust drückend.

Sie war etwas überrascht, dass seine Reaktion dermaßen positiv ausgefallen war, doch trotz allem wirklich froh darüber. Obwohl es ihr doch ein wenig widerstrebte, ihm mehr über den Ort zu erzählen, an dem sie bald leben würden.

***

Als Jinshi sich endlich wieder ein wenig beruhigt hatte und mit einem breiten Lächeln auf dem Rücken lag, streckte Maomao, die sich noch immer auf ihm befand, eine Hand aus und wischte ihm mit ihrem Ärmel die Freudentränen vom Gesicht. Sie sagte nichts, sondern ließ ihn einfach nur den Moment genießen.

Schlussendlich rollte der junge Herr sich auf die Seite, sodass die beiden nun nebeneinander lagen und sich erneut gegenseitig anblickten.

„Dein Zuhause, hast du gesagt?”, fragte er gutgelaunt und legte ihr die Hand auf den Hinterkopf, ihr mit dem Daumen eine Haarsträhne hinter das Ohr streichend. „Wo ist es denn?”

Eine Sekunde lang sah Maomaos Gesicht so aus, als hätte sie in etwas Bitteres gebissen. Aber sie hatte keine Wahl, denn immerhin musste er ja wissen, wo genau er den folgenden Monat verbringen würde.

„Es ist ein Bordell, Herr”, sagte sie unverblümt. „Und befindet sich im Vergnügungsviertel, nicht weit vom Kaiserlichen Palast entfernt.” 

Jetzt wo sie es aussprach, kam ihr der Gedanke, dort mit Jinshi zu leben, sogar noch absurder vor als bisher. Jinshi in ihrer armseligen, baufälligen Hütte, die so aussah, als würde sie von einem einzigen starken Windstoß einstürzen? Im Rotlichtviertel, einem rauen Ort voller Armut und Gewalt? Was für Hölle DACHTE sich der Kaiser da bloß?! Das war nicht Jinshis Welt. Er passte dort nicht hinein.

Jinshis Mund öffnete sich leicht und seine Augenbrauen hoben sich. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er mit einer solchen Antwort nicht gerechnet hatte.

„Oh... verstehe.”

„Oder genauer gesagt, eine kleine Hütte gleich neben besagtem Bordell, in dem ich geboren wurde. Als Tochter einer Kurtisane.”

„Ach?” Jinshi hörte ihr aufmerksam und interessiert zu, Maomao erneut damit überraschend, mit welcher Selbstverständlichkeit er stets alles akzeptierte, was sie ihm sagte. Ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ja. Das Schlaflied, welches ich Euch nachts hin und wieder vorsumme, stammt übrigens von einer meiner Schwestern dort, einer der Kurtisanen, meine ich. Sie hat es mir gesungen, als ich noch klein war.”

Er setzte ein kleines Lächeln auf. „Dann muss ich deiner Schwester irgendwann meinen Dank aussprechen für das schöne Lied, das mich schon so oft beruhigt hat. Und was ist mit deiner Mutter?”

Maomao sagte nichts dazu, sondern zog bloß die Augenbrauen zusammen und wendete den Blick ab. Ein dunkler Schatten huschte über ihr Gesicht, was dem jungen Herrn selbstverständlich nicht entging.

„Entschuldige! Ich habe verstanden, du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst.”

Er rieb ihr tröstend über den Rücken und die Apothekerin entspannte sich wieder. Sie räusperte sich und sprach weiter.

„Der Ort, an dem wir wohnen werden, ist die Hütte, die ich gerade erwähnt habe. Ich habe dort mit meinem Adoptivvater Luomen gelebt, das ist derjenige, der Eure Wunde genäht hat. Zwar ist er derzeit als Hofarzt im inneren Palast tätig, aber eigentlich ist er Apotheker und die Hütte seine Apotheke.”

„Ach so, verstanden... Dann hast du deine medizinischen Kenntnisse also von ihm?”

„Genau. Er ist mein Lehrmeister und der beste Arzt, den ich kenne.”

Ein kleines Lächeln erschien nun auch auf Maomaos Lippen und Jinshi tätschelte ihr den Kopf.

„Dann hat er mit dir ja wirklich ganze Arbeit geleistet”, murmelte er sanft. „Du kennst dich unfassbar gut mit Medizin und Kräutern aus.”

Maomao fand, dass sie noch viel zu unerfahren war, um ein solches Lob zu verdienen, wollte jedoch auch die Bemühungen ihres Vaters nicht herunterspielen und sagte nichts dazu.

„Also, diese Hütte, nun…” Ihr Lächeln verschwand wieder und sie blickte Jinshi in die Augen. „Sie ist schlicht, klein, alt, enthält nur das Nötigste an Möbeln und kann nicht im Geringsten mit Eurer Residenz mithalten... Werdet Ihr dort zurechtkommen? Ich meine, selbst wenn Ihr Euch an nichts erinnert, seid Ihr ja doch einen gewissen Komfort gewohnt.” 

Sie spielte kurz mit dem Gedanken, ihn stattdessen in einem der luxuriöseren Zimmer im Verdigris selbst schlafen zu lassen (die Matrone würde man mit dem nötigen Kleingeld schon umstimmen können). Aber da gab es zum Einen das Problem, dass Jinshi immer noch Angst vor der Dunkelheit hatte und ohne sie nachts nicht schlafen konnte, und andererseits, dass die, ähem, Aktivitäten, im Freudenhaus erst zur Nachtzeit so richtig losgingen.

Und falls sich aus Versehen ein Kunde oder eine der Kurtisanen in sein Zimmer verirren sollte, wäre das... etwas, was Maomao sich nicht einmal vorstellen wollte.

„Oh, das macht mir nichts aus”, antwortete Jinshi mit einem leisen Kichern. „Solange du bei mir bist, ist es mir egal, wo ich lebe.”

Seine Antwort beruhigte Maomao zwar ein bisschen, doch ihr war noch immer nicht ganz wohl beim Gedanken, Jinshi an einem solchen Ort zu wissen.

Einige Minuten lang lagen sie einfach nur da, bis Jinshi sich schließlich leicht verlegen an der Wange kratzte.

„Xiaomao... darf ich dir eine Frage stellen?”

„Ja, Eure Exzellenz?”

„Wenn du zusammen mit deinem Adoptivvater in einer Apotheke in der Stadt gewohnt hast... wie bist du dann zu meiner, ähm, Bediensteten geworden?” Er verzog beim vorletzten Wort, welches er nach wie vor nicht mochte, leicht das Gesicht. 

Maomao zuckte zunächst zusammen, doch dann seufzte sie und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Ich werde Euch ein andermal davon erzählen, in Ordnung?” 

Sie wollte ihn aktuell nicht mit Erinnerungen und deren Auswirkungen plagen. Vor allem nicht vor der Abreise.

„Alles klar.” Er küsste sie lächelnd auf die Stirn. „Hah… ich bin so glücklich, dass ich dein Zuhause nicht nur sehen können, sondern sogar mit dir dort leben werde und auch noch als Bürgerlicher. Als wäre mein größter Wunsch wahr geworden…” Seine Wangen färbten sich leicht rot.

Maomao erinnerte sich an das schmerzhafte Gespräch, welches sie vor einigen Tagen geführt hatten.

Doch auf einmal stockte Jinshi.

„Oh… Moment, aber ist das Ganze denn in Ordnung für dich?”

„Na ja… das Vergnügungsviertel ist nicht gerade das, was man einen sicheren Ort nennt, also habe ich tatsächlich meine Bedenken.”

„Nein, ich meine für dich persönlich… es ist ja ein Befehl und nicht deine eigene Entscheidung.”

Maomao seufzte erneut.

„Ich habe nichts dagegen.”

Und auch diesmal meinte sie dies vollkommen ehrlich. Es war wahrhaftig erstaunlich, wie sehr jene paar Wochen mit dem amnestischen Jinshi sie verändert hatten. Früher hätte sie bei der bloßen Vorstellung, allein mit ihm leben zu müssen, zu fauchen angefangen, aber jetzt… ging es für sie absolut in Ordnung.

***

Und ehe sie sich versahen, waren die drei Tage auch schon wie im Flug vergangen.

Maomao schielte zu Jinshi, der neben ihr an einem Fenster im Korridor seiner Residenz stand. Noch nie hatte sie den jungen Adeligen in solch schlichter Kleidung gesehen. Oder doch, ein einziges Mal, aber das war damals bloß eine Verkleidung für einen Tag gewesen und zählte ihrer Meinung nach nicht wirklich. Im Gegensatz dazu würde er sich diesmal aber nicht nur wie ein Bürgerlicher kleiden, sondern tatsächlich wie ein solcher leben. Einen ganzen Monat lang.

Aus dem Fenster konnten sie die Kutsche draußen stehen sehen, welche sie zu ihrem Ziel bringen würde. Gaoshun war gerade damit beschäftigt, ihr Gepäck ins Innere zu verfrachten. Maomao hatte ihm angeboten, zumindest ihre Kräuter und Werkzeuge für die Medizinherstellung selbst zu tragen, doch der Assistent hatte höflich abgelehnt. So wie er es auch mit Jinshis Hilfsangebot getan hatte.

Jinshi hatte ein breites Lächeln im Gesicht und summte fröhlich eine leise Melodie vor sich hin. Ehrlich gesagt, sah er aktuell so unbeschwert und gesund aus, dass es Einem schier unglaublich erscheinen mochte, dass er vor weniger als einer Woche noch fiebernd und an schrecklichen Kopfschmerzen leidend im Bett gelegen war und kaum die Kraft gehabt hatte, auch nur aufzustehen. Die Art und Weise, wie er wimmernd und weinend ihren Namen gerufen hatte, hatte sich jedoch in Maomaos Gedächtnis eingebrannt. So wie es aussah, für immer.

„Hoffentlich bleibt sein Gesundheitszustand auch weiterhin so stabil”, dachte sie. Die Chancen standen gut. Allein die Nachricht, dass er zumindest vorübergehend das einfache Leben führen können würde, von dem er geträumt hatte, schien ihn mit einer bisher nie dagewesenen Energie zu erfüllen, und auch sein Appetit war mittlerweile zur Normalität zurückgekehrt.

Und dabei waren sie noch nicht einmal abgefahren. Oh, wie sehr die Psyche sich doch auf den Körper auswirken konnte...

Endlich bemerkte Jinshi ihre Blicke und klopfte ihr leicht auf den Rücken.

„Gleich geht es los, Xiaomao!”

„Ja.”

Maomao musste zugeben, dass er sie mit seiner Vorfreude doch ein klein wenig angesteckt hatte. Alle Bedenken mal beiseite, wurde ihr doch irgendwie warm ums Herz, wenn sie an ihre armselige Hütte dachte. Kein Wunder, denn immerhin war diese ihr Zuhause, der Ort, an dem ihr Vater sie großgezogen und ihr so viele Dinge beigebracht hatte. Auch wenn Luomen selbst aktuell im inneren Palast lebte.

Und in gewisser Weise verspürte sie sogar Erleichterung bei der Vorstellung, dem kaiserlichen Palast für einige Zeit zu entfliehen. 

Denn als sie einige Tage nach ihrem Ausflug in den Obstgarten in den inneren Palast gegangen war, um Kräuter zu sammeln (nicht nur ihr Kamillenvorrat war knapp geworden), wurde sie umgehend gesichtet und von nicht weniger als zwanzig feindselig gestimmten Palastdamen umzingelt, die sie über ihre Beziehung zu Jinshi ausfragen wollten. Die Apothekerin war gezwungen gewesen, sie so gut sie konnte zur Seite zu schubsen und sich eiligst auf den Rückweg zu machen, um vor ihren Fragen zu flüchten. Sie wusste, dass sie gegen so viele keine Chance hatte.

Jenen vier Frauen im Obstgarten musste Jinshis Hand auf ihrer Schulter aufgefallen sein... Verdammt! Und selbstverständlich konnten sie die Klappe nicht halten.

Sie hoffte sehr, dass sich all die Gerüchte über sie und Jinshi während des einen Monats wieder legen würden.

Die Apothekerin tat einen tiefen Atemzug. Während der letzten paar (höchst stressigen) Tage war sie damit beschäftigt gewesen, Jinshi auf das neue Leben so gut es ging vorzubereiten, indem sie ihm unter anderem beibrachte, wie man sich ohne fremde Hilfe umzog und sich die Haare wusch. Und allerlei andere nützliche Details über das Leben als Nichtadeliger.

„In meinem Brief an das Mütterchen habe ich sie gebeten, dafür zu sorgen, dass er das Bad am Abend für einen bestimmten Zeitraum für sich allein hat”, dachte sie. „Selbstverständlich wird die Alte ein hübsches Sümmchen dafür verlangen, aber ist ja nicht so, als ob Seine Exzellenz arm wäre, also sollte es kein Problem darstellen. Auf keinen Fall werde ich ihn zusammen mit den männlichen Bediensteten des Freudenhauses baden lassen, die würden sein Gesicht sehen.”

Und sie konnte ja schlecht von ihm verlangen, im Bad eine Maske zu tragen.

Apropos, Maske...

Maomao zupfte an Jinshis Ärmel und bat ihn mit einer Handbewegung, sich zu ihr zu beugen. Er gehorchte und sie nahm ein Stück dünnen Stoffes mit mehreren angenähten Bändern heraus, welches sie ihm sorgfältig um den Hals band, sodass es bei Bedarf einfach hochgezogen werden konnte.

„Bitte nutzt diese Maske, um Euch zu bedecken, wenn Leute in der Nähe sind, die Euch sehen könnten, so wie ich es bereits erklärt habe. Nur eine Handvoll Menschen, mich eingeschlossen, darf Euer Gesicht sehen.” 

Sie hatte zunächst in Erwägung gezogen, ihm statt der Maske eine falsche Brandnarbe auf die Wange zu malen, doch es wäre ein bisschen zu umständlich, sie jeden Tag erneuern zu müssen, sowohl für sie als auch für ihn.

Ständig auf der Hut zu sein und eine Maske tragen zu müssen, wenn sie nicht unter sich waren, war zwar auch nicht sehr schön, aber wenn auch nur eine der jungen Frauen in Verdigris seine Schönheit erblicken und sich Hals über Kopf in ihn verlieben sollte, würde die Alte Maomao die Hölle heiß machen... mal ganz zu schweigen davon, dass ein solch umwerfend schöner junger Mann zweifellos die Aufmerksamkeit einiger lüsterner Kunden und anderer Perverser jenes Viertels auf sich ziehen könnte…

Maomao rieb sich kurz über das Gesicht. An solche Dinge wollte sie gewiss nicht denken.

„Und geht auf keinen Fall allein nach draußen, vor allem nicht abends oder nachts”, fügte sie hinzu. Zwar bezweifelte sie, dass Jinshi so etwas tatsächlich tun würde, aber eine Warnung war nie verkehrt. „Das Vergnügungsviertel ist ein gefährlicher Ort, vor allem für diejenigen, die nicht dort aufgewachsen sind.”

Jinshi nickte.

„Verstanden.”

Doch Maomao war damit noch immer nicht ganz zufriedengestellt.

„Ich meine es Ernst, Herr. Bitte versprecht mir, dass Ihr auf mich hören werdet.”

„Ich verspreche es, Xiaomao.” Er schloss sie in die Arme und drückte sie fest an sich. Nach Parfüm und Weihrauch roch er zwar nicht mehr, aber für Maomaos empfindliche Nase immer noch unverkennbar nach sich selbst. „Mach dir keine Sorgen, ja? Alles wird gut.”

„Ich werde dich beschützen, mein Schatz…”, murmelte er so leise in ihr Haar hinein, dass die Apothekerin es nicht hören konnte.

Eine Weile lang standen sie noch so vor dem Fenster und als sie sahen, dass alles bereit war und Gaoshun kurz davor loszuschreiten, um sie zu holen, nahmen sie sich schweigend bei der Hand und begaben sich zum Ausgang, wo Suiren bereits auf sie wartete.

Die oberste Zofe hatte ein kleines Lächeln im Gesicht, doch Maomao konnte ganz deutlich die Sorge um ihren Herrn in ihren Augen sehen. Verständlich. Wer würde an ihrer Stelle denn nicht besorgt sein?

Jinshi und Maomao blieben vor ihr stehen und Suiren legte der Apothekerin ihre Hände auf die Schultern.

„Bitte pass an meiner statt gut auf meinen jungen Herrn auf, Xiaomao. Ich weiß, dass er bei dir in den besten Händen ist.”

„Natürlich werde ich das.” Maomao senkte den Blick. „Ihr vertraut mir wirklich sehr, Dame Suiren.” Ihre Stimme wurde leiser. Sie konnte immer noch kaum glauben, welch großes Vertrauen ihr die Leute schenkten. Ein dermaßen großes, dass sie ihr sogar Jinshis Leben anvertrauten, und das traf nicht nur auf Suiren zu, sondern auch auf Gaoshun (der ja die Wahrheit über den Unfall kannte) und selbst auf den Kaiser... und doch hatte sie nach wie vor das Gefühl, dass sie ein solches Vertrauen nicht so recht verdiente.

Aber für solche Gedanken hatte sie jetzt keine Zeit. 

Suiren blickte ihr in die Augen.

„Xiaomao, wenn es eine junge Frau gibt, der ich meinen Herrn anvertrauen würde, dann bist du das. Du hast mehr als einmal bewiesen, dass du dessen würdig bist.”

Maomao sagte nichts mehr dazu, sondern verbeugte sich bloß leicht als Zeichen ihres Dankes.

Als Nächstes wendete Suiren sich Jinshi zu.

„Bitte passt auch Ihr selbst auf Euch auf, junger Herr, und hört auf das, was Xiaomao Euch sagt.”

„Klar doch. Danke für alles, Suiren. Wir sehen uns in einem Monat.” 

Jinshi ließ Maomaos Hand los und gab der älteren Dame eine herzliche Umarmung.  

Die sonst so gefasste Suiren war so überrascht, dass sie für einen Moment erstarrte.

„J-Junger Herr…”

Doch schon bald erwiderte sie seine Umarmung. Ihre Stimme klang so, als würde sie Tränen zurückhalten.

***

Als sie einige Minuten später nebeneinander in der Kutsche saßen, hielten Jinshi und Maomao sich weiterhin bei der Hand. Er hatte erneut angefangen, vor sich hin zu summen.

Dann gab Gaoshun dem Pferd den Befehl zum Aufbruch und als das Gefährt sich gemächlich in Bewegung setzte, verspürte Maomao ein leichtes Ziehen in der Magengegend.

Bei dem Gedanken, mehrere Wochen lang mit einem amnestischen Jinshi an einem Ort zu leben, an dem es keinen richtigen Arzt gab, wurde ihr erneut trotz all der positiven Emotionen etwas mulmig zumute. Wie gerne hätte sie ihren Vater in der Nähe gewusst, doch dieser musste nun einmal im inneren Palast bei der schwangeren Gemahlin Gyokuyou bleiben. Dies ließ sich nicht ändern.

Am vorherigen Tag war er noch vorbeigekommen, um vor der Abreise Jinshi zu untersuchen und mit Maomao zu sprechen. Unter vier Augen. Schließlich war er einer der Menschen, die Maomao am Allerbesten kannten, also hatte er ganz bestimmt gespürt, welche Sorgen sie plagten, und wollte ihr diese nehmen.

Maomao presste die Lippen zusammen, als sie sich daran erinnerte, wie Luomen ihr sanft den Kopf getätschelt und gesagt hatte, dass sie auch ohne ihn zurechtkommen würde, da sei er sich sicher. 

Auch er setzte solch großes Vertrauen in sie. Tja. So wie es aussah, war die Einzige, die das nicht tat, die Apothekerin selbst…

Sie drehte den Kopf zur Seite und blickte nachdenklich auf Jinshis Hand, welche ihre eigene festhielt.

Wenn sie so darüber nachdachte, gab es, um ehrlich zu sein, nirgendwo einen Ort, an dem Jinshi wirklich hundertprozentig sicher war, egal ob mit Arzt oder ohne. Selbst das Leben in seiner eigenen Residenz schadete ihm aktuell. Nicht körperlich zwar, aber durchaus seelisch, und jener seelische Schaden wandelte sich unvermeidlich zu einem körperlichen, wurde zu Schmerzen, Erschöpfung, Fieber. Jinshi brauchte eine Auszeit davon. Dringend.

„So ironisch es auch klingen mag, aber wenn man es so betrachtet, ist das Vergnügungsviertel momentan eigentlich einer der sichersten Orte für ihn”, dachte sie, sich an die Männer erinnernd, die versucht hatten, Jinshi während des Jagdausfluges mit jenen Faustrohren zu ermorden. Oder an das eine Mal, als er während eines Rituals beinahe von einem herabstürzenden Balken zu Tode zerquetscht worden wäre. „Zwar weiß ich immer noch nicht, wer er in Wirklichkeit ist, aber auf jeden Fall wichtig genug, dass es Leute gibt, die ihn tot sehen wollen. Sollte irgendeiner von denen von seinem derzeitigen Zustand erfahren, ist sein Leben noch stärker in Gefahr als jemals zuvor. Das Leben als Bürgerlicher im Vergnügungsviertel, wo ihn wohl keiner jemals vermuten würde, würde dieses Risiko erheblich verringern... und außerdem hat Verdigris keinerlei Verbindung zu seiner Vergangenheit, sodass dort keine schmerzhaften Erinnerungen auf ihn lauern würden... hoffe ich.”

Auf einmal wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als sie spürte, wie Jinshi ihre Hand noch etwas fester drückte, und blickte zu ihm auf.

Er erwiderte ihren Blick und schenkte ihr ein verlegenes Lächeln.

„Jetzt wo wir tatsächlich unterwegs sind, muss ich zugeben, dass ich doch ein klein wenig nervös bin.”

„Das überrascht mich nicht. Macht Euch keine Sorgen, Eure Exzellenz, schließlich bin ich bei Euch. Alles wird gut.”

Eine zarte Röte erschien auf Jinshis Wangen und er hob sich ihre Hand an die Lippen, um sie als Zeichen seines Dankes liebevoll zu küssen. Dann stupste er ihr mit dem Zeigefinger seiner freien Hand grinsend auf die Wange.

„Aber Xiaomao, ich bin keine Exzellenz mehr, schon vergessen?”, ermahnte er sie sanft.

„Noch sind wir nicht angekommen.”

Daraufhin blies Jinshi leicht frustriert die Wangen auf. Maomao seufzte resigniert und stupste ihm nun selbst mit dem Zeigefinger auf eine davon.

„Ist gut... Jinshi.”

Sie hatte in Betracht gezogen, sich für ihre Zeit im Vergnügungsviertel einen falschen Namen für den jungen Herrn auszudenken, überlegte es sich jedoch anders, denn auch wenn es von außen nicht sichtbar war, hatte er doch einen Hirnschaden erlitten, demnach wollte sie es tunlichst vermeiden, sein Gehirn zu verwirren und noch möglicherweise zu überfordern (dabei bequemerweise vergessend, wie häufig sie es ihm während der letzten Wochen auf seine Fragen hin bereits mit Information über ihre Kräuter und Medikamente gefüllt hatte). 

Und außerdem glaubte sie sowieso nicht, dass so viele Leute im Viertel den Namen des „schönen Eunuchen” des Kaiserpalastes kannten, also nahm sie an, dass es mehr oder weniger in Ordnung war, ihn dort Jinshi zu nennen... zumindest, wenn sie sich allein in der Hütte befanden.

Aber ach, es würde ihr wirklich schwer fallen, sich daran zu gewöhnen. Außerordentlich schwer.

Doch sein Lächeln war es allemal wert. Nach all dem, was sie bereits durchgemacht hatten, hatte Maomao gelernt, jede Minute seines Glücks zu schätzen.

***

Die Matrone des Freudenhauses stand in der Eingangshalle des Gebäudes und zog wie immer seelenruhig an ihrer Pfeife. Der nach Tabak riechende Rauch stieg ihr aus Mund und Nase und schwebte Richtung Decke.

Es war kurz nach Mittag und Verdigris strahlte eine Ruhe aus, welche einen fast schon unglaublichen Kontrast zu dem allnächtlichen geschäftigen Treiben darstellte. Die meisten Kurtisanen schliefen, erschöpft von ihren kräftezehrenden Nächten, und die Bediensteten verrichteten währenddessen gewissenhaft ihre Arbeit, um das Etablissement auf die nächste Nacht vorzubereiten.

„Pass auf jeden Fall auf, dass dein neuer Mitbewohner in der Nähe meiner Mädchen und Kunden stets eine Maske trägt”, sagte die alte Frau, sich die freie Hand in die Hüfte stemmend und die vor ihr stehende Maomao mit einem strengen Blick musternd. „Sonst ruiniert er mir mit seiner Schönheit noch das Geschäft.”

Die Apothekerin sah sie stirnrunzelnd an.

„Und wie immer nimmt sie kein Blatt vor den Mund”, dachte sie. „Typisch.”

„Ist gut, Mütterchen, das weiß ich doch. Er wird dir keine Probleme bereiten, das versichere ich dir. Ach, und übrigens…” Sie verengte die Augen. „...Er kann dich hören.”

Maomao funkelte sie finster an und drückte die Hand von Jinshi, der sichtlich unbehaglich neben ihr stand und zu Boden starrte. Die untere Hälfte seines Gesichtes war unter seiner Maske verborgen und er hatte die Schultern bedrückt sacken lassen.

Zu ihm persönlich war die Matrone zwar höflich gewesen, als er vor etwa einer Viertelstunde zusammen mit Maomao ihre Schreibstube betreten hatte, und hatte ihn mit leuchtenden Augen und einem breiten Lächeln willkommen geheißen und vor Freude sogar einen Tanz aufgeführt (was aber wohl eher größtenteils an der großen, randvoll mit Goldmünzen gefüllten Kiste lag, die Gaoshun vor ihren Füßen abgestellt hatte, bevor er zur Kutsche zurückgekehrt war, um das Gepäck in Maomaos Hütte zu tragen), aber nun war sie wieder zu ihrem gewohnten Selbst zurückgekehrt, wie Maomao missmutig feststellte.

Die Apothekerin strich ihm mit ihrer anderen Hand beruhigend über den Arm. Sie selbst war natürlich an die Art der Alten gewohnt, aber er nicht. Falls diese ihn mit ihren Worten so traurig gemacht hatte, dass er sich erneut für eine Last hielt, würde Maomao es ihr heimzahlen, das schwor sie sich. Egal, wie hart diese sie dafür bestrafen sollte.

„Normalerweise ist sie umso höflicher, je reicher ein Kunde ist. Liegt es vielleicht daran, dass er solch einfache Kleidung trägt? Oder dass er sein Gedächtnis verloren hat? Tsk... und das nachdem sie so viel Geld bekommen hat... Aber wie auch immer: Mit mir kann sie reden, wie sie will, aber nicht mit ihm!”, dachte sie zornig und schnalzte mit der Zunge.

„Xiaomao... ich... will nichts ruinieren…”, sagte Jinshi leise, den Blick immer noch nach unten gerichtet.

„Und das wirst du auch nicht, Jinshi. Komm, gehen wir.”

Ihr Versprechen ihm gegenüber hielt sie jedenfalls. Seit sie aus der Kutsche ausgestiegen waren, waren ihr noch kein einziges Mal die Worte „Exzellenz” und „Herr” über die Lippen gekommen.

Sie zog sachte an seiner Hand und wollte bereits Richtung Ausgang losgehen, um sich zur Hütte zu begeben, dabei überlegend, wie sie ihn wohl aufheitern könnte, während die alte Frau sich grinsend wieder in ihre Schreibstube zurückzog, wohl um ihre „Entschädigung” zu zählen.

Doch dann wurden die beiden von einer freudigen Stimme aufgehalten und drehten sich um. Eine wunderschöne Frau mit einem sehr großzügigen Dekolleté, entblößten Schultern und violettem Haar, welches von einer Blume geschmückt war, kam strahlend auf sie zu.

„Du bist zurück, Maomao! Und da ist ja auch unser geschätzter Gast!”

„Hallo, Schwester Pairin.”

Maomao entspannte ihre Gesichtszüge wieder und ließ sich widerstandslos von der anderen Frau umarmen und an deren üppige Oberweite drücken.

Ihre große Schwester hatte wundervolle Laune und sah höchst zufrieden aus, also nahm die Apothekerin an, dass sie vergangene Nacht wohl einen sehr „aktiven” Kunden gehabt hatte, der höchstwahrscheinlich bis zum Morgen geblieben und erst kürzlich gegangen war. Sie fragte sich, ob es sich dabei wohl um Lihaku handeln könnte. 

„Meimei und Joka sind gerade auf ihren Zimmern. Soll ich sie ebenfalls herrufen lassen, damit sie euch beide grüßen? Wir haben dich schon lange nicht mehr gesehen!”

Pairin rieb liebevoll ihre Wange an Maomaos, bevor sie sie schließlich losließ. Aus dem Augenwinkel sah die Apothekerin, dass Jinshi wieder eine aufrechte Haltung eingenommen hatte und sie neugierig beobachtete. 

„Nein, schon gut. Das geht auch später, lass sie sich ausruhen.”

„Und außerdem würde Schwester Joka garantiert nicht glücklich darüber sein, außerhalb ihrer Arbeitszeit einen Mann willkommen heißen zu müssen.”

In ihrem Brief an die Matrone hatte Maomao geschrieben, dass die Prinzessinnen die Einzigen waren, die über Jinshi Bescheid wissen durften, demnach hatte die Alte die drei in das Geheimnis eingeweiht. 

Endlich wanderte der Blick der Kurtisane zu dem Neuankömmling. Maomao vertraute zwar ihrer Schwester und wusste auch, dass er ihr nicht ihr Typ war, doch sie konnte trotzdem nicht anders, als sich leicht anzuspannen.

„Ach, wer hätte gedacht, dass unsere Maomao eines Tages endlich einen Jungen mit nach Hause bringen würde”, witzelte Pairin und kicherte leise, sich den Mund mit einer Hand bedeckend.

„Schwester, hör auf!” Maomao spürte, wie ihre Wangen etwas wärmer wurden, und sah ebenso, wie Jinshis Augen sich leicht weiteten (während er bestimmt unter der Maske errötete). „Es ist nicht das, was du denkst.”

„Oh, wirklich? Und wieso hältst du dann seine Hand?” Die ganze Zeit hatte Maomao Jinshis Hand nicht für eine Sekunde losgelassen.

Die Apothekerin schnaubte kurz, jene Frage nicht mit einer Antwort würdigend. Stattdessen wendete sie sich an Jinshi.

„Das ist Pairin, eine meiner älteren Schwestern, von denen ich dir erzählt habe. Du brauchst dich nicht vor ihnen zu fürchten und musst in ihrer Nähe auch nicht besonders vorsichtig sein. Sie werden dir nichts tun. Das stimmt doch, oder?” Sie sah mit verengten Augen zu Pairin, welche daraufhin beide Hände hob.

„Aber natürlich, ich werde ihn nicht anrühren, versprochen.”

„Siehst du, Jinshi? Alles in Ordnung.”

Maomao konnte spüren, wie er unter seiner Maske lächelte, und sich entspannte. Ein Stein fiel ihr vom Herzen.

„Wenn du ihnen vertraust, dann vertraue ich ihnen ebenso”, sagte er und verbeugte sich kurz in Pairins Richtung. „Vielen Dank, dass ich hier bleiben darf.”

Das Lächeln der Frau wurde noch breiter. 

„Der Dank gebührt in dem Fall nicht mir, sondern der Matrone.”

„Die hat schon ein ausreichendes Dankeschön erhalten”, grummelte Maomao, an die Goldmünzen denkend.

„Doch, du hast auch ein Danke verdient, Schwester”, dachte sie währenddessen. „Dafür, dass er wieder lächelt.”

„Aber ich muss schon sagen”, ergriff die Kurtisane wieder das Wort. „Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass du mit dem Mann aus dem Kaiserlichen Palast, der dich freigekauft hat, eines Tages hier leben würdest.”

„Ich nehme an, du weißt über den Grund Bescheid. Bitte behalte die Wahrheit über seinen Zustand für dich und das Gleiche gilt auch für Schwester Meimei und Schwester Joka.”

„Aber ja doch.”

Ein paar Minuten später verabschiedeten Jinshi und Maomao sich schließlich von Pairin und brachen endlich zu der Hütte auf, wo Gaoshun bestimmt schon auf sie wartete, denn selbstverständlich würde der Assistent nicht ohne ein Wort einfach wieder abfahren.

„Freigekauft?”, murmelte Jinshi leicht verwirrt vor sich hin, während sie über Verdigris' Türschwelle traten. Maomao vermutete, dass sie ihm ihre gemeinsame Geschichte dann wohl doch früher als gedacht erzählen müsste. Hoffentlich würde diese ihm keine neuen Schmerzen bereiten...

„Nicht das, was ich denke, hm?”, meinte Pairin währenddessen leise, während sie ihnen lächelnd nachblickte. „Ach, Maomao... merkst du denn wirklich nicht, wie er dich anschaut?”

Notes:

Und das nächste Kapitel kommt erneut in etwa zwei Wochen :)

Chapter 79: Amnesie, Teil 22: Erster Tag im neuen Leben (1)

Notes:

Hier bin ich wieder, deutlich früher als erwartet!
Es ist so, dass ich vor einigen Tagen plötzlich eine neue Idee bekam, die ich unbedingt in dieses Kapitel mit einschließen will, aber das würde es aller Wahrscheinlichkeit nach viel zu lang machen, also hab ich beschlossen, es in zwei Teile zu teilen.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Hand in Hand verließen die beiden das Verdigris-Gebäude und bogen in eine Seitenstraße ein. Ein trockener, jedoch nicht mehr sehr heißer Sommerwind wehte ihnen ins Gesicht und ließ ihre Haare, Ärmel und den Saum von Jinshis Maske flattern. Maomao passte beim Gehen darauf auf, dass Letztere nicht hochflog und sein Gesicht versehentlich entblößt wurde.

„Deine Schwester ist wirklich nett”, ergriff Jinshi nach einer Weile das Wort. „Die ältere Dame dagegen ist wenig... ähm…” Er kratzte sich mit der freien Hand verlegen am Hinterkopf, im Versuch, ein passendes Wort zu finden.

Maomao seufzte.

„Hah... schon verstanden. Ja, so ist sie eben. Eine geizige, geldgierige alte Schachtel. Nimm dir ihre Worte nicht allzu sehr zu Herzen. Solange du auf mich hörst, bekommst du keine Probleme mit ihr.”

Mit jedem Schritt, den sie taten, wandelte sich die Umgebung immer mehr und wurde zu der, die Maomao ihr Leben lang kannte.

Sie blickte, ohne eine Miene zu verziehen, geradeaus, während Jinshi sich umsah. Seine Augenbrauen bogen sich nach unten und seine Pupillen schrumpften leicht, als er die verfallenen Häuser und in Lumpen gekleideten Bettler sah, die an die Hauswände gelehnt saßen oder lagen und auf ein wenig Kleingeld hofften. In einer Seitengasse lag eine dürre Frau in einem schmutzigen Kleid und ohne Nase. Vielleicht schlief sie bloß oder vielleicht... auch nicht.

Der junge Mann schluckte schwer.

 „Xiaomao…”

„Ja, ich weiß”, antwortete sie leise. „Genau deshalb habe ich dich mehrmals gewarnt, nicht allein auszugehen. Gewalt und Armut sind hier an der Tagesordnung. Und nein, wir können ihnen nicht helfen”, fügte sie hinzu, sich bereits ausmalend, was er als Nächstes fragen könnte.

Leicht angespannt blickte sie ihm in die Augen, in die sich von dem trostlosen Anblick der Seitenstraße Traurigkeit geschlichen hatte. Jetzt wo er die Situation im Viertel mit eigenen Augen gesehen hatte, könnte er möglicherweise anfangen zu bereuen, dass er hergekommen war. In einem solchen Fall wüsste Maomao ehrlich nicht, was sie tun sollte. Sie begann sich erneut zu überlegen, wie sie ihn aufheitern, ihn ein wenig von dem Elend auf der Straße ablenken könnte.

Doch zu ihrer Verwunderung war dies überhaupt nicht nötig.

„Und du bist hier aufgewachsen... du armes Ding…” Jinshi senkte den Kopf und drückte ihre Hand noch ein wenig fester. Dann blickte er sie erneut an und Maomao stellte angenehm überrascht und erleichtert fest, dass seine Augen ihren einstigen Glanz wiedererlangt hatten und er sie wieder ganz sanft ansah. „Mach dir um mich keine Sorgen. Ich habe dir ja gesagt, dass es mir egal ist, wo ich lebe, solange du bei mir bist.”

Bestimmt hatte er ihre Anspannung spüren können.

„Ich werde dich auf jeden Fall beschützen, mein Schatz… darauf kannst du dich verlassen…”, murmelte er erneut so leise, dass sie es nicht hören konnte.   

***

Nachdem sie sich von Gaoshun verabschiedet hatten und dieser gegangen war (sich unterwegs mehrmals mit sorgenvoller Miene zu ihnen umdrehend, fast wie ein Vater, der gezwungen war, seine Kinder für einige Zeit bei irgendwelchen Verwandten zurückzulassen), betraten Jinshi und Maomao schließlich die Hütte, in der sie die nächsten vier Wochen allein miteinander leben würden. Als Maomao die Tür hinter ihnen schloss, nahm Jinshi seine Maske ab und sah sich neugierig um, während die Apothekerin seine Hand losließ, um das Fenster zum Lüften zu öffnen.

Bei der Hütte handelte es sich um ein beengtes Holzhaus mit Lehmboden, welches durch eine erhöhte Plattform in zwei „Räume” unterteilt war. Unten stand ein Tisch mit zwei Stühlen, ein großes Regal mit verschiedenen Fläschchen, Dosen und anderen rätselhaften Gegenständen, ein Schrank, ein Fass mit Wasser und Schöpfkelle und ein Ofen und oben befanden sich ein kleinerer Schrank mit vielen Schubladen, ein kleiner Tisch und zwei Schilfmatten auf dem Boden, während draußen vom Dach mehrere Bündel getrockneter Kräuter herabhingen und um das Haus herum verschiedene Pflanzen und auch einige Bäume wuchsen.

„Man merkt gleich, dass das hier eine Apotheke ist”, kommentierte Jinshi gutgelaunt, als sein Blick auf die Werkzeuge und Päckchen mit Kräutern fiel, die Luomen auf dem kleinen Tisch zurückgelassen hatte. „Es riecht nach Kräutern. So wie du.”

Das Gepäck hatte Gaoshun ins Haus getragen und in der Nähe des großen Schrankes abgestellt. Maomao nahm sich vor, sich später am Tag darum zu kümmern.

 „Nun, wie du siehst, ist das gesamte Haus kleiner als deine Schlafkammer. Also wird es leider ein wenig eng hier, Jinshi.”

Für zwei Leute ging der Platz gerade noch in Ordnung. Oder zumindest dachte Maomao das, die es gewohnt war, ihn mit ihrem Vater zu teilen. Wäre da auch nur eine Person mehr, hätten sie ein Problem.

Statt enttäuscht zu sein, gab Jinshi ein Kichern von sich und klopfte ihr liebevoll auf die Schulter.

„Da hast du Recht. Aber mir gefällt es! Meine Residenz ist meiner Meinung nach sowieso viel zu groß. So groß, dass man sich dort verlaufen könnte! Da ist mir solch ein kleines, kompaktes Haus sogar lieber. Ich bin erst seit einigen Minuten hier und habe jetzt schon das Gefühl, leichter atmen zu können.” Er machte demonstrativ einen tiefen Atemzug. An die unangenehme Umgebung auf der Straße schien er, so wie es aussah, nicht mehr zu denken. Zum Glück.

Maomao setzte ein kleines Lächeln auf. Sie zeigte ihm alles und ließ ihn auch in die Schränke hineinblicken. Im großen befanden sich einige Bücher und Notizbücher, Alltagsgegenstände und Kleidungsstücke und der kleinere war gefüllt mit verschiedenen getrockneten Kräuter, Verbandsmaterial und Arzneimitteln. Zu guter Letzt stellte sie sich neben die Schilfmatten und deutete auf eine davon.

 „Die hier gehört meinem Vater und ist dein Schlafplatz und die andere ist meine. Es kann sein, dass dir in den ersten Tagen der Rücken wehtut, aber das kommt daher, dass du es nicht gewohnt bist, auf dem Boden zu schlafen.”

„Alles klar.” Auch das schien den jungen Mann nicht zu stören. Er stellte sich neben sie und kratzte sich am Kinn. „Aber…”

„Ja?”

Anstatt zu antworten, beugte er sich nach unten und zog die beiden Matten zueinander, sodass sie eine einzige große ergaben.

Maomao ließ ihn einfach machen, ohne eine Miene zu verziehen. Sie hatte verstanden.

„Tut mir leid…”, meinte Jinshi leise.

„Kein Problem. Das war keine Überraschung, um ehrlich zu sein”, winkte sie ab. Natürlich war es das nicht. Logischerweise würde er auch hier nicht allein schlafen können und wollen, mal ganz zu schweigen von seiner noch immer bestehenden Angst vor der Dunkelheit. Und außerdem war sie sowieso schon längst daran gewöhnt, also war es nun wirklich keine große Sache.

Und wie sie das war… Maomao musste zugeben, dass auch sie es inzwischen bevorzugte, in seinen Armen zu schlafen, so unglaublich es auch klingen mochte. Es war sogar so, als würde ihr nun etwas fehlen, wenn sie diese nachts nicht um ihren Körper spürte, wie ihr in jenem Augenblick klar wurde. Seine Wärme, sein Duft, sein Herzschlag und sogar die Art, wie er ihren Rücken rieb und ihr Haar streichelte... all dies war bereits so vertraut geworden und seine Brust und seine Oberarme zu ihren liebsten Kissen…

Maomao konnte kaum fassen, was für Dinge sie da dachte. Manchmal fragte sie sich wirklich, ob sie noch die gleiche Maomao war wie vor einigen Wochen... denn ab und zu erkannte sie sich selbst nicht wieder. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie davon halten sollte.

Es war fast schon gruselig, wie sehr ein Mensch sich ändern konnte.

Die Apothekerin atmete tief aus und ließ ihren Blick über das Innere der Hütte schweifen, all jene unnötigen Überlegungen beiseiteschiebend. Das Einzige, was zählte, war, dass Jinshi sich hier erholte und für einige Wochen ein ruhiges, friedliches Leben führen konnte. Mehr nicht. Über ihre möglichen und nicht möglichen Gefühle und ihre Beziehung zueinander hatte sie sich schon oft genug den Kopf zerbrochen. Da brauchte sie nicht noch mehr davon.

„Urgh, wie staubig es hier ist”, murrte sie, die Augen verengend, und begab sich zum Schrank, um Putzutensilien herauszuholen. „Tja, aber kein Wunder, schließlich stand die Hütte mehrere Wochen lang unbewohnt. Zeit zum Saubermachen, schätze ich mal.”

Sie hatte sich bereits ausgemalt, wie ihr Zuhause im Vergnügungsviertel nach einer solch langen Abwesenheit ihres Vaters aller Wahrscheinlichkeit nach aussah, und hätte vor der Abreise am liebsten einen Abstecher dorthin gemacht und alles ordentlich durchgeputzt, bevor sie Jinshi einen Fuß hineinsetzen ließ, doch da ihr der Kaiser bloß drei kurze Tage gewährt hatte, hatte sie alle Hände voll damit zu tun gehabt, Jinshi auf den folgenden Monat vorzubereiten und es bloß geschafft, einen Brief an die Matrone zu schreiben und sie zu informieren, auch wenn sie angenommen hatte, dass Gaoshun oder ein anderer Untergebener Seiner Majestät sich bereits darum gekümmert hatte.

 Na wenigstens das. Denn wenn die Alte kein Wort von Maomao selbst zu der ganzen Sache erhalten hätte, wäre der Apothekerin ein erneuter Hieb in den Solarplexus oder auf den Kopf sicher gewesen. Und eine solche Szene wollte sie dem armen Jinshi gewiss ersparen.

Während sie über all dies nachdachte und Wasser in einen Eimer füllte, spürte sie auf einmal die Hand ihres Mitbewohners auf ihrer Schulter und sah, wie er sich mit der anderen blitzschnell einen Putzlappen schnappte.

„Lass mich helfen, Xiaomao! Bitte! Ich will auch!”, bettelte er wie ein kleiner Junge und blickte ihr direkt in die Augen. So tief, dass Maomao schlucken musste.

„Aber Eur-... Jinshi”, begann sie. Fast wäre ihr die alte Anrede herausgerutscht. Ups. „Du bist doch der Gast hier.”

Sie erinnerte sich daran, wie er ihr vor ein paar Wochen in seiner Residenz auch schon beim Putzen hatte helfen wollen.

„Was heißt hier Gast? Du erwartest doch nicht ernsthaft von mir, dass ich einen Monat lang nichts tue, oder?”, empörte er sich. „Du hast selbst gesagt, dass ich wie ein Bürgerlicher leben werde, also wäre es nur logisch, mich Dinge machen zu lassen, die Bürgerliche so tun, glaubst du nicht auch? Und außerdem sind wir hier allein und du bekommst gar keinen Ärger! Bitte! Ich will dir so gern helfen! Das wollte ich schon so lange!”

Maomao neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Jinshi hatte nicht Unrecht. Sie seufzte und legte ihre Hand auf seine, um ihm schließlich den Lappen wegzunehmen.

„Na gut. Kannst du dann bitte all die Flaschen und Gläser von den Regalen nehmen und auf den Boden stellen? Aber sei vorsichtig damit, ja?”

„Ja, natürlich!”

Auf der Stelle drückte er sie fest an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er sich überglücklich an die Arbeit machte. Zum allerersten Mal in ihrem Leben wurde Maomao Zeugin, wie jemand sich so sehr aufs Putzen freute. 

„Gut, was soll's”, dachte sie mit einem Lächeln auf den Lippen, während sie den Staub von den Tischen zu wischen begann. „Ein Monat Nichtstun wäre tatsächlich viel zu grausam für ihn. Noch grausamer als in seiner Residenz.”

Als Jinshi die ihm zugewiesene Aufgabe erledigt hatte, gab sie auch ihm einen Lappen und zeigte ihm, wie man die Fenstergläser putzte, bevor sie ihm besagte Tätigkeit überließ und sich selbst an das Säubern der Regale machte, die er gerade für sie freigeräumt hatte.

Um das oberste zu erreichen, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen.

Was Jinshi selbstverständlich nicht entging.

Er sah ihr einige Augenblicke lang zu, setzte ein freches Grinsen auf, schlich sich ganz leise an sie heran und…

„Hier kommt deine persönliche Leiter, meine Xiaomao!”, rief er, griff nach ihrer Taille und hob sie aus heiterem Himmel in seine Arme.

„Wah!”, entfuhr den Lippen der erschrockenen Apothekerin, während sie sich reflexartig an seinen Hals klammerte und ihren eigenen Lappen fallen ließ. „Hey! Jinshi!”

„Hahaha!”

Beide Arme um ihre Mitte geschlungen, drückte Jinshi Maomao an sich und begann, sich aus irgendeinem Grund um die eigene Achse zu drehen, als würde er irgendein seltsames Spiel spielen. Sein Lachen erfüllte die gesamte Hütte.

„Uh… aufhören… bitte…”, brachte die Apothekerin zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und verpasste ihm einen leichten Klaps auf die Schulter, woraufhin er zwar stehenblieb, aber nach wie vor nicht mit dem Lachen aufhörte.

„Haha, tut mir leid, ich war bloß so glücklich, dass ich nicht anders konnte…”

Er bückte sich vorsichtig mit ihr in den Armen, um den Lappen aufzuheben und ihr zurückzugeben, bevor er sich auf einem Stuhl niederließ und die Apothekerin auf seinen Schoß setzte.

„Hatten wir so etwas nicht schon mal?”, dachte Maomao, der immer noch ein wenig schwindelig war von dem ganzen Drehen, mit einem leisen Ächzen und blickte ihm ins Gesicht. Und tatsächlich: er strahlte sie genauso an wie damals im Obstgarten. 

Die Apothekerin gab ein leises Schnauben von sich. Sie freute sich ehrlich, dass ihm seine neue Rolle so sehr gefiel und er all seine Sorgen und Ängste hinter sich gelassen zu haben schien, doch dies hieß noch lange nicht, dass er sich wirklich alles mit ihr erlauben konnte.

 Er wollte unbedingt wie ein Bürgerlicher behandelt und angesprochen werden? Gut, das konnte er haben. 

„Schon in Ordnung. Aber wenn du so etwas nochmal machst, bekommst du das hier ins Gesicht geklatscht, verstanden? Nur so als Warnung.” Sie zeigte ihm den Putzlappen. Ihrem kleinen Grinsen zufolge war sie nicht wirklich sauer auf ihn, aber ihr Tonfall verriet, dass sie es durchaus ernst meinte.

Jinshi war einige Sekunden lang sprachlos und starrte sie einfach nur mit geröteten Wangen und geweiteten Augen an.

„Hm? Was ist denn jetzt los?”, dachte Maomao mit erhobener Augenbraue. „War das doch ein wenig zu grob?”

„Du hast deine höfliche Sprechweise komplett abgelegt…”, murmelte er... und drückte sie noch fester. Einige Tränen rollten ihm aus den Augen. „Oh, Xiaomao, ich danke dir!”

Maomao fand es ein wenig merkwürdig, sich dermaßen über eine Drohung zu freuen, einen alten, nassen Putzlappen ins Gesicht zu bekommen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass er ja einen Hirnschaden hatte, und sie sagte nichts dazu. Doch insgeheim fragte sie sich, wie der alte Jinshi wohl an dieser Stelle reagiert hätte.

Na, Freudentränen hätte er ganz sicher nicht vergossen... möglicherweise.

Jener Gedanke und überhaupt die Situation an sich waren dermaßen absurd, dass sie schließlich selbst ein wenig lachen musste, was Jinshi sogar noch glücklicher machte. Er lehnte seine Stirn an die ihre und gab ihr einen Kuss auf die Nase.

Nachdem sie sich wieder eingekriegt und Jinshi Maomao hoch und heilig versprochen hatte, nicht mehr herumzualbern, bis sie ihre Arbeit erledigt hatten, machten die beiden weiter: sie säuberten das Fenster und wischten den Staub zu Ende, entfernten Spinnweben, stellten die Sachen wieder zurück in die Regale und kehrten den Boden (Letzteres brachte Maomao ihm bei, indem sie ihn den Besen halten ließ und ihre Hände auf seine legte, um diese zu führen und ihm die Kehrbewegungen zu demonstrieren).

Zu ihrer Überraschung stellte Jinshi, der ja eigentlich ein Leben als Adeliger geführt und so etwas noch nie gemacht hatte, sich als ein richtig schneller und begeisterter Lerner heraus, was Hausarbeit anging, sodass die Hütte in kurzer Zeit blitzblank war und sogar etwas neuer aussah als zuvor.

Zu guter Letzt ging die Apothekerin auf die Knie und besah sich die Lebensmittelvorräte im Schrank unten. Sich die empfindliche Nase zuhaltend, als der Geruch sie traf.

„Wie ich's mir gedacht habe: fast alles verdorben. Natürlich. Alles, was wir haben, sind Teeblätter und ein kleiner Rest Reis. Ich sehe noch nach den Kräutern und Medizinvorräten und dann müssen wir zum Markt. Wir brauchen Lebensmittel und Feuerholz”, erklärte Maomao, während Jinshi ihr dabei half, die verdorbenen Sachen in einen Sack zu stecken und draußen hinzustellen, um ihn später wegzuwerfen. „Aber lass uns erstmal etwas essen. Dame Suiren hat uns etwas eingepackt.” Sie holte die mit Fleisch gefüllten Dampfbrötchen hervor, die Suiren ihr am Morgen überreicht hatte.

„Feuerholz? Im Sommer?”

„Ja, es kann abends und nachts ziemlich kühl hier werden, selbst im Sommer. Und kochen und Medizin brauen müssen wir ja schließlich auch.”

Maomao legte das Essen auf einen großen Teller und stellte diesen zusammen mit zwei Bechern auf den Tisch, welche sie mit Wasser füllte, da sie in Ermangelung von Feuerholz keinen Tee machen konnte.

„Ach so. Alles klar!”

Jinshi lächelte immer noch breit, während er sich mit Maomao zum Mittagessen an den Tisch setzte.

***

Doch ihre Pläne mussten leider verschoben werden.

„So ein Mist aber auch”, dachte Maomao genervt, während sie etwa eine halbe Stunde später mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck aus dem Verdigris-Gebäude trat. „Und das gleich am ersten Tag. Aber zum Glück war es wenigstens nichts Schlimmes.”

Während sie und Jinshi nämlich beim Essen gewesen waren, hatte ein Bediensteter des Freudenhauses an ihre Tür geklopft und verkündet, dass die Matrone ihn geschickt habe, um sie zu holen, damit sie sich eine Kurtisane ansah, die über Fieber und Kopfschmerzen klagte.

Und so hatte die Apothekerin keine andere Wahl gehabt, als Verdigris erneut aufzusuchen, jedoch diesmal allein, da sie Jinshi selbstverständlich nicht in die Nähe einer (möglicherweise ansteckenden) Kranken bringen konnte. Natürlich würde sie niemanden im Stich lassen, der ihre Hilfe brauchte, aber der Zeitpunkt war wirklich mehr als ungünstig. Jinshi hatte kaum Zeit gehabt, sich an die Hütte und an das Viertel zu gewöhnen, da musste sie ihn dort auch schon allein lassen.

„Bloß eine einfache Erkältung… Glück gehabt.”

 Sie beschleunigte ihre Schritte ein wenig, sich fragend, wie Jinshi wohl ohne sie zurechtkam. Sie war zwar erst eine kurze Zeit fort und er trotz allem ein erwachsener Mann, doch sie konnte trotzdem nicht anders, als sich Sorgen zu machen. Auch wenn er selbst ihr versichert hatte, dass alles in Ordnung sei, und sie ihm eingeschärft hatte, niemandem die Tür zu öffnen (falls ein Kunde kommen sollte, wies sie ihn an, diesem zu sagen, dass der Apotheker aktuell nicht zu Hause sei). Schließlich war das Ganze für ihn noch so neu.

Maomao tat einen tiefen Atemzug. Nein, in der halben Stunde war ihm nichts passiert. Ganz sicher. Sonst hätte sich ganz bestimmt ihr Bauchgefühl geregt.

Bei dem Gedanken entspannte Maomao sich wieder ein wenig.

Irgendwie war es ein seltsames Gefühl, nach Hause zu gehen, im Wissen, dass dort jemand auf sie wartete. Jemand anderes als ihr Vater. Jemand, der für sie einst nichts weiter als ein Arbeitgeber gewesen und ihr nun so wichtig geworden war, dass ihre Gedanken sich ständig um ihn drehten, wenn sie nicht bei ihm war.

Die Apothekerin öffnete die Tür und trat ein. Ihre Hände hatte sie bereits in Verdigris gewaschen und die Kranke hatte sie weder angehustet noch angeniest, also sollte die Ansteckungsgefahr für Jinshi gering sein.

„Bin wieder da. Zum Glück war es nichts Schlimmes”, verkündete sie, die Tür hinter sich schließend.

Keine Antwort.

„Jinshi?”

 Verwundert über die Stille, drehte sie sich um. Am Tisch und vor dem Ofen saß niemand. Da es nicht viele Orte gab, wo er sich in der kleinen Hütte aufhalten könnte (außer, er befand sich auf dem Abort, dem einzigen Ort draußen, den er allein aufsuchen durfte), wanderte Maomaos suchender Blick als Nächstes zu den Schilfmatten.

Volltreffer. Da war er. Mit verschränkten Armen und dem Rücken zu ihr auf der Seite liegend.

Maomao runzelte die Stirn und kam näher, um sich neben ihn auf den Boden zu knien. Ging es ihm etwa nicht gut? Ihr Magen zog sich zusammen vor erneuter Sorge.

Doch genauso schnell wie die ganze Anspannung gekommen war, verschwand sie auch wieder, als sie feststellte, dass er einfach nur schlief. Ganz entspannt und friedlich.

„Er muss nach den ganzen neuen Eindrücken heute müde geworden sein und ist eingenickt, während er auf mich gewartet hat”, dachte sie, während sie zur Sicherheit seine Stirn befühlte. „Gut, dann lasse ich ihn lieber noch ein wenig schlafen. Der Markt läuft uns schon nicht weg. Bis zum Abend schaffen wir es schon.”

Kein Fieber, keine Schmerzen und keine Ängste… einfach nur ein ruhiger Schlaf. Genau das, was er nach dem Stress der letzten Wochen benötigte.

So leise wie möglich stand Maomao wieder auf und trottete zum Gepäck, um die Decke herauszuholen, die Suiren ihnen mit eingepackt hatte. Eine schöne, warme Decke, welche von weit besserer Qualität war als alles, was Maomao in ihrem Haus besaß. 

Sie deckte ihn damit zu und setzte sich dann erneut neben ihn, um ihn eine Weile lang beim Schlafen zu beobachten und sein Haar zu streicheln. 

Zu ihrer Überraschung wirkte der schlafende Jinshi überhaupt nicht fehl am Platz in ihrer armseligen kleinen Hütte. Nein… aus irgendeinem Grund fühlte sein Anblick sich so sehr nach Zuhause an, als würde auf der Matte ihr Adoptivvater liegen.

Oder vielleicht sogar noch mehr?

Aber wie konnte das sein?

Maomao verstand die Welt nicht mehr.

Während ihre dünnen Finger sanft über seinen Pony strichen, verzogen Jinshis Lippen sich zu einem zufriedenen Lächeln.

Notes:

Und der zweite Teil kommt bestimmt in einer Woche. Oder etwas länger.

Aber um ehrlich zu sein... wisst ihr was? Ich hör einfach auf mit diesen Vorhersagen. Die meiste Zeit sind sie ja sowieso zu nichts zu gebrauchen, wie ihr selbst gesehen habt.

 

Machen wir es stattdessen so:
von nun an wird in der Kurzbeschreibung der Bearbeitungsstatus des neuen Kapitels stehen (in %), damit ihr euch mehr oder weniger denken könnt, wann es rauskommt. Das ist am Besten so, denke ich.

Aber es auf allen Seiten zu tun, auf denen ich veröffentliche, wäre ziemlich umständlich, also werde ich es bloß in der englischen Version der Geschichte auf ao3 machen.

Hier der Link:
https://archiveofourown.org/works/62249739

Chapter 80: Amnesie, Teil 23: Erster Tag im neuen Leben (2)

Notes:

Dieses Kapitel ist länger geworden als gedacht. :)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Ein paar Minuten verbrachte Maomao noch damit, geistesabwesend Jinshis seidiges, langes Haar zu streicheln, welches von dem durch das Fenster einfallenden Sonnenlicht glänzte. Dann streckte sie ausgiebig ihre Arme und ihren Rücken durch und stand wieder auf. Sie würde nun einen Blick auf die um das Haus herum wachsenden Pflanzen werfen, was sie ohnehin vorgehabt hatte, und Jinshi könnte derweil noch ein bisschen schlafen.

So wie sie ihn kannte, würde er beim Marktbesuch garantiert darauf bestehen, die Einkäufe zu tragen (ein Angebot, welches sie gewiss nicht ablehnen würde), also brauchte er seine Kraft.

Maomao öffnete weit das Fenster, damit sie ihn von draußen hören konnte, falls er aufwachen und nach ihr rufen sollte, blickte ihm noch ein letztes Mal ins Gesicht, um sich zu vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war, und verließ erneut leisen Schrittes das Haus.

Draußen hockte sie sich in das hohe Gras und begann, die Kräuter zu untersuchen und Unkraut herauszuzupfen, während ihr die Sonne auf Rücken und Hinterkopf brannte und der Wind ihr Haar zerzauste.

Zusätzlich hatte ihr Vater, der seine Arzneien vorzugsweise aus den Kräutern herstellte, die er selbst heranzog, noch ein kleines Feld auf einem Hain gleich außerhalb des Rotlichtviertels, aber dieses konnte noch ein wenig warten. Da würde sie am nächsten Tag zusammen mit Jinshi hingehen.

„Den Pflanzen geht es besser, als ich dachte”, murmelte sie vor sich hin, während sie das Unkraut entsorgte und den Kopf zurückwarf, um sich die Bäume anzusehen. „Sie könnten bloß ein wenig Regen vertragen.”

Und so ging sie wieder hinein, um eine Gießkanne mit Wasser zu füllen. 

Jinshi schlief immer noch.

Nachdem sie die Kräuter gegossen hatte, wischte sie sich den Schweiß vom Gesicht, trank ein wenig Wasser und wendete sich dem Gepäck zu. Während sie ihre Päckchen mit Arzneien und Werkzeuge herausholte, fiel ihr zu ihrem Erstaunen auf, dass ihre und Jinshis Kleidung fehlten. Sofort regte sich eine Vermutung in ihr, wo diese sich befinden könnte, und sie begab sich zum Schrank und öffnete ihn.

„Er ist wirklich fleißig, das muss man ihm lassen”, dachte sie, auf die im Schrank liegenden Kleidungsstücke blickend, die er wohl während ihrer Abwesenheit aus den Taschen geräumt und verstaut hatte. Nur ihre Unterwäsche hatte er, soweit sie gesehen hatte, nicht angerührt (ein kleines Grinsen stahl sich auf ihre Lippen, als sie sich vorstellte, wie rot er aller Wahrscheinlichkeit nach geworden sein musste, als er die Unterwäsche im Gepäck entdeckt hatte). Doch das machte überhaupt nichts. Sie erledigte jene Sache schnell selbst.

Als diejenige, die Jinshi vor der Abreise beigebracht hatte, wie man Kleidung faltete, konnte Maomao nicht anders als einen gewissen Stolz auf ihn zu empfinden, als sie sah, wie ordentlich er dies ohne jede Hilfe bewerkstelligt hatte. Als ob er so etwas tatsächlich sein ganzes Leben lang gemacht hätte.

„Ich schätze, er könnte eines Tages einen wirklich guten Ehemann abgeben…”, schoss ihr ganz plötzlich durch den Kopf, bevor sie es verhindern konnte, und sie zuckte heftig zusammen und weitete entsetzt die Augen. „Moment! Was zum… Was zur Hölle denke ich mir da eigentlich?!”

Die Apothekerin gab einen tiefen Seufzer von sich und kniff für einen Moment die Augen fest zusammen, ihr Gehirn dafür scheltend, dass es sie solch unsinnige Dinge denken ließ. Als Nächstes ging sie zum kleineren Schrank, um in die Schubladen hineinzuschauen und die vorhandenen Medizinvorräte zu überprüfen.

Und während sie auf einem Holzstreifen die Mengen der Arzneien notierte und sich Vermerke machte, welche sie am nächsten Tag nach dem Kräutersammeln auf dem Feld am Dringendsten herstellen musste, vernahm sie hinter sich ein Rascheln und ein Gähnen.

„Xiaomao?”, kam es daraufhin auch schon mit verschlafener Stimme.

„Oh, er ist wach.”

Maomao drehte sich um und sah, wie Jinshi sich streckte und sich mit einer Hand die Augen rieb. Einen Moment lang schaute er verwirrt auf die Decke, die auf ihm lag, als würde er sich fragen, wie diese da hingekommen war, und hob dann den Blick in Maomaos Richtung. Auf der Stelle krümmten seine Lippen sich zu einem Lächeln, so wie immer, wenn er sie nach dem Aufwachen erblickte. Als sei ihr Anblick ein Geschenk des Himmels.

„Ah, du bist wieder da, Xiaomao! Tut mir leid, ich muss wohl eingeschlafen sein, während ich auf dich wartete.” Er klang leicht zerknirscht, wohl frustriert über sich selbst.

Die Apothekerin legte den Pinsel, mit dem sie geschrieben hatte, beiseite und erhob sich, um sich zu ihm zu begeben, während er sich auf der Matte aufsetzte.

„Du musst dich nicht entschuldigen, Jinshi”, antwortete sie gelassen und platzierte erneut die Hand auf seine Stirn, bevor sie ihm die heruntergerutschte Decke um die Schultern legte. „Wie fühlst du dich? Hast du Kopfschmerzen?”

Das Schuldgefühl verschwand aus seinen Augen und sein Lächeln wurde breiter.

„Mir geht es blendend. Und, wie war dein Krankenbesuch?”

Maomao schnaubte leise und setzte sich hin. 

„Es war bloß eine Erkältung, die man mit Tee und Schlafen auskurieren kann. Man hätte mich überhaupt nicht holen müssen. Mensch…”

Jinshi rückte näher zu ihr heran und wickelte Maomao ebenfalls in die Decke, seinen Arm um ihre Taille schlingend. Die Apothekerin hatte nichts dagegen einzuwenden und lehnte sich lediglich schweigend an seine Schulter. Sie konnte seinen Herzschlag an ihrem Rücken spüren.

Er kicherte.

„Was ist denn so lustig?”

„Dass du so tust, als ob du sauer wärst, obwohl du doch insgeheim erleichtert bist, dass die Frau nicht ernsthaft krank ist.”

Maomao fühlte sich ertappt. Er kannte sie wirklich gut inzwischen.

„Steht mir das so deutlich im Gesicht geschrieben?”, fragte sie leise. Nur ihr Vater und ihre Schwestern waren bisher in der Lage gewesen, sie so präzise zu entschlüsseln.

„Nicht nur im Gesicht, sondern in deinem gesamten Wesen.” Er legte ihr sein Kinn auf den Kopf. „Du hast ein so gutes Herz, dass es einfach nicht anders sein kann.”

Maomao sagte nichts. Eine Weile lang herrschte Stille.

„Während du fort warst, wollte ich schon mal mit dem Auspacken beginnen, aber da ich mir nicht sicher war, wo all die Sachen genau hingehören, hab ich bloß die Kleidung verstaut. Deine auch.” Eine zarte Röte färbte seine Wangen, während er ihre rechte Hand nahm und mit dem Daumen vorsichtig einen kleinen Tintenfleck von ihrem Zeigefinger fortrieb, der beim Schreiben vorhin an ihre Haut gekommen war. „Ich hoffe... du bist mir deswegen nicht böse.”

Die Unterwäsche ließ er unerwähnt und auch Maomao verlor kein Wort darüber. Schließlich wollte sie ja nicht, dass ihm vor Verlegenheit noch Dampf aus den Ohren stieg.

„Natürlich nicht. Alles in Ordnung, du hast die Kleidung wirklich sorgfältig gefaltet, gut gemacht. Danke dafür.”

Ihr Lob ließ Jinshis Augen erstrahlen und sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen.

Die Apothekerin setzte ein kleines Lächeln auf und stupste ihn leicht mit dem Ellenbogen an.

„Na komm, gehen wir zum Markt, sonst haben wir heute Abend nichts zu essen und keinen Tee.”

Doch Jinshi zögerte ein wenig.

„Xiaomao... kann ich dir vorher noch eine Frage stellen?” Seine Stimme klang ernst und Maomao bekam ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie konnte bereits erahnen, worum es ging.

„Es geht um das, was meine Schwester heute gesagt hat”, sagte sie. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Er nickte.

„Ja. Ich kann einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken. Was soll das heißen, ich soll dich freigekauft haben? Was meinte sie damit?”

Maomao gab einen tiefen Seufzer von sich. Eigentlich hatte sie kein Problem damit, ihm die Geschichte zu erzählen, denn in Wirklichkeit war ja nichts Schlimmes passiert (abgesehen von ihrem Missverständnis damals, vielleicht. Aber das hatte sich ja gelöst). Sie wollte bloß nicht, dass ihm die Vergangenheit so kurz nach der Ankunft schon wieder Kopfschmerzen bereitete. Dass sie ihn so schnell einholte.

Sie wollte ihn nicht leiden sehen. Wenigstens hier, in ihrer Hütte, wo er sich ja eigentlich erholen und sich von genau jenem Leiden ablenken sollte.

„Es ist eine etwas längere Geschichte”, meinte sie bloß und sah ihm ins Gesicht. „Ich werde sie dir irgendwann später auf jeden Fall erzählen, versprochen. Mach dir keine Sorgen, es ist nichts Schlimmes.”

Doch sie hatte auch kein Recht, ihm seine Vergangenheit zu verschweigen, wenn er sie erfahren wollte. Vielleicht würde sich die ruhige Atmosphäre der Hütte ja positiv genug auf ihn auswirken, dass seine Kopfschmerzen nicht so heftig werden wie im Kaiserlichen Palast.

Jinshi weitete die Augen ein wenig. Doch dann lächelte er sie erneut an.

„Ist gut! Alles klar, gehen wir!”

***

Die beiden erhoben sich. Maomao nahm einen großen Korb (den Jinshi ihr wie erwartet auf der Stelle abnahm und auf seinen eigenen Rücken aufsetzte), Jinshi zog seine Maske hoch und sie machten sich Hand in Hand auf den Weg zum Markt, der in der Hauptstraße der Stadt lag und jeden Tag stattfand.

Es war bereits ein wenig spät, sodass sie die besten Angebote wohl schon verpasst hatten (abgesehen von denen, die erst ganz zum Ende des Tages kommen würden), aber ihrer Erfahrung zufolge war Maomao sich ziemlich sicher, doch noch einige frische Lebensmittel zu einem guten Preis ergattern zu können.

Sie war wirklich froh um das „Taschengeld”, welches ihr der Kaiser (via Gaoshun) für ihre täglichen Ausgaben des folgenden Monats gewährt hatte, denn von ihrem Bedienstetengehalt und der ein oder anderen Münze, die sie mit dem Verkauf von Medizin in ihrer Apotheke verdienen könnte, wäre es eventuell ein klein wenig schwierig gewesen, zwei Leute, davon einen erwachsenen Mann, der ein komfortables Leben gewohnt war, durchzufüttern (auch wenn Jinshi gar nicht besonders viel aß und auch eigentlich überhaupt nicht auf Luxus bestand).

Und von der Entschädigung, welche die Matrone erhalten hatte, würde sie, so wie sie die alte Frau kannte, selbstverständlich keine einzige Münze sehen.

Der vom Kaiser erhaltene Beutel enthielt zwar auch keine besonders hohe Summe, doch für einen Monat war es mehr als genug. Maomao verstand die Absicht dahinter: sie durften nicht zu viel ausgeben, damit sie keinen unerwünschten Verdacht erweckten. Und außerdem war man sich in der Umgebung, in der sie nun wohnten, seines Lebens nicht sicher, sobald die Leute Wind bekamen, dass man Geld hatte.

Zum Glück schien ihrem Mitbewohner das einfache, bescheidene Leben jedoch sehr zuzusagen.

Sie warf einen Seitenblick zu Jinshi, der sich mit strahlenden Augen zu allen Seiten umsah und ihr neugierig Fragen stellte, und verspürte eine Art Déjà-Vu, sich unwillkürlich an das eine Mal erinnernd, als sie ihn verkleidet und durch den Markt geführt hatte.

Als sie an einem Stand mit Fleischspießen vorbeigingen, überlegte sie sich sogar, auch diesmal einen mit ihm zu essen, so wie damals, entschied sich dann jedoch dagegen. Denn auch damit riskierte sie, Kopfschmerzen bei ihm auszulösen. Ein andermal, vielleicht.

„Xiaomao, was ist das denn?”, wollte er fröhlich wissen, ein Bündel Feuerholz unter dem Arm haltend, während Maomao zufrieden die Rettiche in den Korb steckte, die sie zu einem äußerst annehmbaren Preis erstanden hatte. Einige Kohlköpfe, ein paar Brote, eine Packung Trockenfleisch, ein Sack mit Reis, ein kleinerer mit Weizen und noch einer mit Kartoffeln lagen bereits darin. Für die zierliche Maomao wäre ein solcher Einkauf ziemlich schwer gewesen, doch Jinshi trug den Korb mit Leichtigkeit auf dem Rücken.

Sie blickte auf, als seine Frage ihr Gehör erreichte.

„Das? Das ist ein Schreibwarenstand. Der Mann dort verkauft Papier, Pinsel, Tusche... solche Dinge eben.”

„Brauchen wir was davon?”

„Nein, im Moment nicht.”

„Und das da drüben?”

„Das ist Seife. Die brauchen wir auch nicht, da wir sowieso im Verdigris-Gebäude baden werden.”

„So geizig, um mit Seife zu knausern, ist selbst die Alte nicht”, dachte sie.

Jinshi setzte sich den Korb wieder auf den Rücken, und sie führten ihren Weg fort.

„Oh, schau mal, Xiaomao! Bücher!”

„Bücher haben wir zwar auch, aber wenn du willst, können wir sie uns mal ansehen”, bot sie ihm an. Suiren hatte ihnen für den Monat einige Liebesromane ausgeliehen, also hatten sie im Moment auf jeden Fall genug Lesematerial (obwohl es gewiss nicht Maomaos Geschmack traf. Aber man konnte ja nicht alles haben).

Wie erwartet, war Jinshi begeistert von der Idee.

„Ja, gerne!”

Gemeinsam traten sie demnach an den Stand und wurden sogleich vom Verkäufer freundlich begrüßt. Wie erwartet, lagen dort jede Menge Romane, einige in einem solch gebrauchten Zustand, dass sie beinahe auseinanderfielen.

„Wer weiß schon, durch wie viele Hände sie bereits gewandert sind”, dachte Maomao gelangweilt. Romane interessierten sie nach wie vor kein bisschen, sie hatte sich bloß welche von Suiren geborgt, weil Jinshi es immer noch sehr gern hatte, wenn sie ihm ab und zu vorlas.

„Und was ist das?”, fragte Jinshi interessiert, die Hand nach einem Stapel dünner Hefte ausstreckend.

Maomao warf einen kurzen Blick darauf.

„Erwachsenenliteratur”, sagte sie gelassen. „Mit Illustrationen.” Da sie in der Nähe des Vergnügungsviertels waren, war es kein Wunder, dass so etwas verkauft wurde.

Jinshi sah sie einen Augenblick lang fragend an, doch dann schien er begriffen zu haben, da er auf einmal knallrot anlief und seine Hand blitzschnell zurückzog.

Die Apothekerin zuckte bloß die Achseln. Zwar wusste sie, dass ihn jene Art von Literatur wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit noch immer nicht besonders kümmerte (sie erinnerte sich an das eine Mal, als sie versucht hatte, solche Bücher in den Kaiserlichen Palast zu schmuggeln, und er sich lediglich für deren Druckqualität interessiert hatte - oder zumindest hatte er jegliches Interesse anderer Art heftig abgestritten), aber falls er ein solches Heftchen haben wollen würde, hätte sie ihn auch nicht dafür verurteilt. Schließlich war er trotz seines ab und zu unfassbar kindischen Verhaltens ja erwachsen. Und kein Eunuch.

Während sie darüber nachdachte, wanderte ihr Blick über das Warenangebot des Standes, und auf einmal leuchteten ihre Augen auf und ihr Mund öffnete sich.

„Das ist doch…”

Verblüfft starrte sie auf das dicke, fast wie neu aussehende Buch, welches in einer Ecke des Standes lag. Es trug den Titel „Toxische Pflanzen und Pilze und ihre Anwendungen in der Medizin”.

Wie kam denn ein solcher Schatz dorthin?

Mit vor Aufregung zitternden Händen griff sie nach dem Buch. Es fühlte sich ziemlich schwer an und war von herausragender Qualität. 

Jinshi hatte ihre Blicke bemerkt und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Was ist denn los, Xiaomao? Möchtest du dieses Buch haben?”

Das wollte Maomao in der Tat. So sehr, dass ihr Mund sich schon ganz trocken anfühlte und ihre Hände zu schwitzen begannen.

„Oh, das ist ein ganz besonderes Stück”, mischte der Verkäufer sich mit einem breiten Lächeln ein. „Ein seltenes Exemplar, an das ich nur durch Zufall gekommen bin. Es soll mal einem Adeligen gehört haben. Zwanzig Silbermünzen, einen besseren Preis kann ich dir dafür nicht machen.”

„Wie viel?!”

Maomao schluckte schwer, doch sie musste den Tatsachen ins Auge blicken: so viel Geld besaß sie nicht. Und mit Feilschen würde sie diesmal wohl eher nicht weiterkommen, da sie spürte, dass jenes Buch einen solchen Preis durchaus wert war. Außerdem verriet auch der Tonfall des Händlers, dass er ihr ganz sicher nicht entgegenkommen würde.

Sie stieß einen traurigen Seufzer aus und wollte das Buch bereits wieder zurücklegen, doch dann spürte sie, wie eine große Hand fest ihr Handgelenk umschloss, und sah in Jinshis maskiertes Gesicht auf. Er schaute sie so voller Entschlossenheit an, dass in seinen Augen ein kleines Feuer zu brennen schien.

„Ich kaufe es dir, Xiaomao!”

Seine Stimme verriet, dass er kein Nein akzeptieren würde.

„Was? Aber du hast doch gar kein Geld dabei…”

Bei jedem anderen ihrer Einkäufe hatte er auch ständig angeboten zu zahlen, doch die Apothekerin hatte ihn jedes Mal unterbrochen, da er zwar sehr reich war, seine Reichtümer sich jedoch im Moment im Kaiserlichen Palast befanden (wenn man die Entschädigung an die Matrone nicht mitzählte), während er selbst das Leben eines Bürgerlichen führte. Und selbst als Adeliger hatte er nie Münzen bei sich getragen, soweit sie wusste, mal ganz zu schweigen davon, dass er seit dem Unfall sowieso keine Ahnung mehr hatte, wer er war und was er alles besaß. 

Womit wollte er also zahlen?

Doch zu ihrer Überraschung zog er einen kleinen Beutel aus seinem Ärmel und schüttelte ihn leicht. Drinnen klimperten Münzen.

„Doch, habe ich. Gaoshun hat mir das hier heute Morgen gegeben, bevor er unser Gepäck aus meiner Schlafkammer geholt hat. Für alle Fälle, hat er gemeint, falls etwas passieren sollte. Er hat mich gebeten, es nicht offen zu zeigen, damit es mir nicht gestohlen wird, also habe ich es gleich weggesteckt. Du warst da gerade in deinem Zimmer und hast dich umgezogen, und da habe ich beschlossen, auch dir nichts davon zu erzählen, damit ich dir etwas Schönes kaufen kann... als Überraschung, sozusagen.” Er räusperte sich und Maomao konnte beinahe schon sehen, wie seine Wangen sich unter der Maske rot färbten. „Also lass mich dir bitte das Buch kaufen, ja?”

Maomao starrte ihn vollkommen sprachlos und mit geweiteten Augen an, als ob sie sich fragte, ob dies vielleicht bloß ein Traum war. Zu schön, um wahr zu sein.

Er strich ihr lachend über den Kopf.

„Ich nehme das mal als ein Ja.”

Jinshi öffnete den Beutel, zählte zwanzig Silbermünzen ab und legte sie vor den überglücklichen Händler, bevor er den Rest seines Geldes wieder rasch in seinem Ärmel verstaute.

„Hier, bitteschön.”

Erst als der Mann das Geld annahm, kam Maomao wieder zu sich, drückte das Buch an ihre Brust und fiel Jinshi voller Dankbarkeit mit dem freien Arm um den Hals. Mitten auf der Straße und ohne sich zu scheren, wer zusah und wer nicht.

***

Später, als die Sonne bereits dabei war, unterzugehen, herrschte Stille in der kleinen Apotheke. Nur das leise Knistern des Feuers im Ofen erfüllte die Luft und eine Fischöllampe stand auf dem Boden und tauchte das Innere der Hütte zusätzlich zum Feuer in ein sanftes Licht.

Kein einziges Wort fiel zwischen den beiden, die vollkommen entspannt und eng aneinander geschmiegt auf ihrer Schilfdecke lagen, eingewickelt in die aus dem Kaiserlichen Palast mitgebrachte Decke. Die Apothekerin hatte Recht behalten: es war tatsächlich kühler geworden und eine leichte Brise drang durch die Ritzen in den Wänden ins Innere ein.

Jinshi lag auf dem Rücken und Maomao auf ihrer Seite mit dem Kopf auf seiner Brust, während sie mit einem breiten Lächeln im Gesicht ihr neues Buch verschlang und er ihr gutgelaunt den Rücken rieb, einfach nur mit jeder Faser seines Seins den Moment genießend. Auch seine Lippen wurden von einem seligen Lächeln geziert. Ganz offensichtlich schien er überhaupt nichts dagegen zu haben, von Maomao als Lesekissen benutzt zu werden.

Vom Verdigris-Gebäude ertönte eine leise Melodie. Maomao hatte Jinshi bereits gewarnt, dass im Bordell erst zur Abendzeit das Geschäft so richtig losging, also war er nicht sonderlich überrascht, sondern lauschte einfach nur der lieblichen Musik mit halbgeschlossenen Augen.

Das Apothekerlädchen selbst hatte bereits geschlossen. Zu ihrer eigenen Sicherheit schloss Maomao es immer, wenn der Abend anbrach, wie sie ihm erklärt hatte. Verständlich, fand Jinshi, sich mit einem leichten Schaudern an das erinnernd, was er auf der Straße in der Nähe der Hütte gesehen hatte. Und da war es Tag gewesen. Was nachts da draußen vorging, wollte er sich nicht einmal ausmalen. Da war auch der Ratschlag, seinen Münzbeutel außerhalb des Marktes nicht offen zu zeigen, gewiss nicht verkehrt.

Bei dem Gedanken daran, wie glücklich er Maomao mit dem Kauf des Buches gemacht hatte, wurde ihm wieder ganz warm ums Herz. Ach, am liebsten hätte er sie jeden Tag mit Geschenken überhäuft…  

Auf einmal erklangen von draußen ein paar wütende Männerstimmen, die sich gegenseitig anbrüllten, bedrohten und verfluchten, gefolgt von Geräuschen, als würde etwas zerbrechen. Ihrer Lautstärke nach zu urteilen, mussten sie sich irgendwo ganz in der Nähe auf der Straße befinden.

So unsanft aus seinen Tagträumen gerissen, blinzelte Jinshi einige Male und seine Hand, mit der er Maomaos Rücken gestreichelt hatte, hielt inne.

„Was geht da vor?”

„Bestimmt bloß ein paar Trunkenbolde, die sich auf der Straße prügeln. Nebenan gibt es noch andere, günstigere Bordelle, sicherlich haben die eins davon aufgesucht”, antwortete Maomao ungerührt, ohne den Blick von ihrem Buch abzuwenden, als sei es die normalste Sache der Welt. „Ignorier sie einfach.”

„Passiert das öfters?”

„Oh ja. Aber nicht bei Verdigris. Die Alte sucht sich ihre Kunden äußerst gründlich aus. Solche wie die hätte sie schon längst mit dem Besen davongejagt.”

„Verstehe.” Er nahm seine Massage wieder auf.

„Ihr kommen nur die besten Kunden ins Haus. Mit anderen Worten: je reicher, desto besser.”

Jinshi konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen, als er diese Worte hörte.

Diesmal blickte die Apothekerin ihm ins Gesicht.

„Hast du schon wieder etwas Lustiges entdeckt?”

„Haha, ich dachte bloß daran, was für einen Freudentanz sie aufgeführt hat, als Gaoshun ihr das Geld gebracht hat. Ihre Augen haben so sehr gefunkelt... hm, an wen erinnert mich das bloß?”, fragte er in einem neckenden Tonfall und tippte ihr mit dem Zeigefinger seiner freien Hand auf die Nasenspitze. 

„Nicht dein Ernst, oder?”, schnaubte Maomao mit gespielter Beleidigung.

„Oh doch, mein voller Ernst! Weißt du noch, wie du mal rausgegangen bist, um im inneren Palast Kräuter zu sammeln, und ganz unerwartet ein seltenes aufgespürt hast? Das war... vor zwei Wochen oder so, richtig? Als du zurückgekommen bist, hast du ganz breit gelächelt und sogar Freudensprünge gemacht, während du mir die Pflanze in deiner Hand gezeigt hast.”

Natürlich wusste Maomao das noch. Und sie erinnerte sich auch, wie sie Jinshi mit ihrem Verhalten damals zum Lachen gebracht hatte.

„Und wie du heute das Buch bekommen hast.”

„Nun, da hätte sich wohl jeder gefreut, wenn er einen solchen Schatz erhalten hätte.” Sie machte das Buch zu und legte es auf Jinshis Brust, um die Hand zu heben und ihm sanft über die Wange zu streicheln. „Danke nochmal, Jinshi.”

„Du bist der Schatz hier”, dachte er und legte seine Hand auf ihre, um sie zu seinen Lippen zu führen und liebevoll zu küssen.

„Aber pass gut auf den Rest deiner Münzen auf und halte sie gut versteckt.”

„Ja, ich weiß. Mach dir keine Sorgen.” Er ließ ihre Hand los und Maomao schlug das Buch wieder auf.

„Und vergleich mich gefälligst nie wieder mit dieser alten Hexe”, fügte sie noch grinsend hinzu. „Ich ähnele ihr kein bisschen.”

Er grinste zurück und umschlang mit beiden Armen ihre Taille.

„Aber natürlich nicht! Du bist mindestens eine Million Mal niedlicher!”

Maomao sagte nichts dazu, sondern ließ sich einfach nur drücken.

***

Während das Geschrei der betrunkenen Männer draußen allmählich verstummte (bestimmt hatte die Matrone einige Verdigris-Wachen geschickt, um sie zu verscheuchen, damit sie ihr noch keine potentiellen Kunden vergraulten), vertiefte Maomao sich erneut in ihr Buch.

Jinshi beobachtete sie entspannt. Selbst die Tatsache, dass es langsam aber sicher dunkel wurde, schien ihm nicht wirklich etwas auszumachen. Als ob er selbst jene Angst zusammen mit all den anderen, die ihn gequält hatten, in seiner Residenz zurückgelassen hatte. Wie unnötigen Ballast.

Nach einiger Zeit begann Maomao zu gähnen und rieb sich mit einer Hand die Augen.

„Müde?”, fragte Jinshi sanft.

„Ja, aber ich würde gern noch ein wenig weiterlesen…” Sie richtete ihren Blick zum Fenster. „Oh, es wird ja schon dunkel.” Ihrem Tonfall zufolge war es ihr erst jetzt so richtig aufgefallen. „Alles in Ordnung, Jinshi?”

Immerhin war sie die Zeugin jeder seiner nächtlichen Panikattacken und jedes einzelnen Albtraums.

Er küsste sie auf die Stirn.

„Ja! Ich habe wirklich keine Angst... noch nicht.” Jene letzten zwei Worte erklangen leise, als würde er den Verdacht hegen, dass die übliche Angst trotzdem noch da war und lediglich darauf wartete, dass er unachtsam wurde. Gar nicht überraschend nach all dem, was er bereits durchgemacht und ertragen hatte.

Maomao drückte eine seiner Hände.

„Das freut mich. Dein Herz schlägt auch normal. Sag mir einfach Bescheid, falls es doch schlimmer wird. Ich würde gern noch ein Kapitel lesen, aber du kannst bereits schlafen, wenn du wil-...”

Ihr Satz wurde von einem erneuten Gähnen unterbrochen, welches sie nicht unterdrücken konnte.

Daraufhin nahm Jinshi ihr das Buch weg.

„Nichts da”, widersprach er mit gespielter Strenge. „Jetzt ist Schlafenszeit für dich. Du hast mir selbst gesagt, wie wichtig ausreichender Schlaf ist und so wie du dieses Buch liebst, wird dieses eine Kapitel zu fünf und schließlich zu zehn. Und…” Er schluckte heftig. „...wenn ich dich schon nicht mit meiner blöden Angst wachhalte, nutz diese Zeit bitte zum Schlafen. Heute ist viel passiert und ich wette, dass du wirklich erschöpft bist.”

„Hm…” Maomao schien wohl einzusehen, dass er durchaus Recht hatte, doch sie konnte trotzdem nicht anders als ein wenig zu schmollen. 

„Sie ist einfach zu niedlich”, dachte Jinshi, sich auf die Unterlippe beißend, und gab dann einen „Ach, was soll ich bloß mit dir machen”-Seufzer von sich. 

Er überlegte kurz und seine Augen begannen zu strahlen, als ihm eine tolle Idee kam.

„Gut, pass auf. Ich lese dir ein Kapitel vor und dann wird geschlafen. In Ordnung?”

„Ja, meinetwegen.”

Ein wenig aufgeregt schlug Jinshi das kostbare Buch auf. Maomao hatte ihm schon so oft vorgelesen und nun war er an der Reihe. Er freute sich ja so!

Sie zeigte ihm, wo sie stehengeblieben war, und er fing an, ihr das nächste Kapitel (welches von einem giftigen Pilz handelte) mit seiner angenehmen, sanften Stimme wie eine Gutenachtgeschichte vorzulesen.

Während sie zuhörte, drehte die Apothekerin sich auf den Bauch, sodass sie auf ihm lag und legte die Arme um seine Mitte. Jinshis Lächeln wurde breiter, während er las, und er griff mit einer Hand nach der Decke, um sie hochzuziehen und Maomao bis zu den Schultern zu bedecken. Die junge Frau gab einen wohligen Seufzer von sich und gähnte erneut, das Gesicht an seiner Brust vergrabend. Ein dünner Speichelfaden floss aus einem ihrer Mundwinkel.

***

Kaum hatte Jinshi das Kapitel zu Ende vorgelesen, richtete er seinen Blick auf Maomao. Sie schlief tief und fest in seinen Armen.

Er lachte leise, legte das Buch neben sich auf den Boden und gab ihr einen Kuss auf das Haar.

Mittlerweile war es noch dunkler geworden. Zwar bekam Jinshi ein flaues Gefühl im Magen und zuckte zusammen, als ihm diese Tatsache auffiel, doch eine solch panische Angst wie er sie nachts in seiner Residenz verspürt hatte, tauchte immer noch nicht auf.

„Selbst die Dunkelheit ist nicht so furchterregend hier... welch eine Ironie”, dachte er mit einem schiefen Lächeln. „Kaum zu glauben…”

Vielleicht lag es daran, dass jener Ort nichts mit seiner Vergangenheit zu tun hatte, wie Maomao ihm einst erklärte... und das schwarze Loch, welches ihn sonst nachts heimsuchte und zu verschlingen drohte... hier überhaupt nichts zu verschlingen hatte...

Langsam nahm er die Hand der schlafenden Maomao und strich ihr mit dem Daumen über den Handrücken.

Wann sie ihm wohl von jener Sache mit dem Freikauf erzählen würde?

Sie hatte ihm versprochen, es auf jeden Fall zu tun, und er wollte sie selbstverständlich nicht drängen, doch das Wort „Freikauf” wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf. Was hatte Maomaos Schwester damit sagen wollen? Es bereitete ihm Unbehagen, da es so klang, als sei Maomao ein einfaches Objekt, welches man beliebig kaufen und verkaufen konnte… eine widerliche Vorstellung.

Wie bitte hätte er einen solch unbezahlbaren, kostbaren Schatz wie sie bloß kaufen können? 

Er begriff es nicht, doch spürte in seinem Herzen, dass es ein Hinweis auf ihre gemeinsame Geschichte war, auf die Geschichte, die erzählte, wie Maomao an seine Seite kam. Und er wollte sie unbedingt hören. Egal, welch schreckliche Kopfschmerzen sie ihm auch bereiten mochte. 

Wer er wirklich war, all die Erinnerungen über seine Vergangenheit, seine Lasten, sein Leben - die Konfrontation mit all dem löste nichts als Furcht und Schmerzen in ihm aus. Doch Maomaos Vergangenheit war anders. Über seine geliebte kleine Apothekerin wollte er alles wissen. Alles. Alles, was sie bereit war, mit ihm zu teilen.

Während er selbst bereits zufrieden damit war, einfach nur Jinshi zu sein.

Jinshi blickte an die Decke. Sein Blick wurde matt.

Ja, er war ein Feigling. Ganz egal, wie sehr Maomao ihm auch versichern mochte, dass es normal war, sich vor Schmerzen zu fürchten und ihnen entfliehen zu wollen, war er sehr wohl einer. Und er konnte nichts dagegen tun.

Der junge Mann schüttelte leicht den Kopf und setzte ein kleines Lächeln auf.

„Nur keine Eile... wir haben Zeit…”, wisperte er in die nun herrschende Stille hinein. „Sie hat mir versprochen, mir davon zu erzählen, also wird sie es auch tun.” Sein Vertrauen in sie kannte keine Grenzen.

In Maomaos Apotheke war kein Platz für solche Gedanken, denn er war ja extra hergekommen, um sich für einen Monat von seinem Kummer abzulenken und auch ihr keinen neuen zu bereiten. 

Einen Monat lang würden sie ein ruhiges, friedliches Leben zu zweit führen. Ja, genau das. 

Der Glanz kehrte in seine Augen zurück, während er seinen ersten Tag im Vergnügungsviertel Revue passieren ließ, dabei Maomaos vertraute Wärme und ihren Herzschlag spürend.

Auch wenn das Viertel zugegebenermaßen ein ziemlich verstörender und gefährlicher Ort war (ihm wurde beinahe übel, wenn er daran dachte, dass Maomao als klitzekleines Mädchen durch jene Straßen gelaufen sein musste), mochte er diese gemütliche kleine Hütte wirklich sehr. Um ehrlich zu sein, hatte er das Gefühl, als sei dies für ihn der schönste Tag gewesen seit er mit Gedächtnisverlust aufgewacht war.

Jinshi drückte Maomaos Hand noch ein wenig stärker, so zärtlich er konnte, um sie nicht aufzuwecken. Sein Rücken tat tatsächlich ein wenig weh, aber das machte ihm nichts aus. Solange Maomao sich in seinen Armen befand, würde er überall schlafen können.

Sanft lächelnd, schloss er die Augen.

Er war so glücklich, sie glücklich gemacht zu haben. So glücklich, ihr endlich nützlich gewesen zu sein. 

Es machte so viel Spaß, mit ihr zusammen zu putzen, einzukaufen, sich um den Haushalt zu kümmern, herumzualbern, sich zu entspannen... einfach ein normales gemeinsames Leben zu führen.

Ach, jener Monat würde bestimmt in Windeseile vergehen, das spürte er jetzt schon. Am allerliebsten wäre einfach ein Bürgerlicher geblieben und hätte mit Maomao für immer hier gelebt…

Und mit diesem Gedanken fiel schließlich auch er in einen tiefen Schlaf.

Notes:

Und nun mach ich ein paar Tage Pause und fang mit dem nächsten an.

Chapter 81: Amnesie, Teil 24: Gartenarbeit

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Maomao begann sich zu rühren, als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster in die kleine Hütte eindrangen und ihr ins Gesicht schienen. Sie murmelte etwas vor sich hin und öffnete einen Spalt weit die Augen, sich instinktiv noch ein wenig enger an Jinshi schmiegend, auf dem sie nach wie vor lag. Es musste noch richtig früh sein. So früh, dass die Sonne noch nicht einmal vollständig aufgegangen war. Die Apothekerin brauchte ein paar Sekunden, um sich zu erinnern, dass sie sich ja nicht mehr in seiner Residenz befanden, sondern in ihrem Apothekerlädchen.

Der allererste Gedanke, der ihr beim Aufwachen kam, war, wie seltsam es doch war, in ihrer Apotheke aufzuwachen und die Wärme eines anderen Menschen zu spüren... eines anderen Menschen als ihres Vaters... so seltsam und gleichzeitig auch so vertraut...

Sie gähnte und blickte Jinshi ins Gesicht, um zu schauen, wie es ihm nach seiner ersten Nacht als Bürgerlicher wohl ging. Er sah vollkommen entspannt aus und schlief tief und fest. Seine Arme waren wie immer um sie geschlungen und die Tatsache, dass er nicht mehr in seinem weichen Bett, sondern auf einer einfachen Schilfmatte lag, schien seinen Schlaf überhaupt nicht zu stören. Und auch kein einziger Albtraum hatte ihn vergangene Nacht heimgesucht. 

Einen Seufzer der Erleichterung ausstoßend, legte die Apothekerin den Kopf auf seine Brust zurück und griff nach einer seiner Haarsträhnen, um ein wenig damit herumzuspielen. Vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken. Sein Herz schlug ruhig und regelmäßig unter ihrem Ohr. 

An jenem Tag würde sie viel zu tun haben: zusammen mit Jinshi das Feld ihres Vaters besuchen, sich dort um die Pflanzen kümmern, Kräuter sammeln und jede Menge Medizin herstellen, um die Vorräte in den Schubladen wieder aufzufüllen. Vielleicht sollte sie noch ein wenig schlafen. Es war sowieso noch nicht Zeit zum Aufstehen.

Und so schloss sie die Augen wieder... und öffnete sie nach wenigen Minuten erneut. Es wollte sich einfach kein Schlaf einstellen.

Na gut, dann würde sie eben ein paar Kapitel lesen (Jinshi dabei immer noch als Kissen benutzend). Das Buch, welches er ihr gekauft hatte, lag neben ihnen auf dem Boden. Sie streckte die Hand danach aus. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie sich erinnerte, wie er ihr ein Kapitel daraus als Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte. Es war wirklich schön gewesen, einzuschlafen und dabei seiner beruhigenden Stimme zu lauschen, die einen Text über Giftpilze las, es hatte sie ein klein wenig an ihre Kindheit erinnert, als ihr Vater ihr Lesen und Schreiben beigebracht hatte. Nun konnte sie auch verstehen, wieso Jinshi es so sehr mochte, wenn sie ihm vorlas.

Vielleicht sollte sie ihn irgendwann bitten, es erneut zu tun. Auch wenn es ihr doch ein bisschen peinlich war…

Sie drückte das teure Buch an sich. Auf der Stelle kamen ihr Erinnerungen an all die anderen Geschenke, die Jinshi ihr bereits vor seinem Gedächtnisverlust gemacht hatte. Seltene Kräuter und medizinische Zutaten, Flaschen mit Alkohol, der Bezoar (beim Gedanken an den letzteren, der nun in einer der Schubladen lag, begannen ihre Augen zu funkeln)... das alles musste ein Vermögen gekostet haben (das Geld, mit welchem er sie freigekauft hatte, nicht einmal mitgezählt). Und Jinshi hatte es ohne mit der Wimper zu zucken für sie ausgegeben. Sie, eine einfache Apothekerin. Nun, richtig reich war er, das stimmte schon, aber trotzdem...

Und die meisten seiner Geschenke waren Belohnungen für die Erfüllung seiner Aufträge gewesen, die sie sowieso ausführen musste, weil sie seine Befehle nicht missachten durfte. Er war überhaupt nicht verpflichtet gewesen, sie ihr zu geben. Und doch hatte er es getan. Weil er es wollte.

Wenn man hinter all seine bisherigen Masken und äußeren Schichten blickte, musste Maomao zugeben, dass er in Wahrheit ein äußerst gutherziger Mann war, ohne einen Funken Bosheit im Herzen. Nun, wenn sie so darüber nachdachte, hatte sie dies eigentlich schon ziemlich früh begriffen, es mehr als nur einmal mit eigenen Augen gesehen, auch vor dem Unfall. Jinshi war ein guter Mensch, ohne jeden Zweifel. Wahnsinnig anhänglich und kindisch, ab und zu richtig nervig, aber andererseits… viel zu weichherzig, zu großzügig und zu rücksichtsvoll für einen Adeligen und bei Weitem nicht so egoistisch wie andere von solch hoher Position es häufig waren. Schon mehrmals hatte sie ihm vermittelt, dass er sie einfach als diejenige sehen sollte, die sie war: eine Bedienstete, eine entbehrliche Schachfigur, der er Befehle erteilen konnte, ohne sich um ihre Meinung zu scheren. Doch er weigerte sich. Andere Adelige hätten keine Sekunde gezögert.  

Aber er dachte stets an das Wohlergehen von Anderen. Egal, ob mit Gedächtnis oder ohne. Dies war etwas, was sich nicht geändert hatte.

Erneut lächelte sie, als sie sich daran erinnerte, welche Anstrengungen er auf sich genommen hatte, um die Alphabetisierungsrate im inneren Palast zu steigern, damit die jungen Frauen dort später bessere Chancen auf eine gute Anstellung hatten. Wie viele Adelige hätten so etwas bitteschön getan?

Und auch als er am vorherigen Tage von Gaoshun den Beutel mit den Münzen erhalten hatte, hatte er nur an sie gedacht und wie er ihr davon ein Geschenk kaufen konnte.

Nur an sie allein. Obwohl er wusste, was für ein bescheidenes Leben er die nächsten Wochen lang führen würde.

Schon wieder kam ihr der Gedanke, dass es ihr unmöglich war, ihn nicht zu mögen...

Ihr Lächeln verschwand, als sich ein Knäuel aus verschiedenen, nicht ganz identifizierbaren Gefühlen in ihrem Inneren regte, und sie gab einen Seufzer von sich.

Sie musste zugeben, dass das Leben eines Bürgerlichen eigentlich ziemlich gut zu ihm passte. Vor allem wenn man bedachte, wie sehr er selbst es mochte. Seit ihrer Ankunft im Viertel hatte er keine einzige Träne vergossen und sich noch kein einziges Mal vor Schmerzen oder Angst gekrümmt. Und Maomao hoffte sehr, dass es auch so blieb. Dass er so gutgelaunt und glücklich blieb wie jetzt und die Auszeit von dem ganzen Stress bekam, die er so sehr verdiente.

Um ganz ehrlich zu sein, begriff sie immer noch nicht ganz, wie er in seiner Situation überhaupt glücklich sein konnte. Denn obwohl er aktuell, wohin er auch ging, überall nur auf unbekannte Orte und Menschen traf und nicht einmal mehr seinen wahren Platz auf der Welt kannte, war er unfassbar sanft und blieb trotz all des Leidens seinem freundlichen und rücksichtsvollen Wesen treu. Egal, welche Schmerzen er auch durchmachte.

Maomao empfand dies als Stärke. Daher würde sie ihm niemals wieder erlauben, sich für einen Feigling zu halten.

Mit der einen Hand immer noch das Buch festhaltend, hob sie mit der anderen vorsichtig eine von Jinshis und streichelte mit dem Daumen zärtlich über seine breite Handfläche. So wie er es immer bei ihr tat. Ihr Blick war unergründlich.

Schließlich fing Jinshis Hand an, sich zu bewegen, und als sie seine Lippen auf ihrer Stirn spürte, kehrte sie in die Realität zurück.

„Guten Morgen, Xiaomao! Was machen wir heute?”

*** 

Später nach dem Frühstück verließen Jinshi und Maomao das Haus. Die Sonne schien ihnen in die Augen, sobald sie nach draußen traten, und sie schirmten diese instinktiv mit einer Hand ab. Kein Wölkchen trübte den Himmel. Ein gutes, wenn auch ein wenig zu warmes Wetter zum Kräutersammeln.

Beide trugen leere Körbe auf dem Rücken und Maomao hatte noch eine kleine Tasche mit zwei Wasserflaschen dabei, um Dehydrierung vorzubeugen. Dies war besonders wichtig bei körperlicher Aktivität im Sommer, vor allem wenn man berücksichtigte, dass Jinshi ja seine Maske tragen musste. Maomao nahm sich vor, ganz genau auf seinen Zustand zu achten und ihm mit einem nassen Taschentuch unter der Maske das Gesicht abzuwischen, sobald sie merkte, dass es ihm zu heiß war.

Die Apothekerin hatte sich das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, um leichter im Freien arbeiten zu können, und als Jinshi dies gesehen hatte, wollte er es unbedingt auch, also hatte Maomao ein Stück Stoff genommen und auch sein Haar zusammengebunden, sodass sie aktuell die gleiche Frisur trugen. Jinshi machte jene Tatsache so glücklich, dass sein Lächeln nun sogar durch die Maske hindurchzustrahlen schien.

Maomao holte die Gartengeräte, welche draußen hinter dem Haus standen (Jinshi nahm sie ihr selbstverständlich ab, um sie zu selbst zu tragen), und sie machten sich auf Richtung Feld. Hand in Hand, natürlich.

***

Das Feld lag direkt außerhalb des Vergnügungsviertels, also waren sie in nur wenigen Minuten da. Verschiedenste Heilpflanzen wuchsen dort, die ebenfalls auch nach all den Wochen ziemlich gut gepflegt aussahen. Man sah sofort, dass Luomen sich gut um sie gekümmert hatte. Auch wenn jene Tatsache gemischte Gefühle in Maomao auslöste, da ihr alter Herr bereits ziemlich fortgeschrittenen Alters war und ein kaputtes Bein hatte, und sie sich eigentlich gewünscht hätte, dass er sich nicht mehr so verausgabte, war sie doch froh über den Zustand der Kräuter, denn sie brauchte diese dringend für die Herstellung von neuen Arzneimitteln.

„Das ist also das Feld deines Vaters?”, erkundigte sich Jinshi. „Es sieht wirklich schön aus mit diesen ganzen Blumen!”

„Ja”, antwortete sie, nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme. „Weißt du, er war auch derjenige, der die meisten Heilkräuter im inneren Palast gepflanzt hat. Ohne ihn hätte ich es weit schwerer gehabt, in deiner Residenz Arzneien für dich herzustellen.”

Zufrieden sah sie, wie Jinshis Augen sich vor Erstaunen weiteten. 

„Ach, wirklich?”

Maomao führte ihn auf das Feld und sobald sie die ersten Schritte gemacht hatten, blieb Jinshi plötzlich abrupt stehen und sah sich mit verengten Augen um.

„Was machst du denn da, Jinshi?”

„Ich halte Ausschau nach verdächtigen Gestalten, solchen Trunkenbolden wie gestern Abend, zum Beispiel. Wir sind immer noch in der Nähe des Rotlichtviertels und da kann es sein, dass sich hier gefährliche Typen herumtreiben. Ich beschütze dich, damit du dir um die keine Sorgen zu machen brauchst.”

Mehrere Augenblicke lang spürte Maomao einen solchen Kloß im Hals, dass sie kein Wort herausbringen konnte, und ihr Herz zog sich zusammen. Unwillkürlich erinnerte sie sich an das eine Mal, als sie beim Kräutersammeln unvorsichtig gewesen und entführt worden war, um in den inneren Palast gebracht zu werden. Eine Geschichte, die sie Jinshi noch erzählen musste, denn um ihm den Freikauf zu erklären, musste sie ja logischerweise ganz von vorne beginnen und ihm zu verstehen geben, wie sie überhaupt in den inneren Palast gekommen war. Sie schluckte heftig, denn sie konnte sich bereits denken, wie er wahrscheinlich auf diese Information reagieren würde.

Vielleicht würde sie es am selben Abend noch tun, denn sie spürte, wie sehr er es wissen wollte und dass er nur aus Rücksicht auf sie schwieg. Tja, aber erst nachdem sie genug Schmerzmittel hergestellt hatte...

„Danke dir...aber bitte mach keine Dummheiten”, war alles, was sie ihm antworten konnte. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

Daraufhin spürte sie, wie er ihr sanft das Haar streichelte, und blickte in seine besorgten Augen auf.

„Alles in Ordnung, Xiaomao? Du wirkst irgendwie bedrückt.”

Aber natürlich war es ihm aufgefallen. Wie immer.

„Alles gut”, meinte sie. „Ich habe bloß daran gedacht, dass mein Vater langsam alt wird und sich wohl nicht mehr sehr lange um dieses Feld hier kümmern können wird.” Noch war es zu früh, um die Entführung zu erwähnen, also nannte sie stattdessen eine andere Tatsache, die ihr ebenfalls Sorgen bereitete.

„Oh, Xiaomao…” Jinshi gab einen traurigen Seufzer von sich und umarmte sie. „Ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun…” Sein Ton war aufrichtig.

Maomao lehnte sich mit der Stirn an seine Brust. 

„Schon gut. Jeder Mensch altert, da kann man nichts dagegen machen, egal, wie sehr man es möchte. Im Moment arbeitet mein Vater als Hofarzt im inneren Palast, also kann er sowieso nicht herkommen. Und solange wir hier sind, werden eben wir hier arbeiten.” Dass Jinshi ihr auch bei der Gartenarbeit helfen wollen würde, nahm sie bereits als Tatsache hin. „Dieses Feld braucht jemanden, der sich mit Heilpflanzen auskennt.”

„Ist gut!”

Sie befreite sich aus seiner Umarmung und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm mit dem Finger auf die unter der Maske verborgene Nase zu klopfen.

„Na komm, machen wir uns an die Arbeit. Und veranstalte mir ja keinen Blumenregen hier. Diese Pflanzen sind viel zu kostbar dafür. Verstanden?”

„Ja, verstanden!”

Beide hatten ihre traurigen Gedanken beiseitegeschoben und ihre gute Laune wiedererlangt.

***

„Ich bin bereit! Was soll ich tun?”

Maomao, die gerade ihre Ärmel hochband, um bequemer arbeiten zu können, blickte zu Jinshi, der mit bereits hochgebundenen Ärmeln hochmotiviert vor ihr stand und auf Anweisungen wartete.

„Wer hätte gedacht, dass er mir eines Tages bei der Gartenarbeit helfen würde”, konnte sie sich den Gedanken nicht verkneifen. „Und bei der Hausarbeit…” Es fühlte sich noch immer ziemlich irreal für sie an.

Sie breitete ein Tuch auf dem Boden aus und zeigte dann auf ein paar Gewächse, die zwischen einigen Blumen wuchsen.

„Das da ist Unkraut. Kannst du bitte alle Pflanzen, die so aussehen, herausreißen und auf diesem Tuch ablegen? Sie können den Blumen zu viel Platz und Nährstoffe aus der Erde wegnehmen, aber dafür zu einem guten Dünger für sie verarbeitet werden. Und ich sehe mir derweil all die Kräuter genauer an und befreie sie von ausgetrockneten Zweigen und Blättern. Danach werden wir diejenigen pflücken, die ich für die Arzneimittelherstellung benötige.”

„Alles klar!” Jinshi hockte sich auf der Stelle hin und machte sich ans Werk. Maomao beobachtete ihn einige Momente lang, um sicherzugehen, dass er es richtig machte, und wendete sich dann ihrer eigenen Arbeit zu. Jedoch nicht ohne eine erneute Warnung.

„Denk daran, Jinshi: nur das Unkraut! Reiß mir ja keine Blumen heraus.”

„Ich weiß!”, kam es freudig zurück.

„Er scheint Spaß zu haben”, dachte Maomao zufrieden, konnte jedoch nicht anders, als zu versuchen, sich vorzustellen, wie Suiren wohl reagiert hätte, wenn sie gesehen hätte, wie ihr junger Herr so fröhlich im Dreck herumwühlte. Tja...

Die Apothekerin schritt entspannt durch das Feld und überprüfte den Zustand jedes Heilkräutergewäches einzeln, gelegentlich einen Blick zu Jinshi werfend, um zu prüfen, ob er noch an Ort und Stelle war.

Und ebenso, weil er auch hier dasselbe Verhalten an den Tag legte wie bereits auf dem Markt. Mit anderen Worten:

„Xiaomao, was ist das denn?”

„Eicheln. In der Nähe wachsen Eichenbäume, also ist es kein Wunder, dass einige Eicheln hier gelandet sind.”

„Oh, ein Zapfen!”

„Ja, der ist von einer Kiefer. Die wachsen hier auch.”

„Xiaomao, auf diesem Blatt hier kriecht ein Wurm!”

„Bloß ein gewöhnlicher Regenwurm. Der ist harmlos.”

Geduldig beantwortete sie seine Fragen und erklärte ihm alles, was er wissen wollte. Schon wieder erinnerte er sie an ein neugieriges Kind, welches gerade die Welt entdeckte. Sie hatte nicht wirklich etwas gegen die Unterbrechungen einzuwenden, da sie sah, dass er seine Aufgabe trotzdem gründlich erledigte. Und außerdem hatten sie es sowieso nicht sehr eilig, denn im Sommer kamen weitaus weniger Kunden in die Apotheke als im Winter. In die Apotheke, die dazu noch mehrere Wochen geschlossen gewesen war.

Als Jinshi schließlich mit Unkrautrupfen fertig war, begab er sich zu Maomao, die gerade dabei war, eine Pflanze näher zu inspizieren, und legte ihr einen Arm um die Schultern.

„Erledigt, Xiaomao!” Doch plötzlich hielt er inne, als er die Pflanzenblätter in Maomaos Hand erblickte. „Oh…”

Diese blickte zu ihm hoch.

„Was ist denn los?”

„Das ist doch... Minze, oder? Es hilft bei, ähm... Verdauungsproblemen und... Problemen mit der Atmung, stimmt's? Du hast es mir mal erklärt und mir welche gezeigt.”

„Und das weißt du noch?!”

Maomao war so baff, dass ihr sogar die Minzblätter aus der Hand fielen. Jinshi fing sie auf, bevor sie zu Boden segeln konnten, und gab sie ihr zurück. 

„Und das nebenan, das sind… Ringelblumen! Die sind gut bei Wunden und Verbrennungen! Du hast mir für meine Kopfwunde Salbe daraus gemacht!”

„Sag bloß, du hast dir alles gemerkt, was ich dir über Heilpflanzen erklärt habe?!”

Jinshi kratzte sich am Hinterkopf.

„Ähm, denke schon. Mehr oder weniger.”

Die Apothekerin schlug sich die Hand vor den Mund, der vor Fassungslosigkeit weit offen stand. Sie hatte absolut keine Worte und auch keine Ahnung, was sie von dem Ganzen halten sollte. Da hatte sie geglaubt, dass er diese ganzen Informationen, die sie ihm gab, um seine Neugier zu befriedigen, ganz schnell alle vergessen würde. Unnütze Informationen, die er für die Wiederherstellung seines Gedächtnisses nicht benötigte.

Und nun stellte sich heraus, dass er sich alles eingeprägt hatte! War das eher gut oder schlecht?

Auch das wusste Maomao nicht.

Es gab nur Eines, was sie begriff:

Es machte sie glücklich.

Notes:

Ich wollte Maomaos und Jinshis Gespräch über den Freikauf eigentlich in diesem Kapitel stattfinden lassen, aber da davor noch einige Dinge passieren werden, kommt es erst im nächsten.

Jedoch werdet ihr darauf leider länger warten müssen:

Mir ist klargeworden, dass ich neue Energie tanken muss, um Amnesie weiterzuschreiben (und natürlich auch fertigzustellen!), also muss ich eine längere Pause machen und es diesmal auch tatsächlich durchziehen, sondern werde ich es später wahrscheinlich bitter bereuen.

Eine Longfic zu schreiben ist harte Arbeit und Amnesie hat bereits die 80k-Wörter/200-Seiten-Marke überschritten (und das jeweils auf Deutsch UND auf Englisch!). Tja, und jetzt bin ich müde. Nein, nicht müde. Erschöpft.

Mit anderen Worten: Kapitel 25 kommt irgendwann Ende Juli/Anfang August und Kapitel 26 einen Monat danach. Aber nur grob gesagt. Den Fortschritt des neuesten Kapitels werdet ihr, wie bisher schon, in der Kurzbeschreibung der englischen Version auf ao3 sehen.

Der Grund, weshalb alle meine bisherigen Versuche, eine längere Pause zu machen, gescheitert sind, ist, dass es für mich eine Qual ist, längere Zeit überhaupt nichts zu schreiben, also werde ich zwischen den Kapiteln kleine One-Shots hochladen, wann immer mir danach ist:

1) Kleine Extra-Geschichten zu Amnesie mit Ideen, die es nicht in die Hauptgeschichte geschafft haben/schaffen werden.

2) Möglicherweise auch andere kleine JinMao-FFs, die nichts mit Amnesie zu tun haben.

Um es mir besonders leicht zu machen, werden diese Geschichten kurz sein, ohne jeden Zeitplan oder so veröffentlicht und vorerst auch nur auf Englisch (deutsche Version kommt dann irgendwann später).

Wenn es eine JinMao-Szene gibt, die ihr gern in einer solchen Kurzgeschichte sehen wollt (egal, ob Amnesie oder nicht), zögert nicht, mir Bescheid zu sagen, und falls sie mir gefällt, werde ich sie mit in meine Ideenliste aufnehmen.

Chapter 82: Begegnung in der Hofapotheke

Notes:

Ein kleiner One-Shot, inspiriert durch folgende "Prompts", die ich im Internet gefunden hab:
"A playing their fingers through B's hair while sitting next to them on the couch"
und
"Person A doodling on Person B’s arm while not paying attention in class"

Chapter Text

Eines sonnigen Tages saß Maomao, die sich gerade eine Auszeit von ihren Pflichten in der Jade-Residenz gönnte, gutgelaunt in der Hofapotheke des inneren Palastes am Tisch und machte sich ein paar Notizen zu einem vor ihr liegenden Medizinbuch. Ihr Pinsel bewegte sich flink über das Papier (welches sie übrigens für einen ziemlich guten Preis vom Quacksalber erstanden hatte, dessen Familie Papier herstellte).

Natürlich hätte sie das Buch auch ausleihen und es später in ihrem Zimmer lesen können, doch diesmal hatte sie sich dafür entschieden, es gleich an Ort und Stelle zu tun, da sie ja sowieso gerade Zeit hatte.

„Oh, wie ich sehe, habe ich richtig geraten", erklang auf einmal eine honigsüße Stimme und in der gesamten Hofapotheke schien es umgehend heller zu werden, als eine höchst „strahlende" Persönlichkeit eintrat.

„Guten Tag, Eure Exzellenz", sagte Maomao, ohne auch nur von ihren Papieren aufzublicken. Ihrem Tonfall zufolge, zog sie es vor, nicht gestört zu werden, und wünschte sich, dass er wieder gehen oder zumindest warten würde, bis sie fertig war.

Jedoch neigen die meisten Wünsche leider dazu, unerfüllt zu bleiben. Und so ließ Jinshi sich mit einem zufriedenen Lächeln neben ihr nieder.

„E-Eure Exzellenz!" Der Quacksalber verschluckte sich beinahe an dem Stück Mondkuchen, an dem er gerade kaute, sprang umgehend auf, als er es geschafft hatte, diesen herunterzuschlucken, und eilte mit geröteten Wangen davon, um Tee zu machen.

Währenddessen schrieb Maomao vollkommen unbeeindruckt weiter. 

„Ach, und jetzt ignorierst du mich, was?" Der junge Adelige blies beleidigt die Wangen auf. Seine strahlende Aura verschwand und er verwandelte sich in einen mehr oder weniger normalen jungen Mann zurück.

„Na also. Viel besser", dachte Maomao, der es leichter fiel, sich mit ihm zu unterhalten, wenn er kein künstliches, zuckersüßes Lächeln im Gesicht trug.

„Aber natürlich nicht, Herr, das bildet Ihr Euch bloß ein", versicherte sie ihm mit monotoner Stimme und sah ihn endlich an. „Euren Worten nach zu urteilen, habt Ihr mich gesucht. Wobei kann ich Euch behilflich sein?"

Jinshi errötete ein wenig und verschränkte die Arme, den Blick kurz abwendend.

„Wieso denkst du immer, ich hätte Arbeit für dich?", murmelte er.

„Vielleicht, weil Ihr mein Arbeitgeber seid?", dachte sie, eine Augenbraue hebend und sich fragend, was denn los war.

„Ich habe bloß meine übliche Runde durch den inneren Palast gedreht und wollte dich sehen, bevor ich wieder an die Arbeit zurückkehre. Das ist alles. In der Jaderesidenz warst du nicht, also dachte ich mir, dass ich dich bestimmt hier antreffen würde."

„Mich sehen? Wieso das denn?"

Jinshi kratzte sich an der Wange und errötete noch mehr.

„Weil es mich entspannt, dich anzuschauen." Er zeigte ihr nun ein fast schon schüchternes Lächeln. Ein ehrliches. „Nun... meistens jedenfalls. Wenn du nicht davor bist, dich zu vergiften oder andere gefährliche Sachen zu machen..."

Angesichts des letzten Satzes runzelte Maomao die Stirn, sagte jedoch nichts. Tja, wenn er keinen Auftrag für sie hatte, konnte sie ja noch ein paar Kapitel lesen, nicht wahr? Ihn einfach nur neben sich sitzen zu haben, störte sie nicht sonderlich.

„Also... wolltet Ihr mich bloß anschauen?"

„Ja, das reicht mir bereits. Schließlich weiß ich, dass du nicht der gesprächigste Mensch auf Erden bist." Und doch wohnte seinem Tonfall ein Hauch Enttäuschung bei. Bestimmt hatte er sehr wohl auf ein kleines Gespräch mit ihr gehofft. So wie während der Zeit, als sie als seine Bedienstete in seiner Residenz gelebt hatte und er nach der Arbeit in ihr Zimmer gekommen war oder sie in seine Gemächer hatte rufen lassen, damit sie irgendein alkoholisches Getränk für ihn auf Gift vorkostete (was meistens eine Ausrede gewesen war, um mit ihr zusammen zu trinken, wie sie nach einiger Zeit begriffen hatte). Seine Laune schien sich stets zu heben, wann immer er das getan hatte.

Maomao verstand nicht, wieso er es so sehr genoss, Zeit mit ihr zu verbringen, da es ihrer Meinung nach besser gewesen wäre, wenn er sich stattdessen ein wenig ausgeruht hätte, doch Fragen stellte sie nicht.

„Gut, wie Ihr möchtet."

Ihre Gesichtszüge wurden weicher, als sie sich erneut in das Buch vertiefte, und Jinshi stützte seinen Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte die Wange auf die Handfläche, sie lächelnd beobachtend, während er gelegentlich an seinem Tee nippte, der ihm in der Zwischenzeit vom Hofarzt gebracht worden war. (Er hatte den armen Quacksalber auf der Stelle in den Lagerraum der Hofapotheke geschickt, mit einer langen Liste an Zutaten, welche er angeblich benötigte. Also quasi derselbe Trick, den er schon einmal angewendet hatte.)

Nach einer Weile spürte Maomao auf einmal eine große warme Hand auf ihrem Kopf und hielt inne, den Blick erneut auf den jungen Adeligen richtend, der angefangen hatte, ihr Haar zu streicheln. Langsam und sanft, es dabei ein wenig zerzausend.

„Was macht Ihr da, Eure Exzellenz?"

„Dein Haar streicheln. Es ist so weich."

Die Apothekerin funkelte ihn an, als sei er Staub, den sie beim Saubermachen unter dem Bett entdeckt hatte. Doch sie hielt ihn auch nicht auf.

„Ach, mich anzuschauen reicht ihm also bereits, was? So, so."

„Haltet Ihr mich etwa für eine Katze, Herr?", grummelte sie mit verengten Augen.

Jinshi grinste sie an.

„Ja, das tue ich."

Maomao hatte dafür lediglich ein Schnauben übrig.

„Miau!"

Beide hielten plötzlich inne und sahen zu Boden, wo sie ein kleines, dreifarbiges Fellknäuel entdeckten, welches sich ihnen näherte. Das Kätzchen hatte wohl irgendwo in einer Ecke geschlafen und war nun hervorgekommen, um die Gäste zu begrüßen.

„Und hier kommt die zweite Maomao!", bemerkte Jinshi fröhlich.

„Klasse, also habt Ihr nun eine richtige Katze, die Ihr streicheln könnt."

Jedoch hob der junge Herr den Zeigefinger und schenkte ihr einen „Freu dich nicht zu früh"-Blick.

„Oh, mach dir darüber keine Sorgen, schließlich habe ich zwei Hände. Komm her, Kleines."

„Miau!"

Er beugte sich zu dem Kätzchen, welches begonnen hatte, sich an seinen Fuß zu reiben, und hob es mit seiner freien Hand hoch, es auf seinen Schoß setzend, wo es sich umgehend zusammenrollte und anfing, sich die Pfote zu lecken.

Nun streichelte Jinshi beide Maomaos gleichzeitig mit einem Ausdruck höchster Zufriedenheit im Gesicht.

Die Apothekerin seufzte und versuchte, mit ihrer Tätigkeit fortzufahren, doch dank Jinshis Hand auf ihrem Kopf konnte sie sich nicht mehr anständig konzentrieren und beschloss stattdessen, einfach darauf zu warten, bis er wieder ging. Obwohl sie zugeben musste, dass sein Streicheln sich nicht unangenehm anfühlte. Na ja, möglicherweise hatte sie sich, nachdem sie mit ihm in derselben Residenz gewohnt hatte, bereits an seine Zuneigung gewöhnt.

„Wieso werde ich immer mit einer Katze verglichen?", murmelte sie gereizt. „Liegt es wirklich an meinem Namen?"

Jinshi weitete ein wenig die Augen und lachte.

„Und da fragst du noch? Du musst bloß noch miauen und dann wäre keiner mehr in der Lage, dich von einer echten zu unterscheiden!"

„Sehr lustig", antwortete Maomao mit einem Seufzer.

Auf einmal leuchteten Jinshis Augen auf, als ihm eine Idee zu kommen schien, und bevor sich die Apothekerin versah, hatte er ihr bereits den Pinsel aus der Hand genommen und nach ihrem rechten Arm gegriffen. Dann rollte er ihren Ärmel hoch und schrieb „Miau" auf ihre Haut, eine sehr alberne Katzenzeichnung hinzufügend, die so aussah, als sei sie das Werk eines Vierjährigen.

„Da! Hahaha!"

„Eure Exzellenz!" Maomao biss die Zähne zusammen, die leichte Kälte spürend, die von der Tinte auf ihrem nackten Arm verursacht wurde, und ballte die Hände zu Fäusten.

„Tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen!" Jinshis Gesicht war erneut rot geworden, diesmal vor Lachen.

Die Apothekerin riss ihm zornig den Pinsel aus der Hand, tauchte ihn in frische Tinte und schnappte sich nun seinen Arm.

Ein paar Augenblicke lang war er verblüfft, fasste sich dann aber wieder.

„Oh, möchtest du dich etwa rächen, Apothekerin? Nur zu!"

Da sie nun nichts mehr zurückhielt, begann sie, ein paar Blumen auf seinen Arm zu malen. Grinsend.

„Die sind giftig, Eure Exzellenz!"

Er spielte mit und tat so, als sei er erschrocken.

„Oh nein, was mache ich denn jetzt?!"

Der junge Adelige nahm sich erneut den Pinsel und kritzelte eine weitere Katze auf Maomaos Wange.

„Miau!", beschwerte sich die kleine Katze, als ein Tropfen Tinte auf ihrem Rücken landete, und verpasste Jinshis Knie einen ordentlichen Kratzer mit ihrem winzigen Pfötchen.

„Autsch, hahaha!"

Sehr bald waren sowohl Jinshi als auch Maomao voller Tinte, die auch auf ihre Kleidung gelangt war. Sie hatten sich wahrhaftig mitreißen lassen und alles um sich herum vergessen.

„Oh, ich wette, Dame Suiren wird sich sehr „freuen", Euch so zu sehen." Maomao setzte nach einer Weile ein schiefes Grinsen auf.

Jinshi schluckte heftig und kehrte auf der Stelle in die Realität zurück, als ihm klar wurde, dass sie beide ein wenig zu weit gegangen waren.

„Und ich wette, Hongniang wird dich mit offenen Armen empfangen... oder eher einer geschlossenen Faust."

Nun war sie mit Erbleichen dran.

„Lasst uns etwas Wasser holen und versuchen, die Flecken abzuwaschen."

Chapter 83: Amnesie Extrageschichte: Heißes Wetter

Notes:

Eine ganz kleine, süße Geschichte, passend zum aktuellen Wetter :)

Chapter Text

Es war ein besonders glühend heißer Tag in der Hauptstadt von Li. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel herab, als wolle sie die Stadtbewohner bei lebendigem Leibe braten, und jeder, der konnte, sah sich nach einem Plätzchen irgendwo im Schatten um oder versuchte, eine andere Art von Abkühlung zu finden. Diejenigen, die in jener Hinsicht am meisten Glück hatten, waren die Adeligen und die, die an jenem Tag nicht arbeiten mussten.

Auch Jinshi und Maomao blieben in der kleinen Hütte nahe des Verdigris-Gebäudes von der Hitze nicht verschont. Es waren gerade keine Kunden da, daher beschloss Maomao, die Zeit zu nutzen und zusammen mit Jinshi der Hitze zumindest ein klein wenig zu entfliehen. Falls doch jemand in die Apotheke kommen sollte, würde sie es schon hören.

Da es drinnen so heiß war wie in einem Ofen, saßen die beiden nun draußen nebeneinander auf Stühlen auf dem Gras direkt hinter der Hütte an die Hauswand gelehnt und hatten ihre Füße in einen Bottich mit Wasser getaucht. Zwar war das Wasser ziemlich warm, da sie nichts hatten, womit sie es abkühlen könnten, aber es war immer noch besser als nichts.

Aus Angst, dass Jinshi einen weiteren Hitzschlag erleiden könnte, hatte Maomao ihm erlaubt, seine Maske nicht hochzuziehen, solange sie hinter dem Haus blieben und er sein Gesicht nicht Richtung Straße drehte. Ein Schirm, den sie sich aus Verdigris geborgt hatte (mit einer Warnung der Matrone, ihn nicht kaputt zu machen, sonst würde sie dafür zahlen - wie denn auch nicht), steckte zwischen ihnen in der Erde und schirmte sie vor der Sonne ab. Er war größer als gewöhnlich und wurde auf den Balkonen des Bordells genutzt.

Die Apothekerin hatte ihre Ärmel hochgekrempelt und ihren Rock bis zu den Knien gehoben und sah sich nun schweigend einige medizinische Aufzeichnungen durch. Woher sie die Energie dafür nahm, wusste keiner. Jinshi währenddessen saß einfach nur da und sah ihr mit halbgeschlossenen Augen und einem kleinen Lächeln zu. Sein Oberkörper war entblößt und seine Hosenbeine bis zu den Knien hochgerollt. Sein Gesicht, die Arme, die Brust und der Rücken glänzten vor Schweiß, doch es schien ihm überhaupt nichts auszumachen. Sicherlich hatte Maomaos Gegenwart etwas damit zu tun.

Verspielt stupste er einen ihrer kleinen Füße mit seinem großen Zeh an.

„Macht es dir nichts aus, in einer solchen Hitze zu lesen?", fragte er mit einem leisen Seufzer und fing mit seinem Zeigefinger sanft einen der Schweißtropfen auf, die Maomaos Wangen herunterliefen.

„Mir geht's gut, keine Sorge."

Und doch legte Maomao die Papiere hin, aber nicht weil sie sich unwohl fühlte, sondern um ihm einen Becher Wasser einzuschenken (sie hatte eine Flasche und zwei Becher mit nach draußen genommen, um Dehydrierung vorzubeugen). Ihr Mitbewohner nahm ihn dankend an.

„Jedoch wird Schlafen heute Nacht nicht einfach sein, wenn die Temperaturen bis zum Abend so bleiben. Zwar wird es nachts für gewöhnlich kühler in der Hütte, aber bei einer solchen Hitze wahrscheinlich nicht", fügte sie nach einer Weile hinzu und schenkte sich ebenfalls Wasser ein. Dann hob sie ihre Aufzeichnungen wieder auf und begann, Jinshi damit zuzufächern, im Versuch, wenigstens eine winzige Brise zu erzeugen.

Er kratzte sich am Kopf, sich wohl überlegend, was er nutzen könnte, um ihr zuzufächern, und entschied sich schließlich für seine Hand, da er ja nichts bei sich hatte.

„Oh... soll das heißen, du möchtest heute Nacht nicht in meinen Armen schlafen?", fragte er mit leichter Traurigkeit in der Stimme.

Maomao hielt inne und sah ihn an. Dann machte sie mit dem Fächern weiter.

„Das habe ich nicht gesagt...", murmelte sie, den Blick abwendend. „Wenn wir ohne Decke schlafen, sollte es schon gehen."

Jinshis Augen weiteten sich leicht und ein sanftes Lächeln erschien auf seinen Lippen, als ihm die leichte Röte auf ihren Wangen auffiel.

„Oh, Xiaomao... wie niedlich du doch bist."

Er fasste sie behutsam beim Kinn und beugte sich nach unten, um sie auf die Schläfe zu küssen. Dann nahm er sie bei der Hand und sie lehnte den Kopf an seinen Arm, ohne ein Wort zu sagen, während Jinshi gutgelaunt die Papiere in die freie Hand nahm, um ihnen beiden zuzufächern.

Chapter 84: Ein Besuch beim Kronprinzen

Notes:

Und noch eine Geschichte zu meinem geliebten Headcanon zu Jinshi und Lingli! :)
Die Idee dazu ist mir vor ein paar Wochen gekommen.

Chapter Text

Etwa eine Woche nachdem der Aufstand des Shi-Clans erfolgreich aufgehalten und die entführte Maomao gerettet und in Sicherheit gebracht worden war, saß ein zutiefst erschöpfter und gestresster Jinshi auf einer Couch in der Jade-Residenz und blickte mit halbgeschlossenen Augen an die Decke. Es war früher Nachmittag.

Nach seiner Rückkehr in den kaiserlichen Palast wurden ihm lediglich ein paar kümmerliche Tage zur Erholung gewährt und nun war er mit mehr Arbeit überhäuft als je zuvor, weshalb er erst tief in der Nacht den Weg zu seinem Bett fand. Außerdem hatten sein Rücken und seine Schultern von dem ganzen Sitzen am Schreibtisch angefangen, ein wenig wehzutun, sodass er sich älter fühlte, als er in Wirklichkeit war.

Maomao würde sicherlich die Stirn runzeln und den Kopf schütteln, sollte sie davon erfahren. Jenes gedankliche Bild brachte ihn trotz allem zum Kichern.

Ach, Maomao...

Er vermisste sie. Wie gern er doch aufgebrochen wäre, um sie in ihrem Apothekerlädchen zu besuchen und wenigstens für ein paar Stunden all seine Pflichten zu vergessen, mit eigenen Augen zu sehen, dass sie nach wie vor gesund und in Sicherheit war. Denn wenn er mal zum Schlafen kam, litt er ab und zu immer noch an Albträumen, wo er sie schwerverletzt oder sogar tot in jener Festung auffand. Es war so fürchterlich, dass er sich danach stundenlang im Bett herumwälzte, manchmal sogar bis zum Sonnenaufgang. Zitternd und sogar Tränen vergießend.

Das Einzige, was ihn in solchen Momenten zu beruhigen schaffte, war, die Verbände an seinem Gesicht zu berühren. Die Schnittwunde auf seiner Wange war der Beweis, dass Maomao gerettet worden war und seine bösen Träume lediglich Träume waren.

Und doch vermisste er sie trotzdem so sehr. Umso mehr nach all der Zeit, während der er sie nicht gesehen hatte.

Aber leider hatte er aktuell nicht die Zeit, um dem Vergnügungsviertel einen Besuch abzustatten. Seine Arbeit war noch nicht einmal zur Hälfte erledigt.

Stattdessen hatte er beschlossen, Dame Gyokuyou zu besuchen und zu schauen, wie sie sich auf ihre neue Rolle vorbereitete: die der offiziellen Kaiserin der Li-Nation.

Auch wenn er den inneren Palast nicht mehr so häufig betreten würde wie in der Vergangenheit, fand Jinshi es nichtsdestotrotz ein wenig schade, dass sie die Jade-Residenz bald verlassen würde. Jener Ort barg so viele Erinnerungen. Erinnerungen an die Zeit, als Maomao im inneren Palast gearbeitet hatte... Maomao, die nie wieder Gyokuyous Zofe sein würde... oder seine...

Ach, Maomao...

Jinshi schluckte seine Sehnsucht nach der Apothekerin herunter und wendete den Blick seiner müden Augen von der Decke ab, um zu dem schlafenden Baby zu schauen, welches er gerade hielt. Die zukünftige Kaiserin hatte ihm den neugeborenen Kronprinzen in die Arme gelegt, sobald er sich hingesetzt hatte, und Jinshi hatte nicht das Geringste dagegen gehabt. Immerhin war er ja ebenso gekommen, um nach dem Jungen zu sehen, nachdem er vor einigen Tagen bereits Dame Lihuas Sohn besucht hatte. Vielleicht war es ja die Macht der Gewohnheit oder eine seltsame Art von Nostalgie nach seiner Zeit als Aufseher des inneren Palastes.

Er musste zugeben, dass es ziemlich entspannend war, das kleine, warme Bündel zu halten. Vielleicht war das ja der Grund, wieso Dame Gyokuyou ihm das Baby gegeben hatte: sie musste seine Erschöpfung bemerkt haben. Aber natürlich hatte sie das, denn diese war schließlich schwer zu übersehen.

Und außerdem vertraute sie Jinshi bereits mit ihrer Tochter und nun auch offensichtlich mit ihrem Sohn. So sehr, dass sie ihn sogar mehr oder weniger mit ihm allein ließ. Ja, als ehemaliger Aufseher hatte der junge Mann bereits Erfahrung damit, Kinder im Arm zu tragen, da er jedes einzelne Kind des Kaisers gehalten hatte. Auch die, die leider nicht überlebt hatten. Er erinnerte sich an sie alle.

Jedoch waren Gyokuyous Kinder aus irgendeinem Grund die einzigen, zu denen er eine besondere Bindung spürte. Wieso, wusste er nicht. Möglicherweise, weil die Dame selbst von allen Gemahlinnen des Kaisers diejenige war, die ihm vom Alter her am Nächsten war und ihn beinahe wie einen jüngeren Bruder behandelte.

Der Junge strampelte im Schlaf ein wenig mit den Beinchen und Jinshi setzte ein Lächeln auf, ihn sanft wiegend und ihm vorsichtig das dünne, rote Haar streichelnd.

„Hast du's gut... kannst jeden Tag friedlich schlafen... ohne eine Sorge auf der Welt..." Genau wie es für ein Kind sein sollte.

Der Raum war leer, doch ein paar von Dame Gyokuyous Zofen standen direkt an der offenen Tür und behielten Jinshi und das Baby im Auge, ebenfalls lächelnd, jedoch auch bereit, ihm das Kind abzunehmen, sollte es anfangen zu weinen.

Das Kind, welches seit dem Moment seiner Geburt die Position des Kronprinzen innehielt und mit hoher Wahrscheinlichkeit der nächste Kaiser werden würde.

Ein Schatten huschte über Jinshis Gesicht und er schluckte schwer, während seine Augenbrauen sich in einem Ausdruck von Traurigkeit senkten.

„Es tut mir so leid, Kleiner", murmelte er in einem kaum hörbaren Tonfall. „Dafür, dass ich dir solche Lasten aufbürde."

Als ehemaliger Kronprinz wusste er nämlich ganz genau, was es hieß, das Leben eines solchen zu führen. Es war ein goldener Käfig, wo man seine gesamte Existenz lang eingesperrt drinsaß, mit einem Haufen Regeln und Verbote, und wo fast jeder Schritt beobachtet wurde. Ohne jede Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Ein Leben, wo die meisten Leute nur den Titel sahen und nicht die Person dahinter. Ein sehr einsames Leben...

Genau deshalb hatte Jinshi so sehr gewollt, dass der Kaiser einen Sohn bekam. Um diesen Titel loszuwerden, um nicht selbst Kaiser werden zu müssen, um endlich so frei zu sein, wie es nur ging.

Doch der Kronprinz war nicht der Einzige, auch die kleine Lingli würde es nicht leicht haben... Bei der Vorstellung, dass das Mädchen bereits in zehn-zwölf Jahren verheiratet und in irgendein fremdes Land geschickt werden könnte, wurde Jinshi beinahe übel. Jedoch bezweifelte er, dass er etwas dagegen würde tun können...

Auf einmal wurde er aber aus seinen finsteren Gedanken gerissen, als er den Säugling leise gähnen hörte und sah, wie dieser seine winzigen Fäustchen hob und langsam die Augen öffnete.

Jinshi öffnete leicht den Mund vor Überraschung und lächelte dann erneut.

„Oh, bist du wach?" Er strich dem Baby über eine seiner weichen, runden Wangen. Einen Augenblick lang befürchtete er, dass der Kleine anfangen würde zu weinen, sobald er merkte, dass seiner Mutter nicht in der Nähe war, doch der Junge blieb ruhig und sah lediglich mit großen, neugierigen Augen zu Jinshi hoch, sich mit einem seiner Händchen an seinen Ärmel klammernd. „Du bist wirklich süß... Ich wünschte, ich könnte dich Maomao zeigen. Du verdankst ihr dein Leben, weißt du? Sie scheute nämlich keine Mühen, um sicherzugehen, dass du wohlbehalten auf die Welt kommst. Und sie hat nicht nur dich gerettet, sondern auch deine Schwester und deine Mutter und... mich. Ganz schön unglaublich, wenn man so darüber nachdenkt."

Ach, Maomao... Seine Sehnsucht nach ihr kehrte mit voller Wucht zurück.

„Ein Glück, dass sie nun auch selbst in Sicherheit ist", dachte er. Er konnte kaum essen und schlafen, während sie vermisst worden war und falls seine Albträume tatsächlich Wirklichkeit geworden wären und ihr etwas zugestoßen wäre, hätte er nicht gewusst, wie er das ertragen sollte. Allein die Vorstellung war zu schrecklich. Er war wirklich froh, der Einzige zu sein, der eine bleibende Narbe davongetragen hatte. Maomaos Blutergüsse dagegen waren bestimmt bereits verblasst.

Einige Minuten lang herrschte Stille. Bis...

„Bruder!"

...bis ein kleines Mädchen auf einmal das Zimmer betrat. Die Zofen ließen sie gewähren und sahen bloß belustigt zu, wie Lingli auf Jinshi zurannte und ihre dünnen Ärmchen um eines seiner Beine schlang.

Jinshi lachte.

„Und hier kommt auch schon die kleine Prinzessin!"

Er verlagerte das Gewicht des Jungen so, dass er ihn mit einem Arm hielt, und beugte sich nach unten, um das Mädchen ebenfalls hochzuheben. Lingli strahlte ihn an und fiel ihm voller Freude um den Hals.

 „BRUDER!", quietschte sie in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Der Neugeborene weitete die Augen und begann, leise zu wimmern.

„Pssst... sei bitte ein wenig leiser, ja?", tadelte Jinshi Lingli sanft und drückte das Baby enger an seine Brust, es wiegend, bis es sich wieder beruhigte.

Die Zofen wollten schon eingreifen, doch Jinshi schenkte ihnen einen Blick, der verriet, dass er alles unter Kontrolle hatte.

Die Kleine schlug sich erschrocken eine Hand auf den Mund.

„'Tschuldigung", nuschelte sie.

Jinshi setzte sie auf seinen Schoß und streichelte ihr Haar. Auch das kleine Mädchen war so niedlich, dass er es nicht mit Worten beschreiben konnte.

„Alles gut. Es freut mich, dass du so lebhaft wie immer bist. Ich habe schon ziemlich lange nicht mehr mit dir gespielt, nicht wahr, Prinzessin? Wirst du mir verzeihen?" Er lächelte sie liebevoll an.

Lingli kicherte bloß und wedelte mit den Ärmchen.

Der winzige Junge schien ihre Bewegungen wahrgenommen zu haben und streckte auch seine eigenen aus. Die Prinzessin lächelte breit, als sie dies sah, und griff nach Jinshis Gewand, um sich auf seinem Schoß auf die Füße hochzuziehen und ihren jüngeren Bruder bei der Hand zu nehmen.

Bei der Szene wurde es Jinshi warm ums Herz. Er legte seine freie Hand auf Linglis Rücken, damit sie nicht herunterfiel.

„Bruder!"

„Ja, dieser kleine Kerl ist dein Bruder. Du bist jetzt eine große Schwester."

„Groß!", stimmte Lingli stolz zu. Dann ließ sie die Hand des Babys los und zeigte stattdessen auf Jinshi. „Großer Bruder!"

Er lachte leise. Ja, er sollte wirklich langsam damit beginnen, ihr beizubringen, ihn „Onkel" zu nennen, vor allem jetzt, wo er die Eunuchenmaske weggeworfen hatte. Doch er konnte es einfach nicht, da das Wort „Bruder" eine wunderbare Wärme in seinem Inneren auslöste, und jedes Mal, wenn Lingli bei ihm war, er sich tatsächlich wie ein älterer Bruder fühlte. Was für ein schönes Gefühl. Vielleicht war das ja der Grund, wieso er sich ihr und auch dem kleinen Prinzen so verbunden fühlte.

Sehr bald erfüllte mehrstimmiges Gähnen den Raum und einige Minuten später hielt Jinshi bereits zwei schlafende Kinder in seinen Armen.

Er drückte sie fest an sich, sie beschützend und sich um sie kümmernd wie der große Bruder, der er nie sein würde.

Chapter 85: Amnesie, Teil 25: Wunden und Narben

Notes:

Bin zurück, ganz wie versprochen :)

Ich wollte Jinshis und Maomaos Gespräch über den Loskauf eigentlich in diesem Kapitel hier behandeln mit einigen Kleinigkeiten, die davor noch passieren, aber aus den sogenannten "Kleinigkeiten" ist ganz schnell etwas Großes geworden, was das Kapitel viel zu lang gemacht hätte, hätte ich alles hier hineingestopft. Also wird besagtes Gespräch im nächsten stattfinden.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Maomao brauchte noch eine Weile, um das zu verarbeiten, was sie gerade mit eigenen Augen erlebt hatte. Es war einfach zu unglaublich, dass Jinshi sich wahrhaftig eingeprägt hatte, was sie ihm während der letzten paar Wochen über Heilkräuter erzählt hatte. Das... das musste ja heißen, dass er ihr all jene Fragen nicht aus allgemeiner Neugier, sondern aus wahrem Interesse an dem Thema gestellt hatte! Eine andere Erklärung konnte sie dafür nämlich nicht finden.

Nun, es stimmte, dass er sich bereits vor dem Unfall gelegentlich dafür interessierte, was sie tat, und ihr auch aufmerksam zuhörte, doch richtige Begeisterung gegenüber Pflanzen hatte sie bei ihm bisher noch nie gesehen. Hatte er diese etwa die ganze Zeit versteckt gehalten? Sieh mal einer an...

Oder lag es an dem Unfall? Vielleicht hatte dieser sein Gehirn ja in einer solchen Hinsicht beeinflusst, dass sich seine Interessen und Vorlieben verändert hatten. Hm, aber soweit sie wusste, waren Letztere mehr oder weniger gleich geblieben...

Ach, was soll's. Jedenfalls war es ein Beweis, dass er trotz des Verlustes seiner früheren Erinnerungen nach wie vor ein exzellentes Erinnerungsvermögen besaß. Eine wunderbare Neuigkeit.

Ohne dass die Apothekerin es bemerkte, hatten ihre Augen angefangen zu funkeln und auf ihren Lippen erschien ein breites Lächeln. Wie denn auch nicht, wenn sie sonst nur selten Leute traf, die ihre Interessen teilten? Maomao war zwar nicht sehr gesprächig und oft in sich gekehrt, aber sie war immer noch ein Mensch.

Jinshi starrte eine Weile lang baff und mit leicht geöffnetem Mund auf Maomaos Lächeln, bevor er es unter seiner Maske erwiderte.

„Ich präge mir immer ein, was du mir erzählst”, sagte er leise. Seine violetten Augen waren voller Wärme. „Weil du es bist. Ich liebe es, wenn du über Dinge sprichst, die du magst, und auch, wenn du glücklich bist. Du kannst zu jedem Thema Interesse erwecken.” 

Maomao, die so überglücklich war, dass sie nicht so recht mitbekam, was er da sagte, strahlte ihn direkt an. Jinshis Augen weiteten sich leicht und er schluckte, sich unbewusst mit einer Hand ans Herz fassend, als wolle er es davon abhalten, aus seiner Brust herauszuspringen.

„Möchtest du noch mehr lernen?”

Weg waren ihre Zweifel und Bedenken, dass sie seine und ihre Zeit nicht damit verschwenden sollte, ihm den Kopf mit Dingen zu füllen, die er in seinem Leben sowieso nicht benötigte. Und auch die Gedanken, dass Gartenarbeit und Ähnliches nicht zu ihm passte, weil er ein Adeliger war, der weit über ihr stand und in einer vollkommen anderen Welt lebte.

Es passte sehr wohl zu ihm. Der Adelige Jinshi war nämlich im Kaiserlichen Palast zurückgeblieben, während derjenige, der nun mit ihr zusammenlebte, lediglich ein gewöhnlicher junger Mann war. Sonst nichts. Einer, der nicht nur in keiner anderen Welt lebte, sondern bereits zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden war.

Maomao hatte es noch nicht richtig begriffen, doch in Wirklichkeit konnte sie sich kein Leben mehr ohne ihn vorstellen.

Nein, eher war es so, dass ihr Gehirn sich weigerte, es zu begreifen, da sie tief drin wusste, dass es falsch war, so zu denken (immerhin WAR Jinshi immer noch ein Adeliger, egal was geschah und wo er sich befand). Sobald er sein Gedächtnis zurückerlangte, würde ihre Beziehung zueinander sowieso wieder so werden müssen, wie sie vor dem Unfall gewesen war... richtig? Natürlich würde sie das. Aber wollte sie das überhaupt? Sie hatte ehrlich keine Ahnung... Doch sie würde mehr als genug Zeit haben, darüber nachzugrübeln, wenn es wirklich so weit war. Im Moment konnte sie sich einfach nur freuen, jemanden zu haben, mit dem sie ihr Wissen teilen konnte.

„Ja! Ja, bitte!”

Und so begannen die beiden, gemeinsam Kräuter zu sammeln, während Maomao ihm noch mehr Fakten über sie beibrachte. Mit Begeisterung.

***

Als ihre Körbe bereits fast voll waren und die zwei im Gras hockten, kurz davor, die letzte Pflanze zu pflücken, die Maomao für die Herstellung neuer Medizin benötigte, wanderte ihr Blick auf einmal zur Seite, als sie in der Nähe Bewegungen wahrnahm. Sie hielt inne und verengte die Augen.

Jinshi bemerkte dies selbstverständlich.

„Was hast du denn, Xiaomao? Wieso bist du so still geworden?”, fragte er erstaunt und blickte in dieselbe Richtung. „Hast du etwas entdeckt?”

Doch die Apothekerin antwortete nicht. Stattdessen starrte sie vollkonzentriert auf das Gras und setzte ein durchtriebenes Lächeln auf, während sie in einen der Körbe griff und ein kleines Messer herauszog, welches sie genutzt hatte, um einige Pflanzen von unnützen Zweigen zu befreien.

„Na warte…”, murmelte sie. „Dich krieg ich…”

Ihre Worte verwirrten Jinshi nur noch mehr.

„W-Was ist denn da? Etwas Gefährliches?”

Einen ernsten Gesichtsausdruck aufsetzend, wollte er bereits aufstehen und Maomao vor dem, was auch immer es war, beschützen, doch bevor er sich versah, war sie bereits hochgeschossen und ins Gras gesprungen, genau an die Stelle, die sie vorhin so fixiert hatte. Dort landete sie auf den Knien, das Messer hoch erhoben. Fast wie eine Katze auf der Jagd. Ein kurzes Zischen erklang und dann herrschte Stille.

„Hab ich dich!”

Jinshi riss die Augen auf und ein leiser Laut der Überraschung entfloh seinen Lippen, als Maomao sich mit einem siegreichen Grinsen erhob und ihm eine Schlange präsentierte. Eine schlaffe, ganz offensichtlich tote Schlange. Blut tropfte von ihrem Messer, welches sie in ihrer anderen Hand hielt. Man sah sofort, dass sie so etwas nicht zum ersten Mal tat.

Jinshi schien ganz ehrlich keine passenden Worte für die Situation zu finden und starrte sie einfach nur an.

„I-Ist die giftig?”, fand er schließlich immer noch perplex seine Stimme wieder und Maomao blickte mit einem zufriedenen Grinsen auf die Schlange.

„Nein. Aber lecker.”

„Du willst sie essen?!” Jinshis Gesicht zeigte ganz deutlich, dass er seinen Ohren kaum traute.

Maomao zuckte bloß die Achseln.

„Die sehen nicht sehr appetitlich aus, ich weiß, schmecken gebraten oder gegrillt aber richtig gut. Ich zeig's dir, sobald wir daheim sind.”

„A-Ach ja?...” In seiner Stimme war zwar noch ein Rest Zweifel verblieben, doch seine Augen verrieten, dass er wieder lächelte. „Na gut.”

„Ah, ja: und man kann sie auch in Alkohol einlegen und als Medizin nutzen. Mein Vater hat dies ab und zu auch gemacht.”

Jinshi blinzelte einige Male. 

„Wirklich?”

„Ja! Schlangenwein wird als Stärkungsmittel verwendet. Es ist zwar besser, ihn aus Giftschlangen herzustellen, doch weil diese hier ein wenig selten sind, kann man auch solche nehmen.” Sie hob die Hand mit der Schlange. „Aber eigentlich sind diese hier eher zum Essen. Um ehrlich zu sein, lasse ich sie meistens in Frieden, weil sie Mäuse und andere Schädlinge fressen und somit nützlich auf dem Feld sind, aber ich habe so lange kein Schlangenfleisch mehr gegessen, dass ich heute nicht widerstehen konnte.”

Ihr Mitbewohner lauschte ihr so aufmerksam wie immer.

„Oh, also kann man Medizin nicht nur aus Pflanzen, sondern auch aus Tieren herstellen, was?”, murmelte er, sich mit dem Zeigefinger am Kinn kratzend. So wie es aussah, war seine Verwirrung bereits fort. Na ja, zum größten Teil jedenfalls.

Maomao, welche die Schlange inzwischen auf das Gras gelegt hatte und nun mit einem Taschentuch ihr Messer sauberwischte, öffnete bereits den Mund, um zu antworten, runzelte dann aber die Stirn und schloss ihn wieder.

„Xiaomao?”

Die Apothekerin verstaute das Messer und griff nach ihrem Rock, ihn anhebend und ihre Beine entblößend.

Jinshi wurde auf der Stelle rot (wegen der Maske konnte sie jedoch nur seine Ohren erröten sehen), gab dann aber ein leises Japsen von sich, als er die Schürfwunde auf einem ihrer Knie erblickte. Ein dünner Blutfaden lief ihr Bein herab.

„Ach, das muss wohl passiert sein, als ich die Schlange gefangen hab”, bemerkte sie seelenruhig. „Was soll's.”

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, war er auch schon aufgesprungen und zu ihr geeilt.

„Xiaomao! Du bist ja verletzt! Tut es weh?! Hast du Verbandszeug dabei?!” Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Entsetzen.

„Was soll denn diese Panik? Das ist doch bloß ein Kratzer”, dachte sie verwundert und hob beide Augenbrauen.

„Habe ich, aber solch eine kleine Wunde muss nicht verbunden werden, die heilt auch so.”

Er packte sie an den Schultern und sah ihr in die Augen.

„Doch! Du hast meine auch immer verbunden, damit kein Schmutz hineingerät, weil du sagtest, dass er eine gefährliche Infektion auslösen kann!”

„Jinshi! Wag es ja nicht, deine Wunde mit meiner zu vergleichen!” Maomao war fassungslos und auch ein bisschen sauer. Wie zur Hölle konnte er bloß ihre winzige Verletzung mit der vergleichen, die ihm das Gedächtnis gekostet hatte und beinahe auch das Leben? „Ja, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass sie sich infiziert, aber es reicht einfach nur, sie zu säubern.”

Doch Jinshi wollte nichts davon hören. Stattdessen streckte er die Hand aus und schenkte ihr einen entschlossenen Blick.

„Xiaomao, gib mir bitte dein Verbandszeug und eine Flasche Wasser.”

Sie sah ein, dass Streiten sinnlos wäre (immerhin war der Kerl genauso dickköpfig wie sie selbst) und gab ihm ohne Widerworte das, worum er sie gebeten hatte, während er sich hinkniete und ihre Wunde beäugte, als sei sie eine lebensgefährliche Verletzung.

Sobald Jinshi die Gegenstände erhalten hatte, setzte er sich auf dem Gras hin (dabei darauf achtend, keine Blumen zu zerdrücken, wofür ihm die Apothekerin äußerst dankbar war) und streckte die Arme aus.

„Komm her, Xiaomao.”

Maomao seufzte und nahm neben ihm Platz. Jinshi warf seinen dreckigen Händen einen kritischen Blick zu und öffnete die Wasserflasche.

Die Apothekerin begriff, was er vorhatte, und kramte in ihren Sachen herum, bis sie ein kleines Fläschchen fand, welches sie ihm gab.

„Hier, reib dir damit die Hände ein, sobald du sie gewaschen hast. Das ist ein Desinfektionsmittel, das die schädlichen Substanzen vernichtet, die Infektionen auslösen.”

„Ah, danke dir!”

Nachdem er seine Hände gesäubert hatte, schlang er einen Arm um Maomaos Taille, zog sie enger zu sich heran und beugte sich nach unten, um sanft ihr Bein zu heben und die Wunde auszuwaschen. Die Apothekerin desinfizierte sich ebenfalls die Hände und gab ihm resigniert Anweisungen, während sie seine große, warme Hand unter ihrem Knie spürte und sich entspannt an seinen Arm zurücklehnte.

Als Nächstes rollte er das Verbandszeug auf und versuchte es, so gut er konnte, um ihr Knie zu wickeln. Ein belustigtes Schnauben entfuhr Maomao, während sie seinen unbeholfenen Bewegungen zusah, bis sie schließlich leicht den Kopf schüttelte und ihn sanft bei den Händen nahm, um ihm zu zeigen, wie es richtig ging.

Einige Zeit später sah er sich um, um sicher zu gehen, dass sich keiner in der Nähe befand, bevor er für eine Sekunde seine Maske anhob und Maomao auf die Wange küsste.

„Erledigt. Jetzt kann sich deine Wunde nicht mehr entzünden.” Er klang erleichtert und legte ihr seinen Arm um die Schultern.

„Das freut mich, danke”, sagte Maomao mit einem weiteren Seufzer und klopfte ihm mit dem Handrücken auf die Brust. „Aber meiner Meinung nach hast du ziemlich übertrieben. Es war nichts weiter als ein Kratzer und die ganze Mühe gar nicht wert.”

„Und wie wert es das war!”, erwiderte er empört, als könne er nicht glauben, was sie da redete. „Ich habe versprochen, dich zu beschützen, und das tue ich auch!”

„Hach, das schon wieder?”, dachte sie leicht ermüdet.

„Und außerdem... außerdem will ich mich um dich kümmern, jetzt wo ich dazu endlich in der Lage bin. Ich will es wirklich sehr.”

Maomao fühlte, wie sein Griff um ihre Schultern noch ein wenig fester wurde, als er jene Worte aussprach. Bestimmt war er schon wieder rot angelaufen...

„Verstehe…” Sie hatte keine Ahnung, was sie sonst noch dazu sagen sollte, also verstummte sie und wendete ihren nachdenklichen Blick stattdessen zur Seite. Genauer gesagt, auf seine Hand, die auf ihrer schmalen Schulter ruhte. Sie hob ihre eigene Hand und streichelte seine leicht rauen Finger und die Schwielen darauf, die vom Schwertraining und all seiner Arbeit vor dem Unfall stammten.

Jinshi drückte die Wange an ihren Kopf und schloss für einen Moment die Augen, noch ein wenig näher zu ihr rückend und ihre Berührungen genießend.

„Oh, du hast da einige Kratzer auf deinen Fingern”, bemerkte Maomao schlussendlich und fuhr mit der Spitze ihres Zeigefingers vorsichtig über seinen Daumen, wo sie den größten Kratzer entdeckte. „Das muss während der Gartenarbeit passiert sein. Komm, ich desinfiziere sie dir…”

„Aber ich habe meine Hände doch bereits desinfiziert.”

„Ich weiß, aber ich würde es gern nochmal tun, um sicher zu gehen, dass sie sich auch wirklich nicht entzünden.”

Jinshi hob verblüfft den Kopf. Dann brach er in lautes Gelächter aus, so sehr, dass ihm einige Tränen in die Augen stiegen.

„Haha, Xiaomao... Wer von uns beiden übertreibt denn jetzt wohl, hm?”

Dieses Mal schmollte die Apothekerin ein wenig.

„Das ist was Anderes…”, murmelte sie gereizt und blickte Richtung Boden.

„Ach, echt?”, neckte er sie liebevoll.

„Hmpf!” Sie zwickte ihn als kleine Strafe in den Handrücken und griff nach dem Desinfektionsmittel.

Und während Maomao damit beschäftigt war, Jinshis Kratzer zu behandeln, saß er einfach nur eng an sie gepresst da und sah ihr zu, sie gewähren lassend und das gelegentliche Brennen auf seinen Fingern ertragend. Auch er musste in der Zwischenzeit gelernt haben, wie stur Maomao war.

Irgendwann fiel sein Blick auf ihr Bein, um das er sich kürzlich gekümmert hatte, und seine Ohren wurden erneut von einem zarten Rosa überzogen. Der Rock der Apothekerin war nach wie vor bis zu den Knien hochgezogen und Jinshi streckte umgehend seine freie Hand aus, um ihn ihr zu richten. Doch dann erstarrte er urplötzlich und seine Pupillen schrumpften vor Schreck.

„Xiao-Xiaomao…”, brachte er mit erstickter Stimme hervor.

Maomao hörte auf mit dem, was sie tat, und schaute verwirrt und von seinem Tonfall alarmiert zu ihm hoch.

„Was ist, Jinshi? Bist du noch irgendwo verletzt? Tut dir etwas weh?”

Doch der junge Mann ging auf ihre Fragen nicht ein.

„Was für eine große Narbe…”, nuschelte er betroffen und begann, ganz sanft ihren Unterschenkel zu reiben, auf dem eine lange, dünne Narbe prangte.

Maomaos Verstand setzte für einen Augenblick aus und ihr Puls beschleunigte sich.

„Oh nein! Die Narbe von dem Vorfall mit dem Ritual!”

Die hatte sie ja vollkommen vergessen!

Dies war das allererste Mal nach seinem Unfall, dass Jinshi ihre nackten Beine zu Gesicht bekam, da sie in seiner Residenz stets auf ihr Zimmer gegangen war, um sich umzuziehen, und er sich in der Hütte nun jedes Mal ganz wie ein Gentleman mit dem Rücken zu ihr drehte, wenn sie eine solche Absicht hegte (und als ob das nicht bereits genug wäre, verschanzte er sich dazu noch aus irgendeinem Grund immer in eine Ecke des Apothekerlädchens und drückte die Stirn an die Wand, sich sogar die Ohren zuhaltend, als wolle er nicht einmal das Rascheln ihrer Kleidung hören, bis Maomao auf ihn zuging und ihm eine Hand auf die Schulter legte, um ihm mitzuteilen, dass sie fertig war und er wieder schauen durfte). Daher war es ihr entfallen, dass nicht nur der Kaiserliche Palast Hinweise auf Jinshis Vergangenheit enthielt, sondern sogar ihr eigener Körper!

Mist! Und was jetzt? Was, wenn er Kopfschmerzen oder Fieber bekam und direkt hier, auf dem Feld zusammenbrach?! In einem solchen Fall hätte sie keine andere Wahl, als zum Verdigris-Gebäude zu rennen und einige der dortigen Wachen zu holen, damit sie ihn nach Hause trugen!

„D-Das war ein Unfall…”, brachte sie steif vor leichter Panik hervor. Selbstverständlich konnte sie ihm nicht verraten, dass es während eines Vorfalls passiert war, bei dem er beinahe umgebracht, zu Tode zerquetscht worden war. Eines Tages würde sie das zwar tun müssen, aber ganz bestimmt nicht jetzt. Vom bloßen Gedanken, ihm davon zu erzählen, wurde ihr übel. Das war definitiv schlimmer als die Geschichte über den Loskauf...

„Das muss richtig wehgetan haben... Mein armer Schatz…”

Er nahm die Hand von ihrem Bein und umarmte sie fest. Maomao hatte einen solchen Kloß im Hals, dass sie ihn nicht einmal für den peinlichen Kosenamen tadelte.

„Es sieht schlimmer aus als es war. Mach dir keine Sorgen, es ist bereits längst verheilt…”

„Ah!”

Auf einmal zerriss ein erstickter Aufschrei die Luft und Maomao konnte spüren, dass Jinshi sie sogar noch enger umschlang und den Kopf auf ihre Schulter legte, die Augen fest zusammenkneifend und die Kiefer anspannend.

Die Apothekerin erstarrte. Er hatte seine Stirn an ihrer Halsbeuge vergraben und angefangen, stärker zu schwitzen und zu zittern, als sei ihm gleichzeitig heiß und kalt. Außerdem raste sein Herz. Sie kannte jene Symptome nur allzu gut...

„Nein... bitte nicht…”, murmelte sie verzweifelt und richtete sich instinktiv gerader auf, um Jinshi besser zu stützen.

Wieso? Wieso suchten ihn seine Vergangenheit und seine Schmerzen selbst hier, an diesem Ort heim?! War er denn wirklich nirgendwo vor ihnen sicher?! Das konnte doch nicht wahr sein!

Ohne es zu merken, hatte auch sie angefangen, ein wenig zu zittern, als die Erinnerungen an Jinshis frühere Angst- und Schmerzattacken wieder in ihr hochkamen. Mit einer solchen Wucht, dass sie sich beinahe eine ganze Minute lang nicht rühren konnte.

Als ihre Muskeln ihr wieder zu gehorchen schienen, hob sie die Hände und klatschte sich leicht auf die Wangen, um wieder zu sich zu kommen. Für ihre eigenen Gefühle und Ängste hatte sie momentan keine Zeit. Sie musste schnell handeln!

Mit einiger Mühe befreite Maomao sich aus Jinshis Griff, sprang auf, drehte sich mit dem Gesicht zu ihm und schlang die Arme um seinen Hals, um seinen schmerzenden Kopf an ihre Brust zu drücken. All dies, ohne ein Wort zu sagen und fast schon wie aus einem Reflex heraus.

„Xiaomao…”, wimmerte er und legte die Arme um ihre Taille, sich eng an sie schmiegend, so dass sein Ohr an ihr Herz gepresst war. Sie wusste, dass ihr Herzschlag ihn beruhigte und ihm Sicherheit vermittelte, genauso wie seiner es bei ihr tat.

Einige heiße Tränen liefen aus seinen Augen und durchtränkten seine Maske.

„Psst... Ich bin bei dir. Hab keine Angst.”

Ihm sanft das Haar streichelnd, biss die Apothekerin die Zähne zusammen. Wie sehr hatte sie tief in ihrem Inneren doch gehofft, jenes gequälte Wimmern zumindest im Vergnügungsviertel nicht zu hören... sondern nichts als sein glückliches Lachen...

Aber die Wirklichkeit war grausam.

Sie verharrten etwa eine Viertelstunde lang in dieser Position. Zu ihrer Erleichterung beruhigte Jinshis Atmung sich während dieser Zeit ein wenig und sein Zittern hörte fast vollständig auf.

Schließlich hob er den Kopf und schenkte ihr einen verwirrten und immer noch schmerzerfüllten Blick.

„Xiaomao... h-hat deine Narbe etwas mit meiner Vergangenheit zu tun?”

Sie legte die Hände auf seine Wangen und zwang sich, ihm in die Augen zu schauen.

„Ja.” Ihrer Meinung nach wäre Lügen zwecklos.

Jinshi weitete die Augen.

„M-Mit diesem Freikauf?”

Die Apothekerin schüttelte den Kopf.

„Nein. Der war davor. Jedoch würde ich dir die Geschichte zu meiner Narbe lieber noch nicht erzählen, da es zu viel für dich wäre... daher denke ich, wäre es besser, wenn ich es tue, wenn wir wieder zurück in deiner Residenz sind”, erklärte sie. Sie hatte beschlossen, so ehrlich wie möglich zu ihm zu sein.

Jinshi weitete die Augen noch mehr und sah eine Sekunde lang so erschrocken aus, dass Maomao ihre Ehrlichkeit fast schon bereute.

„Ach... so. K-Kann es sein, dass deine Verletzung... meine Schuld w-war?”, fragte er mit bebender Stimme, sich an ihre Kleidung klammernd.

Maomao blickte ihn mehrere Augenblicke lang entsetzt an und schluckte dann schwer.

„Nein, natürlich nicht”, antwortete sie schließlich und wischte ihm mit ihrem Ärmel die Tränen weg

***

Ein wenig später hatten die beiden all ihre Sachen mitten im Feld liegen gelassen und befanden sich nun im angenehm kühlen Schatten eines großen Baumes, der sie mit seinen dicht belaubten Ästen vor der brennenden Sonne schützte.

Die Atmosphäre war mittlerweile deutlich ruhiger geworden und Jinshi lag nun ausgestreckt auf dem Gras mit dem Kopf auf Maomaos Schoß und erholte sich mit einem Schläfchen von seinen Kopfschmerzen. Die Apothekerin hatte ihm Schmerzmittel gegeben (aus offensichtlichen Gründen hatte sie stets welches dabei) und sobald dessen Wirkung eingesetzt hatte, hatte ihr Mitbewohner angefangen, sich schläfrig zu fühlen. Und so hatte sie ihn schließlich an die Hand genommen und zu dem vorhin erwähnten Baum geführt, damit er zusätzlich zu dem, was er bereits durchmachte, nicht auch noch einen Hitzschlag bekam, wenn er in der Sonne schlief.

Obwohl die zwei bereits den halben Tag auf dem Feld verbracht hatten und es für Maomao noch ziemlich viel zu tun gab, hatte sie es überhaupt nicht eilig. Den Nachhauseweg würde sie erst antreten, nachdem sie sich sicher war, dass es Jinshi wieder gut ging und seine Schmerzen fort waren, damit er nicht unterwegs noch zusammenbrach (schließlich mussten sie auch noch ihre Körbe und Gartenwerkzeuge zurücktragen, was für die kleingewachsene Maomao viel zu schwer war, vor allem, wenn sie dazu noch Jinshi beim Gehen stützen müsste). Er hatte definitiv Vorrang.

Mit einem neutralen und schwer zu entziffernden Ausdruck im Gesicht saß Maomao demnach da und streichelte Jinshis Haar und Schultern, geduldig darauf wartend, dass er wieder aufwachte. Ihrer Erfahrung zufolge, würde dies mindestens eine Stunde dauern. Na gut, dann war es eben so. Nachdem sie sich gründlich umgeschaut und vergewissert hatte, dass sie auch wirklich allein waren, hatte sie Jinshi die Maske abgenommen, damit er leichter atmen konnte.

Still blickte sie auf die dünne Narbe auf seiner Stirn herab, welche nun voll sichtbar war, da er kurz vor ihrem Aufbruch Richtung Vergnügungsviertel aufgehört hatte, Verbände um seinen Kopf zu tragen. Jene Narbe war wie ein Symbol ihrer neuen Leben, etwas, was sie stets daran erinnerte, dass Jinshi möglicherweise nie wieder der Alte sein würde.

In Maomaos Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Ein Durcheinander aus Gedanken über Jinshi, über sie selbst, über ihre Vergangenheit, die sich so anfühlte, als sei sie in einem anderen Leben passiert, und ihre ungewisse Zukunft. Die Wunde auf ihrem Knie brannte ein wenig.

„Xiaomao…”, murmelte Jinshi im Schlaf, so wie er es öfters tat. Sie hatte keine Ahnung, wovon er genau träumte, doch seine Stimme hörte sich ein wenig verzweifelt, fast schon flehend an. Hoffentlich handelte es sich nicht um einen Albtraum...

„Ich bin hier, Jinshi... ich bin hier”, wisperte Maomao und seufzte leise, während sie mit dem Zeigefinger ganz sanft über seine Narbe fuhr.

***

Wie vorausgesagt, erwachte Jinshi etwas mehr als eine Stunde später und setzte sich immer noch leicht schlaftrunken auf. Sobald er Maomao erblickte, schloss er sie in die Arme und schenkte ihr ein solch liebevolles Lächeln, als ob er die ganzen Schmerzen bereits vergessen hätte. Sie streckte sich und griff nach seinem Gesicht, um ihn zu untersuchen.

„Wie fühlst du dich?”, erkundigte sie sich in einem ernsten Tonfall und schaute ihm direkt in die Augen, um einen besseren Blick auf seine Pupillen zu bekommen, genau so wie sie es in der ersten Nacht nach seinem Unfall gemacht hatte. Jinshis Wangen nahmen einen zarten Rotton an, so wie immer, wenn sie solche Dinge tat. Und wie immer scherte Maomao sich nicht darum.

Er hüstelte und lächelte erneut.

„Viel besser. Der Schmerz ist zu einem ganz leichten Pochen geworden, das mich gar nicht mehr stört. Aber Xiaomao…” Auf einmal zog er die Augenbrauen zusammen, so wirkend, als ob er etwas auf dem Herzen hätte.

„Ja?”

Ein eisiger Schauer lief über den Rücken der Apothekerin. Wollte er ihr etwa mehr Fragen über ihre Narbe stellen?! Oh nein, vielleicht hätte sie vorhin doch nicht so ehrlich mit ihm sein sollen, oder? Natürlich wollte er mehr erfahren, nach all dem, was sie zu ihm gesagt hatte!

Als sie bereits begann, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was sie ihm antworten sollte, da es selbstverständlich nicht in Frage kam, ihm die Geschichte zu erzählen, erst recht nicht so kurz nach einem Schmerzanfall, spürte sie, wie er die Hände auf die ihren legte, welche seine Wangen hielten, und sie vorsichtig streichelte.

„Nein, es ist nichts. Alles gut. Lass uns heimgehen, ja?” Erneut zierte ein Lächeln seine Lippen.

Maomao blinzelte einige Male und nickte dann. Wie es aussah, nahm er schon wieder Rücksicht auf sie und zügelte ihr zuliebe seine Neugier. So viel begriff sie auf jeden Fall und war ihm auch sehr dankbar dafür... was ein stechendes Schuldgefühl in ihrer Brust auslöste.

„Zumindest die Geschichte über den Loskauf werde ich ihm endlich erzählen... und zwar heute Abend. Es ist ungerecht von mir, ihm so viele Informationen zu verschweigen…” Ein leicht bitterer Geschmack stieg beim letzten Gedanken in ihrem Mund auf, doch sie schluckte ihn mit einiger Mühe herunter.

Maomao half ihm, seine Maske wieder aufzusetzen, und sie standen auf, um den Schatten zu verlassen. Sobald sie dies taten, begann die Hitze der Sonne auch schon gnadenlos auf sie herabzubrennen.

Als sie bei ihren Habseligkeiten angekommen waren, ließ Maomao Jinshis Hand los und näherte sich der toten Schlange, die neben den mit Pflanzen gefüllten Körben herumlag. Sie bückte sich und beäugte sie kritisch mit verschränkten Armen.

„Die liegt hier nun schon seit über einer Stunde in der prallen Sonne herum. Essen würde ich sie nicht mehr.” Eine Lebensmittelvergiftung war das Allerletzte, was sie gerade benötigte. Und noch weniger, bei Jinshi eine auszulösen.

Dieser war neben sie getreten und sah sie entschuldigend an.

„Oh nein... es tut mir leid, Xiaomao... Du hast dich so darauf gefreut…”

Maomao seufzte und klopfte ihm auf die Schulter.

„Keine große Sache und nicht deine Schuld. Das nächste Mal, wenn wir herkommen, fange ich einfach eine neue. Und jetzt komm, gehen wir.” Sie meinte, was sie sagte. Verglichen mit Jinshis Wohlergehen, war die Schlange gewiss keine große Sache. „Aber ich nehme sie trotzdem mit. Ich brauche keine tote Schlange in meinen Blumen.”

Sie bückte sich und hob das Tier auf, um es später zu entsorgen.

Jinshi kicherte leise, als er das sah.

„Und dabei warst du doch diejenige, die sie getötet hat”, kommentierte er. „Armes Tier, hat sein Leben für nichts gelassen.”

Maomao zuckte die Achseln.

„Tja, kann man nichts machen.”

Mit der Schlange in der Hand näherte sie sich Jinshi, der gerade den größeren (und schwereren) der beiden Körbe auf seinen Rücken hievte und die Gartenwerkzeuge aufhob.

„Geht es dir wirklich wieder gut? Möchtest du vielleicht noch ein wenig schlafen, wenn wir wieder zu Hause sind?”, fragte sie, sich den anderen Korb schnappend. Wenn das der Fall war, würde sie die Apotheke für den Tag schließen.

„Nein, alles wunderbar!”

Und als ob er ihr dies beweisen wolle, beugte er sich vor und hob Maomao ohne jede Vorwarnung mit seinem freien Arm hoch, sodass sie nun auf seinem Unterarm saß.

„Hey! Jinshi!”

Sie strampelte ein wenig mit den Beinen und hielt sich an seiner Schulter fest.

„Entschuldige, haha!” Seinem Tonfall zufolge, tat ihm diesmal jedoch überhaupt nichts leid. Er drückte seine Wange an ihre Stirn. „Ich liebe es so sehr, dich zu tragen! Du bist so süß…”

Die letzte Aussage hatte Maomao von ihm während der letzten Wochen schon so oft gehört, dass sie sich daran gewöhnt hatte. Sie schnaubte.

„Wenn ich den dreckigen Putzlappen von gestern jetzt hier hätte, hätte ich ihn dir garantiert ins Gesicht geschmissen. Wie versprochen.”

Jinshi brach in fröhliches Gelächter aus.

„Na klar, Xiaomao, aber sicher hättest du das! Aber so kannst du zumindest deutlich sehen, dass es mir tatsächlich wieder gutgeht. Und auch wie stark ich bin!” Mit einem frechen Grinsen, welches von der Maske verborgen wurde, zwinkerte er ihr zu.

Maomao gab ihm einen leichten Klaps auf die Schulter.

„Du Angeber! Nur keine Sorge, mit deiner Kraft bin ich schon längst vertraut.” Jedoch klang sie weder verärgert noch genervt, sondern größtenteils erleichtert. Denn Jinshi hatte Recht: wenn es auch nur die allerkleinste Möglichkeit gäbe, dass er sie fallen lassen könnte, hätte er sie gar erst hochgenommen. So gut kannte sie ihn bereits.

Und so schritten sie schließlich los. Oder genauer gesagt Jinshi, der sowohl die gesammelten Pflanzen und die Gartenwerkzeuge als auch Maomao trug.

Sobald ihr klargeworden war, dass er allen Ernstes vorhatte, sie bis nach Hause zu tragen, begann sie zu protestieren.

„Jinshi! Lass mich gefälligst runter! Ich kann selbst laufen!”

„Nichts da, du hast eine Wunde am Knie.”

„Das war bloß ein Kratzer, wie oft denn noch?!”

Doch sie begriff rasch, dass sie mit ihren Protesten auf taube Ohren stieß, und gab auf.

***

Und tatsächlich trat Jinshi genau so auf die Straße hinaus, sich um nichts und niemanden scherend außer um Maomao. Ohne ein Wort zu sagen, warf er ihr ab und zu sanfte Blicke zu, als ob er sich nach ihrem Wohlergehen erkundigte, während er sie auf dem Arm trug.

Auch die Leute, an denen er vorbeiging, und die sie verwundert anstarrten, ignorierte er. Und Maomao tat dies überraschenderweise ebenso: obwohl es ihr zuerst ein wenig unangenehm gewesen war, vor allem, weil es im Vergnügungsviertel selten eine gute Idee war, Aufmerksamkeit zu erregen (wobei sie bequemerweise vergaß, dass sie selbst eine tote Schlange in der Hand hielt, was man, um es milde auszudrücken, auch nicht gerade als gewöhnlich bezeichnen konnte), aber weil Jinshis Gesicht wieder sicher unter seiner Maske verborgen und er vollkommen unauffällig als Bürgerlicher gekleidet war, entspannte sie sich schließlich und lehnte den Kopf an seine Schulter, sich nach all den Geschehnissen ein wenig müde fühlend.

Der Heimweg war nicht lang und schon bald erblickten sie vor sich die Hütte.

Jedoch... 

„Oh, schaut nur! Was für ein Anblick!”

„Ich kann nicht fassen, dass wir so etwas wirklich zu sehen bekommen!”

„Und sie haben sogar die gleiche Frisur!”

„Soll das heißen, unsere kleine Katze wurde gezähmt?”

Maomao hob umgehend den Kopf von Jinshis Schulter und blickte auf, sich auf einmal wieder erinnernd, dass sie sich ja mitten auf der Straße befanden. Jinshi hielt an und hob ebenfalls den Blick.

Die Apothekerin erschrak ein wenig und runzelte dann die Stirn, als sie ihre Schwestern erblickte, die auf einem von Verdigris' Balkonen standen. So wie es aussah, waren sie trotz der Hitze hinausgegangen, um ein wenig Luft zu schnappen. Pairin und Meimei winkten ihnen lächelnd zu, während Joka lediglich mit verschränkten Armen dastand.

„Tolles Timing, wirklich ganz toll”, grummelte Maomao vor sich hin und wollte am liebsten im Erdboden versinken, weil sie wusste, dass sie ihren Kommentaren nicht entfliehen würde.

„Oh, da ist ja deine Schwester”, bemerkte Jinshi ruhig.

„Die anderen beiden sind auch meine Schwestern. Meimei und Joka.”

„Verstehe.”

„Hallo, ihr beiden!”, grüßte Pairin sie fröhlich. „Ich bin wirklich überrascht, Maomao. Gestern hieltest du ihn bei der Hand und heute erlaubst du ihm sogar, dich auf diese Weise zu tragen. Ausgerechnet du.”

Maomao schnalzte genervt mit der Zunge, sagte aber nichts.

„Xiaomao hat eine Verletzung am Knie”, erklärte Jinshi den Frauen, die ihren Augen weiteten und sich gegenseitig ansahen.

„Eine Verletzung?”

„Er übertreibt. Es ist bloß eine kleine Schürfwunde, nichts Besonderes.”

„Und trotzdem trägt er dich nach Hause? Dein Gast ist ja ein richtiger Gentleman”, kommentierte Meimei mit einem Kichern. „Und er nennt dich Xiaomao! Wie süß! Du hast wirklich Glück!”

„Ach ja?”, dachte Maomao.

Nur Joka hatte die ganze Zeit nichts gesagt, sondern bloß misstrauisch Jinshi beäugt. Aber... bildete Maomao sich das bloß ein oder waren selbst die Gesichtszüge ihrer männerverachtenden Schwester ein wenig weicher geworden?

Jinshi bemerkte die gerunzelte Stirn der Apothekerin.

„Xiaomao... ähm, habe ich dich da etwa in eine unangenehme Lage gebracht? Soll ich dich runterlassen?”

Maomao war versucht, seine zweite Frage zu bejahen, überlegte es sich dann jedoch anders, ohne selbst so recht zu wissen, wieso.

„Nein, schon gut. Gehen wir einfach.” Sie zupfte leicht an seinem Ärmel. „Während des Monats wären mir ihre Neckereien sowieso nicht erspart geblieben.”

Jinshi schritt wieder los und Meimei und Pairin winkten ihnen zum Abschied zu.

„Wie wär's, wenn ihr beiden morgen Nachmittag bei uns zu Besuch vorbeikommt? Wir haben dich vermisst, Maomao”, lud Meimei sie noch ein.

„Eine wunderbare Idee”, stimmte Pairin zu.

„Hmm…”, machte Joka bloß, protestierte jedoch auch nicht.

Dem verdächtigen Funkeln in Meimeis und Pairins Augen nach zu urteilen, war Maomao sich mehr als sicher, dass sie irgendetwas planten. Aber sie hatte keine Lust, nachzufragen.

Einige Augenblicke später erreichten sie endlich den Eingang der Hütte und sahen einen Mann, der direkt vor der Tür stand und offensichtlich wartete.

„Oh, ein Kunde?”, murmelte Maomao.

Sobald der Mann hörte, dass jemand näherkam, drehte er sich um.

„Hat die Apotheke endlich wieder geöffnet? Ich benötige ein Mittel gegen Magenschmerzen für meine... Frau…”

Er verstummte, als er endlich einen anständigen Blick auf Jinshi und Maomao warf, und starrte sie einfach mit offenem Mund an.

Sie alle. Jinshi, Maomao, die von Jinshi auf dem Arm getragen wurde, und die Schlange, die die Apothekerin wie eine Art Trophäe in der Hand hielt.

Notes:

Übrigens, das deutliche Drosseln des Updatetempos für diese FF, während ich zwischendrin kleine Geschichten hochlade, ist wirklich die richtige Entscheidung gewesen, muss ich sagen. Auf die Weise konnte ich mich anständig ausruhen, also behalte ich es erstmal so bei. Lasst es uns vorerst mit einem Zeitplan versuchen: ein neues Kapitel immer am 21. eines Monats.

Ach, und im Oktober würd ich wirklich gern an einer dieser berühmten monatlichen Challenges teilnehmen (Flufftober, Whumptober, etc.), wir werden sehen :)

Chapter 86: Amnesie Extrageschichte: Ein ungewöhnliches Schläfchen

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

„Sie muss wirklich müde sein...", wisperte Jinshi und rieb Maomaos kleine Hände mit seinem Daumen. Ganz sanft, um sie nicht aufzuwecken.

Ein kleines Lächeln zierte seine Lippen, ein Lächeln echten Glücks, jedoch durchsetzt mit einem Hauch Sorge und Traurigkeit. Und auch Schuld, denn wenn Maomao ein Nickerchen hielt, bedeutete dies so gut wie jedes Mal, dass sie die vorherige Nacht schlecht geschlafen hatte. Und wessen Schuld war das? Nun, meistens seine... und obwohl die Apothekerin ihm nie auch nur den kleinsten Vorwurf gemacht hatte, konnte er nicht anders, als ein schlechtes Gewissen zu haben. So etwas ließ sich eben nicht einfach so abschalten.

Und jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass sie während der letzten paar Stunden tatsächlich mehrere Male gegähnt hatte.

Maomao hatte die Arme fest um seine Mitte geschlungen und klammerte sich an ihn, sodass er ihren warmen, ruhigen Atem an seiner Haut spüren konnte. Sie schlief tief und fest. Die Strahlen der Abendsonne drangen durch das Fenster in das Innere der kleinen Hütte ein und Jinshi tat sein Bestes, um einige Zentimeter wegzurücken, damit das Licht den Schlaf seiner kleinen Katze nicht störte. Ganz langsam und vorsichtig, damit sie nicht zu Boden stürzte.

Sein Mund öffnete sich leicht, als er fühlte, wie sie sich im Schlaf noch enger an ihn schmiegte, als sei er eine gemütliche Matratze, und seine quälenden Schuldgefühle begannen, sich aufzulösen und sich in die Tiefen seiner Seele zurückzuziehen, als er sich vorstellte, wie niedlich ihr Gesicht gerade aussehen musste, da er es von seiner aktuellen Position aus nicht sehen konnte. Um ehrlich zu sein, fand er sie jederzeit niedlich, doch immer wenn sie so friedlich schlief, war sie so unfassbar süß, dass ihm der Atem stockte und sein Herz zu schmelzen begann. Wie ein Stück Butter in der prallen Sonne.

„Diese Schlafposition ist zwar ein wenig ungewöhnlich, aber ich hoffe, sie hat es bequem...", murmelte er und schloss für einen Moment ebenfalls die Augen, um sich vollkommen auf das Gefühl von Maomaos Gewicht auf seinem Rücken zu konzentrieren. Auf jede einzelne ihrer Bewegungen, um rechtzeitig reagieren zu können, falls sie den Halt verlieren und von ihm herunterrollen sollte, da er sie aktuell leider nicht in seinen Armen halten konnte. Auf jedes Geräusch, welches sie von sich gab. Auf ihren Herzschlag. Auf jeden möglichen Hinweis darauf, dass sie sich nicht wohl fühlte. Denn obgleich seine Schuldgefühle verschwunden waren, war seine Besorgnis es keineswegs.

Im Moment war jedoch alles in Ordnung. Und so beschloss er endlich, sich ebenfalls zu entspannen und es einfach zu genießen. Seine Erfahrungen der letzten Wochen hatten ihm gezeigt, dass jeder friedliche Augenblick mit seinem Schatz kostbar war. Kostbarer als alles andere auf der Welt.

„Sie ist so schön warm..."

***

Die Schritte eines ernst aussehenden Mannes mittleren Alters hallten leise auf der Hauptstraße wieder, die zum Vergnügungsviertel führte, welches erst gerade eben so richtig aufgewacht zu sein schien und sich wie stets auf die bevorstehende Nacht vorbereitete. Doch er achtete weder auf die hellen Laternen noch auf den Weihrauchduft, der aus den Gebäuden wehte, an denen er vorbeiging, sondern schritt einfach geradeaus mit den Händen in den Ärmeln und einer kleinen Tasche, die einige Mitbringsel enthielt: Süßigkeiten und salziges Reisgebäck.

Sein Ziel war eine gewisses kleines Apothekerlädchen.

Gaoshun gab einen leisen Seufzer von sich und einige dünne Falten erschienen auf seiner Stirn, als er den weniger schönen Teil des Viertels betrat. Sein gedächtnisloser Herr lebte dort bereits seit mehr als einer Woche zusammen mit der Apothekerin...

Am vergangenen Tag war der Assistent an Jinshis Residenz vorbeigegangen und hatte dabei die oberste Zofe seines Herrn beim Fensterputzen entdeckt. Die ältere Dame tat ihre Arbeit so gewissenhaft wie immer, soweit er es sehen konnte, da das Haus auch in Jinshis Abwesenheit sauber gehalten werden musste, doch etwas in ihren Augen schien sich verändert zu haben. Sie drückten Kummer aus. Es war nicht schwer zu erraten, an wen sie gerade dachte.

Gaoshun verstand es vollkommen, denn auch für ihn war es nicht leicht, sich bewusst zu sein, an welch gefährlichem Ort der junge Mann, den er großgezogen hatte, derzeit lebte. Vor allem in seinem aktuellen Zustand und ohne Waffen und Bodyguards. Doch zumindest befand sich Maomao an seiner Seite...

Daher hatte er beschlossen, Jinshi und Maomao am nächsten Tag einen kleinen Besuch abzustatten, um zu sehen, wie es ihnen ging, und um Suiren und auch sich selbst mit dem Wissen beruhigen zu können, dass ihr junger Herr in Ordnung war.

Und da stand er nun vor der geschlossenen Tür der Hütte. Kein einziger Laut drang aus dem Inneren.

Gaoshun klopfte an die Tür.

„Entschuldigung, aber die Apotheke hat für heute bereits geschlossen. Kommt bitte morgen wieder", vernahm er nach einigen Sekunden die Stimme seines Herrn. Jinshi klang so, als versuche er, so leise wie möglich zu sprechen, aber gerade noch laut genug, dass der Besucher ihn hören konnte.

Der Assistent hob eine Augenbraue.

„Ich bin es, Herr."

„Gaoshun? Oh, komm rein. Aber sei bitte leise."

Jinshis Bitte nachgehend und diese nicht wirklich hinterfragend, öffnete Gaoshun vorsichtig die Tür und trat langsam ein, sie wieder hinter sich schließend. Als er seinen Herrn erblickte, weiteten sich auf der Stelle seine Augen. Solch eine Szene zu erblicken, hatte er gewiss nicht erwartet:

Jinshi lag bäuchlings und sich auf seinen Ellbogen abstützend auf einer Schilfmatte. Er trug nichts außer einer Hose und hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen. Was an sich nicht besonders ungewöhnlich war, da es Sommer war und der junge Mann gerade als Bürgerlicher lebte. Daher gab es nichts, wofür er ihn tadeln könnte. Nein, das wirklich Unerwartete war die Tatsache, dass Maomao auf seinem nackten Rücken lag und friedlich vor sich hinschlummerte, das Gesicht zwischen Jinshis Schulterblätter gedrückt und die Arme um ihn geschlungen.

Er war von einem eher schlanken Körperbau, doch sein jahrelanges Training hatte ihm trotzdem einen ziemlich breiten Rücken beschert, welcher der zierlichen Maomao genug Platz für ein gemütliches Nickerchen bot.

Der Assistent musste zugeben, dass er eher das Gegenteil erwartet hätte: einen Jinshi, der, sich an Maomao klammernd, ein Schläfchen hielt, während sie ein Buch las. Das war etwas, was er ziemlich oft in der Residenz seines Herrn gesehen hatte. Demnach war die aktuelle Szene etwas ganz Neues für ihn.

Eine wahrhaftige Überraschung. Aber eine schöne.

Denn das war der ultimative Beweis, wie sehr das Mädchen Jinshi vertraute. So wie Gaoshun Maomao kannte, bezweifelte er, dass es sonst noch jemanden gab, bei dem sie sich sicher und geborgen genug fühlte, um so etwas zu tun.

Jinshi hob sich den Zeigefinger an die Lippen. Gaoshun nickte.

„Sie ist auf mich zugekommen, hat sich wortlos auf mich gelegt und ist eingeschlafen. Einfach so. Süß, nicht wahr? Jedoch habe ich jetzt ein wenig Angst, mich zu rühren..."

„Ganz wie eine Katze", dachte Gaoshun und beugte sich unbewusst nach unten, um Maomaos Kopf zu streicheln, die Tasche mit seinen Mitbringseln auf den Boden legend.

„Soll ich Xiaomao von Euch herunternehmen, Herr?"

Jinshi schüttelte den Kopf.

„Nein, lass sie einfach schlafen. Es macht mir überhaupt nichts aus."

„Wie Ihr wünscht."

Der Blick des Assistenten fiel auf die Decke, die neben ihnen auf dem Boden lag, und er richtete sich wieder auf, diese aufhebend und über Jinshi und Maomao legend. Immerhin war es bereits Abend und sein Herr nicht vollständig bekleidet. Auch wenn die Apothekerin ihn bestimmt ziemlich warm hielt.

„Danke!" Jinshi strahlte ihn an. „Ach, und danke auch für das Geld, das du mir vor unserer Abreise gegeben hast. Ich habe davon ein Buch für Xiaomao gekauft. Sie war so glücklich!"

Bei diesen Worten konnte Gaoshun nicht anders als ebenfalls zu lächeln. Auch sein Herr sah so unfassbar glücklich aus... genauso glücklich wie er während des Spaziergangs durch den Obstgarten des inneren Palastes ausgesehen hatte.

Eines war jedenfalls sicher: trotz allem, was vorgefallen war und was Jinshi alles durchmachen musste, war Maomao immer noch das Beste, was ihm hätte passieren können.

***

Gaoshun blieb noch ein paar Minuten und ging dann, um die beiden nicht weiter zu stören.

Nach etwa einer halben Stunde öffnete Maomao schließlich die Augen und rutschte, immer noch im Halbschlaf und breit gähnend, von Jinshis Rücken. Dann legte sie sich neben ihn auf die Matte.

„Was findest du bequemer, Xiaomao? Auf meiner Brust zu liegen oder auf meinem Rücken?", fragte er gutgelaunt und wischte mit dem Handrücken den Speichelfaden von ihrem Kinn, bevor er die Arme um sie legte und sie fest umarmte.

„Mmm… weiß nich", lautete Maomaos schlaftrunkene Antwort und sie drückte sich wieder enger an ihn und schlief erneut ein.

Jinshi küsste sie auf die Stirn. Er hatte eigentlich vorgehabt, sie zu fragen, ob sie Hunger hatte, da es langsam Zeit fürs Abendessen wurde, aber das konnte noch warten...

Notes:

Einen anhänglichen Jinshi kennen wir ja alle, also hattet ihr hier zur Abwechslung mal eine anhängliche Maomao! :)

Chapter 87: Amnesie, Teil 26: Ein weiteres schwieriges Gespräch (1)

Notes:

Hier kommt das neue Kapitel und zwar früher als erwartet!

Ja, ich weiß, ich hab gesagt, es kommt am 21. August raus, aber während ich daran arbeitete, wurde es immer länger und länger und damit es nicht zu lang wird, hab ich beschlossen, es in zwei Teile zu teilen. Der zweite kommt dann irgendwann Ende August oder Anfang September raus und wird wahrscheinlich kürzer sein als der erste.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Während die drei sich weiterhin gegenseitig anstarrten, ging Jinshi leicht in die Knie und stellte Maomao vorsichtig zurück auf ihre eigenen Füße, ohne dass sie auch nur ein Wort zu ihm sagen musste. Stattdessen nahm er sie jedoch bei der Hand, als fürchte er, dass sie Probleme beim Laufen hätte.

Rasch entsorgte sie die bedauernswerte Schlange (dabei die nach wie vor seltsamen Blicke des Mannes ignorierend, der glücklicherweise keine Fragen stellte) und bat den Kunden einzutreten, während sie sich aus Jinshis Griff befreite und sich die Hände waschen ging, dabei den Mann zu den Symptomen seiner Ehefrau befragend, um herauszufinden, welche Medizin für sie am geeignetsten wäre, ohne die Patientin selbst gesehen zu haben. Das war etwas, was eine Apothekerin ebenfalls können musste.

So wie es aussah, hatte der Kerl bereits einige Male Medizin bei ihrem Vater gekauft und vertraute, seiner Haltung ihr gegenüber nach zu urteilen, ihren Fähigkeiten nicht ganz so sehr wie Luomens. Maomao war nicht allzu glücklich darüber, musste jedoch zugeben, dass sie ihn in dieser Hinsicht ein wenig verstehen konnte, immerhin war sie ja noch sehr jung. Um ehrlich zu sein, war sie immer noch ziemlich perplex, wie sehr die Leute vom Kaiserlichen Palast ihr vertrauten. Egal, wie viel Zeit seit Jinshis Unfall auch vergehen mochte, sie fand es nach wie vor schwer zu glauben.

Nachdem sie sichergestellt hatte, dass der Mann auch wirklich Geld bei sich hatte (im Gegensatz zu Luomen hatte sie gewiss nicht vor, ihre Medizin gratis zu verschenken, vielen Dank aber auch!), wählte sie die benötigten Kräuter aus und setzte sich auf den Boden, um das Mittel herzustellen.

Doch bevor sie Letzteres tat, warf sie einen Blick auf Jinshi, welcher immer noch an der Türschwelle stand und sich mit der freien Hand am Hinterkopf kratzte, wohl nicht so recht wissend, was er tun und wie er sich verhalten sollte, da es sich um den allerersten Kunden seit ihrer Ankunft handelte. Aber offensichtlich wollte er sie auch nicht stören.

„Könntest du ein wenig warten, Jinshi? Es dauert nicht lang.”

Er nickte und stellte sich instinktiv gerader hin, als sie ihn ansprach.

„Na klar, Xiaomao! Ähm... dann bringe ich mal die Gartengeräte an ihren Platz zurück, ja?”

„In Ordnung.”

Maomao erlaubte Jinshi in den meisten Fällen zwar immer noch nicht, allein nach draußen zu gehen, doch diejenigen, während derer er in der Nähe bleiben und in ein paar Minuten wiederkehren würde, waren eine Ausnahme. Ganz zu schweigen davon, dass sie ihn nicht noch länger da herumstehen lassen wollte, all die Sachen tragend, die alles andere als leicht waren.

Ihr Mitbewohner verschwand hinter das Haus und kehrte ungefähr zwei Minuten später ohne die Gartengeräte zurück, endlich ebenfalls die Hütte betretend, in der es mit drei Leuten bereits ziemlich eng drin wurde. Er nahm den großen Korb mit den gesammelten Kräutern vom Rücken und stellte ihn neben die Schubladen, da er ja keine Ahnung hatte, wo was hingehörte. Dann setzte er sich neben Maomao im Schneidersitz auf den Boden hin und legte ihr, wie aus einem Reflex heraus, die Hand auf die Schulter.

„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?”

„Nein, schon gut. Danke dir, Jinshi, ich sortiere die Kräuter später schon selbst.” Sie klopfte ihm als Zeichen ihrer Dankbarkeit auf den Handrücken.

„Also... darf ich dir dann vielleicht zusehen? Ich bin neugierig, was du da machst.”

Maomao blinzelte einige Male und wurde für einige Sekunden sprachlos, als sie das ehrliche Interesse in Jinshis Stimme vernahm. Die Freude, die sie bereits auf dem Feld verspürt hatte, kehrte zu ihr zurück, und sie setzte ein kleines Lächeln auf, sich daran erinnernd, dass er sie bereits in seiner Residenz fast jedes Mal beobachtet hatte, wenn sie Medizin herstellte.

„Sicher, wenn du willst.”

Als Antwort darauf nahm er die Hand von ihrer Schulter, wohl um sie nicht weiter abzulenken, und legte beide Hände auf seinen Schoß, aufmerksam dabei zuschauend, wie Maomao verschiedene getrocknete Kräuter in einem Mörser zerstieß.

Der Kunde, der währenddessen mit verschränkten Armen an eine Wand gelehnt stand, räusperte sich, wie um die beiden daran zu erinnern, dass er auch noch da war.

„Sag mal, wo ist denn der alte Apotheker hin? Die Hütte hat mehrere Wochen lang leer gestanden und es gab so gut wie keinen anderen Ort in diesem Viertel, wo man anständige Medizin bekam, die kein Monatsgehalt kostete.” Er schnalzte gereizt mit der Zunge.

„Mein Vater wird gerade dringend woanders gebraucht”, antwortete Maomao ruhig, ohne von ihren Kräutern aufzublicken. „Im Moment bin ich hier die Apothekerin und auch wenn sich meine Fähigkeiten und Erfahrung natürlich nicht mit den seinen messen können, könnt Ihr auch meinen Arzneien ruhig vertrauen.” Irgendwie fiel es ihr leichter, ihrem eigenen Können zu vertrauen, wenn es nicht um Leute ging, die sie kannte. 

„Das kann ich bestätigen”, meinte Jinshi leise, immer noch neben ihr. „Xiaomao ist eine wunderbare Apothekerin, die eine unfassbare Menge weiß.”

„Jetzt übertreib mal nicht”, murmelte sie. Es war ihr nach wie vor ein wenig unangenehm, wenn er sie so offen lobte.

Der Blick des Kunden fiel daraufhin auf Jinshi und er hob eine Augenbraue.

„Und wer bist du eigentlich? Ich kann mich nicht daran erinnern, dich früher in der Gegend gesehen zu haben.”

„Äh…”, machte Jinshi, von der plötzlichen Frage überrumpelt, und erstarrte vor Schreck, bevor er sich hilflos an Maomao wendete und erneut die Hand auf ihrer Schulter platzierte. Auch die Apothekerin war ein wenig überrascht, obwohl sie wusste, dass es eigentlich keinen Grund dafür gab, denn es war zu erwarten gewesen, dass sie Jinshi eines Tages jemandem im Viertel vorstellen müsste, der nicht wissen durfte, wer er in Wirklichkeit war.

Sie spannte sich an und biss die Zähne zusammen, sich dafür scheltend, dass sie sich im Voraus keine passende Geschichte zurechtgelegt hatte, denn für gewöhnlich war sie sehr gründlich, was solche Dinge anging. Jedoch war der vorübergehende Umzug in die Hütte eine solch große Sache gewesen und hatte so viele Vorbereitungen erfordert, dass sie jenes kleine Detail leider vergessen hatte. Tja, zu spät für Reue... sie musste sich auf der Stelle etwas überlegen. Und zwar schnell.

Aber wie? Und wieviel durfte sie über ihren Mitbewohner überhaupt preisgeben? Selbstverständlich so wenig wie möglich. Um genau zu sein, nichts außer seinem Namen, da sie bereits vor der Abreise festgestellt hatte, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass jemand von den Leuten hier den Aufseher des inneren Palastes beim Namen kannte. Also nahm sie an, dass es in Ordnung ging, wenn sie vor anderen weiterhin Jinshi nannte. Aber alles andere wäre zu gefährlich. Vor allem die Tatsache, dass er an Amnesie litt.

Sie drehte den Kopf zu Jinshi und sah ihm in die Augen, während sie sich den Kopf zerbrach, und kaum hatte sie sich versehen, verlor sie sich auch schon beinahe in ihrer wunderschönen violetten Farbe. Es kam ihr so vor, als könnten sie ihr die Antwort geben, nach der sie suchte.

Und zu ihrem Erstaunen... taten sie es tatsächlich! Sie weiteten sich ein wenig, als sie tief hineinblickte, doch sahen sie weiterhin mit einem unglaublichen Sanftmut an. Auf einmal kam ihr demnach eine Idee. Eine, die sie überhaupt nicht schlecht fand, und die Jinshi auch sicherlich gefallen würde.

„Das ist Jinshi, mein Assistent”, sprach sie endlich. „Wie Ihr sehen könnt, bin ich nicht besonders stark.” Wie um dies zu betonen, hob sie daraufhin einen ihrer dünnen Arme. „Daher lebt er bei mir und hilft mir, indem er schwere Sachen trägt und andere Arten von Aufgaben ausführt. Und in der Zwischenzeit bilde ich ihn in Medizin und Kräuterkunde aus. Eigentlich hätte er ein Lehrling meines Vaters werden sollen, aber da dieser gehen musste, habe ich ihn stattdessen aufgenommen.” Tja, klang nach einer plausiblen Geschichte.

„Puh... das sollte reichen…”, dachte sie.

„Hm... verstehe.” Zum Glück schien der Mann ihr zu glauben. „Als ihr zwei hier ankamt, hat er tatsächlich alles getragen. Dich mit eingeschlossen.” Der letzte Satz wurde von einem amüsierten Grinsen begleitet.

„Genau.” Maomao räusperte sich, so tuend, als sei dies das Normalste auf der Welt gewesen, obwohl der zarte Rosaton auf ihren Wangen bewies, dass es ihr immer noch ein wenig peinlich war.

Währenddessen leuchteten Jinshis Augen vor Freude.

„Oh, Xiaomao…”, murmelte er ergriffen, mit einer Stimme, als würde er gleich vor Glück in Tränen ausbrechen. Dem Glück, von ihr gehört zu haben, dass sie ihn brauchte, auch wenn es sich nur um eine ausgedachte Geschichte handelte.

„Und wieso trägt er eine Maske?”, hakte der Kunde weiter nach.

„Da ist wohl Einer ein klein wenig zu neugierig, was?”, dachte Maomao genervt und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder den Kräutern zu, um alles so schnell wie möglich fertigzustellen. Und nicht nur, weil der Kerl ihr mit seinen Fragen auf die Nerven ging, sondern auch um Jinshi erneut zu untersuchen und sich zu vergewissern, dass er sich nicht wieder schlechter fühlte.

Allerdings hatte sie sich für die letzte Frage sehr wohl im Voraus eine Geschichte ausgedacht.

„Er hat eine große Brandwunde auf der Wange und zeigt nicht gern sein Gesicht”, antwortete sie in einem leicht schroffen Tonfall.

„Oh. Alles klar.”

Jinshi selbst nickte stumm, jene Erklärung ebenfalls akzeptierend.

Zum Glück folgten keine weiteren Fragen.

***

Etwa zehn Minuten später war das Medikament endlich fertig und der Kunde verabschiedete sich zu guter Letzt. Aber nicht ohne sich zu beschweren, dass Maomao einen viel zu hohen Preis für das Produkt verlangte und dass die Medizin ihres Vaters nie so teuer gewesen war. Jedoch schloss er ganz schnell den Mund, als die Apothekerin ihm einen ihrer berühmten bösen Blicke zuwarf, einen von der Sorte, wie sie nur sie allein hinbekam. Er erbleichte, zahlte ohne weitere Proteste, nahm die Arznei und verzog sich kleinlaut.

„Tsk... Ich weiß selbst, dass die Medizin meines Vaters günstiger war, aber das liegt daran, dass er dazu neigt, sie fast schon umsonst herzugeben, wenn ihn keiner im Auge behält.”

Mit einem langen Seufzer hängte Maomao ein „Geschlossen”-Schild draußen an die Tür und machte sie zu. Gut, dass sie zum Leben derzeit nicht direkt von ihren Einnahmen durch den Verkauf von Medizin abhingen und sie es sich leisten konnte, das Apothekerlädchen von Zeit zu Zeit früher zu schließen. Nach all dem, was an jenem Tag bereits geschehen war, war dies eine wahre Erleichterung für sie und auch für Jinshi, der noch nicht an Kunden gewohnt war.

Sie spürte eine Welle der Erschöpfung in sich aufsteigen. Vielleicht sollte sie ja auch ein wenig schlafen. Aber nicht jetzt. Zuvor musste sie die gesammelten Kräuter sortieren und die Medizinvorräte auffüllen, indem sie mehr Arzneien herstellte...

Aber immerhin war in der kleinen Hütte zumindest wieder Ruhe eingekehrt, obgleich die Apothekerin trotzdem noch vor Gereiztheit ein wenig die Stirn gerunzelt hielt. Sie konnte Leute, die ihre Nase in fremde Angelegenheiten hineinsteckten und daran nichts Verkehrtes sahen, nicht ausstehen. Hoffentlich war der Kerl wenigstens kein solches Klatschmaul wie die Frauen im inneren Palast, denn sie hatte nicht die geringste Lust, unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, während sie mit Jinshi zusammenlebte. Je weniger Leute von ihm wussten, desto besser. Das war der einzige Weg, um ihn ein möglichst friedliches Leben führen zu lassen.

Aus diesem Grund hätte sie es eigentlich vorgezogen, die Apotheke den gesamten Monat lang geschlossen zu halten, aber das würde wohl erst recht Aufmerksamkeit erregen, was?

Maomao schloss auch das Fenster und drehte sich endlich zu Jinshi um, der immer noch auf dem Boden saß und ihren Mörser in der Hand hielt. Neugierig tunkte er den Zeigefinger seiner anderen Hand in die Überbleibsel ihrer zerstoßenen Kräuter und hob ihn an sein Gesicht, um sich das fein zermahlene dunkle Pulver näher anzusehen und es zwischen Daumen und Zeigefinger zu zerreiben. Da es sich nicht um eine gefährliche Substanz handelte, ließ Maomao ihn einfach gewähren und sah ihm lediglich eine Weile lang schweigend zu.

Sein Anblick und sein Verhalten erinnerten sie mal wieder an ein kleines Kind, doch gleichzeitig auch an sich selbst oder eher an die Art, wie sie sich benahm, wann immer sie ein bisher unbekanntes Kraut oder Heilmittel inspizierte.

Bei dem Gedanken fühlte sie, wie ihre Mundwinkel sich hoben und ihre Genervtheit zu verblassen begann. Jinshi hatte ihr unzählige Male gesagt, dass ihr bloßer Anblick oft ausreichte, um ihn zu beruhigen und sein Wohlbefinden zu verbessern... Könnte es sein, dass es ihr mittlerweile genauso ging, wenn sie ihn ansah? Hm...

Die Apothekerin näherte sich ihm und nahm ihm endlich die Maske ab, unter der es ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit ziemlich heiß und stickig gewesen sein musste, obwohl er sich natürlich mit keinem Wort beklagt hatte. Dann tauchte sie ein Taschentuch in Wasser und wischte ihm vorsichtig den Schweiß von der Stirn, den Wangen, dem Kinn und dem Hals, sich dabei mit der anderen Hand an seiner Schulter festhaltend. Jinshis Seufzer und Lächeln verrieten ihr, dass es sich himmlisch anfühlen musste.

Als sie fertig war, dankte er ihr, indem er den Mörser wieder hinstellte, ihre Hand sanft ergriff und ihr einen Kuss auf die Handfläche drückte, bevor er einen Arm um ihre Taille schlang und sie näher zu sich heranzog, um erneut den Kopf an ihre Brust zu drücken. So wie es aussah, war er gerade in Schmuse-Laune. Also anders gesagt, so wie immer.

„Xiaomao…”, sagte er mit einem weiteren glücklichen Seufzer und schloss für einen Moment die Augen. Maomao gab ein belustigtes Schnauben von sich und strich seinen Pony zur Seite, um ihm die Hand auf die Stirn zu legen und seine Temperatur zu prüfen, obwohl sie auch so schon spürte, dass er kein Fieber hatte. Einige Zeit lang fiel kein Wort zwischen ihnen.

Bis Jinshi die Augen wieder öffnete.

„Xiaomao…”, wiederholte er, doch diesmal klang seine Stimme ein wenig zögerlich, fast schon schüchtern.

Maomao, die gerade sein Handgelenk hielt, merkte, dass sich sein Puls ein bisschen beschleunigt hatte, als ob er leicht nervös sei.

„Was ist denn, Jinshi?”

Wie als Antwort befreite er sein Handgelenk sanft aus ihrem Griff und nahm sie stattdessen bei der Hand, hob den Kopf jedoch nicht von ihrer Brust und blickte ihr nicht in die Augen. Seine Wangen waren ein wenig gerötet.

„Xiaomao... wäre es möglich, dass ich wirklich zu deinem Assistenten und Lehrling werde? Also in echt, meine ich?” Eine tiefe, fast schon schmerzhafte Sehnsucht lag in seiner Stimme.

Maomao erstarrte und riss die Augen weit auf, zunächst gar nicht glaubend, was sie da gerade gehört hatte.

Doch dann beruhigte sie sich, dachte eine Zeit lang nach und gab ihm schließlich ihre Antwort.

Und bevor sie sich versah, fand sie sich bereits in einer solch stürmischen und festen Umarmung wieder, dass das Stück Stoff, welches ihre Haare zusammengebunden hielt, sich löste und zu Boden segelte und die Haare ihr offen über Schultern und Rücken fielen.

***

Einige Zeit später saßen Jinshi und Maomao auch schon nebeneinander am Tisch, auf den die Apothekerin mehrere verschiedene Kräuter hingelegt hatte und wo sie ihrem neuen „Lehrling” nun zeigte, wie man sie im Mörser zerstieß, im richtigen Verhältnis mischte und zu gleich großen Pillen formte. Auf ähnliche Weise wie ihr Vater es ihr erklärt hatte, als sie noch klein gewesen war. Ihr Haar war nach seiner Umarm-Attacke immer noch ein wenig zerzaust und er hatte seines inzwischen auch heruntergelassen. 

Jinshi tat sein Bestes und lernte schnell und Maomao gab zu, dass er ihr auch in dieser Hinsicht eine große Hilfe sein würde, da er deutlich stärker war als sie und viel weniger Zeit für das Zerstoßen benötigte, was den ganzen Prozess beschleunigte. Und dazu war ihr noch aufgefallen, dass er erneut viel Spaß an der Sache hatte, was sie sehr freute. Jedoch warnte sie ihn trotzdem, das Ganze nicht als Spiel zu betrachten und es nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, da es ja immerhin Medizin und für kranke Menschen zur Einnahme bestimmt war. Jinshi nickte ihr ernst zu und versprach, ihre Worte im Hinterkopf zu behalten.

Gerade brachte sie ihm bei, wie man das Magenschmerzmittel herstellte, welches sie dem Mann vorhin verkauft hatte. Sie tauchte ihren Finger in die Kräutermixtur, die Jinshi vor ihren Augen produziert hatte, und leckte daran. Dann nickte sie zufrieden, lächelte ihn an und klopfte ihm lobend auf die Schulter. Jinshi lachte voller Freude und tat es ihr nach, angesichts des Geschmacks ein wenig das Gesicht verziehend.

„Bäh! Muss es echt so bitter sein?”

„Ja, schließlich ist es Medizin und kein Süßkram. Das Wichtigste ist, dass es wirkt.”

Maomao reichte ihm einen Becher Tee, um den Geschmack herunterzuspülen, und dachte sich, dass, wenn er so weitermachte, er, seiner Fähigkeit, sich so gut wie alles, was sie ihm über Heilkräuter erzählte einzuprägen, nach zu urteilen, in ein paar Tagen bereits in der Lage sein würde, einige simple Arzneien ganz ohne ihre Hilfe herzustellen. Jener Gedanke machte sie gleichzeitig aufgeregt und auch stolz, obwohl sie selbstverständlich jede seiner Kreationen höchstpersönlich überprüfen würde, um zu bestimmen, ob sie sich tatsächlich für den Verkauf eigneten. Denn egal wie sehr sie Jinshi vertraute, er war nun einmal kein Apotheker.

Sie seufzte leise. Und erneut befand sie sich in einer Situation, die sie sich früher nicht einmal vorzustellen wagte. Eine Situation, in der sie nicht bloß einen Lehrling hatte, was bereits an sich schon eine große Sache war, sondern Jinshi als Lehrling. Ausgerechnet Jinshi! Doch so unglaublich es auch klingen mochte, war es doch Realität geworden.

Sie wollte eine Entscheidung treffen, die für Jinshi das Beste sein würde, und als sie seine Stimme hörte und den flehenden Blick in seinen Augen sah, hatte sie es einfach nicht übers Herz gebracht, ihm nein zu sagen. Während sie in seiner Residenz gewohnt hatten, hatte sie es getan, weil sie keine andere Wahl gehabt hatte, aber nun, da er mit ihr zusammen in der Hütte lebte, konnte sie es einfach nicht mehr. Es war das Gleiche gewesen, als sie ihm gestattet hatte, ihr endlich beim Putzen, bei der Gartenarbeit und beim Tragen ihrer Sachen zu helfen. Mit all den Dingen, die für einen Adeligen unerhört waren und die Jinshi so selbstverständlich erledigte, als ob er dies sein Leben lang getan hätte.

Doch ein Rest Zweifel war noch verblieben. War ihre Entscheidung tatsächlich die richtige gewesen, vor allem, wenn man an die Zukunft dachte? Was, wenn sie es eines Tages bereuen würde? Was, wenn Jinshi sich so sehr an ein Leben als ihr Assistent gewöhnte, dass er sich nie wieder wie ein Adeliger verhalten würde (na ja, nicht dass er das seit seinem Unfall je getan hätte, aber trotzdem)? Was, wenn sie selbst sich zu sehr daran gewöhnte? Und was, wenn er so sehr auf den Geschmack kam, dass er irgendwann den Wunsch verspürte, selbst Apotheker zu werden? Das war nicht auszuschließen, oder? Falls Maomao während der Wochen seit Jinshis Gedächtnisverlust etwas gelernt hatte, dann dass man niemals nie sagen sollte. Ganz egal, wie fest sie glaubte, dass sie nichts mehr überraschen könnte, wurde sie doch immer wieder eines Besseren belehrt. Die Tatsache an sich, dass sie da waren, wo sie waren, war der ultimative Beweis dafür.

Maomao schluckte schwer und entspannte sich dann wieder. Sie hatte keine Ahnung, was noch passieren könnte. Aber was sie sehr wohl wusste, war, dass ihre Entscheidung ihn glücklich gemacht hatte. Und im Moment war das alles, was zählte. Nicht ihr Glück, sondern seines. Denn ein unglücklicher Jinshi war ein leidender Jinshi und aus einem leidenden Jinshi konnte ganz schnell ein kranker Jinshi werden.

Und wenn man so darüber nachdachte, würde es eigentlich selbst einem Adeligen nicht schaden, das ein oder andere über Medizin zu wissen. Ein solches Wissen wäre ihm auch, nachdem er sein Gedächtnis wiedererlangt hätte, ziemlich nützlich.

Doch um ganz ehrlich zu sein, hätte es ihr tief in ihrem Inneren auch nichts ausgedacht, selbst nach dem einen Monat weiterhin so mit ihm zusammenzuleben, und...

...was zur Hölle dachte sie sich da eigentlich?

Maomao erstarrte und schüttelte als Nächstes heftig den Kopf.

„Ähm... alles in Ordnung, Xiaomao?”

„Ja, alles gut. Ich war bloß in Gedanken.”

„Ach so.”

Nein, für solche Gedanken war wahrlich kein Platz. Und außerdem hatte sie im Moment sowieso ganz andere Sorgen: ihr Versprechen, ihm von dem Loskauf zu erzählen, und ihr schlechtes Gewissen, weil sie es noch immer nicht getan hatte. Gut, dann würde sie jenes Versprechen eben noch am selben Abend einlösen, so wie sie es sich auf dem Feld vorhin vorgenommen hatte, während Jinshi geschlafen hatte. Gleich nach dem Abendessen...

...oder genauer gesagt, nachdem sie genug Schmerzmittel hergestellt hätte.

***

Nach dem Abendessen, als die Luft sich bereits ein wenig abzukühlen begann und das Ende jenes langen, ereignisvollen Tages ankündigte, saß Jinshi im Schneidersitz auf dem Boden und trocknete das Geschirr ab, welches Maomao nach dem Essen abgewaschen hatte. Er sah glücklich aus, summte eine leise Melodie vor sich hin und trug seine Schlafbekleidung, während sein Haar immer noch ein bisschen feucht war nach seinem Bad, das er vor dem Abendessen im Verdigris-Gebäude genommen hatte.

Die Apothekerin, die ebenfalls sauber und für den Schlaf gekleidet hinter ihm stand, schluckte schwer und tat einen leicht zögerlichen Schritt auf ihn zu. Sie wollte nicht, dass sein Lächeln verschwand, wollte ihm nicht noch mehr Schmerzen bereiten, doch sie konnte nicht für immer weglaufen. Genug war genug. Sie musste es hinter sich bringen.

Jinshi schien ihre Gegenwart gespürt zu haben (was in einem solch kleinen Haus nicht allzu schwierig war), denn er drehte sich umgehend mit einem strahlenden Lächeln zu ihr um.

„Ich bin fast fertig, Xiaomao! Würdest du mir vor dem Schlafengehen noch ein paar Seiten aus einem der Romane, die wir mitgenommen haben, vorlesen? Bitte?”

Das Herz der Apothekerin zog sich schmerzhaft zusammen. Hach, wie groß war die Versuchung, einfach ja zu sagen! Doch sie konnte nicht.

„Nein, heute nicht…”, murmelte sie und senkte den Kopf, nicht genau wissend, wie sie überhaupt anfangen, wie sie das Thema ansprechen sollte.

„Oh? Aber wieso denn?”, fragte er verwundert und auch ein wenig traurig, es nicht gewohnt, dass sie jene Bitte ablehnte. „Möchtest du stattdessen lieber dein eigenes Buch weiterlesen, das, was wir gestern auf dem Markt gekauft hatten? Schon in Ordnung, mach das ruhig…” Trotz seiner Worte klang er ein wenig enttäuscht.

„Das ist es nicht…”

„Huch?” Doch bevor Maomao eine Erklärung liefern konnte, sprach er auch schon weiter. „Moment... kann es sein, dass es dir nicht gut geht? Du-Du bist ein wenig blass! Tut dein Knie weh?!”

„Was?!”

Sie war vollkommen baff. Ganz egal, was auch passierte, stets machte er sich Sorgen um sie. Um sie allein. Einfach unfassbar...

„Nein, das ist es auch nicht!”, antwortete sie rasch, bevor er schon wieder grundlos in Panik ausbrechen konnte, und blickte ihm endlich in das besorgte Gesicht. „Es ist bloß, dass ich dir wie versprochen die Geschichte vom Loskauf erzählen wollte.”

Jinshi riss die Augen weit auf und verstummte.

Mit diesen Worten trat sie vor ihn und setzte sich dann ganz plötzlich auf seinen Schoß, ihre linke Seite an ihn pressend. Daraufhin spürte sie, wie er kurz zusammenzuckte, und sah, wie er das Geschirrtuch fallen ließ.

„Xiao-Xiaomao?”

Natürlich war er überrascht, schließlich war es das allererste Mal, dass sie so etwas von sich aus tat, ohne dass er sie darum bitten oder sie dort selbst platzieren musste (Dass sie sich abends auf ihn legte, um in seinen Armen zu schlafen, war dagegen etwas, woran sich beide bereits gewöhnt hatten).

Doch ein paar Sekunden später kam er wieder zu sich und schlang wie immer die Arme um sie, sie fest an sich drückend.

„Einige Teile der Geschichte könnten nicht einfach für dich werden…”, erklärte sie leise und legte den Kopf und eine Hand auf seine Brust. „Deshalb... möchte ich in deiner Nähe bleiben.”

„V-Verstehe…”

„Jedoch ist das nicht der einzige Grund…”, dachte Maomao verbittert. „Es gibt mir dazu noch eine Ausrede, ihm nicht ins Gesicht zu sehen... denn falls ich dort beim Reden Traurigkeit oder Schmerz entdecken sollte, könnten mir die Worte im Hals stecken bleiben…”

„Bist du bereit, Jinshi?”, fragte sie.

Doch bekam eine höchst unerwartete Antwort.

„Warte…”, sagte er sanft. „Beruhige dich erstmal... Psst... Mach dir keine Sorgen um mich. Atme.”

Als Nächstes spürte sie, wie seine Hand ihr mit liebevollen Kreisbewegungen den schmalen Rücken rieb. Maomao ließ die Luft heraus, die sie nach ihrer letzten Frage angehalten hatte und hob sich ihre Hand vor die Augen. Oh. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie zitterte...

Seine Massage fühlte sich so angenehm und beruhigend an. Genau das, was sie jetzt brauchte.

„Xiaomao... wenn es dir so schwerfällt, musst du dich nicht zwingen. Natürlich will ich wissen, was passiert ist, aber... ich möchte nicht, dass du dich auf diese Weise quälst.”

Maomao biss die Zähne zusammen. Schon wieder war er so lieb zu ihr... viel zu lieb. Viel zu rücksichtsvoll. Es tat ein wenig weh. Vor allem, da sie das leichte Beben in seiner Stimme vernommen hatte und wunderbar wusste, wie sehr er die Geschichte hören wollte. Es wäre nicht fair von ihr, es sich ganz plötzlich anders zu überlegen.

„Doch, Jinshi, das muss ich. Die Geschichte betrifft nämlich auch deine Vergangenheit und du musst sie hören. Es geht nicht anders. Also lass sie mich dir heute erzählen.”

Die Entscheidung war getroffen.

„Oh…” Mehr sagte er nicht. Und dann fühlte sie, wie er ihre Taille umfasste, unter ihre Knie griff und auf einmal aufstand.

„Jinshi?” Maomao fragte sich, wo er sie wohl hintragen wollte. Sie hatte jedoch bereits eine Vermutung, sich an sein Verhalten erinnernd, als er sie in seiner Residenz zu ihren Gefühlen ihm gegenüber befragt und sie daraufhin eine Panikattacke erlitten hatte.

Es stellte sich heraus, dass sie Recht hatte: Jinshi verlagerte ihr Gewicht so, dass er sie auf einem Arm trug, füllte einen Becher mit Wasser und nahm auf der Schilfmatte, auf der sie nachts schliefen, Platz. Dann setzte er Maomao erneut auf seinen Schoß, legte die Decke um seine Schultern und wickelte sie auch um die Apothekerin, bevor er ihr den Becher reichte.

„Na also. So ist es doch bequemer, oder, Xiaomao? Trink das bitte und beruhige dich. Und mach dir keine Sorgen, ja?”

Er küsste sie auf den Kopf. Sich sicher und geborgen fühlend, lehnte Maomao sich erneut an ihn und leerte den Becher mit kleinen Schlucken. Als ihr Zittern vollständig aufgehört hatte, nahm sie einen tiefen Atemzug.

„Bist du jetzt bereit, Jinshi?”

Diesmal hörte sie, wie er schluckte und ein wenig nervös wurde, daher streckte sie die Hand aus und streichelte seinen Arm.

„J-Ja. Ich bin ganz Ohr.”

***

Maomao gab Jinshi den nun leeren Becher zurück und er stellte diesen neben sich auf den Boden. Dann räusperte sie sich, im Versuch, die richtigen Worte für den Anfang zu finden.

„Also gut... ich denke, ich fange lieber ganz von vorne an, damit du auch wirklich alles verstehst.”

„Aller klar!” Maomao spürte Jinshis Aufregung an der Art und Weise, wie sein Adamsapfel beim Sprechen vibrierte.

„Ich habe dir ja bereits erzählt, dass ich in dieser Hütte zusammen mit meinem Vater, dem eigentlichen Apotheker, gelebt habe. Hier hat er mich großgezogen.”

„Hast du.”

Sie atmete erneut tief durch und fuhr fort.

„Tja, und eines Tages bin ich hinausgegangen, um Kräuter zu sammeln, war jedoch leider zu unvorsichtig, und wurde, bevor ich mich versah, von drei Männern geschnappt und verschleppt. Damals hatte ich keine Ahnung, was sie mit mir anstellen und wohin sie mich bringen würden, aber selbst wenn, hätte ich sowieso nichts dagegen tun können.”

Sie zuckte kurz die Achseln, während sie jene Worte in einem solch neutralen Tonfall aussprach, als ob es um jemand anderen ging und gar nichts mit ihr zu tun hatte. Und na ja, für Maomao war es tatsächlich bloß ein Ereignis in ihrem Leben, und da es außerdem gut ausgegangen war, glaubte sie auch nicht, dass es etwas brachte, sich noch darüber aufzuregen. Die einzigen Ausnahmen, wo sie anderer Meinung war, waren Vorfälle, bei denen Menschen, die ihr etwas bedeuteten, Schaden nahmen... und der einzige solche Vorfall, den sie immer noch bitter bereute, war ihre dumme Aktion, die zu Jinshis Unfall geführt hatte. Noch nie im Leben hatte sie jemandem so viele Schmerzen bereitet.

Doch obwohl die Geschichte von ihrer Entführung ihr selbst nichts mehr ausmachte, wusste sie genau, dass sie Jinshi sehr wohl etwas ausmachen würde, weshalb sie nicht ins Detail ging und die Tatsache verschwieg, dass die Kräuter, die sie hatte sammeln wollen, für ihre falschen Sommersprossen gedacht gewesen waren. Denn sie wollte ihm immer noch auf keinen Fall verraten, wieso sie sich überhaupt welche aufmalte.

„Verschleppt?”, echote Jinshi mit dünner Stimme, als müsste er erst einmal die Bedeutung des Wortes begreifen. Maomao spürte, dass er sie noch enger an sich drückte, und dachte sich, dass es eine äußerst gute Idee gewesen war, sich auf seinen Schoß zu setzen. „Im Ernst?”

„Ja. Sie brachten mich zum Kaiserlichen Palast und verkauften mich quasi an den inneren Hof. Und so hatte ich keine andere Wahl, als dort als Bedienstete zu arbeiten. Als Waschmagd.”

Jinshi begann zu zittern.

„A-Aber man kann sagen, dass ich in Wirklichkeit ziemlich Glück hatte!”, fügte sie schnell hinzu. „Da es für mich auch deutlich schlimmer hätte ausgehen können. Außerdem wurde ich für meine Arbeit bezahlt und sollte nach zwei Jahren nach Hause zurückkehren dürfen. Aber selbstverständlich gefiel es mir überhaupt nicht, entführt und gegen meinen Willen dorthin gebracht zu werden.”

„Glück? Das nennst du Glück?!”, rief der junge Mann ungläubig aus. „Xiaomao!”

Oh. Also hatte ihr letzter Kommentar es nur noch schlimmer gemacht. Verdammt.

„In gewisser Weise schon. Denn ich bezweifle, dass wir uns andernfalls jemals begegnet wären…”, sagte sie leise und lehnte den Kopf erneut an seine Brust. Nun ja... wenn sie sich niemals begegnet wären, hätte Jinshi nie sein Gedächtnis verloren, das stimmte schon, aber... dafür ganz bestimmt sein Leben... und ein gedächtnisloser Jinshi war immer noch deutlich besser als ein toter Jinshi...

Jinshi erstarrte und öffnete den Mund. Dann tat er einen tiefen Atemzug und vergrub die Nase in ihrem Haar.

„Du hast Recht und ich bin auch wahnsinnig dankbar dafür, aber... a-aber Xiaomao! Du wurdest entführt! Einfach so! Du armes Ding! Wie viel hast du bloß durchmachen müssen?!”

Maomao sagte nichts.

„D-Du hattest Angst, oder?”, fuhr er fort. „Aber was frage ich da nur, natürlich hattest du Angst! Haben sie dir wehgetan?”

Die Apothekerin spürte einen Kloß im Hals und fing erneut an, seinen Arm zu streicheln, im Versuch, ihn zu beruhigen. Es brachte nichts.

„Nein, sie haben mich bloß festgehalten und mich in einen Korb gesteckt. Es hätte wirklich schlimmer ausgehen können, glaub mir. Schließlich ist dieser Ort hier nicht gerade der sicherste der Stadt, wie du selbst bereits gesehen hast, und…”

„Xiaomao! Hör auf, das Ganze herunterzuspielen! Bitte!”, wurde sie von einem verärgerten Jinshi unterbrochen. Er klang so, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen, und sie hielt auf der Stelle den Mund, denn sie begriff, dass sie mit ihren Worten lediglich Öl ins Feuer goss. „Das heißt, als ich heute auf dem Feld nach verdächtigen Gestalten Ausschau hielt... war das in Wirklichkeit vollkommen gerechtfertigt gewesen? D-Du hättest jederzeit erneut entführt werden können?!” Er nahm ihre Hand und drückte sie verzweifelt.

„Ja... das könnte man so sagen.” Die Wahrscheinlichkeit war auf jeden Fall gegeben, vermutete sie.

Einige Augenblicke später fühlte sie bereits, wie seine heißen Tränen auf ihr Gesicht herabtropften, und ihr tat das Herz weh. Sie hatte bereits angenommen, dass er so ähnlich reagieren würde, doch das machte es nicht weniger schmerzhaft, sondern sogar noch mehr. War es möglicherweise doch eine schlechte Idee gewesen, ihm davon zu erzählen?

Jinshi schniefte und sie befreite behutsam ihre Hand aus seinem Griff und begann, ihm die Brust zu reiben, um ihn zu trösten, da sie so fest umarmt wurde, dass sie nicht an seinen Rücken herankam.

„Pssst... nicht weinen... es ist doch sowieso schon vorbei... und wie du siehst, ist mir auch nichts Schlimmes zugestoßen…”

„Zu-Zumindest hast du jetzt mich! Ich werde noch besser auf dich aufpassen als zuvor, Xiaomao! Das verspreche ich dir!”, verkündete er aus heiterem Himmel, während ihm weiterhin die Tränen über das Gesicht liefen, und küsste sie erneut auf den Kopf. „Ich... Ich lasse nicht zu, dass so etwas nochmal passiert! Auf keinen Fall!”

Maomao hatte schon wieder keine Ahnung, was sie sagen sollte.

„Bitte mach keine Dummheiten…”, murmelte sie bloß, genau wie vorhin auf dem Feld und ließ sich weiterhin von ihm drücken, nicht wissend, wie sie all die komplizierten und verworrenen Gefühle beschreiben sollte, die nun ihren Verstand überfluteten.

Notes:

Übrigens hab ich vor, dieses Jahr mit JinMao-Minigeschichten am Flufftober teilzunehmen und bereite mich gerade drauf vor, also wird's erstmal keine Extrageschichten geben.

Und noch was: am 07.08. ist die brandneue deutsche Übersetzung des ersten Bandes der Light Novel rausgekommen und zwar als Taschenbuch und digitale Ausgabe! Ich bin zwar noch nicht dazu gekommen, sie zu lesen, aber laut dem, was ich bereits davon gesehen hab, kann ich sagen, dass die Qualität diesmal hervorragend ist.

Chapter 88: Amnesie, Teil 27: Ein weiteres schwieriges Gespräch (2)

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Einige Zeit später, als die Sonne sich bereits zum Untergehen bereit machte, gelang es Jinshi endlich, sich so weit zu beruhigen, dass er aufhörte zu weinen. Bloß seine Brust bebte noch ein wenig, was Maomao, die nach wie vor eng an ihn gedrückt war, deutlich spüren konnte. Irgendwie schien das bloße Hören, dass ihr Schaden zugefügt worden war, ihm mehr wehzutun als sein eigener, körperlicher Schmerz. Ihre Geschichte hatte ihm definitiv das Herz gebrochen.

„Nun, da konnte keiner etwas machen, schließlich ist das Vergnügungsviertel nun mal ein besonders gefährlicher Ort für Frauen”, dachte sie. „Ich habe mit diesem Wissen mein ganzes Leben hier verbracht, also ist es für mich nichts Neues. Aber für ihn ist es natürlich anders…”

Sie streckte die Hand aus, um ihm die noch verbliebenen Tränen vom Gesicht zu wischen, nahm ihn dann bei der Hand und begann, ihm mit dem Daumen tröstend den Handrücken zu streicheln, genauso wie er es oft bei ihr tat.

„Möchtest du, dass ich fortfahre, Jinshi? Oder war das bereits genug für heute?” Genauso wie er nicht wollte, dass sie sich quälte, wollte auch sie nicht, dass er ihretwegen litt, denn Jinshi war in seinem aktuellen Zustand einfach viel zu emotional und verletzlich. Falls er ihr sagte, dass es genug war, dann würde sie an dieser Stelle aufhören und ihm den Rest irgendwann später erzählen... wann auch immer er dafür bereit sein würde.

„Das war ja ein toller Anfang”, dachte sie verbittert und zog die Augenbrauen zusammen, während sie seine Hand drückte. „Ich habe es doch geahnt... aber zumindest weiß er jetzt Bescheid, wie alles begonnen hat. Sogar noch besser als der alte Jinshi, um ehrlich zu sein.” Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihm vor seinem Gedächtnisverlust nie die genauen Umstände ihrer Entführung dargelegt hatte, sondern bloß die Tatsache, dass sie verschleppt und gegen ihren Willen in den inneren Palast gebracht worden war. Mehr nicht. Also wusste er jetzt tatsächlich ein wenig mehr als vorher darüber. Ob das gut oder schlecht war, wusste sie allerdings nicht.

Sie spürte, wie er einen tiefen, zittrigen Atemzug tat und ihre Schulter leicht mit seiner freien Hand rieb.

„J-Ja, mach bitte weiter. Mir geht's gut, wirklich. Entschuldige mein Weinen, aber ich konnte einfach nicht anders…”

„Schon gut, du musst dich nicht entschuldigen.”

Die etwas überraschte Maomao war sich nicht sicher, ob es ihm wirklich wieder gutging oder er ihr zuliebe nur etwas vorspielte, doch sie beschloss, ihm zu glauben.

„Aber kann ich dir zuvor noch eine Frage stellen, Xiaomao? Es ist etwas, was ich unbedingt wissen muss.”

„Ähm, sicher.”

Die Apothekerin spannte sich ein wenig an. Sie hatte bereits so eine Vermutung, dass ihr seine Frage nicht gefallen würde.

„Ich war doch der Aufseher des inneren Palastes, oder?”, begann er und legte die Wange auf ihren Kopf.

„Ja.”

„Bedeutet das also, dass ich deine Entführung hätte verhindern können? War es in Wirklichkeit meine Schuld, weil ich nicht gut genug aufgepasst habe? Weil ich meine Arbeit nicht anständig tat?”

Sie hatte mit ihrer Vermutung Recht behalten. Maomao ließ seine Hand los und klammerte sich stattdessen an seinen Ärmel. Er hasste es, wenn sie Dinge, die ihr zugestoßen waren, herunterspielte, doch sie hasste es, wenn er sich für eben jene Dinge verantwortlich fühlte. Ihr fiel ein, dass er auch schon beim ersten Mal ziemlich schuldig und betroffen ausgesehen hatte, und es war ihr damals bereits nicht richtig vorgekommen, aber jetzt umso mehr.

Und außerdem begriff sie immer noch nicht ganz, wieso er sich überhaupt so fühlte. Sie war doch die Unachtsame gewesen, nicht er, und für die Tatsache, dass solche Leutverkäufer überhaupt existierten, konnte er nun wirklich nichts. Schließlich konnte er nicht jedes Detail wissen über alles, was im inneren Palast vor sich ging, das wäre für eine einzige Person ganz und gar unmöglich.

„Nein, Jinshi, hör auf damit. Der innere Palast ist riesig und du hattest bereits mehr als genug zu tun, also hättest du es auf keinen Fall verhindern können. Dort leben Tausende von Aufwärterinnen und du konntest nicht wissen, wie jede einzelne dorthin gelangt ist.”

„Oh…”, machte er, klang jedoch immer noch nicht ganz überzeugt. „Das mag stimmen... aber diese Tausende von Aufwärterinnen interessieren mich doch gar nicht... sondern nur du. Und die Tatsache, dass du so behandelt wurdest, tut mir wirklich weh.”

Maomao hatte keinen Schimmer, was sie darauf entgegnen sollte, daher beschloss sie einfach, mit der Geschichte fortzufahren, andernfalls würden sie noch eine Ewigkeit so dasitzen und Jinshi brauchte nach dem anstrengenden Tag seinen Schlaf.

„Also, wie bereits gesagt, arbeitete ich dort als Waschmagd und führte ein ziemlich ruhiges, wenn auch eintöniges Leben, bei dem ich Tag für Tag Wäsche durch die Gegend trug. Bis ich eines Tages von einigen seltsamen Ereignissen hörte und meine Neugier erwachte.” Sie machte eine Pause und sah ihm ins Gesicht. Jinshi schaute sie ernst an und hörte aufmerksam zu. „Die Kinder des Kaisers wurden alle krank und starben. Jedoch schaffte ich es, die Ursache zu finden, sodass zumindest eines der kranken Kinder genesen und überleben konnte.”

„Du bist unglaublich”, murmelte er beeindruckt.

„Und die Mutter jenes Kindes, Gemahlin Gyokuyou, bat dich, mich zu finden. Das ist dir auch gelungen und so haben sich unsere Wege schließlich gekreuzt. Danach machte mich die Gemahlin zu ihrer Zofe und du kamst ab und zu vorbei, um mir Aufträge zu erteilen und damit ich dir bei einigen Ermittlungen half und das ein oder andere Rätsel für dich löste.”

Sie spürte, dass sie lieber nicht erwähnen sollte, dass sie die Giftvorkosterin der Gemahlin gewesen war. Denn das würde wohl eher kein gutes Ende nehmen.

„Das überrascht mich nicht, so schlau wie du bist. Was für Aufträge denn?”

Maomao beschloss, ihm auch hier nicht zu viele Einzelheiten zu verraten, und entschied sich für etwas mehr oder weniger Harmloses.

„Nun, zum Beispiel hast du mich ein Mal gebeten, dir ein Aphrodisiakum zu machen.”

Jinshi machte vollkommen perplex den Mund auf und lief knallrot an.

„Was? Ein Aphrodisiakum? W-Was wollte ich denn mit so etwas?”

Maomao zuckte die Achseln. Sie fand seine Nervosität irgendwie lustig.

„Ich weiß es selbst nicht genau, aber jedenfalls brauchtest du es nicht für dich selbst, soweit ich es verstanden habe. Jedoch fanden Gemahlin Gyokuyous andere Zofen meine Kreationen in meiner Abwesenheit und bedienten sich, weil sie diese für Süßigkeiten hielten. Den Rest der Geschichte behalte ich lieber für mich, doch ich kann dir sagen, dass die oberste Zofe Hongniang fuchsteufelswild war.”

Sie hörte Jinshi kichern und war froh, dass er sich tatsächlich vollständig vom traurigen Beginn erholt zu haben schien. Aber nun wurde es wieder Zeit für etwas Ernsteres. Leider.

„Und eines Tages, nachdem ich wieder mal einige Ermittlungen für dich angestellt habe, kam es zu einem Missverständnis: es ging um ein Verbrechen und die Täterin wurde aufgespürt. Es stellte sich heraus, dass ihre Familie Verbindungen zu den Leutverkäufern hatte, daher mussten alle Mädchen, die diese in den Palast gebracht hatten, entlassen werden. Ich mit eingeschlossen. Als Aufseher des inneren Palastes hattest du allerdings die Macht, mich doch dortzubehalten, aber anstatt es einfach zu tun, fragtest du mich, was ich wünschte.”

Jinshi nickte nachdenklich. Bestimmt verstand er das Verhalten seines früheren Selbst.

„Und du bist geblieben, oder?” Er runzelte leicht die Stirn, sicherlich fürchtend, dass sie dies nur seinetwegen getan hatte. „Habe ich... dich angefleht?”

„Nein. Du hast mich nicht angefleht und ich bin nicht geblieben.”

„Ach?”

„Ich habe mit aller Macht versucht, dir zu verstehen zu geben, dass ich bleiben wollte, weil ich trotz allem angefangen habe, mein Leben am Kaiserlichen Palast zu mögen, aber du hast es nicht kapiert und dachtest, dass ich nach Hause zurück wollte. Und so hatte ich keine andere Wahl als zu gehen.”

Jinshis Pupillen schrumpften. Er brauchte einen Moment um zu verarbeiten, was er gerade gehört hatte.

„D-Du bist gegangen... obwohl du es nicht wolltest?”

„Wie gesagt hatte ich keine andere Wahl. Du warst überzeugt, dass ich es dort hasste, und wolltest unbedingt meine Wünsche respektieren, was zwar... sehr lieb von dir war, aber trotzdem. Wie du ja weißt, bin ich nicht sehr gut mit Worten und so ist das passiert. Und da eine Bürgerliche einem Adeligen nicht den Gehorsam verweigern durfte, konnte ich mich deiner Entscheidung auch nicht widersetzen.”

„Ich... verstehe…” Jinshi schluckte schwer. „Und was ist danach passiert? D-Das war doch kein Abschied für immer, oder? Schließlich warst du ja bei mir, als ich ohne Gedächtnis aufwachte.” Er schien das Konzept, Maomao nie wiederzusehen, nicht einmal begreifen zu können.

„Wir sind uns etwa zwei Wochen später bei einem Bankett begegnet. Du warst einer der Gäste und ich begleitete meine Schwestern, die zur Unterhaltung engagiert worden waren.”

Sie spürte, wie Jinshi daraufhin erneut zu zittern begann, und spannte sich entsetzt in seinen Armen an.

„Was hat er bloß?! Ich habe doch gesagt, dass wir uns wieder begegnet sind, oder?!”

„Soll das heißen, ich verbrachte zwei Wochen... zwei ganze Wochen ohne dich?!”, rief er ungläubig aus. „Wie habe ich das bloß überstanden?!”

Maomao weitete verdutzt die Augen und nahm ihn unbewusst erneut bei der Hand. Falls sie sich richtig erinnerte, hatte er bei jenem Bankett einfach schrecklich ausgesehen: immer noch so schön wie immer, aber bleich und so erschöpft, als habe er tagelang nicht geschlafen, als würde eine Regenwolke über seinem Kopf schweben. War das etwa alles ihretwegen gewesen? Hatte er tatsächlich so fürchterlich gelitten, nur weil er sie nicht mehr sehen konnte? Erst jetzt begriff sie, dass die Antwort höchstwahrscheinlich ja lautete. Aber wie hätte sie es damals auch verstehen können, wenn sie ihr ganzes Leben lang noch nie so sehr von jemandem vermisst worden war? Jinshi war der Erste und Einzige in dieser Hinsicht.

Während sie so in Gedanken versunken war, drückte Jinshi erneut die Wange an ihren Kopf. Er zitterte wie Espenlaub.

„Zwei Wochen…”, wimmerte er. „Ich v-verstehe, warum ich so handelte, wenn ich mir s-sicher war, dass du es so wolltest, aber... allein die Vorstellung, ohne dich zu sein, tut so weh…” Er verzog das Gesicht und griff sich an den Kopf.

„Oh nein, er hat Schmerzen! Was hab ich nur getan?!”, dachte Maomao erschrocken. Sie befreite sich mit einiger Mühe aus seiner Umarmung und sprang von seinem Schoß auf.

„Jinshi! Warte bitte kurz!”

Und rannte los, um das Schmerzmittel und einen Becher Wasser zu holen.

„Xiaomao... g-geh nicht... bitte!” In seiner Stimme lag ein solcher Schmerz, dass die Apothekerin erschauderte. Schon wieder hatte sie den Eindruck, als ob er nun dieselben Gefühle durchmachte, die ihn in der Vergangenheit geplagt hatten, als die Ereignisse tatsächlich stattfanden.

„Ich hole bloß deine Medizin! Schau, hier bin ich doch!”

Beinahe das Wasser unterwegs verschüttend, eilte sie so schnell sie konnte zu ihm zurück und ließ ihn die Arznei einnehmen. Dann legte sie die Decke, die zu Boden gerutscht war, wieder um seine bebenden Schultern, nahm mit beiden Händen seinen Kopf, drückte ihre Stirn an seine und blickte ihm direkt in die Augen, die erneut mit Tränen gefüllt waren. Tja, zum Glück hatte er zumindest kein Fieber... noch nicht.

„Psst... ganz ruhig. Ich bin hier und gehe nirgendwohin.”

Sie erinnerte sich, dass sie ihn während der ersten Nacht nach seinem Unfall auf genau dieselbe Weise beruhigt hatte.

Nachdem es ihm endlich wieder ein wenig besser ging, atmete Maomao tief durch und bat ihn, sich auf der Matte hinzulegen. Der erschöpfte Jinshi gehorchte schweigend und sie zog ihm die Decke bis zum Kinn hoch. Dann holte sie für alle Fälle noch mehr Medizin und noch ein Glas Wasser und schlüpfte dann zu ihm unter die Decke. Der junge Mann schmiegte sich umgehend an sie und zog sie in seine Arme.

„Na dann, genug für heute”, dachte sie, während sie ihm mit den Fingern leicht das lange Haar kämmte und er erneut die Nase in ihrem Haar vergrub, wohl, um zusätzlichen Trost durch ihren Duft zu erhalten. „Den Rest der Geschichte erzähle ich ihm ein andermal. Natürlich nur, wenn er ihn immer noch hören will, versteht sich. Aber wie auch immer, jetzt braucht er jedenfalls Ruhe.” Sie wollte bereits damit beginnen, ihm ihr Schlaflied vorzusummen, damit er leichter einschlafen konnte.

Jedoch...

„B-Bitte erzähl weiter, Xiaomao”, hörte sie ihn leise sagen und konnte ihren Ohren nicht trauen.

„Hä? Bist du sicher?”

„Ja, bitte. Ich will den Rest hören.” Seine Stimme klang ziemlich schwach und müde, aber auch entschlossen.

Maomao war sich unsicher, ob es eine gute Idee war, auf ihn zu hören, doch letztendlich tat sie es. Schließlich war der Rest, jetzt wo sie darüber nachdachte, gar nicht schlimm und sollte ihn nicht aufwühlen. Zumindest hoffte sie das.

„Wie du meinst. Aber falls es dir wieder schlechter geht, höre ich auf.”

„Alles klar.”

Sie spürte, wie Jinshi einen tiefen Atemzug tat und sich zum Zuhören bereitmachte.

Maomao drückte die Stirn an seine Brust und öffnete den Mund, um fortzufahren.

„Gut, wie gesagt, sind wir uns bei einem Bankett wiederbegegnet und schafften es, das besagte Missverständnis aufzuklären. Du hast herausgefunden, dass ich den inneren Palast nicht verlassen wollte, weil…”

Genau in dem Moment fiel ihr etwas auf und sie verstummte auf der Stelle. Puh, gerade noch rechtzeitig! Noch ein bisschen und sie hätte Jinshi verraten, dass die Alte aus ihr unbedingt eine Kurtisane machen wollte. Das war etwas, was er definitiv nicht erfahren sollte, so viel war ihr klar. Sie wollte seinem Herzen nicht noch einen weiteren Messerstich aus Worten verpassen, es hatte bereits genug Risse.

Das Erzählen erschöpfte sie immer mehr und mehr mit all den verborgenen Stolpersteinen, die die Geschichte bot... doch Jinshi zuliebe machte sie weiter.

„Weil?”, regte er sie sanft an, ihren Satz zu beenden.

„Nun, es gab mehrere Gründe. Natürlich wollte ich nach Hause, bloß war der Zeitpunkt nicht der beste, das ist alles.”

„Ach so.”

Aufgrund ihrer aktuellen Position konnte sie nicht sehen, dass Jinshi angesichts ihrer vagen und unbefriedigenden Antwort die Augenbrauen gehoben hatte. Doch er schien zu verstehen, dass es möglicherweise etwas war, was sie ihm nicht näher erläutern wollte, und hakte nicht weiter nach.

„Und dann hast du mir angeboten, mich freizukaufen, um mich zurück an den Kaiserlichen Palast zu holen, und ich habe eingewilligt. Das ist die ganze Geschichte und der Grund, wieso ich zurückgekehrt bin, aber diesmal als deine persönliche Bedienstete.”

Maomao verzog leicht das Gesicht bei der Erinnerung daran, wie ihre Schwestern sie an dem Tag, als Jinshi sie abholen kam, herausgeputzt hatten, und rückte einige Zentimeter von ihm weg, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Sie war ein wenig nervös, aber auch neugierig, wie er wohl reagieren würde.

Zunächst passierte gar nichts.

„Ich bot dir an, dich freizukaufen, und du hast eingewilligt…”, wiederholte er dann langsam und nachdenklich, als ob er diese Information noch verdauen müsste. „Einfach so? Ohne zu zögern?”

„Ja.”

Tatsächlich war dem nichts mehr hinzuzufügen, fand sie. Es war einfach so geschehen. Ein spontaner Entschluss.

„Xiaomao!”

„Wa-?”

Die Apothekerin gab einen Laut der Überraschung von sich, als Jinshi auf einmal nach ihrer Taille griff, sich im Bett aufsetzte, sie ebenfalls in eine Sitzposition hochzog und erneut ganz fest an sich drückte. Sich zum wiederholten Male auf seinem Schoß wiederfindend, hatte sie nicht die geringste Ahnung, was nun vor sich ging.

Jinshis fröhliches Lachen erfüllte die Hütte.

„Was ist denn so lustig?”, fragte sie verwirrt und analysierte den letzten Part der Geschichte rasch in ihren Gedanken. Nein, soweit sie wusste, hatte sie keine Scherze gemacht. Doch trotz ihrer Überraschung verspürte sie in Wirklichkeit Erleichterung und hatte gegen eine solche Reaktion überhaupt nichts einzuwenden. Ihn lachen zu hören war tausend Mal besser als ihn weinen zu hören. Und so entspannte sie sich wieder.

„Nichts, deine Worte haben mich bloß so glücklich gemacht!”

„Ähm, ich kapier's nicht ganz…”

Jinshi grinste sie an und klopfte ihr mit dem Zeigefinger leicht auf die Nase.

„Nicht? Also, du bist hier, an einem solchen Ort aufgewachsen, hast schreckliche Dinge wie eine Entführung durch irgendwelche Kerle durchgemacht, aber als ich dir ein solches Angebot machte, hast du trotzdem nicht gezögert und hast einfach ja gesagt. Du bist immer so vorsichtig und auf der Hut gegenüber den meisten Leuten, soweit ich es mitbekommen habe, also muss das bedeuten, dass du mir damals schon ganz viel Vertrauen geschenkt hast! Und das macht mich glücklich! So unfassbar glücklich!”

Maomao war vollkommen sprachlos.

Da war was dran. Wenn man so darüber nachdachte... hatte Jinshi ganz Recht. Es war ein höchst untypisches Verhalten für sie gewesen, eines, welches ihrem Charakter kein bisschen entsprach. Selbst wenn sie bloß eingewilligt hatte, um einem Schicksal als Kurtisane zu entkommen, änderte dies trotzdem nichts an der Tatsache, dass sie ihn zu dem Zeitpunkt noch kaum gekannt hatte. Ja, es stimmte schon, dass sie Jinshi damals noch für einen Eunuchen gehalten hatte, aber selbst als solcher wäre er immer noch ein Adeliger, der was auch immer mit ihr hätte anstellen können. Sie hatte nie so genau darüber nachgedacht, aber nun da sie es tat, kam es sogar ihr selbst höchst merkwürdig vor.

„Das... stimmt.”

Es war so, als hätte sie instinktiv gespürt, dass sie bei ihm sicher sein und er ihr nichts Schlimmes antun würde (außer ihr zu verbieten, Gift zu essen, aber das war etwas, was nur Maomao schlimm fand). Und damit hatte sie buchstäblich ihr Leben und ihre Zukunft in seine Hände gelegt.

Maomao wusste, dass sie von anderen Leuten oft nicht verstanden wurde, aber ab und zu war sie sich sogar selbst ein Rätsel.

Jinshi lachte erneut, als er ihren Gesichtsausdruck sah, und küsste sie auf die Stirn, bevor er sich erneut mit ihr hinlegte, diesmal auf den Rücken. Trotz seiner Fröhlichkeit musste er wirklich ziemlich erschöpft sein und das Schmerzmittel, welches inzwischen angefangen hatte zu wirken, trug sicherlich auch dazu bei.

„Aber jetzt kann er endlich schlafen”, dachte Maomao, die ebenfalls müde war.

„So war das also”, meinte er und gähnte. „Bin ich erleichtert. Weißt du, ich habe mir bereits wirklich schlimme Dinge ausgemalt, weil der Begriff „Loskauf” so schrecklich klingt.”

Die Apothekerin, die nun bäuchlings auf ihm drauflag, griff nach der Decke, um sie beide wieder zuzudecken und stützte sich auf ihre Ellenbogen, um ihren Oberkörper zu heben und Jinshi anzusehen.

„Schrecklich? Wieso denn?”

„Weil er sich so anhört, als seist du kein Mensch, sondern ein Gegenstand. Ich bin ja so froh, dass es etwas war, was du selbst wolltest.”

„Verstehe.” Nun, man konnte gewiss nicht abstreiten, dass Kurtisanen sehr wohl wie Ware behandelt wurden, aber so waren die Dinge nun einmal. Und die im inneren Palast gefangenen Frauen, mit denen der Kaiser so gut wie alles tun konnte, was ihm beliebte, wie sie zum Beispiel mit anderen Männern zu verheiraten, hatten es, um ehrlich zu sein, auch nicht sehr viel besser. Aber das war die Welt, in der sie lebten. Es war nicht leicht, eine Frau zu sein.

Maomao seufzte und gähnte ebenfalls. Ach, wie auch immer, jedenfalls war die Geschichte endlich erzählt und sie waren beide müde. Zeit zum Schlafen.

Und doch... störte sie nach wie vor etwas…

Eine Kleinigkeit, die sie ausgelassen hatte und die ihr nun in den Sinn kam. Schon wieder etwas, was gegen ihre Natur gegangen war und sie zum Nachdenken brachte. Sie runzelte die Stirn.

„Was hast du, Xiaomao?”, erkundigte Jinshi sich liebevoll und streichelte ihren Kopf.

„Da gibt es etwas, was ich nicht erwähnt habe…”, murmelte sie und rollte sich auf die Seite, bis sie auf Jinshis Arm ruhte und ihr Kopf auf seiner Schulter.

„Ja? Was denn?”

Doch anstatt ihm die Frage zu beantworten, griff sie gedankenverloren nach seiner freien Hand und umfasste mit ihren dünnen Fingern sein Handgelenk. Sie biss sich auf die Unterlippe.

Jinshi sah neugierig zu, wie sie sein Handgelenk hob, sagte jedoch nichts und ließ sie einfach gewähren. Maomao konnte seinen Puls spüren, doch diesen zu prüfen, war diesmal nicht ihr Ziel.

„Bei dem Bankett trug ich Lippenstift und du…”

„Was habe ich getan?” Leichte Beunruhigung erschien in seinen Augen.

„Das.”

Ihre Hand bewegte sich über seinen Handrücken, ergriff seinen Zeige- und Mittelfinger, führte diese zu ihrem Mund und drückte sie an ihre Lippen. Ohne jede Vorwarnung.

Jinshi erstarrte. Er hielt sogar für einen Moment den Atem an.

„Und dann das…”

Als Nächstes presste sie seine Finger an seine eigenen Lippen.

„Xia-Xiao-Xiaomao…”

Der junge Mann war so rot, dass er fast leuchtete, und so fassungslos, dass er sich beinahe auf die Zunge biss, als er stammelnd ihren Namen herausbrachte.

Und in diesem Augenblick gewann Maomaos Verstand auf einmal wieder die Oberhand und ihr wurde bewusst, was sie da gerade getan hatte.

Während ihre eigenen Wangen heiß zu werden begannen, ließ sie seine Hand los und vergrub ihr Gesicht fast schon reflexartig an seiner Brust, um ihm nicht in die Augen zu sehen.

Was zur Hölle war das bloß?! Wieso hatte sie so etwas Unnötiges und Peinliches getan?! Wieso konnte sie sich nicht einfach damit zufriedengegeben, jene Szene kurz zu erwähnen, sondern musste sie unbedingt nachstellen?! Ein Schauer lief ihr über das Rückgrat und sie bekam Lust, sich an den Haaren zu ziehen. Als sie ihre Hand nach seinem Handgelenk ausgestreckt hatte, war es so gewesen, als ob diese sich wie von selbst bewegt hatte, geleitet nicht von ihrem Verstand, sondern eher von etwas vollkommen Anderem.

Ihrem Herzen. Jenen ungewohnten Gefühlen, die sie noch nie erlebt hatte, bevor sie Jinshi kennengelernt hatte. Die, die sie nicht nur nicht verstehen konnte, sondern nicht verstehen sollte...

Es machte ihr ein wenig Angst.

Sie klammerte sich an Jinshis Kleidung und spürte einen Moment später bereits seine Hand, die anfing, sanft ihren Rücken zu streicheln.

***

Einige Zeit später, als es bereits Nacht geworden war, lagen die beiden erneut auf der Seite und eng aneinandergekuschelt auf der Schilfmatte in der nun kühlen Hütte, die vom kleinen Feuer im Ofen ein wenig erwärmt wurde.

Sie sprachen nicht und bewegten sich auch kaum, doch hielten einander fest, während sie mit geschlossenen Augen dalagen und in den Schlaf zu finden versuchten.

Maomao ging es bereits ein wenig besser, da Jinshi, sobald er ihre Aufgewühltheit bemerkt hatte, seine Verwirrung und die eigenen überwältigenden Gefühle herunterzuschlucken schien und angefangen hatte, ihren Kopf zu küssen und sie liebevoll zu beruhigen.

Und doch pochte ihr Herz immer noch wie verrückt. Und seines ebenso. An Schlaf war nicht zu denken.

Doch einfach so die ganze Nacht herumzuliegen, kam auch nicht in Frage.

Daher begann Maomao schließlich, das Schlaflied zu summen, so wie sie es stets tat, wenn er nicht einschlafen konnte. Ihre sanfte Stimme durchbrach die leise Dunkelheit im Haus und die laute Dunkelheit draußen im Vergnügungsviertel.

Jinshi zuckte leicht zusammen, als hätte ihn das Geräusch aus irgendwelchen tiefen Gedanken gerissen und... stimmte mit ein.

Gemeinsam summten sie die bereits wohlbekannte Melodie, um einander beim Einschlafen zu helfen.

Und ihre Bemühungen trugen Früchte.

Überraschenderweise war es Maomao, die als Erste ihrer Erschöpfung erlag und in Jinshis Armen in einen tiefen Schlaf fiel. Sie bekam nicht mehr mit, wie er die Augen öffnete, vorsichtig eine ihrer kleinen Hände nahm und diese gegen ihre Lippen drückte, bevor er sie zu seinem eigenen Mund führte und ihre Finger küsste.

Als Nächstes legte er ihre Hand auf seine Brust zurück und schloss erneut die Augen. Bis er zu guter Letzt ebenfalls einschlief. Mit einem solchen Glück auf seinem noch immer geröteten Gesicht, als habe er in seinem ganzen Leben noch nie Schmerzen gekannt.

Notes:

Und damit haben wir dieses schwierige Gespräch endlich hinter uns! :)
Ich wollte ihren indirekten Kuss unbedingt nachstellen!

Jetzt ruh ich mich einige Tage lang aus und würde mich danach gern zwei oder drei Wochen lang lediglich auf meine Flufftober-Geschichten konzentrieren, da sie länger werden, als ich dachte, und ich so viel wie möglich im Voraus fertigstellen wollte.
(Übrigens hab ich bereits vier fertige Geschichten und drei Entwürfe!)

Also wird's wohl im September keine neuen Updates geben und das nächste Amnesie-Kapitel kommt im Oktober.

Aber dafür bekommt ihr im Oktober eine MENGE neuer Geschichten von mir, also freut euch drauf! Ich jedenfalls kann's kaum erwarten, sie mit euch zu teilen!
Danke für eure Geduld!

Ach, übrigens könnt ihr meinen Flufftober-Fortschritt in meinem Profil sehen, falls es euch interessiert!

Chapter 89: Amnesie, Teil 28: Ein Besuch bei Maomaos Schwestern

Notes:

Dieses Kapitel ist kürzer geworden als ich dachte, weil meine Pläne sich geändert haben, also hab ich geschafft, es trotz allem noch im September fertigzustellen :)

Dazu hab ich auch noch ganz viel an meinen Flufftober-Geschichten gearbeitet, aber darüber mehr nach dem Kapitel.

Ach, übrigens: dieses Kapitel wurde von einem Kommentar inspiriert, den ich letztes Jahr von einem Leser bekommen hab.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Der neue Tag begrüßte sie mit einem erneuten sonnigen Morgen. Die Sonnenstrahlen traten durch das Fenster des kleinen Apothekerlädchens ein und schienen dessen Bewohnern direkt in die Augen, als wollten sie die beiden zum Aufstehen bewegen. 

Doch die zwei kniffen bloß die Augen fest zusammen und schliefen in aller Ruhe weiter. Beide waren noch erschöpft vom gestrigen späten Gespräch und all dem anderen, was am vergangenen Tag noch passiert war.

Jinshi gähnte, festigte seinen Griff um Maomao und drehte sich auf den Rücken, den Kopf vom Fenster abwendend, um der nervigen Sonne so gut es ging zu entkommen. Langsam und vorsichtig. Denn selbst in seinem schlaftrunkenen Zustand achtete er darauf, den Schlaf der Apothekerin nicht zu stören.

Maomao rührte sich ein wenig und klammerte sich an seine Kleidung, das Gesicht noch enger an seiner Brust vergrabend und sich unter der Decke verkriechend, und schon bald darauf sanken sowohl er als auch sie in einen erneuten Tiefschlaf, aus dem sie etwa zwei Stunden später erwachten. Doch auch danach blieben sie noch eine Weile liegen, dösten und schmusten miteinander, bis letztendlich das laute Knurren ihrer Mägen die Stille unterbrach und sie dazu brachte, endlich aufzustehen, um das Frühstück zuzubereiten.

In ihrem früheren Apothekerinnenleben hätte Maomao es sich nicht erlaubt, so spät aufzustehen, da ihr Vater häufig schon frühmorgens aufs Feld ging oder mit der Medizinherstellung begann und sie es nicht richtig fand, noch im Bett zu liegen, während er arbeitete, egal, wie müde sie noch sein mochte. Doch mit Jinshi musste sie sich um so etwas keine Gedanken machen. 

Mal ganz davon abgesehen, dass die Apotheke im Moment nicht so viele Kunden hatte wie im Herbst und Winter, machte ihr neuer Mitbewohner die alte, dünne Schilfmatte auch noch zu einem derart gemütlichen und warmen Ort, dass es ihr einfach nicht leicht fiel, morgens aus dem Bett zu kommen, auch wenn sie wusste, dass sie über den Tag verteilt noch ganz viele Umarmungen von ihm bekommen und nachmittags womöglich noch ein Schläfchen mit ihm zusammen halten würde.

Ein weiterer Aspekt ihres Lebens, den Jinshis ständige Gegenwart beeinflusst und verändert hatte.

Doch vor dem Frühstück wollte Maomao Jinshi noch unbedingt untersuchen. Zwar tat sie dies jeden Morgen, aber diesmal besonders gründlich, denn schließlich hatte er während ihres Gespräches ja heftige Kopfschmerzen bekommen. Und so griff sie nach seinem Handgelenk, um seinen Puls zu prüfen.

Aber als sie dies tat, erinnerte sie sich plötzlich an das, was sie vor dem Einschlafen getan hatte, und spürte, wie sich in ihren Wangen Hitze sammelte. Was zur Hölle war da bloß in sie gefahren?!

Auch nur daran zu denken, war immer noch so peinlich, dass sie sich am liebsten in irgendein Loch verkriechen würde, doch gleichzeitig war sie auch wahnsinnig erleichtert, das schwierige Gespräch nun endlich hinter sich zu haben. Und trotz der... nicht so tollen Parts, war es doch eigentlich besser gelaufen als erwartet, nicht?

Unbewusst hob sie den Kopf und ihr Blick traf auf Jinshis. Er schaute auf ihre geröteten Wangen und seine Augen weiteten sich leicht, während sein Lächeln durch einen Ausdruck des Erstaunens ersetzt wurde.

Dann färbten sich auch seine Wangen rot. Bestimmt hatte er begriffen, woran sie gerade dachte.

Maomao hielt sein Handgelenk nun mit beiden Händen fest und wusste nicht, was sie sagen oder ob sie das Thema überhaupt ansprechen sollte.

Jinshi neigte den Kopf leicht zur Seite. Als Nächstes legte er ihr jedoch seine freie Hand auf den Kopf und begann, sanft ihr Haar zu streicheln, während er ihr ein noch breiteres Lächeln schenkte als zuvor. Es war ein fröhliches, beruhigendes.

Diesmal war Maomao diejenige, die begriff: mit seiner Geste wollte er ihr mitteilen, dass alles gut war, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.

Sich tatsächlich deutlich ruhiger fühlend, führte sie ihre Untersuchung fort. 

Bis es auf einmal an der Tür klopfte.

***

Etwa eine Stunde später nahmen Jinshi und Maomao einander bei der Hand und verließen die Apotheke, um sich zum Verdigris-Gebäude zu begeben, nachdem sie ihr Frühstück beendet und die Apothekerin einem Kunden eine Salbe gegen Hautausschlag verkauft hatte. Es war nun kurz nach Mittag und die Sonne brannte genauso heiß vom Himmel wie am Vortag.

„Ich frage mich, was genau sie von uns wollen”, sagte Maomao mit einem leisen Seufzer. Die Besucherin von vorhin war eines der Lehrlingsmädchen von Verdigris gewesen, die von Pairin gebeten worden war, sich zu ihrer Hütte zu begeben und sie daran zu erinnern, dass sie und die beiden anderen Prinzessinnen auf ihren und Jinshis Besuch warteten. 

Wunderbar. Dabei hatte sie doch noch so viele Medikamente herzustellen und so viel, was sie Jinshi heute beibringen wollte. Na gut, was soll's. Dann würden diese Dinge eben noch warten müssen.

„Ach, sei doch nicht so, Xiaomao”, antwortete Jinshi fröhlich und drückte ihre Hand, um sie aufzumuntern. „Deine Schwestern haben ja gesagt, dass sie dich vermisst haben, da ist es doch absolut nichts dabei, wenn sie dich sehen wollen, oder? Von dem, was ich bisher von ihnen gesehen und dank dir über sie gehört habe, scheinen sie mir alle drei gute Menschen zu sein.”

„Hmm... stimmt.” Maomao setzte ein kleines Lächeln auf. Das war das allererste Mal, dass sie hörte, wie jemand Kurtisanen als „gute Menschen” bezeichnete, und freute sich sehr für ihre Schwestern, denn selbst wenn sie ihr ab und zu auf die Nerven gingen, besaßen alle drei tatsächlich ein gutes Herz. Und ohne Pairin hätte sie nicht einmal überlebt als Säugling.

„Haha. Also ist es doch nicht so schlimm, was?”

„Und sie scheinen dich ebenfalls zu mögen. Wenn sogar Schwester Joka nichts gegen einen Besuch von dir einzuwenden hat, sagt dies schon ziemlich viel aus. Sie mag Männer nämlich nicht besonders, weißt du?”

„Ach? Und trotzdem arbeitet sie als Kurtisane?” Jinshi sah sie verblüfft an.

„Tja…” Maomao zuckte die Achseln. „Nicht, dass sie in der Hinsicht groß eine Wahl gehabt hätte.” Schließlich stand der Tochter einer Prostituierten oft kein anderer Weg frei, als selbst eine zu werden. Da war sie selbst dank ihres Vaters eine recht seltene Ausnahme (auch wenn die geldgierige Alte mehrfach den Wunsch ausgedrückt hatte, trotz allem eine aus ihr zu machen). „Aber es gibt Männer, die eine solch ablehnende Art an Frauen ziemlich mögen. Nicht wenige sogar.”

Sie hüstelte, während sie sich daran erinnerte, wie Jinshi selbst früher ihre finsteren Blicke genossen hatte. Sollte sie vielleicht irgendwann mal ausprobieren, ob er das immer noch tat? Ähm... nein, lieber nicht.

„Wirklich? Verstehe.”

Maomao richtete ihren Blick auf den Eingang von Verdigris, dem sie sich immer weiter näherten. Eine Kleinigkeit an der Einladung ließ ihr noch immer keine Ruhe.

„Ich gebe zu, dass ich nichts gegen einen Besuch einzuwenden habe, aber ich habe trotzdem ein etwas schlechtes Gefühl bei der Sache, wenn ich an den verdächtigen Glanz denke, den sie gestern in den Augen hatten. Die haben doch ganz bestimmt was vor.”

„Mach dir keine Sorgen, Xiaomao. Selbst wenn, ist es sicherlich nichts Schlimmes.”

„Hoffen wir es.”

Nun ja...

***

„Oh, trägst du deine Braut heute etwa nicht auf Händen? Wie schade.”

„Ähm…”

„Schwester Meimei! Hör auf!”

***

„Aaah! Xiaomao! Die ziehen mich aus!”, hallte der entsetzte Schrei eines jungen Mannes durch eine geschlossene Tür.

„Hey! Was tut ihr zwei ihm da drinnen an?!”, fauchte Maomao wütend und hämmerte mit der Faust an die besagte Tür, so laut wie ihre bescheidene Körperkraft es erlaubte. 

Kaum hatten sie und Jinshi Meimeis Zimmer betreten, wohin sie gebeten worden waren, sich zu begeben, hatten Meimei und Pairin sich auch schon Jinshis Arme geschnappt und ihn ins Nebenzimmer gezerrt, noch bevor die beiden Besucher begreifen konnten, was überhaupt vor sich ging. Joka, die bei Maomao geblieben war und sich mit einem genervten Seufzer den Nasenrücken rieb, hatte der Apothekerin erklärt, dass die zwei Frauen es sich in den Kopf gesetzt hatten, sie beide unbedingt neu einzukleiden. Im Partner-Look.

Sie legte der aufgebrachten Maomao eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen.

„Ach, lass sie einfach. Du weißt ja selbst, dass die beiden sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen, wenn sie so sind. Und nun komm, lass mich dir dein Kleid geben.”

Doch Maomao bewegte sich nicht vom Fleck.

„Wehe, ihr traumatisiert ihn noch!”, schrie sie durch die geschlossene Tür. „Gebt ihm die Kleidung einfach und kommt wieder her! Er kann sich jetzt auch ohne Hilfe umziehen!”

Aus dem anderen Raum kamen jedoch bloß Gekicher und ein leises „Xiaomao…”

Als Letzteres das Gehör der Apothekerin erreichte, fing ihr Blut an zu kochen. Sie biss die Zähne zusammen und holte mit dem Fuß aus, deutlich spürend, wie ihre Selbstbeherrschung zu bröckeln begann. Sie hinterfragte ihr Verhalten im Moment nicht einmal. All ihre Gedanken galten Jinshi.

Doch bevor sie noch die Tür eintreten (und eine stinksaure Alte sie dafür einen Kopf kürzer machen) konnte, fasste Joka sie blitzschnell unter den Armen und zog sie weg.

„So, das reicht jetzt aber”, sagte ihre Schwester in einem festen Tonfall. „Pairin, Meimei, kommt da sofort wieder raus, wenn ihr kein Abführmittel im Tee haben wollt. Ich habe euch doch gleich gesagt, dass es keine gute Idee ist.”

Die restlichen Schwestern gehorchten und kamen schon bald zum Vorschein, nur um sogleich von Maomaos finsterem Blick durchbohrt zu werden. Einsehend, dass das Mädchen ernsthaft wütend war, hoben sie die Hände, im Versuch, es zu beschwichtigen.

„Ganz ruhig, Maomao”, meinte Meimei. „Nur keine Sorge, dem Jungen geht es gut. Ich habe seinen Gürtel auf der Stelle losgelassen, als er angefangen hat zu schreien, und Pairin hat ihn nicht einmal angerührt, nachdem wir ihn ins andere Zimmer gebracht haben. Sie hat sich sogar mit dem Rücken zu ihm gedreht, während er sich umgezogen hat, und ihm die Kleidung gereicht, ohne hinzusehen.”

„Natürlich. Schließlich habe ich es dir ja versprochen”, bestätigte Pairin nickend. „Es war aber gar nicht einfach, musst du wissen. Seine Armmuskeln sind, dem nach zu urteilen, was ich durch seine Kleidung gespürt habe, wirklich nicht schlecht.”

Die Apothekerin schaute sie mit erhobener Augenbraue an.

Pairin verschränkte die Arme und lächelte.

„Was denn? Solch eine harmlose Berührung wird wohl doch noch erlaubt sein, oder?”

Maomao gab einen tiefen Atemzug von sich und entspannte sich allmählich. Auch ihr Herzschlag normalisierte sich wieder. 

In dem Moment öffnete sich die Tür einen Spalt weit und Jinshi steckte den Kopf heraus. Da die drei Prinzessinnen ihn ohne Maske sehen durften, hatte er sie abgenommen.

„Ich bin gleich fertig”, sagte er mit einem kleinen Lächeln, welches auch noch den letzten Rest Anspannung von Maomao nahm. Sie fühlte sich, als sei ihr ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Doch trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, sich aus Jokas Griff zu befreien und zu ihm zu eilen.

„Jinshi! Geht es dir gut? Wie fühlst du dich?” 

Der junge Mann streckte daraufhin eine seiner Hände aus und strich ihr über den Kopf, so wie er es am Morgen getan hatte.

„Alles gut, Xiaomao, mach dir keine Sorgen. Es tut mir leid, dass ich so geschrien habe, ich war bloß überrumpelt und erschrocken, weil es alles so plötzlich kam, aber die beiden haben mir alles erklärt und mich beruhigt. Also sei nicht böse auf deine Schwestern, ja?”

„Ja, einverstanden.”

Maomao legte die Hand auf seine. Jinshi beugte sich nach unten, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, und schloss dann wieder die Tür hinter sich, um sich noch zu guter Letzt das ihm gereichte Obergewand und die Schuhe anzuziehen.

Die drei Schwestern beobachteten das Ganze, als könnten sie nicht recht glauben, was sie da sahen... und lächelten wissentlich.

Maomao blieb einen Moment noch so vor der Tür stehen, dann drehte sie sich zu ihnen um.

„Aber macht so etwas nie wieder…”

„Ach, Maomao, hast du etwa wirklich gedacht, wir würden ihm etwas antun?”, fragte Pairin. „Du bist wirklich überfürsorglich ihm gegenüber, weißt du?”

„Nun, er leidet an Amnesie…”, murmelte Maomao und senkte den Kopf. „Und ihr habt keine Ahnung, was er schon alles durchgemacht hat…”

Ganz genau. Sie hatten nie seine Schmerzen oder seine Tränen gesehen und auch nie seine Schreie gehört, wenn er aus quälenden Albträumen erwachte. Aber sie schon.

Meimei und Pairin warfen sich einander besorgte Blicke zu, einsehend, dass sie vielleicht doch ein wenig zu weit gegangen waren, und näherten sich dann ihrer kleinen Schwester, um sich bei ihr zu entschuldigen und sie zu umarmen. Sie ließ es zu.

Joka fuhr ihr mit den Fingern sanft durchs Haar, so wie Jinshi es vorhin getan hatte.

„Hach, dein Verhalten sagt mir, dass du etwas mit seiner Amnesie zu tun hast, habe ich Recht?”

Maomao sagte nichts und sah sie auch nicht an. Doch ein Zucken ging durch ihren Körper.

Joka seufzte.

„Ich wusste es... Ich nehme an, du hast ihm immer noch nicht erzählt, wie es passiert ist, oder?”

Maomao schüttelte den Kopf.

„Gib dir nicht die Schuld, Maomao. Und ich wette, er wird es auch nicht tun, ganz sicher. Er ist ein anständiger Kerl.”

Maomaos Augen weiteten sich ungläubig, als sie solche Worte von ihrer männerhassenden Schwester vernahm.

„Und jetzt komm mit. Du willst deinen Jinshi doch nicht allzu lange warten lassen, nicht wahr?”

„Ist gut.”

Joka nahm Maomaos Hand und führte sie fort, während Meimei und Pairin sich ansahen, überrascht, dass ihr kleines Schwesterchen überhaupt nicht protestierte, dass Jinshi gar nicht ihrer war.

***

Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür schließlich erneut und Jinshi trat leicht zögerlich hinaus, sich verlegen am Nacken kratzend und Richtung Boden schauend, sobald er den Blicken der drei Prinzessinnen begegnete. Es schien ihm ein wenig unangenehm zu sein, so genau von ihnen gemustert zu werden, aber er lächelte trotzdem weiter.

„Meine Güte, was für ein wunderschöner junger Mann du doch bist”, lobte ihn Pairin. „Mit deinem Aussehen kannst du so gut wie alles tragen, aber diese Sachen stehen dir einfach besonders toll.”

Die anderen beiden nickten zustimmend.

Da Jinshis wahre Identität auf keinen Fall auffliegen durfte, während er im Vergnügungsviertel lebte, wurden diejenigen, die in das Geheimnis eingeweiht worden waren, gebeten, ihn ebenso wie Maomao wie einen Bürgerlichen anzusprechen und nicht allzu höflich zu ihm zu sein, also taten ihre Schwestern genau das. Jinshi selbst war das natürlich mehr als recht.

Wenn ihn jemand anderes jedoch jetzt zu Gesicht bekommen sollte, würde er ihn wohl nicht einmal eine Sekunde lang für einen Bürgerlichen halten, da seine aktuelle Kleidung ihn wie den reichen jungen Adeligen aussehen ließ, der er tatsächlich war, denn sie war der, die er für gewöhnlich im Kaiserlichen Palast angehabt hatte, nicht unähnlich:

Sie bestand aus einem langen Untergewand, welches bis zu seinen Füßen reichte und an der Taille von einem Gürtel zusammengehalten wurde, und einem dunkleren Obergewand mit weiten Ärmeln, die an den Säumen Verzierungen aufwiesen. Alles aus feiner Seide, die sich ein normaler Bürgerlicher wohl kaum leisten könnte, vor allem keiner aus dem Vergnügungsviertel.

Bloß einen eindeutigen Unterschied gab es: im Gegensatz zu seiner Palastkleidung waren die jetzigen Sachen alle komplett in Rottönen gehalten.

Jinshi schaute sich suchend um.

„Wo ist denn Xiaomao?”

„Nur ein wenig Geduld, sie zieht sich ebenfalls um… ach, da kommt sie ja.” Die drei Frauen traten zur Seite, um eine vierte, kleinere vorbeizulassen, die auf sie zuging. Sie trug ein prächtiges, bodenlanges Seidenkleid und ebenfalls ein Obergewand mit weiten Ärmeln. Die Sachen waren ihr zwar ein wenig zu groß, sodass sie darauf Acht geben musste, beim Laufen nicht auf den Rock des Kleides zu treten, sahen aber dennoch erstaunlich gut an ihr aus und waren in denselben Rottönen gehalten wie Jinshis. Die Haare fielen ihr nun offen über den Rücken.

Die beiden sahen wahrhaftig so aus… wie ein junges Paar, welches kurz davor stand, den Bund der Ehe einzugehen.

„Ach wie wundervoll…”, schwärmte Meimei. „Was man in unseren Kleidertruhen hier nicht alles findet.”

Wie von einem Magnet angezogen, schritt Jinshi Maomao entgegen. Seine Augen waren weit geöffnet und seine Wangen genauso rot wie seine Kleidung. Er starrte die Apothekerin so sprachlos an, als würde er eine Göttin vor sich sehen, und nahm sie schließlich bei den Händen.

„Du… Du bist w-wunderschön…”, stammelte er so ergriffen, als würde er sie tatsächlich gleich hier und jetzt heiraten.

Was die drei Schwestern zutiefst amüsierte. Ihr Verhalten erinnerte Maomao an Dame Gyokuyou, die sie und Jinshi ebenfalls gerne aufgezogen hatte. Wäre sie hier gewesen, hätte die Gemahlin ganz bestimmt auch ihren Spaß gehabt. Ohne jeden Zweifel.

Maomao blickte zuerst auf ihre eigene Kleidung, dann auf Jinshis und drehte sich als Nächstes mit verengten Augen zu ihren Schwestern um.

„Rote, aufeinander abgestimmte Kleidung, was? Ich wette, ihr habt das mit Absicht gemacht.”

„Aber nein, Maomao”, antwortete Meimei, doch ihr Kichern strafte ihre Worte ganz klar Lügen. 

Joka und Maomao rollten gleichzeitig mit den Augen, während Jinshi immer noch die Hände der Apothekerin drückte und den Blick nicht von ihr abwenden konnte, als stehe er unter irgendeinem Zauber. Schließlich befreite Maomao sanft eine ihrer Hände und wedelte damit vor seinem Gesicht herum, um ihn wieder in die Realität zurückzuholen.

***

Als Jinshi wieder zu sich gekommen war, wurden er und Maomao zu einem Sofa geführt und gebeten, sich darauf zu setzen, damit ihr Outfit nach allen Regeln der Kunst vollendet werden konnte: 

Joka schminkte die Apothekerin dezent mit einem zum Kleid passenden Lippenstift und ein klein wenig Rouge, Meimei flocht Jinshis Haar zu einem Zopf, dem sie ihm zu guter Letzt über die Schulter legte und kümmerte sich auch um Maomaos Frisur, ihr eine Haarnadel ins Haar steckend, welche sie in den Falten ihrer Alltagskleidung gefunden hatte (es war die, die Jinshi ihr geschenkt hatte und die sie laut ihrer eigenen Erklärung stets mit sich herumtrug, damit sie nicht gestohlen wurde. Jinshi selbst war außer sich vor Freude, als er den Gegenstand wiedersah) und Pairin lackierte den beiden die Nägel im selben Farbton.

„Ach, ihr beiden seht aus wie ein Prinz und eine Prinzessin!”

Als die Besucher schließlich genug bewundert worden waren (in Maomaos Fall von ihren Schwestern UND von Jinshi), tranken die fünf noch zusammen Tee (ohne Abführmittel) und es wurde dann doch noch ein ziemlich angenehmer Besuch, musste die Apothekerin zugeben. Zwar war sie noch ein wenig sauer auf ihre Schwestern wegen des Schreckens, den sie Jinshi zu Beginn eingejagt hatten, war ihnen aber auch dankbar. Dankbar, dass sie ihn so akzeptierten, wie er war, und ihn wie einen Menschen behandelten.

Maomao hatte das Gefühl, dass Jinshi genau das brauchte… andere Menschen außer ihr, die sich auf seiner Seite befanden und mehr in ihm sahen, als nur sein Äußeres, so wie Suiren und Gaoshun im Kaiserlichen Palast.

Die ständigen Neckereien der Frauen gingen ihr jedoch nach wie vor gehörig auf die Nerven… aber da konnte man wohl nichts machen, nahm sie an.

Nach dem Tee zogen Jinshi und Maomao sich schließlich wieder um und verabschiedeten sich, da die Kurtisanen sich noch für die kommende Nacht vorbereiten und ausruhen mussten.

***

„Hach, wie schön es doch sein muss, einen Mann gefunden zu haben, der einen so ansieht wie dieser hier unsere Maomao… sie hat wirklich Glück”, sagte Pairin mit einem Seufzer, nachdem die beiden gegangen waren, und begab sich zu einem Fenster, um zu beobachten, wie sie auf die Straße hinaustraten und Hand in Hand nach Hause gingen, ihre Fingernägel immer noch rot lackiert.

„Na, das sagt ja genau die Richtige”, erwiderte Meimei mit den Händen auf den Hüften. „Und was ist mit deinem Militäroffizier? Du wartest doch darauf, dass er dich freikauft, oder?”

„Oh, du hast mich erwischt!”

Joka blickte die anderen beiden kopfschüttelnd an.

„Ich verstehe immer noch nicht, was an Männern so toll sein soll, mal ganz ehrlich. Aber in Maomaos Fall habt ihr ganz Recht, muss ich gestehen. Und sie hat ebenfalls Gefühle für ihn.”

Pairin verschränkte die Arme.

„Na, aber sicher! Das ist doch mehr als offensichtlich. Habt ihr gesehen, wie sehr sie sich um ihn sorgt? Er ist ihr wirklich wichtig.”

„Sie hätte beinahe die Tür vorhin eingetreten, um ihn vor euch zu retten. Ohne jeden Zweifel hat sie irgendetwas mit seinem Gedächtnisverlust zu tun, aber wenn ihr mich fragt, handelt es sich um eindeutig mehr als Schuldgefühle”, bemerkte Joka.

„Absolut! Die beiden sind bis über beide Ohren ineinander verliebt. Aber so wie ich unsere Kleine kenne, wird es noch eine Ewigkeit dauern, bis sie diese Gefühle akzeptiert. Der arme Kerl braucht jede Menge Geduld.” Pairin setzte ein kleines Lächeln auf.

„Oh, er wird schon auf sie warten, egal, wie lange es dauert, das sieht man in seinen Augen, wenn er sie anschaut. Ach, hoffentlich heiraten sie eines Tages wirklich! Er ist so liebevoll ihr gegenüber! Habt ihr gesehen, wie er sie auf die Stirn geküsst hat, um sie zu beruhigen? Und da er sie bereits freigekauft hat, wird es auch dabei keine Probleme geben.” Meimei erwiderte ihr Lächeln.

„Ich sagte es ja: Sie hat wirklich, wirklich Glück… es ist schwer, wahre Liebe zu finden, vor allem, wenn man in einem Freudenhaus geboren wurde… und noch schwerer, das Ganze gut enden zu lassen.” Pairin seufzte erneut und wendete sich dann Joka zu. „Aber du überraschst mich ebenfalls, Joka. Wer hätte gedacht, dass du mal so freundlich über einen Mann sprechen könntest?”

Joka zuckte lediglich die Achseln.

„Er ist nicht so wie die meisten von denen. Habt ihr es etwa nicht bemerkt? Er hat uns kaum angesehen, während er hier war. Nur sie.”

Alle drei nickten.

Pairin wendete sich vom Fenster ab und hob sich die Hand zum Mund, als sei ihr soeben etwas eingefallen. 

„Oh, ich habe ja ganz vergessen, ihnen etwas zu geben!” Sie begab sich zu einer Kommode und öffnete eine der Schubladen, um kurz darauf einen kleinen Tontopf herauszuholen. „Ein Kunde hat mir ein paar davon geschenkt und ich wollte den beiden einen davon abgeben. Maomao mag Süßes zwar nicht besonders, aber vielleicht Jinshi.”

Der Tontopf war gefüllt mit Honig.

Notes:

Okay, nun zum Flufftober:
während ich daran arbeitete, wurde auf Twitter ein Apothekerin-Inktober ins Leben gerufen!
Hier der Link, falls jemand von euch auch mitmachen möchte:
https://x.com/Zoe_emi0923/status/1965560212905230645

Und ich bekam die Idee, beide Events zu kombinieren, weil meine Geschichten sehr gut zu den Themen passen!
In anderen Worten: ich werde sie gemäß der Reihenfolge des Inktobers hochladen und sowohl die dortigen Themen als auch welche vom Flufftober verwenden.
15 Geschichten sind bereits fertig (eine hat drei Kapitel, also sind 17 Tage abgedeckt) und ich hab vor, noch einige mehr zu schreiben, was bedeutet, dass ich die folgenden Wochen erneut viel zu tun haben werde.

Und was das nächste Amnesie-Kapitel angeht, würde ich es gern am 21.Oktober hochladen, weil's mein Geburtstag ist, aber da schau ich noch :)
Ach, übrigens: wir sind nicht mehr sehr weit vom Finale entfernt!

Chapter 90: Inktober Tag 1: Tee

Summary:

Für einen entspannten Abend brauchte Jinshi zwei Dinge: einen schönen Becher Tee und Maomaos Gesellschaft.

Kombiniert mit Flufftober:
Alt. 16. Fireplace und 25. Cold Hands

Notes:

Endlich ist der Oktober da und ich kann damit anfangen, meine Inktober/Flufftober-Geschichten hochzuladen! Juchu! :)

Hier ist nochmal der Link zum Twitter-Event selbst, falls jemand von euch noch mitmachen möchte:
https://x.com/Zoe_emi0923/status/1965560212905230645

Chapter Text

Ein blumiges Aroma stieg bis zur Decke auf und breitete sich eines Abends in der Küche von Jinshis Residenz aus, dabei den Geruch des im Ofen brennenden Feuerholzes überdeckend.

„Oh, das riecht aber gut!"

„Ich habe ihn aus getrockneten Kamillen- und Lavendelblüten zubereitet. Diese fördern den Schlaf und helfen beim Entspannen. Da Ihr gerade mit Eurem Papierkram fertig geworden seid, Herr, dachte ich mir, dass dies genau das ist, was Ihr jetzt braucht", erklärte Maomao mit ruhiger Stimme, während sie aus einer kleinen Teekanne dampfenden Tee in einen Becher goss und diesen vor den jungen Herrn stellte, der am Tisch saß, an dem sie und die oberste Zofe Suiren für gewöhnlich ihre Mahlzeiten einnahmen.

„In der Tat. Vielen Dank, Apothekerin." Jinshi schenkte ihr ein Lächeln und blies auf den Tee, bevor er einen kleinen Schluck nahm. „Ein wirklich angenehmer Geschmack."

Maomao seufzte leise und legte ein paar Gebäckstücke auf einem Teller aus.

„Freut mich, dass er Euch gefällt. Aber ich hättet lieber warten sollen, bis ich Euch den Tee in Eure Gemächer bringe. Eine Küche ist kein geeigneter Ort für einen Adeligen wie Euch."

Jinshi setzte den Becher ab, stützte den Ellenbogen auf den Tisch und die Wange auf die Handfläche und schmollte.

„Hör auf, ständig solche Dinge zu sagen. Das ist mir egal, in meiner Residenz gehe ich hin, wohin ich möchte. Und außerdem hatte ich Durst, deshalb habe ich dich ja erst gebeten, mir einen Tee zu machen."

„Wie Ihr meint, Eure Exzellenz. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?"

Die Apothekerin machte ein Gesicht, das deutlich ihre Unlust, weiter zu diskutieren, zeigte, und begann, hinter sich aufzuräumen und ihre Kräuter zu verstauen.

Der junge Herr zog die Augenbrauen zusammen und kratzte sich mit dem Zeigefinger am Kinn.

„Nein, ich brauche nichts mehr, aber... willst du wirklich schon gehen? Könntest du nicht noch eine Weile bei mir bleiben? Bitte?" Er warf ihr einen flehenden Blick zu, ihr dabei direkt in die Augen schauend.

Maomao sah ihn an, als sei er eine fette Fliege, die ihr direkt vor dem Gesicht herumsummte. Doch dann schnaubte sie.

„In Ordnung. Bis Ihr den Tee ausgetrunken habt."

Jinshi klopfte ihr als Zeichen seines Dankes leicht auf die Schulter.

„Ich danke dir! Du musst auch nicht unbedingt reden, wenn du nicht willst, deine Gegenwart reicht mir schon."

Maomao verbeugte sich kurz vor ihm (mit einem Gesicht, welches verriet, dass sie ihm den letzten Satz nicht so recht abkaufte) und setzte sich dann auf den Boden vor der brennenden Feuerstelle in der Küche.

Jinshi beobachtete sie schweigend, während er seinen Tee schlürfte. In ganz kleinen Schlucken, ganz offensichtlich mit Absicht.

Die Apothekerin schien ihn durchschaut zu haben, da sie ihm einen genervten Seitenblick zuwarf, sagte jedoch nichts dazu. Stattdessen nutzte sie die Zeit, um die Hände auszustrecken und am Feuer zu wärmen. Ihr entfuhr ein wohliger Seufzer.

„Oh, sind deine Hände kalt?", vernahm sie daraufhin plötzlich Jinshis Stimme und sah, wie er sich neben sie auf den Boden setzte. Was sich für einen Adeligen zwar ebenfalls nicht gehörte, aber diesmal behielt sie es für sich.

„Ich war gerade noch draußen, um auf Dame Suirens Anweisung hin den Müll rauszubringen", erklärte sie bloß. „Macht Euch keine Sorgen, die Hände habe ich mir natürlich gewaschen, bevor ich Euch den Tee machte", fügte sie hinzu, bevor er auch nur den Mund öffnen konnte.

Jinshi machte eine wegwerfende Handbewegung, um zu zeigen, dass es ihm nicht darum ging, und stellte seinen halb leeren Becher auf den Boden. Dann setzte er erneut ein Lächeln auf.

„Nun, wenn sie immer noch kalt sind, dann lass mich dir doch ein wenig helfen, Apothekerin." Seine Stimme war nun ganz sanft. „Meine sind von dem Becher ganz warm geworden."

„Mir helfen? Wie meint Ihr das, Eure Exzellenz?"

Maomao hob eine Augenbraue, doch er ging nicht auf ihre Frage ein. Stattdessen nahm er sie einfach bei den Händen und drückte sie eine Weile lang, bevor er sie schließlich zu reiben begann, so vorsichtig, als hätte er Angst, sie zu zerbrechen.

Die Apothekerin öffnete zuerst den Mund, um zu protestieren, schloss ihn dann jedoch wieder, ohne ihre Hände wegzuziehen, seine Geste akzeptierend und ihm gestattend, ihr seine Wärme zu schenken. Sie sah ihm lediglich zu.

„Haha, deine Hände sind ja so klein, Apothekerin", sagte Jinshi und strich ihr mit den Daumen über die rauen Handflächen. „So süß..." Seine Stimme verlor sich zu einem Flüstern.

Als Reaktion darauf verengte Maomao die Augen, riss sie dann aber wieder auf, als er ihre Hände plötzlich zu seinem Mund hob und einen sanften Kuss darauf drückte, zuerst auf die eine, dann auf die andere.

„Eure Exzellenz!", rief sie aus, sie aus seinem Griff herausziehend.

Jinshi, dessen Wangen sich leicht gerötet hatten, lachte und sprang wieder auf die Beine, bevor er rasch zum Tisch zurückkehrte und Tee in einen weiteren Becher einschenkte, den er ihr reichte.

„Oh, sei nicht sauer. Hier, trink das. Ich will doch auch, dass du heute Nacht gut schlafen kannst."

Chapter 91: Inktober Tag 2: Pilz

Summary:

Jinshi beschloss, Maomao glücklich zu machen, indem er ihr erlaubte, einige (essbare!) Pilze zu sammeln

Kombiniert mit Flufftober:
Day 15: “This looks fun” - “Not the word I would use, but okay”

Chapter Text

„Oh, hier sind ja so viele! Und hier auch! Und hier! Wo soll ich nur anfangen?"

„Warte, Maomao, warte. Ganz ruhig, sie laufen dir schon nicht weg."

Sich die Hand vor den Mund haltend, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen, ging Jinshi gemächlichen Schrittes hinter Maomao her, die aufgeregt zwischen den Bäumen umherlief und vor Freude strahlte. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und blickte sich lächelnd im Wald um.

„Das ist also die Stelle, wo du diese Pilze gesammelt hast, ja?"

„Ja! Hier herrschen perfekte Bedingungen für ihren Wachstum. Schaut nur, wie viele es hier gibt, Eure Exzellenz!"

Maomao hatte sich unter einen Baum gekniet und ihren Korb vom Rücken genommen. Sogleich begann sie, mit beiden Händen kleine, braune Pilze aus dem Boden zu pflücken und in den Korb zu befördern.

„Sie freut sich ja wie ein kleines Kind", dachte Jinshi amüsiert, der sie so nur selten erlebte. „Wie niedlich."

Er beugte sich zu ihr und sah ihr interessiert zu, sich selbst gedanklich für die tolle Idee lobend, sie zu bitten, ihm ihren Pilzsammelort zu zeigen.

Diese war ihm vor einigen Tagen gekommen, als er während seines Kontrollgangs durch den inneren Palast an der Hofapotheke vorbeigegangen war. Ganz plötzlich war ihm eingefallen, wie er sie dort mal beim Grillen und Essen von Pilzen erwischt hatte. Und daraus war dann dieser Einfall entstanden.

Es war schon mehrere Wochen her, seit er sie an Dame Gyokuyou „verliehen" hatte und sie an den inneren Palast zurückgekehrt war. Und er musste zugeben, dass ihm Maomao wirklich fehlte, seit sie nicht mehr in seiner Residenz lebte. Da kam ihm jede Gelegenheit, (allein) Zeit mit ihr verbringen zu können, mehr als recht.

Jawohl. In Wirklichkeit ging es ihm überhaupt nicht um die Pilze selbst, sondern allein um Maomao. Eigentlich waren sie ihm mehr oder weniger egal. Oder anders gesagt: seine Begeisterung, sie aufzuspüren und zu sammeln, hielt sich verglichen mit Maomaos sehr in Grenzen.

Das hieß jedoch, dass sie ebenfalls etwas davon haben würde, da sie erneut jene Pilze essen können würde, die sie seiner Erinnerung nach so sehr mochte. Die Vorfreude darauf konnte er ganz klar in ihren Augen sehen. Allerdings würde er sie bitten, dies selbstverständlich auch diesmal in der Hofapotheke zu tun.

Auf einmal riss ein freudiger Ausruf ihn aus seinen Gedanken.

„Oh! Da sind ja auch giftige!"

„Was?!"

Jinshi erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, doch dann bewegte sich sein Körper wie aus einem Reflex heraus: während Maomao auf die Beine sprang, um zu den Giftpilzen zu eilen, streckte der junge Mann die Arme aus, schlang diese blitzschnell um ihre Mitte und hob sie hoch. Sie zappelte in seinen Armen, doch sein Griff war fest.

„Nichts da, du bleibst schön hier! Du bekommst nur essbare Pilze, verstanden?"

„Ach Mist...", grummelte Maomao enttäuscht vor sich hin.

Chapter 92: Inktober Tag 3: Konkubine

Summary:

Einige von Jinshis tiefsten Gefühlen.
(diese Geschichte spielt nach dem Aufstand des Shi-Clans)

Notes:

(See the end of the chapter for notes.)

Chapter Text

Es herrschte Stille. Jinshi saß in dem kleinen Apothekerlädchen im Freudenviertel auf dem Boden, den Kopf gegen einen Schrank gelehnt und sah zu, wie Maomao ein Medikament herstellte. Keiner von den beiden sagte auch nur ein Wort.

Sie sah so ruhig und gelassen aus, als wäre sie nicht erst vor ein paar Wochen aus einer brennenden Festung gerettet worden, in der sie so lange gefangen gehalten worden war.

Tja, und nun war sie mehr oder weniger zu ihrem alten Leben als Apothekerin zurückgekehrt... während er seines hinter sich lassen und wieder zu dem werden musste, als der er geboren worden war: der jüngere Bruder des Kaisers.

Nun, zumindest war er nicht mehr der Kronprinz. Wenigstens etwas. Aber trotzdem würde keiner, der ihn bisher nur als Jinshi gekannt hatte, ihn jemals wieder mit denselben Augen betrachten.

Sie war die Einzige, die das tat. Für sie war er weiterhin Jinshi, für alle anderen der Mondprinz.

Traurigkeit blitzte in seinen Augen auf, als er sich an die Worte Seiner Majestät erinnerte, des einzigen Menschen, der ihn bei seinem wahren Namen nennen durfte:

„Eines Tages wirst auch du dir Konkubinen nehmen müssen, Zui."

Jinshi ballte seine Hände zu Fäusten.

Er wollte das nicht. Er wollte keine wildfremden Frauen heiraten müssen, die ihm nichts bedeuteten.

„Ich möchte doch bloß mit Maomao zusammen sein", dachte er verbittert. „Mehr nicht. Ich möchte sie glücklich machen, möchte, dass sie ohne jede Sorge die Dinge tun kann, die ihr ein Lächeln aufs Gesicht zaubern. Und zwar an meiner Seite. Aber so wie es aussieht, können diese Wünsche nicht nebeneinander existieren. Ach, wieso muss das alles nur so kompliziert sein? Wieso muss die Welt so kompliziert sein? Wäre ich doch nicht als Adeliger geboren worden..."

Und jene Welt interessierte sich nicht dafür, was er wollte und nicht wollte. Das hatte sie nie getan.

Er gab einen tiefen Seufzer von sich und sah zu Boden.

„Ich weiß selbst, wie gefährlich es für sie ist, in meiner Nähe zu sein. Schließlich war es ja meine Schuld, dass sie entführt wurde..."

„Was ist denn, Eure Exzellenz Jinshi?", hörte er plötzlich Maomaos Stimme und blickte wieder auf. Sie zerstieß gerade Kräuter in einem Mörser und sah ihn fragend an. Bestimmt hatte sie seinen Seufzer gehört.

„Nicht, Maomao, nichts. Ich war bloß in Gedanken."

Er rückte näher zu ihr heran, legte ihr eine Hand auf den Kopf und bewegte diese nach unten, dabei ihre Schläfe und Wange streichelnd.

„Ich möchte keine Konkubinen, sondern eine Ehefrau. Nur dich, Maomao.”

Notes:

Ich hab beschlossen, die deutschen Versionen meiner restlichen Inktober-Geschichten nicht mehr hier, sondern nur noch auf Fanfiktion.de hochzuladen, damit's nicht zu viel wird.

Hier der Link:
https://www.fanfiktion.de/s/d/68dce8490004f46118a5a3bb/Tagebuecher-der-Apothekerin-Inktober

Chapter 93: Amnesie, Teil 29: Honig

Notes:

Hier kommt das neue Kapitel und eure Autorin ist heute 30 Jahre alt geworden! :)
Und nicht nur das: heute ist es dazu noch genau zwei Jahre her seit ich angefangen hab, JinMao-fanfics zu schreiben und der Apothekerin-Anime feiert seinen zweiten Geburtstag.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

„Hach, du sahst so umwerfend aus, dass es mir glatt den Atem raubte", schwärmte Jinshi nach ihrer Rückkehr in das kleine Apothekerlädchen, während er im Schneidersitz auf dem Boden saß und die Kräuter zermahlte, die Maomao noch für ihre Arzneien benötigte. Sie selbst rollte gerade neben ihm Pillen, während ein Topf mit Hustensaft auf dem Ofen köchelte. „Ich meine, du siehst immer umwerfend aus, aber in der Kleidung wirktest du wie eine richtige Prinzessin, genau wie deine Schwestern es sagten. Sie besitzen wirklich tolle Sachen, muss ich zugeben."

„Nun, immerhin muss man steinreich sein, um sich ihre Dienste leisten zu können, da ist es kein Wunder, dass sie von ihren Kunden solch teure Geschenke erhalten. Da kommt mit der Zeit eben einiges zusammen", bemerkte die Apothekerin, die seinem fröhlichen Plappern schweigend zugehört hatte, und stand auf, um den Hustensaft mit einem Löffel durchzurühren und seine Konsistenz zu prüfen.

Ihr Tonfall war vollkommen neutral und verriet nicht das Geringste darüber, was sie über seine Worte dachte. Zumindest hoffte sie das. Denn ganz egal, wie oft er ihr Äußeres auch loben mochte und wie viel Ehrlichkeit sie aus seinen Komplimenten heraushörte, sträubte sich etwas in ihr nach wie vor, diese einfach so für bare Münze zu nehmen. Und sie zog es vor, dass er davon nichts erfuhr.

Auch jetzt konnte sie immer noch nicht begreifen, was dieser schöne Mann bloß an ihr fand, denn ihrer eigenen Meinung nach war ihr Aussehen lediglich durchschnittlich. Nicht hässlich, das nicht, aber gewiss nichts Besonderes. Sie, wie eine Prinzessin? Ach, bitte!

Nun, möglicherweise fand er ihr unscheinbares Äußeres ja deshalb attraktiv, weil er seine eigene Schönheit als eine Art Fluch empfand, welcher ihm nur das Leben schwermachte. Das muss es wohl sein.

Maomao runzelte leicht die Stirn, während sie den Topf vom Ofen nahm und zum Abkühlen abstellte, damit der Hustensaft später in kleine Fläschchen abgefüllt werden konnte. Nein, sie hatte keine Lust, sich schon wieder über dieses Thema den Kopf zu zerbrechen. War ja auch egal.

Sie setzte sich erneut neben Jinshi hin und fuhr sich vorsichtig mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken. So wie es aussah, waren ihre Sommersprossen bereits getrocknet. Gut.

Da ihre Schwestern ihr diese während ihrer Anprobe weggewischt hatten (angeblich, damit sie ihr „Outfit" nicht ruinierten), hatte sie sich gleich nach ihrer Rückkehr nach Hause neue aufmalen müssen. Ach, wie lästig! Als ob sie nichts Wichtigeres zu tun hätte! Aber zum Glück hatte sie ja Jinshi, der ihr inzwischen zu einer wirklich wertvollen Hilfe geworden war, sodass sie es gemeinsam wohl tatsächlich schaffen könnten, alle benötigten Medikamente noch bis zum Abend fertigzustellen.

Er hatte ihr beim Aufmalen der Sommersprossen äußerst interessiert zugesehen, aber zum Glück keine weiteren Fragen dazu gestellt, so wie er es ihr in seiner Residenz damals versprochen hatte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Jinshi nun zufrieden seine Nägel betrachtete und auch einen Blick auf ihre warf, die nach wie vor im selben Rotton lackiert waren, das Einzige, was ihnen von dem Besuch noch geblieben war. Die Farbe schien ihm wirklich zu gefallen, auch wenn Maomao selbst der Meinung war, dass eine dunklere besser zu seinen langen, kräftigen Fingern passen würde. Vielleicht ein Violett, das dem seines Haares ähnelte.

Aber wie auch immer. Jedenfalls schien ihm das Ganze letzten Endes doch ziemlich viel Spaß gemacht zu haben, und das war das Wichtigste. Na gut, vielleicht waren Ablenkungen dieser Art vielleicht doch ganz gut. Aber nur ab und zu.

Sie spürte, wie er sie bei der Hand nahm, und blickte in sein breit lächelndes Gesicht.

„Aber ich hatte wirklich keine Ahnung, dass du meine Haarnadel die ganze Zeit mit dir herumträgst. Das macht mich so glücklich!"

Die Apothekerin gab ein belustigtes Schnauben von sich.

„Aber natürlich nicht, woher denn auch, wenn du dich jedes Mal abwendest und die Augen zukneifst, wenn ich mich umziehe", meinte sie, einen plötzlichen Wunsch verspürend, ihn ein wenig aufzuziehen. „Solange ich noch meine Unterwäsche anhabe, kannst du ruhig schauen, wenn du willst. Schließlich sehe ich dich ja auch, wenn du dich hier umziehst."

Da sie ihm in seiner Residenz beim Umziehen geholfen hatte, hatte sie sich bereits längst an den Anblick von ihm in seiner Unterwäsche gewöhnt.

„Xiaomao?!" Wie erwartet lief der junge Mann so rot an, dass ihm beinahe Dampf aus den Ohren aufstieg. „Aber d-das... das geht doch nicht!"

„Ach nein?" Maomao lachte leise und tätschelte ihm sanft die Wange, bevor sie aufstand, um sich zu den Schubladen zu begeben und aus einer davon etwas hervorzuholen. „Wenn du nicht willst, musst du natürlich nicht. Schau, hier ist die getrocknete Kamille, die ich von dir bekommen habe."

„Die hast du auch noch?! Oh, Xiaomao!" Auf der Stelle vergaß Jinshi seine Verlegenheit und sprang auf, um sie voller Freude von hinten zu umarmen.

Während ihr Rücken fest an ihn gepresst wurde, setzte Maomao ein kleines Lächeln auf und legte die kleine Blume wieder vorsichtig auf ihren Platz zurück.

„Ja. Und sie hat die Kutschenfahrt hierher zum Glück unbeschadet überstanden."

Um ganz ehrlich zu sein, hatte sie selbst keine richtige Ahnung, wieso sie diese Kamille so hütete, eine gewöhnliche Pflanze, die so gut wie überall wuchs, wenn sie doch schon die Haarnadel hatte, aber brachte es einfach nicht über sich, sie wegzuwerfen oder zuzulassen, dass ihr etwas zustieß. So absurd es auch klingen mochte, aber irgendwie hatte sie das stechende Gefühl, dass etwas passieren könnte, falls sie das tun sollte. Wirklich dumm, das wusste sie selbst.

Oh. Konnte es etwa sein, dass sie das Blümchen unbewusst mit Jinshis aktuell fragiler Psyche assoziierte? 

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken und sie spürte, wie Jinshi sie wieder losließ, um hastig seine Maske herauszuholen. Nachdem Maomao sich vergewissert hatte, dass er sie aufsetzte, eilte sie zur Tür, annehmend, dass es sich um einen Kunden handelte. Schließlich hatte die Apotheke gerade geöffnet.

„Ihr könnt eintreten, es ist offen."

Doch als sie die Tür aufmachte, erblickte sie statt eines Kunden das gleiche Lehrlingsmädchen, welches bereits am Vormittag aufgekreuzt war, um ihr Pairins Nachricht zu überbringen. Die Apothekerin hob beide Augenbrauen.

„Ach, du bist es wieder? Was gibt's denn?"

Jinshi hatte währenddessen die Bänder seiner Maske an seinem Hinterkopf festgebunden und sich, als er ebenfalls bemerkte, dass es sich doch nicht um einen Kunden handelte, zurück auf den Boden gesetzt, um die Kräuter zu Ende zu mahlen, als der fleißige Assistent, zu dem er geworden war, und überließ die Besucherin Maomao.

Das Mädchen zog eine unzufriedene Miene und reichte der Apothekerin einen kleinen Tontopf.

„Pairin hat mich gebeten, euch beiden das hier zu bringen. Eigentlich wollte sie das bei eurem Besuch vorhin selbst tun, hat es aber vergessen. Sie hat das Zeug von einem Kunden bekommen und wollte es mit euch teilen", leierte es vollkommen desinteressiert herunter.

Maomao nahm den Topf leicht überrascht entgegen.

„Verstehe. Richte ihr meinen Dank aus."

Das Lehrlingsmädchen schnaubte und stemmte die Hände in die Hüften.

„Also wirklich, ich bin doch nicht eure persönliche Botin!" Ihr Tonfall verriet nur zu genau, dass sie es als unter ihrer Würde ansah, solche Botengänge zu verrichten. „Ich bin eine zukünftige Kurtisane des Verdigris-Hauses!"

„Fragt sich nur, für wie lange", dachte Maomao, die solch arrogante Gören nicht ausstehen konnte und die ein solches Gehabe bereits im Kaiserlichen Palast zur Genüge erlebt hatte.

Ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, verscheuchte sie sie mit einem gelangweilten „Ja, ja, und jetzt geh schon" und sah sich den Tontopf genauer an, während sie mit der freien Hand wieder die Tür schloss. Das Objekt verströmte einen verdächtig süßen Duft. Einen sehr vertrauten...

Maomao schluckte. Ihr schwante Übles...

Sie öffnete den Deckel und blickte hinein. Auf der Stelle wich ihr alle Farbe aus dem Gesicht und sie erstarrte.

Es war Honig. Ausgerechnet Honig!

Ihr und Jinshi war auch wirklich nicht ein einziger Tag Frieden vergönnt, was?

***

Krampfhaft überlegte Maomao, was sie mit dem unerwarteten und vor allem unerwünschten Geschenk anstellen sollte. Ihrer Schwester konnte sie selbstverständlich keinen Vorwurf machen, da diese ja nichts von dem Vorfall gewusst hatte (natürlich hatte Maomao niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählt, wieso sollte sie auch?), aber einfach so wegwerfen konnte sie den Honig auch nicht, der war viel zu teuer dafür. Mal ganz zu schweigen, dass sie Jinshi ein solches Verhalten wohl kaum erklären könnte.

Maomao wollte sich nicht einmal vorstellen, wie seine Reaktion aussehen könnte, sollte sie ihm von dem Honig-Vorfall erzählen. Da wäre die gestrige Geschichte bestimmt noch harmlos im Vergleich dazu. Und außerdem war es mehr als unnötig, dass er sie hörte, denn es war bloß ein blöder Scherz gewesen, der ein wenig zu weit gegangen war, etwas, was Jinshi nicht wissen musste. So einen Unsinn würde er sowieso nie wieder tun, da war sie sich sicher.

Es war eine Sache, die man einfach nur in die hinterste Ecke des Verstandes schieben und am Allerbesten vergessen sollte. Nicht einmal wert, sich überhaupt darüber Gedanken oder gar Sorgen zu machen.

Genau. Sie musste einfach so tun, als sei alles in Ordnung, und das war's. Jawohl. Keine große Sache. Es war bloß Honig.

„Was ist denn los, Xiaomao? Was hat sie dir da gegeben?"

Maomao konnte hören, wie Jinshi hinter ihr aufstand und auf sie zuging, ihr eine Hand auf die Schulter legend. Bestimmt stand sie schon ein wenig zu lange vor der geschlossenen Tür.

Die Apothekerin schaute in sein Gesicht auf und merkte, wie er neugierig auf den Tontopf in ihren Händen blickte. Die Maske hatte er schon wieder abgenommen und zwischen die Falten seiner Kleidung geschenkt. Seine andere Hand legte er auf den Deckel des Topfes, wohl in der Absicht, ihn zu öffnen und hineinschauen, doch bevor ihm dies gelingen konnte, platzierte sie ihre eigene Hand auf seine, um ihn aufzuhalten. Unbewusst. Als wäre es ein Reflex.

Na toll. So eine Aktion war doch wohl mehr als verdächtig, nicht wahr?

„Xiaomao?" Jinshi zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.

So tuend, als sei nichts, zwang sich die Apothekerin zu einem Lächeln und strich ihm leicht über den Handrücken, bevor sie seine Hand sanft vom Deckel nahm.

„Das ist Honig. Ein Geschenk von Schwester Pairin." Sie versuchte, möglichst jede Emotion aus ihrer Stimme zu verbannen. „Nichts Besonderes. Nur Honig."

Jinshi sah sie überrascht an.

„Ach so? Das ist aber nett von ihr."

Offensichtlich glaubte er ihr, schien jedoch trotzdem etwas bemerkt zu haben, da sein Lächeln noch nicht wieder zurückgekehrt war. Er legte nun beide Hände auf Maomaos Schultern und drehte sie zu sich um, bevor er ihr unter das Kinn fasste und es vorsichtig anhob, damit sie ihm in die Augen sah.

Maomao zuckte zusammen und schluckte, als sie seinen besorgten Gesichtsausdruck sah.

„I-Ich habe das Mädchen gebeten, ihr meinen Dank auszurichten."

„Wieso bist du denn so blass, Xiaomao?", wechselte ihr Mitbewohner jedoch prompt das Thema und Maomao spürte, wie ihr Herzschlag beschleunigte. „Und wieso schwitzt du so stark? Geht es dir nicht gut?"

Jedes Mal, wenn sie nervös war, nahm er an, dass sie krank geworden war. Inzwischen sorgte er sich um ihre Gesundheit wohl fast genauso sehr wie sie um seine.

Ach, verdammt. Und was jetzt?

„Es ist nichts", murmelte sie.

„Wirklich?" Er legte ihr die Hand auf die Stirn, um ihre Temperatur zu prüfen, so wie sie es bei ihm während ihrer Untersuchungen ebenfalls immer tat, und schloss sie dann in seine Arme. „Aber dein Herz schlägt so schnell..."

Maomao lehnte den Kopf an seine Brust, im Versuch, sich zumindest ein wenig zu beruhigen. Zu versuchen, es zu verstecken, hatte von Anfang an keinen Sinn gehabt, sie konnte Jinshi nichts vormachen. So wie als er die Narbe an ihrem Bein entdeckt hatte.

In seiner Residenz hätte sie zumindest Suirens oder Gaoshuns Hilfe gehabt, um solche Dinge vor ihm zu verbergen, aber hier war sie in dieser Hinsicht auf sich allein gestellt.

Sie hatte keine Ausreden, denn sie konnte ja schlecht behaupten, dass sie sich tatsächlich krank fühlte und ihm noch mehr unnötige Sorgen bereiten.

Also musste die Wahrheit her. Am Besten so vage wie möglich. Aber vielleicht würde sie es ja schaffen, Zeit zu gewinnen, indem sie auch hier versprach, ihm die genaue Geschichte nach ihrer Rückkehr in seine Residenz zu erzählen. Wenn sie Glück hatte.

„Honig hat etwas mit deiner Vergangenheit zu tun", gab sie leise zu, ohne ihm ins Gesicht zu schauen. Er zuckte zusammen und sie erwiderte seine Umarmung mit ihrem freien Arm und drückte sich enger an ihn, sodass der Tontopf, den sie immer noch festhielt, zwischen ihren beiden Körpern eingeklemmt war. „Aber es ist überhaupt nichts Wichtiges. Nur ein Auftrag, den du mir mal erteilt hast."

Maomao wusste selbst, dass ihre Versicherungen alles andere als überzeugend klangen. Wäre sie an Jinshis Stelle, hätte sie sich bestimmt nicht geglaubt.

„A-Aber..." Sein zögerlicher Tonfall verriet, dass er ihr nur zu gerne jedes Wort glauben wollte, jedoch hin- und hergerissen war, ob er das auch wirklich konnte. „Aber Xiaomao, wenn es wirklich nichts Wichtiges wäre, wärst du doch nicht so unruhig, oder? Das mit dem Aphrodisiakum hast du mir doch auch erzählt und warst dabei ganz gelassen."

„Erwischt", dachte Maomao. Ganz egal ob ohne oder mit Amnesie, ein Dummkopf war Jinshi gewiss nicht. Sie hatte keine Ahnung, was sie auf seine Worte erwidern sollte, also schwieg sie und hielt sich weiterhin an ihn gedrückt. Selbst jetzt schaffte es seine Wärme, sie ein wenig zu beruhigen. Doch leider nicht genug, um wieder vollkommen klar denken zu können.

Und während sie so dastand und sich mit einem mulmigen Gefühl im Magen fragte, was sie unternehmen und wie es weitergehen sollte, spürte sie, wie Jinshi sie ohne ein weiteres Wort auf den Arm hob. Diesmal trug er sie zum Tisch, stellte sie wieder auf die Beine, setzte sich auf einen der Stühle, sodass er sich mehr oder weniger auf Maomaos Augenhöhe befand, nahm ihr den Honigtopf weg, stellte ihn auf den Tisch und fasste sie bei den Händen. Ihr erneut direkt in die Augen schauend.

Sein Blick war ernst, doch wies auch deutliche Angst und Sorge auf. Auch seine Hände hatten inzwischen angefangen zu schwitzen.

„Xiaomao... Was habe ich dir angetan?"

In seiner Stimme lag keine Spur Zweifel mehr. Er wusste, dass sie etwas vor ihm verbarg, und dieses Mal litt er nicht an heftigen Kopfschmerzen, die ihn vor jener Tatsache ablenken könnten.

Mittlerweile kannte er sie wirklich gut... zu gut! Maomaos Augen weiteten sich vor Schreck. Diesmal würde sie sich nicht herausreden können, das spürte sie. Sollte sie ihm diese blöde Geschichte tatsächlich erzählen und seinem Herzen einen erneuten Riss zufügen?

Jinshis Blick wurde weicher, als er ihre Furcht bemerkte. Er umfasste ihre Taille, zog sie auf seinen Schoß und küsste ihr Haar, um sie zu beruhigen.

„Auch jetzt musst du mir nichts erzählen, was du nicht willst, ich werde dich auf keinen Fall dazu zwingen und das weißt du." Da war sie wieder, seine unfassbare Güte ihr gegenüber. „Aber... ich spüre ganz deutlich, dass es mit uns beiden zu tun hat, dass es etwas sein muss, was ich getan habe... etwas Unschönes. Und wenn das wirklich stimmt, würde ich es gerne wissen."

Maomao glaubte zu verstehen, was er gerade denken mochte. Höchstwahrscheinlich würde er nicht schlafen können, wenn sie es ihm nicht erzählte... Tja, aber ob er das tun könnte, wenn sie es sehr wohl tat, wäre eine ganz andere Geschichte.

Sie war hin- und hergerissen, aber so wie es aussah, war es doch besser, es zu tun. Gleich hier und jetzt, um es hinter sich zu bringen. Aber zuerst musste sie eine Sache klarstellen.

„Jinshi?"

„Ja?"

„Du könntest von dieser Geschichte erneut Kopfschmerzen bekommen. Nein, nicht „könntest", wirst. Schreckliche Kopfschmerzen. Bist du sicher, dass du es hören willst?"

Er schluckte hörbar. Vielleicht würde er es sich ja nun doch anders überlegen. Immerhin hatte er erst am vergangenen Abend so etwas durchgemacht und brauchte sicher eine Verschnaufpause.

Jedoch...

„Ich weiß, Xiaomao, ich weiß. Aber das ist es mir wert. Ich muss wissen, was ich dir angetan habe."

„Es könnte schlimmer werden als gestern."

„Das macht mir nicht aus."

Seine Worte verblüfften Maomao. So wie es aussah, war Jinshi sogar noch tapferer als sie angenommen hatte. Zumindest wann immer es um sie ging.

***

„Gut."

Noch immer auf Jinshis Schoß sitzend, griff die Apothekerin nach dem Honigtopf... und hielt ihn als Nächstes einfach nur fest und starrte darauf, im Versuch, die richtigen Worte zu finden. Zwar hatte sie nun eingewilligt, aber wie sollte sie bloß anfangen? Wie es erklären, ohne es zu einer allzu großen Sache zu machen?

Währenddessen wartete Jinshi geduldig auf ihre Worte und massierte ihren Rücken. Seine Hände zitterten ein wenig.

Schlussendlich gab sie auf und beschloss, einfach zu beschreiben, was geschehen war. Das wäre am Einfachsten.

„Es war nur ein kindischer Scherz gewesen, Jinshi, und es nichts Schlimmes passiert. Du darfst das, was ich dir jetzt erzähle, nicht zu ernst nehmen, ja?"

„Ein Scherz?"

„Ja, du wolltest dir einen Spaß mit mir erlauben. Du hattest einen solchen Honigtopf in der Hand gehalten, zwei Finger hineingesteckt und bist grinsend auf mich zugegangen."

„Hä? Wozu denn?"

„Damit ich den Honig von ihnen ablecke."

So, es war raus. Sie hatte es gesagt. Maomao wagte es nicht, Jinshi in die Augen zu blicken. Es war still, doch sie konnte die Anspannung in der Luft spüren und auch, dass er nun am ganzen Körper zitterte.

„Oh nein... ich wusste es", dachte sie bedrückt.

„Damit du was?!" Seine Stimme war ganz dünn, fast schon ein Flüstern, und klang, als würde sie gleich brechen, aber das Entsetzen darin war kaum zu überhören.

Endlich schaute sie in sein Gesicht und entdeckte, dass seine Pupillen vor Schock geschrumpft waren.

„Nun, ich hatte mich zwar mit dem Rücken gegen die Wand vorgefunden, aber schlussendlich hast du es überhaupt nicht ernst gemeint, da bin ich mir sicher." Sie versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken, schaffte es jedoch nicht ganz, sodass ihre Stimme leicht erstickt klang.

„D-Du wusstest es nicht?"

„Wir wurden unterbrochen, bevor ich es herausfinden konnte. Aber soweit ich später verstanden habe, war es tatsächlich bloß ein Scherz gewesen."

„Ein Scherz?! Und das nennst du einen Scherz?! Wie... Wie konnte ich nur?! Wie konnte ich nur so ein Mistkerl sein und dir so etwas antun?! Meine arme Xiaomao! Du hattest doch bestimmt Angst!”

Er raufte sich verzweifelt die Haare.

Rasch stellte Maomao den Topf auf den Tisch zurück und hob die Hände, um Jinshis blasses Gesicht damit festzuhalten.

„Nein! Jinshi, hör mir zu! Ich hatte keine Angst! Beruhige dich! Es tut nichts zur Sache, ich habe den Vorfall schon längst vergessen!”

Wie sie damals verzweifelt versucht hatte, der Situation zu entkommen, und sogar überlegt hatte, ihn dorthin zu treten, wo sie angenommen hatte, dass es nichts gab, was man treten könnte, erwähnte sie selbstverständlich nicht.

„Xiaomao, hör auf! Bitte lüg mich nicht an! Du hast ihn nicht vergessen! Ich schon, aber du nicht! Wie könntest du bei… so etwas keine Angst haben?!”

Jinshis Augen sahen aus, als würden ihm gerade tonnenschwere Schuldgefühle die Organe zerdrücken.

Der Anblick tat der Apothekerin im Herzen weh. Sie wollte nicht, dass er sich so fühlte! Und vor allem nicht wegen eines solchen idiotischen Unsinns!

Und obwohl sie bereits erwartet hatte, Tränen in seinen Augen zu sehen, konnte sie nicht anders, als sich miserabel zu fühlen, als sie diese tatsächlich erblickte. Egal wie oft sie sie sah, sie konnte und wollte sich einfach nicht daran gewöhnen. Na ja, zumindest schien er keine körperlichen Schmerzen zu haben... noch nicht.

„Xiaomao?”, brachte er zwischen erstickten Schluchzern heraus, während sie die Hände wieder herunternahm und ihm beruhigend den Arm rieb, auch wenn sie wusste, dass es so gut wie nichts bringen würde.

„Ja?”

„Wurde ich für diese Tat bestraft?”

„Du musstest eine Standpauke über dich ergehen lassen, aber nicht von mir.” Dame Gyokuyou, die ihn damals erwischt hatte, hatte ihn wirklich ordentlich ausgeschimpft, wie sie sich erinnerte.

„Eine Standpauke? War das alles? Mehr nicht?”

Maomao begriff nicht ganz, was er mit diesen Fragen ausdrücken wollte. Wie hätte man ihn, einen Adeligen, denn sonst „bestrafen” sollen?

„Was meinst du damit, Jinshi?”

Er wischte sich mit dem Ärmel über das tränennasse Gesicht. Irgendwie sah er nun frustriert und sogar ein wenig… sauer? aus.

„Ich würde meinem alten Ich so gern einen Faustschlag verpassen…” Seine Stimme war kaum hörbar, spiegelte aber sehr gut die vorhin genannten Gefühle wider.

„Oh…” Das war das Einzige, was die perplexe Apothekerin darauf erwidern konnte. So etwas hatte sie gewiss nicht zu hören erwartet.

Jinshi biss die Zähne zusammen und hob erneut Maomaos Kinn an, damit sie ihn direkt ansah.

Was danach kam, verblüffte sie so sehr, dass ihr für einen Moment der Atem stockte.

„Würdest du mich bitte ohrfeigen?”, fragte er sie mit einem Blick, der genau besagte, dass er es vollkommen ernst meinte.

Maomao war sprachlos. Sie wusste nicht einmal, was sie denken, geschweige denn sagen oder tun sollte.

Etwa eine Minute später befreite sie sich aus seiner Umarmung, stand von seinem Schoß auf, sah ihm mit einem schwer zu entzifferbaren Blick in die Augen, hob die Hand…

…und streichelte ihm sanft über die Wange.

„Nein.”

Mehr sagte sie nicht. In einem Tonfall, der deutlich ausdrückte, dass sie ihre Meinung absolut nicht ändern würde.

„Xiaomao…” Jinshi weitete die Augen. Dann nahm er ihre Hand von seiner Wange, betrachtete diese einen Moment lang, als ob er nicht glauben könnte, dass sie tatsächlich keine Rache wollte, und drückte schließlich einen leicht zögerlichen Kuss auf ihre Handfläche.

Maomao dachte bereits, dass er damit zeigte, dass er begriffen hatte, was sie ihm vermitteln wollte: dass sie ihm schon längst verziehen hatte und er sich nicht mehr so quälen sollte.

Jedoch…

„Alles klar. Dann tue ich es selbst.”

Er hob seine eigene Hand.

„Was?!” Erschrocken packte Maomao ihn mit beiden Händen am Handgelenk, bevor er sich selbst schlagen konnte. Sie konnte nicht zulassen, dass er so etwas tat, schließlich hatte er eine Hirnschädigung! Wer wusste, was ein Schlag ins Gesicht bei ihm anrichten konnte! „Jinshi, nein! Hör auf! Sei nicht so hart zu dir, bitte!” 

Mit ihrer ganzen Kraft drückte sie seinen Arm wieder nach unten, schlang ihre eigenen dann um seinen Hals, berührte mit der Stirn zärtlich seine und presste schließlich seinen Kopf an ihre Brust, da sie wusste, dass jene Geste ihn stets beruhigte. Jinshi wehrte sich kein bisschen, sondern schmiegte sich ganz eng an sie und begann bitterlich zu weinen.

„Es tut mir so leid, Xiaomao... so leid...”

Er rutschte vom Stuhl und fiel vor ihr auf die Knie.

„Psst… alles gut. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe dir bereits längst verziehen.” Selbstverständlich erwähnte sie nicht, dass sie nach dem Vorfall mehrere Tage lang Abstand zu ihm gehalten hatte.

„W-Wirklich?”

„Ja, wirklich. Und außerdem habe ich mich danach ja von dir freikaufen lassen, was beweist, wie sehr ich dir vertraue. Das hast du doch selbst gesagt, oder?”

So wie es aussah, waren das genau die richtigen Worte gewesen, denn sie konnte spüren, wie er sich daraufhin ein wenig entspannte.

„Es war wirklich nicht so schlimm! Schau!”

Sie schnappte sich den Honigtopf, öffnete den Deckel, tunkte zwei von Jinshis Fingern hinein und… kam wieder zu sich. Was zur Hölle tat sie da eigentlich?! Hatte sie etwa tatsächlich gerade eben vorgehabt, sich seine Finger in den Mund zu stecken? Ernsthaft?!

Zu ihrer Verblüffung lautete die Antwort ja… Was stimmte bloß mit ihr nicht?!

Jinshi starrte auf seine mit Honig bedeckten Finger und begann daraufhin, vor Schmerzen zu wimmern und seinen Kopf noch enger an Maomao zu pressen. Diese lief daraufhin los, um ihm Schmerzmittel zu holen, sich gedanklich eine Vollidiotin scheltend.

***

Einige Stunden später herrschte erneut Stille in der kleinen Apotheke, die mal wieder frühzeitig geschlossen werden musste. Nur die leisen, regelmäßigen Atemzüge der beiden Bewohner waren zu hören. Das Weinen war schon längst verklungen und die vergossenen Tränen getrocknet.

Jinshi und Maomao lagen auf ihrer Schilfmatte und schliefen friedlich, während es draußen langsam Abend wurde und das Viertel die üblichen Vorbereitungen für die Nacht begann.

Nachdem Jinshi das Schmerzmittel geschluckt hatte, hatte Maomao ihm den Honig von den Fingern gewaschen und die zwei hatten sich hingelegt: er, um die Wirkung des Schmerzmittels abzuwarten, und sie, um ihm Gesellschaft zu leisten und ihn zu trösten. Nach stressigen und anstrengenden Ereignissen wie diesen brauchten sie einander mehr denn je.

Und nun lagen sie in einer innigen Umarmung vollkommen erschöpft da und hielten ein Schläfchen.

Jinshi wachte als Erster auf: irgendwann begann er sich zu rühren und runzelte noch im Halbschlaf die Stirn, als leide er nach wie vor Schmerzen. Seine rechte Hand, die auf Maomaos Hinterkopf ruhte, begann diesen unbewusst zu streicheln.

„Xiaomao...", murmelte er und schlug die Augen auf. Immer noch leicht benommen blickte er auf die schlafende junge Frau, deren Kopf auf seinem linken Oberarm lag und die einen ihrer Arme um seinen Oberkörper geschlungen hielt. Er setzte ein kleines Lächeln auf und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, so wie er es jedes Mal beim Aufwachen tat, wenn er sie in seinen Armen erblickte.

Ihre Wärme genießend, schloss er die Augen und war bereits kurz davor, erneut einzuschlafen...

...bis er sich urplötzlich an das erinnerte, was vor ihrem Nickerchen vorgefallen war, und sie weit aufriss. Sein Gesicht lief knallrot an und sein Mund öffnete sich, als habe er Schwierigkeiten, genug Luft zu bekommen. Die Szenen des letzten „Gespräches" rauschten unaufhaltsam durch seinen Verstand.

„Es tut mir so leid, Xiaomao...", wisperte er nahe ihres Ohres. „Worte reichen nicht aus, um auszudrücken, wie leid es mir tut..."

Egal, wie oft er es wiederholte, es kam ihm einfach nicht genug vor. Er war unfassbar wütend auf sein früheres Ich. Was zur Hölle hatte er sich nur dabei gedacht?! Ein Scherz?! Pah, von wegen!

Wie konnte er Maomao so etwas bloß antun? Einer solch wunderbaren, warmherzigen, liebevollen, geduldigen und großzügigen Frau wie ihr, die nicht nur die Güte hatte, ihm jene Tat zu verzeihen, sondern auch noch, nicht zu wollen, dass er deswegen traurig wurde.

Er konnte es einfach nicht begreifen... aber da er der armen Apothekerin nicht noch mehr Kummer bereiten wollte, würde er versuchen, die Sache nicht mehr zu erwähnen, damit sie weiterhin ein möglichst friedliches Leben zusammen führen konnten.

„Ich werde so etwas ganz sicher nie wieder tun", dachte er entschlossen und gab ihr noch einen Kuss, um seine Grübeleien darüber hier und jetzt zu beenden... bis er sich auf einmal daran erinnerte, wie sie kurz vor seinem Schmerzanfall seine Finger in den Honigtopf gesteckt hatte. Für einen kurzen Moment hatte sie tatsächlich ausgesehen, als wollte sie diese ablecken, er konnte es in ihren Augen sehen. „...es sei denn, sie will es."

Jener letzte Part hatte sich in seine Gedanken geschlichen, noch bevor er es verhindern konnte...

„Gah! Aber was denke ich mir da bloß?! Bin ich verrückt geworden?! Wieso sollte sie so etwas wollen?! Na ja, aber wenn sie mich bitten würde, ihr die Finger abzulecken, würde ich es ganz bestimmt... Gaaah!"

Jinshi bedeckte sich mit einer Hand die Augen. Sein Gesicht glühte vor Scham und er begann verzweifelt, nach einer Ablenkung von jenen absurden Gedanken zu suchen. Und so fielen ihm erneut seine lackierten Fingernägel ins Auge.

Daraufhin begann er schließlich, wieder an den Besuch bei Maomaos Schwestern zu denken und wie atemberaubend schön sie in dem Kleid ausgesehen hatte. Jenes gedankliche Bild beruhigte ihn und brachte ihn wieder zum Lächeln.

Jedenfalls, bis ihm ihr Gesichtsausdruck einfiel, während er sie gelobt hatte. Begeisterung oder Freude sah anders aus. Maomao hatte ganz im Gegenteil so verloren gewirkt, als ob sie nicht glauben konnte, dass tatsächlich sie gemeint war...

Es war so, als wäre sie die Einzige, die ihre eigene Schönheit nicht sehen konnte.

„Hat ihr denn niemand jemals zuvor gesagt, wie hübsch sie ist?", dachte er traurig. „Unfassbar..."

Gedankenverloren und federleicht fuhr er mit der Spitze seines Zeigefingers über Maomaos leicht geöffnete Lippen. Sie schlief immer noch tief und fest und bekam nichts davon mit. Ihr warmer Atem streifte seinen Finger.

Jinshis Herz schmolz dahin.

„Sie ist ja so süß... Xiaomao... Ich wünsche mir so sehr, dass wir uns eines Tages tatsächlich das Jawort geben... wie gern würde ich mein ganzes Leben an deiner Seite verbringen..."

Lebhafte Tagträume, Bilder eines friedlichen und glücklichen gemeinsamen Lebens tauchten vor seinem inneren Auge auf. Und so merkte er überhaupt nicht, wie seine Hand von Maomaos Lippen abließ und stattdessen sein Mund sich dem ihren immer weiter näherte...

Doch bevor ihre Lippen sich berühren konnten, riss er erneut erschrocken die Augen auf, kaum fassend, was er gerade im Begriff gewesen war zu tun. Sein Herz schlug so laut, dass er Angst hatte, damit Maomao aufzuwecken.

Doch der Wunsch, sie auf den Mund zu küssen, blieb. Er war so stark, dass er ihm beinahe den Atem raubte, doch Jinshi wusste, dass er sich zusammenreißen musste. Die Apothekerin hatte ihm mit Worten und Taten gezeigt, dass sie ihm vertraute, also durfte er ihr Vertrauen auf keinen Fall hintergehen und ihr Dinge tun, die sie nicht wollen könnte. Vor allem, wenn sie schlief.

Küsse auf die Stirn oder Wange, zum Beispiel, waren kein Problem, da er bereits wusste, dass sie nichts dagegen hatte und diese, soweit er es sehen und spüren konnte, sogar ziemlich mochte, aber auf die Lippen war etwas gänzlich Anderes.

Damit würde er eine Grenze überschreiten, nach der es kein Zurück mehr geben würde. Es könnte ihre Beziehung zueinander für immer zerstören.

Und Jinshi hatte schreckliche Angst davor.

Daher rieb er bloß liebevoll seine Nase gegen Maomaos und sah ihr weiterhin beim Schlafen zu. Die Traurigkeit kehrte in seinen Blick zurück, diesmal sogar noch ausgeprägter als zuvor.

Denn während er auf ihre frischgemalten Sommersprossen schaute, fiel ihm ebenso wieder ein, mit was für einem Unglauben in den Augen sie ihn angestarrt hatte, als er in seiner Residenz bemerkt hatte, wie diese verblasst waren und ob ihrer Schönheit beeindruckt gewesen war.

Ihn angestarrt, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf (war in gewisser Weise nach dem Unfall sogar stimmte, jedoch trotzdem nichts mit dieser Sache zu tun hatte) oder als ob er gar von einem Traumbild sprechen, sich etwas einbilden würde, was nicht da war. Was hatte das arme Ding bloß alles durchmachen müssen, um sich dermaßen gegen Komplimente zu sträuben? Ihr Blick damals hatte ihm wirklich wehgetan.

Sein eigenes Aussehen mochte er nicht besonders, da es ihm bisher nichts als Unglück gebracht hatte und so auffällig war, dass es hinter einer Maske versteckt werden musste, aber Maomaos Schönheit war eine vollkommen natürliche, eine, die andere Menschen in ihren Bann ziehen konnte, ohne allzu aufdringlich zu sein.

Wenn er so darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass Maomao zu ihm deutlich netter war als zu sich selbst.

„Wieso kannst du dich bloß dermaßen schlecht leiden? Mein armer Schatz..."

Er küsste sie vorsichtig auf die Schläfe. Er war erneut rot geworden und verspürte ein Kribbeln im Magen.

„Aber... Aber obwohl du dich selbst ganz eindeutig nicht liebst, gibt es sehr wohl jemanden, der das tut. Jemanden, der dich mehr liebt als alles andere auf der Welt, mehr als sein eigenes Leben..."

Jinshi spürte, wie sein Herzschlag sich erneut beschleunigte.

„Und dieser Jemand bin ich."

Jener Gedanke, den er während der letzten Wochen bestimmt schon tausend Mal gehegt hatte, wurde von einem tiefen Seufzer begleitet.

„Ich liebe dich so sehr, Maomao... du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr..."

Ach, wie sehr sehnte er sich danach, jene Worte laut auszusprechen, ihnen endlich eine Stimme zu verleihen, auf dass sie Maomaos Gehör erreichten, doch er wusste ganz genau, dass er bei ihr damit ganz bestimmt nichts als Panik auslösen würde... So wie das eine Mal, als er sie unbeabsichtigt in die Ecke gedrängt hatte.

Das wollte er nicht, auf keinen Fall wollte er sie jemals wieder so sehen. Daher durfte er seinem Wunsch nicht nachgeben.

„Hab keine Angst, meine kleine Katze..."

Und aus diesem Grund musste er sich auch trotz ihrer Erlaubnis weiterhin die Augen zuhalten, wenn Maomao sich umzog, denn andernfalls wusste er, dass er nicht anders können würde, als ihren Körper zu bewundern und ohne Nachzudenken seine tiefsten Gefühle für sie laut herauszuposaunen, was ihm heute bereits während des Besuchs bei ihren Schwestern beinahe passiert wäre, als er sie in dem Kleid erblickt hatte.

Jinshi musste sich zurückhalten, wenn er wollte, dass Maomao sich in seiner Gegenwart wohlfühlte. Er bereitete ihr auch so schon genug Probleme.

„Auf Worte werde ich erstmal weiterhin verzichten und dir stattdessen wie auch jetzt lediglich mit Gesten und Taten ausdrücken, wie viel du mir bedeutest. In der Hoffnung, dass du eines Tages bereit sein wirst, meine Gefühle zu akzeptieren und mir erlaubst, dir zu sagen, dass ich dich liebe. Ich werde dich nicht unter Druck setzen. Niemals wieder."

„Ich möchte ein besserer Mensch sein als der, der ich vorher war...", murmelte er zu guter Letzt voller Entschlossenheit.

„Du warst nie ein schlechter Mensch, Jinshi", vernahm er daraufhin jedoch aus heiterem Himmel leise die Stimme der jungen Frau in seinen Armen und bekam einen leichten Schreck. „Und so wie es aussieht, habe ich das bereits ganz von Anfang an gewusst."

Maomao musste vor einigen Minuten aufgewacht sein und sein Gemurmel gehört haben. Jinshi hatte keine Ahnung, wie er auf ihre Worte reagieren sollte, also drückte er sie lediglich noch fester an sich.

Notes:

Das nächste Kapitel kommt wohl irgendwann in drei Wochen oder so raus, ich brauch nach diesem hier und den ganzen Inktober-Geschichten nämlich eine Verschnaufpause.

Chapter 94: Amnesie, Teil 30: Albtraum

Notes:

Tja, wie's der Titel schon verrät, gibt's in diesem Kapitel viel Angst.
Im vorherigen wurde gezeigt, wie sehr Jinshi Maomao liebt und in diesem zeige ich, wie sehr Maomao Jinshi liebt. :)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Ohne ein Geräusch von sich zu geben, stand Maomao vor dem einzigen Fenster ihrer kleinen Hütte und blickte mit fest zusammengepressten Lippen zum schwarzen Himmel hinauf. Eine kleingewachsene, irgendwie verloren und unfassbar müde wirkende Gestalt in einem dunklen, stillen Zuhause, isoliert von dem üblichen nächtlichen Treiben der Bordelle. Unzählige helle Laternen erleuchteten die Straßen des Vergnügungsviertels und doch glaubte sie, einige Sterne am Firmament erkennen zu können.

Ihre Augenlider waren schwer vor Erschöpfung, doch blieben stur offen. 

Die nächtliche Brise, welche stets durch die Risse in den Wänden ins Haus eindrang, war in letzter Zeit kühler geworden. Der Herbst war nicht mehr weit.

Maomao gab einen lautlosen Seufzer von sich. Egal, was auch geschah, nichts konnte die Zeit aufhalten. Nichts und niemand. Und schon gar keine einfache Apothekerin.

Sie fröstelte ein wenig und rieb sich die Arme. Wie immer prasselte im Ofen ein kleines Feuer, um die Nacht mit seinem sanften Licht und seiner Wärme angenehmer zu gestalten, doch dieses Mal konnte sie Letztere kaum spüren.

Wie lange wohl die junge Frau bereits dort stand? Keine Ahnung, aber bestimmt schon seit fast einer Stunde. Wie auch immer. Jedenfalls war sie mitten in der Nacht aufgewacht und konnte keinen Schlaf mehr finden. Dies war schon die dritte Nacht hintereinander, in der ihr so etwas passierte. Nein... die vierte. 

Etwas mehr als eine Woche war nach dem erneuten Honig-Vorfall vergangen. Eine mehr oder weniger friedliche Woche: Jinshi war glücklich und auch Maomao genoss das Leben mit ihm im Freudenviertel. Sie arbeiteten zusammen in der Apotheke, kümmerten sich um den Haushalt und die Pflanzen draußen vor dem Haus und auf dem Feld und sie brachte ihm weiterhin Dinge bei. Keine schwierigen Gespräche mehr, keine Tränen und keine Erinnerungen. Nichts hatte sich geändert.

Gar nichts.

Und genau jene letzte Tatsache hatte etwas Bitteres an sich.

Denn die grausame Realität ging nirgendwohin: je mehr Zeit verging, desto näher rückte ihre Rückreise in den Kaiserlichen Palast und desto öfter wurde die Apothekerin von quälenden Gedanken und Ängsten geplagt.

Tagsüber schaffte sie es noch irgendwie, sie zu unterdrücken, aber nachts, wenn sie mit ihnen allein war, war es ganz besonders schlimm. Es war so, als hätte die Dunkelheit begonnen, nun auch ihr zuzusetzen, als dringe sie in ihren Verstand ein und vergiftete ihn. Bloß war es diesmal nicht die Art Gift, die sie mochte.

Mittlerweile waren ihre Augenringe und ihr Energiemangel nicht mehr zu übersehen und Jinshi hatte ihr Schlafproblem bemerkt, obwohl sie sich bemüht hatte, es vor ihm zu verbergen. Selbstverständlich hatte er das, wie denn auch nicht?

Mit vor Kummer nach unten gekrümmten Augenbrauen war er am vergangenen Morgen ihr gegenüber auf dem Boden gesessen und hatte ihre Wange gestreichelt, eine sanfte, jedoch auch hilflose Geste. Maomao konnte ihm kaum in die Augen schauen. Sie fühlte sich schrecklich, dass sie ihn davon abhielt, sich endlich richtig entspannen zu können. Aber jene Woche war eben so verdächtig friedlich gewesen, dass jene Ruhe ohne Zweifel ein jähes Ende finden musste… Wie konnte es auch anders sein?

Sie drehte sich zur Schilfmatte um und blickte leicht traurig auf die darauf liegende Gestalt. Ihr Mitbewohner schlief tief und fest, war vollkommen erschöpft. 

Kein Wunder, hatte dieser liebe Kerl doch den ganzen Tag und den ganzen Abend alles getan, was in seiner Macht stand, um ihr zu helfen: er hatte sich mit ihr hingelegt und sie im Arm gehalten, ihr das Schlaflied gesungen, ihr stundenlang den Kopf gestreichelt und den Rücken massiert, ihr beruhigende Tees gemacht, dieselben, die auch sie ihm unzählige Male zubereitet hatte (während er die Kräuter für den Tee vorbereitet hatte, war Maomao mit dem Kopf auf seinem Schoß gelegen und hatte seinen Handbewegungen zugesehen), und stets darauf Acht gegeben, dass sie es bequem hatte.

Tatsächlich hatte sie es dank ihm geschafft, tagsüber ein paar Nickerchen zu halten und abends schneller einzuschlafen, sodass sie sich nun ein wenig besser fühlte als zuvor.

Doch jetzt war es Nacht und sie war wach. Schon wieder.

Am liebsten wäre sie in der Hütte ein wenig auf und ab gelaufen, doch das hätte ihn bestimmt aufgeweckt, also ließ sie es bleiben. Wenigstens er sollte genug Schlaf bekommen. Zum Glück hatte er inzwischen kaum noch Albträume nachts.

Stattdessen war Maomao also vorsichtig aufgestanden und hatte sich ans Fenster gestellt, um den Nachthimmel zu betrachten. Hatte Jinshis warme Umarmung verlassen, als habe sie Angst, ihn mit seiner Schlaflosigkeit noch anzustecken.

Maomao gähnte und hob sich die Hand Richtung Stirn, leicht das Gesicht verziehend. Ihr Kopf pochte schmerzhaft. Vielleicht sollte sie ein wenig Wasser trinken. Ach, hätte sie doch nur Alkohol… Etwas Starkes, das scharf in der Kehle brannte…

Vor etwa einer Woche hatten sie und Jinshi auf dem Markt eine riesige Flasche Wein gekauft (erneut von seinem Geld) und noch am selben Abend geöffnet und miteinander geteilt. Da Jinshi wie auch schon vor dem Unfall kein großer Trinker war, war der Großteil des Flascheninhalts an Maomao gegangen, die das Getränk mit großem Genuss bis auf den letzten Tropfen in sich hineingeschüttet und sich danach zufrieden die Lippen geleckt hatte.

Seitlich und auf einen Ellenbogen gestützt auf dem Boden liegend, hatte Jinshi ihr amüsiert zugesehen und ihr mit dem Zeigefinger in den Bauch gepiekst.

„Kaum zu glauben, dass hier so viel Wein reingepasst hat”, hatte er grinsend kommentiert. „Kannst du etwa zaubern, Xiaomao?”

Sie hatte zurückgegrinst und ihm wiederum als kleine Rache in die Wange gepiekst.

„Ach, das war noch gar nichts. Ich kann mit Leichtigkeit mehrere ausgewachsene Männer unter den Tisch trinken.”

Und danach waren sie gemeinsam in Gelächter ausgebrochen.

Die Apothekerin lächelte schwach bei der Erinnerung daran. In dem Augenblick war die Welt tatsächlich in Ordnung gewesen und weder sie noch Jinshi hatten auch nur einen Gedanken an die Zukunft oder die Vergangenheit verschwendet (zumindest vermutete sie dies in seinem Fall). Es hatte nur die Gegenwart gezählt. Das Hier und Jetzt.

Maomaos Lächeln verschwand wieder.

Jinshi...

Der junge Mann, der sich sichtlich Sorgen um sie machte, hatte ihr mehrfach angeboten, ihm anzuvertrauen, was sie so sehr quälte, dass sie nicht schlafen konnte, hatte gemeint, dass es ihr bestimmt guttun würde, darüber zu reden. Denn seinen Worten zufolge konnte er spüren, dass eine schwere Last auf ihrer Seele lag.

Doch Maomao hatte abgelehnt. Ohne jedes Zögern.

Jinshi hatte die Augenbrauen zusammengezogen, eindeutig unglücklich über ihre Antwort, doch akzeptierte ihre Entscheidung und versuchte stattdessen, ihr mit anderen Mitteln zu helfen. Sie hielt ihn nicht davon ab.

Maomao tat es leid, ihm so viel Kummer zu bereiten, doch die Angst, die sie derzeit plagte, war keineswegs etwas, worüber sie einfach so reden konnte. Und vor allem nicht mit ihm.

Es war die Angst vor dem Vergehen der Zeit. Oder genauer gesagt: vor dem, was sicherlich passieren würde, falls sie es auch weiterhin nicht schaffen würde, Jinshis sein Gedächtnis zurückzubringen.

Der Kaiser war im Moment noch geduldig und sogar rücksichtsvoll genug, um ihnen noch eine Art „Auszeit” zu gönnen. Doch irgendwann würde seine Geduld ein Ende nehmen und nicht einmal Gaoshun würde etwas dagegen ausrichten können (und möglicherweise nicht einmal ein gewisser alter Sack mit Monokel, nahm sie an, sich daran erinnernd, wie außer sich vor Zorn Seine Majestät über Jinshis Gedächtnisverlust gewesen war).

Und dann waren Maomaos Tage gezählt, denn sie war auch weiterhin nichts anderes als eine ersetzbare Dienerin. Eine, die einen kaiserlichen Befehl nicht ausgeführt hatte.

Mit anderen Worten: Entweder brachte sie Jinshis Erinnerungen zurück oder sie konnte sich von ihrem Kopf verabschieden. Wie viel Zeit ihr noch blieb, wusste sie nicht, doch es konnte nicht allzu viel sein. Eventuell könnte sie den Jahreswechsel nicht mehr erleben.

Doch dies war nicht das, was ihr am meisten zu schaffen machte...

„Ohne Erinnerungen kann ich leben... aber nicht ohne dich…”

Die Worte, die er ihr einst gesagt hatte, hallten zum tausendsten Mal in ihrem Verstand wider. 

Maomao musste zugeben, dass die Sorge um Jinshi sie beinahe um den Verstand brachte. Sie hatte solche Angst um ihn, dass es sie fast krank machte! 

Was würde aus ihm werden, wie würde er ohne sie zurechtkommen? Wie sehr würde er leiden? 

Diese Gedanken kamen immer häufiger und rissen Maomaos Herz in Stücke. Sie wollte ihn nicht allein zurücklassen! Sie hatte ihm doch versprochen, bei ihm zu bleiben! Die Vorstellung, was ihr Verlust mit ihm anstellen könnte, quälte sie viel mehr als die Vorstellung zu sterben.

Keuchend barg die Apothekerin das Gesicht in den Händen. Solche Gefühle hatte sie bisher nie im Leben verspürt und dabei war es nicht das erste Mal, dass ihr eine Hinrichtung drohte. 

Der einzige Weg, all dem zu entkommen, war, Jinshi endlich sein Gedächtnis zurückzubringen. Doch sie konnte ihn nicht unter Druck setzen! Auf keinen Fall!

Wie könnte sie ihm bloß helfen, endlich seine Ängste zu überwinden und die Blockaden zu lösen, die seinen Erinnerungen den Weg versperrten? Sie hatte doch schon so Vieles versucht und es hatte ihm nichts gebracht außer Schmerzen!

Das Ganze erschien aussichtslos! Sie hatte sein Leben wahrhaftig für immer zerstört!

Maomao spürte, wie ihr gesamter Körper von einer eisigen Kälte durchdrungen wurde, und konnte nicht anders, als sich nach Jinshis Wärme zu sehnen, auch wenn es ihr Schuldgefühle bereitete. Vielleicht sollte sie endlich ins Bett zurückkehren…

„Hm? Xiaomao? Was machst du denn da? Es ist kühl, du erkältest dich noch.”

Und wie aufs Stichwort vernahm sie daraufhin Jinshis schlaftrunkene Stimme und bekam einen leichten Schreck. War er also doch aufgewacht…

Maomao atmete tief durch, schob ihre Sorgen und Qualen so gut es ging in die Tiefe ihrer Seele zurück und drehte sich in seine Richtung um.

„Es ist nichts… mir war einfach danach, den Himmel zu betrachten. Ich wollte gerade wieder ins Bett zurück.”

Im schwachen Licht konnte sie erkennen, wie Jinshi sich aufsetzte, sich die Decke um die Schultern legte, aufstand und sich barfuß zu ihr begab.

Je mehr er sich ihr näherte, desto besser konnte sie dank des durch das Fenster einfallenden Laternenlichtes die tiefe Sorge in seinem Gesicht sehen.

„Mist! Bestimmt war ich lauter als ich angenommen hatte”, dachte sie reuevoll. „Ach, ich hätte nicht aufstehen sollen…”

Schließlich blieb Jinshi vor ihr stehen, breitete die Arme aus und zog sie an sich, sie mit in die Decke wickelnd und mit seinem vertrauten Duft und seiner Wärme umhüllend, als wolle er eine eigene Welt nur für sie erschaffen. Maomao fühlte sich daraufhin gleichzeitig besser und auch schlechter als zuvor. 

„Von wegen nichts…”, murmelte ihr Mitbewohner bedrückt. „Du kannst schon wieder nicht schlafen, habe ich Recht?”

Die Apothekerin schlang ebenfalls die Arme um ihn und lehnte wie immer den Kopf an seine Brust. 

„Ja.”

Lügen war zwecklos. Er würde sie sofort durchschauen.

Maomao konnte spüren, wie Jinshi leicht zu zittern begann und sie noch ein wenig fester umarmte. Sie biss die Zähne zusammen. Da hatte er schon mehr als genug mit seinen eigenen Ängsten zu tun und sie bereitete ihm noch zusätzliche Sorgen.

Er sollte sich besser einzig und allein auf sich selbst konzentrieren und sie einfach nicht beachten, verdammt! Aber so etwas konnte sie von ihm nicht verlangen, egal, wie sehr sie es wollte. Jinshi war viel zu lieb und kein Mensch, der dazu in der Lage wäre… kein bisschen.

„Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen, Xiaomao?” In seiner Stimme lag deutliche Verzweiflung. „Gibt es etwas, was ich für dich tun kann?”

„Du tust auch so schon mehr als genug für mich.”

„Nein, überhaupt nicht! Sonst würdest du doch jetzt schlafen und nicht hier in der Kälte herumstehen!”

„Jinshi, hör auf… Das ist auf keinen Fall deine Schuld, hörst du?”

Er antwortete nicht und auch Maomao verstummte. Das Allerletzte, was sie jetzt brauchten, war, dass er sich an ihrer Schlaflosigkeit die Schuld gab. Eine Weile lang standen die beiden einfach nur vor dem Fenster und hielten einander schweigend umschlungen. Irgendwie erinnerte es Maomao ein wenig an die erste Nacht nach seinem Unfall, als sie ihn zu einem Fenster geführt hatte, um seine Augen zu untersuchen.

Die Apothekerin blickte auf und Jinshi hob sein Kinn von ihrem Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Sie konnte nun ihr Spiegelbild in seinen violetten Augen erkennen.

„Kann ich dich um etwas bitten?”, fragte sie leise.

Jinshis Augen weiteten sich ein wenig.

„Aber… Aber natürlich, Xiaomao! Worum geht es denn?”

Sie senkte den Kopf wieder und zupfte an einem seiner Ärmel.

„Ähm… kannst du mir bitte ein paar Kapitel aus dem Buch vorlesen, das du mir gekauft hast?”

„Sicher!”

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und nahm sie bei der Hand. Zusammen kehrten sie zur Matte zurück.

***

Wenig später lag sie bereits mit dem nach wie vor schmerzenden Kopf auf Jinshis Schulter im Bett und lauschte, wie er ihr mit seiner wohlklingenden Stimme leise aus dem Buch vorlas, welches sie schon so oft gelesen hatte, dass sie den Inhalt beinahe schon auswendig kannte. Eine Öllampe brannte neben ihnen, damit er genug Licht hatte, um die Schrift zu sehen.

Zwar vernahm Maomao die Worte, die da an ihr Gehör drangen, doch es reichte trotzdem nicht ganz, um sie von ihren hartnäckigen Gedanken abzulenken. Aber es fühlte sich schön an.

Während er las, gab Jinshi ihr immer wieder Küsse auf die Stirn und rieb seine Füße gegen ihre, um sie zu wärmen. Auch das erinnerte sie an die erste Nacht nach seinem Unfall, als sie sich mit ihren Füßen bemüht hatte, seine eiskalten zu wärmen.

Irgendwann hielt ihr Körper der Erschöpfung nicht mehr länger stand, sodass sie es schließlich doch schaffte, sich auf Jinshis Stimme zu konzentrieren und sich durch ihren sanften Ton zu beruhigen, sich durch die Beschreibungen der Pflanzen an das gemeinsame Kräutersammeln mit ihm zu erinnern.

Sie gähnte, vergrub das Gesicht an seiner Brust und fand endlich in den Schlaf zurück.

Jedoch würde dieser Schlaf alles andere als friedlich und schon gar nicht erholsam sein…

***

Etwa eine Stunde später, nachdem auch Jinshi wieder eingeschlafen war, ohne die Lampe zu löschen, zerriss ein Schrei auch schon die Stille in der Hütte. Schweißgebadet schlug die Apothekerin die Augen auf, im ersten Augenblick überhaupt nicht begreifend, wo sie sich befand und dass sie diejenige war, die soeben geschrien hatte. Ihre Pupillen waren noch ganz klein von dem, was sie im Traum gerade durchgemacht hatte.

„Xiaomao?!”, rief Jinshi erschrocken, der durch ihr Schreien abrupt und unsanft aus dem eigenen Schlaf gerissen worden war und nicht verstand, was vor sich ging. „Was ist los?! Was hast du?!”

Maomao atmete schwer und war blass wie ein Laken. Ihr Mund fühlte sich so trocken und ihre Kehle so eng an, dass sie kein Wort herausbringen konnte.

„Uh…”

Ihre Hände klammerten sich so fest an seine Ärmel, als wolle sie ein Stück davon abreißen. Als spüre sie das Bedürfnis, ihn festzuhalten, damit er sich nicht in Luft auflöste.

Jinshi presste die Lippen aufeinander. Er hatte verstanden. Wie denn auch nicht, hatte er doch bereits so oft dasselbe durchgemacht?

„Oh nein… Du hattest einen Albtraum, nicht wahr?” Er drückte ihren bebenden Körper fest an sich. „H-Hab keine Angst, mein Schatz… Alles ist gut… Du bist in Sicherheit.”

„Gnn…”

„Meine Sicherheit interessiert mich doch gar nicht!”, brüllte Maomao in Gedanken. „Sondern deine!”

Mit steifen Bewegungen löste sich eine ihrer Hände von seiner Kleidung und legte sich auf seine Wange, streichelte sein Gesicht und strich ihm einige Haarsträhnen hinters Ohr. Jinshi sah sie ein wenig verblüfft und zutiefst besorgt an, ließ sie jedoch gewähren.

Unfassbare Erleichterung durchströmte Maomao, als ihr bewusst wurde, dass die schrecklichen Bilder, die sie gerade noch mitansehen musste, tatsächlich nur ein Traum gewesen waren. Eine Szene schlimmer als die Hölle, in der Jinshi aufwachte und erfuhr, dass sie weggebracht worden war und hingerichtet werden sollte und daraufhin den Verstand verlor, selbst nicht mehr leben wollte, sich ein großes Messer aus der Küche nahm und… nein, sie wollte sich nicht daran erinnern! Es war der schlimmste Albtraum, den sie je hatte! Sogar noch schlimmer als die von ihrer frühen Kindheit.

Die Apothekerin wimmerte leise und schüttelte heftig den Kopf.

„Xiaomao! Bitte beruhige dich!” Leichte Panik hatte sich in Jinshis Stimme geschlichen.

„W-Wasser… b-bitte!”

„Ja, natürlich!”

Der junge Mann hob sie in seine Arme und eilte mit ihr zu dem Fass mit ihrem Wasservorrat, um ihr einen Becher zu füllen und ihn an ihre Lippen zu halten.

Nachdem Maomao getrunken hatte, fühlte sie sich bereits ein wenig besser und konnte zumindest wieder anständig sprechen.

„Danke, Jinshi…”

Er ließ die Luft heraus, die er gerade noch angehalten hatte, stellte den Becher wieder an seinen Platz und kehrte mit Maomao zur Matte zurück. Das Licht der Öllampe projizierte ihre Schatten an die Wand, während draußen vor dem Fenster weiterhin das Nachtleben ertönte, ohne zu ahnen, was in jener ärmlichen Hütte vor sich ging.

Jinshi setzte sich im Schneidersitz und mit Maomao auf dem Schoß hin, zog sein Schlafgewand auseinander und drückte sie wortlos an seinen nackten Oberkörper, bevor er die Decke nahm und über die junge Frau legte, sodass nur ihr Kopf sichtbar blieb. Seine Wärme nun direkt spürend, klammerte sie sich an ihn, immer noch zitternd wie Espenlaub.

Die Apothekerin konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt eine solche Angst verspürt hatte. Ach ja, vor ein paar Wochen erst, als sie sich während der ersten Nacht nach seinem Unfall nicht sicher gewesen war, ob seine Verletzung ihn noch töten würde…

Wie damals auch überkam sie daraufhin ein heftiges Bedürfnis, nach seinem Handgelenk zu greifen und seinen Puls zu überprüfen, doch Jinshi hielt sie so fest in seinen Armen, dass sie sich kaum rühren konnte. Aber das war nicht so schlimm, denn dafür konnte sie ganz deutlich seinen Herzschlag hören und drückte ihr Ohr eng an seine Brust. Jinshis Finger streichelten sanft ihr Haar.

„Er ist hier… er ist immer noch hier… unversehrt… ein Glück.”

Ohne dass sie es verhindern konnte, flossen ihr ein paar Tränen über die Wangen und landeten auf Jinshis Haut. Da sie die Augen geschlossen hielt, konnte sie seine Reaktion nicht sehen, doch spürte, wie er erstarrte. 

Und einige Sekunden später... begann ihr warme Flüssigkeit auf den Kopf zu tropfen. So wie es aussah, konnte Jinshi sich nicht mehr länger zusammenreißen und hatte ebenfalls angefangen zu weinen… Zwischen qualvollen, erstickten Schluchzern tat er sein Bestes, um sie zu trösten, gab ihr Küsse und wiegte sie hilflos in seinen Armen. 

Maomao war wütend auf sich selbst. Schon wieder hatte sie ihm wehgetan… Sie hatte schon so lange nicht mehr geweint! Seit ihrer Kindheit! Wieso musste sie es also ausgerechnet jetzt, in seinen Armen, tun? Wieso streute sie Salz in die neue Wunde, die sie in sein Herz gerissen hatte? Wieso?!

Ihr fiel ein, wie er ihr einmal gesagt hatte, dass er lieber zehn Albträume durchmachte, anstatt sie auch nur einen haben zu lassen. Das schlechte Gewissen erdrückte sie beinahe.

„Ich bin hier, ich beschütze dich, keiner wird dir etwas tun, meine Xiaomao, keiner!”, hörte sie, wie Jinshi ihr immer noch leise weinend zuwisperte.

Maomaos Brustkorb hob und senkte sich in einem schnellen, unruhigen Rhythmus und ihr Herz pochte heftig gegen ihre Rippen, was er ohne jeden Zweifel ebenfalls spüren musste.

Das konnte so nicht weitergehen! Jener Albtraum hatte deutlich gezeigt, dass sie nicht alles für immer unter Verschluss halten konnte, egal wie sehr sie es auch wollte. Es war ein Zeichen, dass sie etwas tun musste. Etwas, vor dem ihr so sehr grauste, dass sie noch heftiger erzitterte und sich noch enger an Jinshi presste…

***

„Meine arme Xiaomao… Was quält dich bloß so sehr, dass du davon Albträume bekommst und sogar weinst?”

Die aufgewühlte Maomao im Arm haltend, biss Jinshi sich so fest auf die Unterlippe, dass diese beinahe zu bluten begann. In seinen Augen brannten ebenfalls Tränen. Tränen der Angst, Hilflosigkeit und Frustration.

Er verfluchte sich selbst für seine Unfähigkeit, der Apothekerin zu einem erholsamen Schlaf zu verhelfen, und hatte nicht die geringste Ahnung, was er noch für sie tun könnte. Wieso war er bloß so ein Nichtsnutz?! Solch ein Nichtsnutz nach all der Zeit?! Maomao selbst hatte ihm schon so oft geholfen, wenn er derjenige war, der Albträume hatte, also wieso schaffte er es nicht?

Das Einzige, was ihm in den Sinn kam, war, ihr so viel Nähe zu vermitteln, wie er nur konnte und ihr zu zeigen, dass er für sie da war und sie vor nichts Angst zu haben brauchte, sogar in der dunklen Nacht. Selbst wenn dieses schwarze Loch, das ihn nachts heimgesucht hatte, kommen sollte, um nun sie zu verschlingen, würde er sie um jeden Preis beschützen!

Jinshi küsste ihr zerzaustes Haar, während er ihre schnellen Atemzüge an seiner Brust spüren konnte. Sie hielt immer noch ihr Ohr an ihn gepresst.

„Ihr Herz schlägt so heftig… sie hat Angst… Aber wovor bloß?”

Wie sehr wünschte er sich, sie würde mit ihm reden, sich ihm anvertrauen! 

Ihm selbst hatte es nach den bösen Träumen oft geholfen, sich an sie zu schmiegen und darüber zu reden und wenn es nur einige stockende, mühsam hervorgebrachte Sätze waren, die sie möglicherweise nicht ganz begriffen hatte. Trotz ihrer eigenen Müdigkeit hatte sie ihm jedoch stets geduldig zugehört, ihm stets erlaubt, sich an ihr festzuhalten, bis er endlich ein wenig Frieden fand und die Angst sich nicht mehr so unerträglich anfühlte. 

Zugegeben, auch er hatte Dinge vor ihr geheim gehalten, wie, zum Beispiel, wie tief seine Ängste eigentlich gingen, aber… aber doch nicht alles!

Er wollte ihr die gleiche Erleichterung schenken, die sie ihm geschenkt hatte… Doch sie ließ ihn nicht!

Wie könnte er ihr bloß zu verstehen geben, dass sie sich auf ihn verlassen konnte? Dass er für sie zu einem genauso stützenden Pfeiler werden konnte wie sie für ihn? Dass er mehr als bereit dazu war, ihr zuzuhören und ihre Last zu teilen? Dass sie auf keinen Fall allein leiden musste, weil sie doch ihn hatte?

Wie nur?!

Und während er in Gedanken vor Verzweiflung schrie, merkte er, wie Maomao sich noch enger an ihn drückte.

***

„Jinshi…” 

Ihr Mitbewohner hielt für einen Augenblick die Luft an, als er ihre leise Stimme vernahm.

„Ja, Xiaomao?”

„Können wir reden?”

Widerwillig hob sie den Kopf von seiner Brust und blickte ihm ins Gesicht. Seine Augen öffneten sich so weit wie Untertassen.

„J-Ja, natürlich! Natürlich! Du kannst mit mir über alles reden, was du willst!”

Er sah so aus, als hätte sich gerade einer seiner innigsten Wünsche erfüllt. Maomao war ein wenig verwirrt, doch es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über solche Dinge zu wundern. 

„Ich muss dir etwas gestehen…”

Maomao hatte keine andere Wahl, als sich doch auf ein Gespräch mit Jinshi einzulassen, denn wenn sie es nicht tat, würde sie nicht nur keinen Frieden finden, sondern auch noch ihn in ihre Probleme mit hineinziehen. Immerhin war sie der Grund, wieso er in jener Nacht nicht schlief! Aber selbstverständlich würde es im besagten Gespräch nicht um die Möglichkeit gehen, dass sie hingerichtet werden könnte, so etwas würde sie niemals über die Lippen bringen.

Nein, stattdessen musste etwas anderes her, um ihrem Herzen zumindest ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Etwas, was sie ebenfalls schon lange quälte… und zwar seit dem Tag des Unfalls. Etwas ebenso Schreckliches, aber immer noch Harmloseres.

Sie würde ihm endlich verraten, wie er sein Gedächtnis verloren hatte, und dass sie der Grund dafür war. Die Schuldige.

Trotz der Worte ihrer Schwester Joka und der Tatsache, dass sie Jinshis Charakter besser denn je kannte, war ein Teil von ihr immer noch sicher, dass er sie hassen würde, sobald er die Wahrheit erfuhr.

Und ehrlich gesagt... wäre es sogar nicht das Schlechteste, wenn er es täte... würde es ihm nämlich möglicherweise deutlich erleichtern, sich für immer von ihr zu verabschieden, sollte jemals die Zeit dafür kommen.

Nun, das war jedenfalls, was sie sich einzureden versuchte… jedoch rissen ihr jene Gedanken das Herz schier entzwei.

Notes:

Das nächste Kapitel kommt... weiß noch nicht. Aber ganz bestimmt noch im November, kommt drauf an, wie lang es ist. 

Chapter 95: Amnesie, Teil 31: Das Geständnis (1)

Notes:

Ich fand eine perfekte Stelle, um das Kapitel zu teilen, daher wird es zwei Teile haben. :)
Nun, ich wollte sowieso wieder ein wenig häufiger hochladen, also trifft sich das gut. Die folgenden Kapitel werden wohl kürzer ausfallen als die früheren und ich werd versuchen, etwa alle zwei Wochen eins hochzuladen.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Maomao kam es so vor, als habe Jinshis Herz angesichts ihrer Worte für eine Sekunde aufgehört zu schlagen. Ihre Angst wurde schlimmer und sie klammerte sich erneut an einen seiner Ärmel, sich noch stärker anspannend und sich fragend, ob sie gerade nicht vielleicht doch einen Fehler beging. Nein. Sie hatte es ausgesprochen. Es gab kein Zurück mehr.

„Etwas gestehen?”, murmelte er in einem leicht zögerlichen Tonfall. Die Apothekerin konnte beinahe schon sehen, wie er hinter seinem erstaunten Blick angestrengt darüber nachdachte, was sie wohl damit meinen könnte.

Sie erinnerte sich, wie er sie während des erneuten Honig-Vorfalls auf Knien weinend um Verzeihung angefleht hatte, wie er sich selbst ohrfeigen wollte, im Glauben, dass seine Strafe damals nicht genug gewesen war, um ihn seine Tat büßen zu lassen.

Zunächst hatte sie sein Verhalten deutlich übertrieben gefunden, aber nun konnte sie ihn sogar auf eine gewisse Weise verstehen. Er musste sich unfassbar schuldig gefühlt haben, so wie sie sich jetzt auch. Eine Schuld so riesig, dass sie Einen von innen her auffraß.

Aber eigentlich konnte man seine und ihre Lage wohl kaum miteinander vergleichen, selbst der bloße Gedanke daran wäre anmaßend. Was er getan hatte, war lediglich ein blöder Scherz gewesen, der für sie schon längst vergeben und vergessen war, sie dagegen hatte ihm sein Gedächtnis geraubt und unsägliches Leid beschert.

Ganz zu schweigen davon, dass sie für ihre Tat überhaupt nicht bestraft worden war. Nicht einmal mit einer Standpauke.

Um ehrlich zu sein, hätte Maomao sich jetzt auch am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Doch sie wusste, dass Jinshi dies niemals zulassen würde.

Sie versuchte, sich zu beruhigen. Wie auch immer, jedenfalls würde sie jetzt bald selbst herausfinden, wie Jinshi auf die Geschichte reagieren würde. Auf jeden Fall verdiente er es, endlich die Wahrheit zu erfahren. Das war sie ihm schuldig.

Danach würde sie schon weitersehen... Es brachte nichts, jetzt so nervös zu sein.

Doch ihr Körper zitterte nach wie vor heftig.

„Ich möchte dir verraten, wie du dein Gedächtnis verloren hast.” Ihre Stimme klang fester, als sie erwartet hatte, was sie selbst überraschte. „Weißt du, ich…” Sie verstummte, um über ihre nächsten Worte nachzudenken. Auch wenn sie sich während der letzten Wochen häufig überlegt hatte, auf welche Weise sie ihm das Ganze möglichst schonend erzählen sollte, war ihr Verstand nun in dieser Hinsicht wie leergefegt, sodass sie nicht in der Lage war, ihren Satz zu beenden.

Jinshi schien zu spüren, wie durcheinander sie war. Ein paar Momente lang blinzelte er sie verblüfft an und schüttelte dann leicht den Kopf, als würde auch er sich ermahnen, sich zusammenzureißen. Er zog die Öllampe näher heran, damit sie es heller hatten, und begann als Nächstes, erneut Maomaos Rücken zu reiben, auf seine vertraute, sanfte Weise.

„Psst... alles ist gut, Xiaomao. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Nur keine Eile, ja? Möchtest du noch ein Glas Wasser?”

Seine Hand wanderte zu ihrem Kopf, den er ebenfalls streichelte, während er sie mit der anderen immer noch an sich gedrückt hielt.

Maomao schüttelte den Kopf, sagte immer noch kein Wort.

Diesmal teilte er ihr nicht mit, dass sie es ihm nicht zu erzählen brauchte, wenn es ihr dermaßen schwerfiel. Natürlich nicht. Schließlich war ihm genauso bewusst wie ihr, wie notwendig jenes Gespräch war. Und zwar hier und jetzt.

Die Apothekerin legte ihre freie rechte Hand auf seine Brust. Trotz seiner Worte zitterte auch er, war deutlich nervöser als seine Stimme es vermuten ließ. Bestimmt hatte er sich bereits die ganze Zeit gefragt, wie es passiert war. Zweifellos.

Jinshi platzierte seine Hand auf ihrer. Sein Herz pochte gegen ihre Handfläche.

„Möchtest du dich dann vielleicht hinlegen? Schließlich hattest du gerade eben einen schlimmen Albtraum.” Wie immer versuchte der junge Mann, ihr das Ganze so gut es ging zu erleichtern, ihr irgendwie zu helfen.

„Nein, schon gut. Lass uns im Moment einfach so bleiben…” 

Sie ließ seinen Ärmel los und schlang ihren linken Arm um ihn.

Vielleicht sollte sie lieber von seinem Schoß heruntergehen, um ihm während ihres Geständnisses besser in die Augen schauen zu können. Doch ihr Körper weigerte sich, seine beruhigende Wärme zu verlassen. Sie fühlte sich so schwach, dass diese Wärme möglicherweise das Einzige war, was sie noch vor dem Zusammenbrechen bewahrte.

Nicht zu vergessen, dass es außerdem das allerletzte Mal sein könnte, dass sie einander auf diese Weise hielten...

Im Versuch, nicht daran zu denken, atmete die Apothekerin tief durch.

„Was weißt du noch von dem Unfall?”, fragte sie ihn direkt.

Jinshi richtete seinen Blick an die Decke und dachte nach.

„Hmm... also, meine früheste Erinnerung ist, wie ich auf dem Boden liege und auf deinem Schoß langsam zu mir komme. Mir war entsetzlich übel, mein Kopf tat so weh, als stünde er kurz vor dem Platzen, die Sonne brannte auf mich herab, und ich hatte keine Ahnung, wo ich war und wer ich war. Das war wirklich verwirrend und beängstigend. Aber…” Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und er blickte Maomao erneut ins Gesicht, mit Augen, die im Lampenlicht glänzten. „Aber du hast meinen Kopf mit beiden Händen festgehalten. Obwohl ich genauso wenig wusste, wer du warst, habe ich mich trotz allem eigentümlich sicher gefühlt. Deine Hände, mein Gesicht, unsere Kleidung, das Gras... alles war schmutzig, es roch nach Blut und Erbrochenem, aber ich konnte trotzdem ganz deutlich spüren, wie vorsichtig und sanft du zu mir warst.”

Maomao musste ihre gesamte Willenskraft einsetzen, um den Blick nicht abzuwenden. Diesmal durfte sie nicht wegschauen.

„Hast du... Hast du dich nie gefragt, wie du in diese Situation hineingeraten bist? Wie wir dort hineingeraten sind, meine ich”, fragte sie.

„Ja, schon…”

„Also, es passierte folgendermaßen…”

Sie beschloss, es einfach hinter sich zu bringen, und begann zu reden. Mit leicht stockender Stimme fasste sie die Ereignisse zusammen, die zu dem Unglücksfall geführt hatten, nichts vor ihm verbergend. Es laut auszusprechen, ließ ihr damaliges Verhalten nur noch lächerlicher erscheinen. Sie war an dem Tag eine wahrhafte Vollidiotin gewesen, die jegliche Vernunft ausgeschaltet hatte.

Jinshi hörte ihr mit ernstem Gesichtsausdruck und ohne zu unterbrechen zu. Und als sie schließlich zu erzählen begann, wie sie auf der Leiter das Gleichgewicht verlor, riss er vor Entsetzen die Augen weit auf und öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. Sie schluckte und zwang sich fortzufahren.

„Du hast bemerkt, wie ich fiel, und bist losgerannt, um mich aufzufangen. Dabei bin ich zusammen mit der Leiter auf deinem Rücken gelandet und habe dich ebenfalls zu Fall gebracht. Du hast dir den Kopf an einem Stein aufgeschlagen und das Bewusstsein verloren. Und den Rest... kennst du ja.”

Und nachdem ihre Stimme verklungen war... wurde es still. Es war vorbei. Maomao hatte alles gesagt, was sie zu sagen hatte. Nun blieb ihr nur noch, Jinshis Reaktion abzuwarten und sich aufrichtig bei ihm zu entschuldigen. Alles andere... hing von ihm ab.

Auch er sagte kein Wort, sondern sah sie einfach nur an. Seine Hand hatte längst aufgehört, ihren Kopf zu streicheln.

Schließlich ließ er seinen eigenen Kopf sinken... und wendete den Blick ab.

Maomaos Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ihr wurde übel. Jetzt war es also so weit, was? Jetzt kam der Moment, vor dem es ihr all die letzten Wochen lang so gegraut hatte.  

„Jetzt ist er also wütend auf mich... ich wusste es. Nun, ich habe nichts anderes verdient. Jetzt wird er mich bestimmt wegstoßen und…”

Doch bevor sie ihre bitteren Gedanken vollständig ausführen konnte, hob Jinshi den Kopf und sah sie wieder an. Und zu ihrem gewaltigen Erstaunen...

...schenkte er ihr ein kleines Lächeln. 

„Ach, so ist es also passiert... Danke, dass du es mir verraten hast. Entschuldige mein Schweigen, ich habe gerade eine Weile gebraucht, um es zu verdauen, aber jetzt geht es wieder. Möchtest du mir noch etwas erzählen, Xiaomao? Ich höre dir so lange zu, wie du brauchst.”

Maomao reagierte nicht auf seine Frage, sondern starrte ihn verdutzt und mit offenem Mund an. So lange, dass sich erneut Sorge in seinem Gesicht zeigte.

„Du... Du bist nicht sauer auf mich?”, brachte sie letztendlich mit dünner Stimme heraus. Sie war versucht, sich selbst in den Arm zu kneifen, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte.

Jinshi runzelte die Stirn und legte ihr beide Hände auf die Schultern. Er biss die Zähne zusammen.

„Oh, Maomao, aber natürlich bin ich das! Eigentlich wollte ich mir die Standpauke erstmal aufsparen, bis es dir wieder besser geht, weil es aktuell bestimmt das Letzte ist, was du brauchst, aber wenn es in Ordnung für dich ist, bekommst du sie jetzt.” 

Die Apothekerin zuckte ob seiner Worte zusammen, doch nickte. Sie konnte kaum fassen, dass er selbst in einem solchen Moment noch so rücksichtsvoll war.

Der junge Mann holte tief Luft und begann.

„Wie in aller Welt konntest du bloß eine so riesige Dummheit begehen und dich selbst in eine solche Gefahr begeben?! Mensch! Das kann doch nicht wahr sein! Ich... Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wäre ich nicht zufällig an Ort und Stelle gewesen! Wie viele Knochen hättest du dir brechen können?! Oder noch Schlimmeres! Kannst du dir das vorstellen?!” Sein Tonfall enthielt Verzweiflung und unbeschreiblichen Schmerz, was verriet, dass er es sich sehr wohl vorstellen konnte, während seine Stimme laut durch die Nacht hallte. Es war das erste Mal seit dem Unfall, dass sie ihn ernsthaft zornig erlebte.

Maomao blinzelte verwirrt.

„War das alles?”

Jinshi rieb sich die Augen, wohl, um ein paar Tränen zurückzuhalten, und blickte sie fragend an.

„Ähm, ja. Wieso fragst du? Das war doch wohl mehr als genug, glaubst du nicht?” Er schien wirklich nicht zu begreifen, was sie meinte.

„Bist du denn nicht sauer auf mich, weil ich auf dich gefallen bin und du deshalb dein Gedächtnis verloren hast?”

Ihr Mitbewohner weitete die Augen.

„Was? Wieso sollte ich? Dich aufzufangen, war doch meine eigene Entscheidung gewesen, oder? Ist ja nicht so, als hättest du meinen Kopf absichtlich gegen diesen Stein gehauen.” Doch auf einmal schien er etwas begriffen zu haben und schloss Maomao ganz fest in seine Arme. „Moment mal... Ist das etwa der Grund für deine Schlafprobleme? Hast du dich etwa die ganze Zeit über für meinen Gedächtnisverlust verantwortlich gefühlt und dich deswegen gequält? Und mir deshalb erst jetzt davon erzählt? Oh nein! Das war nicht deine Schuld, Xiaomao! Kein bisschen, hörst du?!”

Die Apothekerin erstarrte, hielt sogar für mehrere Sekunden den Atem an.

„Es war bloß ein Unfall”, fuhr er fort. „Wirklich. Ich hätte ja auch selbst stolpern und mir den Kopf aufschlagen können. Wer weiß?” 

Jedoch entspannte sie sich immer noch nicht.

Daraufhin fasste Jinshi sie sanft am Kinn und hob ihren Kopf leicht an, um sie auf die Stirn zu küssen und seine Nase liebevoll gegen ihre zu reiben. Sie starrte ihn ungläubig und vollkommen sprachlos an, bis seine Worte und Gesten sie endlich erreichten und ihr eine riesige Last vom Herzen fiel. Sogar der Albtraum fühlte sich nicht mehr so real an.

Jinshis Worte fühlten sich wie Medizin an. Ihre Schwester hatte tatsächlich Recht gehabt...

Und auf einmal wurde Maomaos Verstand mit Hoffnung erfüllt. Wenn sie sich also bezüglich des Unfalls die ganze Zeit umsonst Sorgen gemacht hatte... könnte es dann nicht auch sein, dass sie sich auch mit ihren Ängsten um die Zukunft irrte? Vielleicht würde sie es ja doch noch schaffen, ihm sein Gedächtnis zurückzubringen? Und selbst wenn nicht, vielleicht würde sie gar nicht hingerichtet werden? 

Vielleicht musste sie Jinshi gar nicht im Stich lassen!

Zwar war Maomao alles andere als naiv, doch solange ihr Albtraum ein Traum blieb, wollte sie nichts lieber tun, als zu hoffen, dass ihre Geschichte trotz allem ein gutes Ende nehmen würde. Sie hatte vorhin einfach zu schnell aufgegeben, was ein Fehler gewesen war.

Doch bevor sie einen tiefen Seufzer der Erleichterung von sich geben konnte, vernahm sie erneut Jinshis Stimme, die wieder ernsthaft und streng klang.

„Aber eins musst du mir versprechen, Xiaomao.”

„Ja?”

„Du wirst nie wieder auf eine solche Weise deinen Nacken riskieren, hast du mich verstanden? Keine Kräuter der Welt sind dein Leben wert. Und werden es auch niemals sein.”

„Ich verspreche es. Ich habe meine Lektion gelernt, glaub mir.”

Seine Gesichtszüge wurden wieder weicher.

„Wunderbar!” Dann legte sich eine leichte Röte auf seine Wangen. „Weißt du, ich bin wirklich froh, dass du auf mir gelandet bist. Ich werde es niemals bereuen, dich gerettet zu haben, egal, was mit mir geschieht.” Er grinste. „Eigentlich hättest du mir schon viel früher davon erzählen sollen. Wenn ich gewusst hätte, dass mein Gedächtnisverlust der Preis dafür war, dir das Leben gerettet zu haben, hätte ich mit Freude jeden Schmerz der Welt ertragen.”

Maomao schlang die Arme um ihn und lehnte diesmal die Stirn an seine Brust. Ihre Augen brannten so sehr, als würde sie jeden Moment erneut anfangen zu weinen. Sie kniff sie fest zusammen.

„Es tut mir leid, Jinshi…”, murmelte sie. „Es tut mir so leid…” Wofür sie sich da entschuldigte, wusste sie selbst nicht so richtig, doch sie konnte nicht anders.

„Es muss dir nichts leidtun.” Jinshi klopfte ihr vorsichtig auf den Rücken. „Alles ist gut, Xiaomao... alles ist gut, mein Sonnenschein.”

Danach verstummte er.

Erneut herrschte Stille. Erneut hielten sie einander fest. Doch die Anspannung in der Luft war vollständig verschwunden, sodass sie beide wieder leichter atmen konnten.

***

Die Stille hielt weiterhin an. Keins von den Geräuschen draußen drang weder an Jinshis noch an Maomaos Gehör, denn die beiden befanden sich wieder einmal in ihrer eigenen Welt, in der für nichts und niemanden außer ihnen Platz war. Und durch das Gespräch vorhin hatte sich ihre Bindung zueinander noch weiter verstärkt und gefestigt.

Ihre Herzen schlugen im selben Takt.

Erneut konnte Jinshi die Atemzüge der Apothekerin direkt an seiner Haut spüren. Sie waren tiefer geworden, regelmäßiger. Könnte es sein?

„Xiaomao?”, flüsterte er liebevoll nach einer Weile und strich ihr mit den Fingern vorsichtig durch das weiche Haar. Dann senkte er seinen Blick und lächelte. Seine Vermutung hatte sich bestätigt.

Maomao schlief tief und fest.

„So ist es recht. Schlaf, meine Süße”, dachte er und sein Herz schmolz vor Rührung und tiefster Liebe. „Ich wusste doch, dass es dir helfen würde, darüber zu reden. Du hast diese Last so lange mit dir herumgetragen... Es tut mir leid, dass ich nicht schon früher bemerkt habe, wie sehr du daran gelitten hast.”

Er streckte die Hand aus, um die Lampe zu löschen, und schlang dann erneut beide Arme um Maomao, sich langsam zurück ins Bett legend, auf den Rücken, sodass sie auf ihm lag.

„Ich sollte jetzt besser auch schlafen…”

Nun das gesamte Ausmaß seiner eigenen Erschöpfung spürend, gab er einen leisen Seufzer von sich, doch trotz allem hielt das warme Gefühl in seinem Herzen immer noch an. Ach, es tat so gut zu sehen, dass es einem geliebten Menschen, der sich kürzlich noch so gequält hatte, wieder deutlich besser ging.

Nachdem er sichergestellt hatte, dass Maomao es warm und bequem genug hatte, schloss er ebenfalls die Augen...

...nur um sie nur wenige Minuten später erneut weit aufzureißen, als ein schier unerträglicher Schmerz seinen Kopf beinahe zu zerfleischen drohte, so wie nach jeder Geschichte von seiner Vergangenheit. Ach, stimmt ja, das Gespräch vorhin war ja auch eine verlorene Erinnerung gewesen...

Es tat so weh, so unfassbar weh... war die reinste Hölle. Er konnte beinahe schon spüren, wie die Erinnerungen wie so oft mit Gewalt versuchten, sich einen Weg in seinen Verstand zurückzubahnen, doch wie üblich an der Blockade scheiterten.

Jinshis Atem ging schneller. Er biss die Zähne zusammen, bis ihm die Kiefer wehtaten, und Tränen traten in seine Augen. Wimmerlaute drohten seiner Kehle zu entfliehen…

Die Augen des jungen Mannes füllten sich mit Entsetzen und er presste sich verzweifelt die Hand auf den Mund, um jedes mögliche Geräusch zu unterdrücken.

Nein! 

Maomao war nach einem fürchterlichen Albtraum endlich in einen friedlichen Schlaf gesunken. Er durfte sie jetzt nicht aufwecken! Auf keinen Fall!

Er musste durchhalten! Musste stark sein! 

Die Tränen flossen nun sein Gesicht herab. Es war aussichtslos…

Doch dann erinnerte er sich an den Inhalt von Maomaos Geständnis und seine Mundwinkel krümmten sich umgehend nach oben.

„Für dich würde ich alles tun, meine Xiaomao, einfach alles... Hauptsache, du bist unversehrt und in Sicherheit. Diese Schmerzen sind es wert. Und ob sie das sind!”

Und so lag Jinshi schließlich da und lächelte durch den Schmerz, während er den warmen und weichen Körper der schlafenden Maomao, den lebenden Beweis jener letzten Aussage, fest im Arm hielt. Es wurde besser, nach und nach wurde es besser. Dieser Kopfschmerz war gar nichts Genau. Lieber er als sie, nicht wahr? Für sie würde er alles ertragen.

Hoffentlich würde er sie auch in Zukunft weiterhin so beschützen können, wie er es bei jenem Sturz getan hatte...

Nun weinte er nicht nur vor Schmerz, sondern auch vor Erleichterung und Glück, vergoss frei die Tränen, die er gerade noch verzweifelt zurückzuhalten versucht hatte.

„Ein Glück, dass ich da war, um dich aufzufangen... Wie konntest du bloß glauben, ich würde dir für meinen Gedächtnisverlust die Schuld geben?”

Eine ihrer Hände ruhte zu einer Faust geballt auf seiner Brust. Er nahm sie in seine eigene und drückte sie zärtlich.

Einige Minuten später schlief auch er ein. Immer noch mit einem von Tränen glänzenden Gesicht und einem kleinen Lächeln auf den Lippen.

Der Schmerz konnte ihm nichts mehr anhaben. Nie mehr.

Notes:

Im zweiten Teil des Kapitels wird's wieder viel Fluff geben, eine kleine Verschnaufpause vor dem Finale, sozusagen. Jawohl, nach dem Geständnis werde ich mit den letzten Ereignissen der Geschichte beginnen!